Schlichtes Beige - Jochen Möller - E-Book

Schlichtes Beige E-Book

Jochen Möller

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Beschreibung

Die frühen Neunziger. Kein ICE, nur Intercity. Nur Nadeldrucker, kein Laser. New Wave noch nicht ganz out, Techno noch nicht ganz in. Leute telefonieren im Festnetz, pro Haushalt 1 Anschluss. Von ISDN und WWW keine Rede. Und ein Tagebuch muss einfach eine Chinakladde sein. Peter, frisch an der Uni, beginnt aus Liebeskummer ein Tagebuch. Er ist so ein hoffnungsloser Romantiker, glaubt daran, dass Anke für ihn bestimmt ist, obwohl sie ihn fallen gelassen hat. Sie hat jetzt einen coolen Typen zum Freund. Seine Balkonnachbarin Ulli könnte Peter trösten, doch er merkt nicht mal seine Chancen. Peter ahnt nicht, in welche Hände sein Tagebuch geraten wird...

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Schlichtes Beige

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Schlichtes Beige

Roman

Jochen Möller

Die Kladde

23. April 1991

Der Kauf dieser Kladde geschah ganz nebenbei, zusammen mit ein paar Ordnern und anderem Kram, den ich fürs Studium brauche. Das war die Vorentscheidung. Vokabeln will ich nicht hineinschreiben, es ist zum Tagebuch geboren, zumindest daran besteht kein Zweifel. Ich frage mich nur, ob ich die Ausdauer habe, es zu führen, überhaupt, ob mein Leben sich schriftlich zu verdoppeln lohnt. Ich will auf diesen unlinierten Seiten einfach drauflos erzählen. Hier hört mir von vornherein niemand zu, gerade deshalb lohnt es sich vielleicht. Wirklich Wichtiges erzähle ich anderen schon lange nicht mehr. Fragt sich nur, ob man sich das Allerwesentlichste nicht immer auch selbst verschweigt. Ich bin hochgestochen drauf. Kein Grund, die Vorlesung zu bläuen, tschüss! --- Radeln zur Uni durch den Regen hätte ich mir sparen können. Aber was sollte ich sonst mit meiner Freiheit machen? Kann ich mir auch was über die Bosnische Annexionskrise anhören. Mal wieder keine Post, mein unaufgeräumtes Zimmer hält meiner Seele einen Spiegel vor, in der Spüle türmt sich Abwasch. Ich habe keine Milch mehr, aber schon wieder einkaufen zu gehen, könnte ich unmöglich ertragen. Unten staubsaugt die Vermieterin. Im Zimmer neben mir sägt die Druckernadel eines Computers. Mein Nachbar ist ein tüchtiger Physikstudi und grüßt mich kaum. Das ist also mein Leben! Eine knappe Woche bin ich dabei, und schon fällt es mir auf die Nerven. Zum Glück habe ich den Balkon. Von ihm gucke ich in die Hintergärten der anderen Häuser. Wie eine stille Bucht. Beende ich doch diese ziellose Nörgelei und setze mich raus.24. April

Anke. Mein Girl from Ipanema. Sie nicht mehr im Arm halten zu dürfen, allein zu sein mit vielen anderen Leuten, die alle nur gleich fremd sind, das ist vielleicht der zwingendste Grund, dieses Buch anzufangen. Ich bin allein und mutlos. Der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden könnte, wäre ausgerechnet wieder nur sie, sie, sie. Ich habe versucht, drauflos zu leben und die Geschichte zu vergessen, aber der Alltag hat mich nur immer mehr und mehr, wieder und wieder draufgestoßen, immer wieder konnte ich innerlich nur noch aufheulen, immer mehr zog ich mich wieder aus dem Leben draußen in mich zurück, um bei der gleichen Traurigkeit zu landen. Anke ist meine erste und einzige Liebe, und andere können mir sagen und raten, was sie wollen, ich weiß nicht, was ich ohne sie tun soll.

27. April

Zwei Tage nichts geschrieben - ein Rückzieher, um nicht zu tief in mein Innenleben vorzudringen? Ich war wohl nur zu sehr mit studentischem Kram beschäftigt. Legenden verselbständigen sich. Der mir unbegreifliche "gute Ruf" meiner Universität, Gerüchte, Gerede, "historisch Gewachsenes", alles verselbständigt sich, bis es endgültig unantastbar wahr ist. Alles, was Wert hat oder gilt, scheint sich verselbständigt zu haben, aber ich höre besser auf mit diesem Vortrag, er verselbständigt sich. Paris ist eine Legende. Total verselbständigt, woran man auch denkt, Geschichte, Kunst, das ganze Leben, und zwar das schöne Leben, kannst du bemühen für Paris. Ich dachte und denke dabei immer an Liebe, die schöne, wahre, elitäre Liebe, mit riesigen Rosensträußen, Jazz, Spaziergängen am Wasser, ewigem Karussellfahren und ähnlichem guten Kitsch. Paris ist das Reservat, wo man das alles ausleben kann, sich vor allem bereit dafür fühlt. Das ist die Verselbständigung. Paris bedeutet all das, dabei könnte man doch auch im Bus nach Endenich auf sowas kommen und es ausleben. Schließlich träumen alle davon! Aber immer denkst du daran mit einem fernen freien Fluchtpunkt wie Paris. Nur Paris konnte die würdige Kulisse sein, als ich nach der Schule und vor dem Zivildienst etwas Denkwürdiges anstellen wollte und ohne Plan losfuhr. Insgeheim dachte ich an nichts anderes, als mich zu verlieben und Chansons zu singen. Das verging mir schnell angesichts meiner Absteige, der Taubenscheiße und der unnahbaren Leute, die alle Besseres zu tun hatten. Das mit der Legende wurde mir klar, und bald hätte ich begonnen, Postkarten zu schreiben, Museen zu besuchen und die Hoffnung aufzugeben. Ich traf sie in einem Supermarkt. Ziellos hatte ich meine Metrokarte ausgenutzt und mich verfranst, schlürte durch ein Viertel, sah den Euromarché‚ und ging hinein. Es gab da alles, und so stand ich bald mit Büchern von Camus und Cocteau und einer Cola an der Kasse, was total hirnlos aussehen musste. Sie war vor mir, mit handfesten Dingen wie Brot, Gemüse und Milch, drehte sich zu mir um und lachte. Für einen Deutschen gibt es nichts schlimmeres, als im Ausland als solcher erkannt zu werden. Sie sprach mich sofort auf Deutsch an: "Hey, du kannst mir eigentlich mal tragen helfen!" Das ist eben Paris, so schnell wie wir zwei mit dicken Einkaufstüten, aus denen auch noch Baguettes ragten, in einem Café landeten. Solche Cafés gibt es aber auch nur in Paris, das ist keine Legende. Sie lachte und genoss die Rolle der Heimmannschaft, aber mir gefiel es genauso, auswärts zu sein. Kein Spruch, kein Klischee schien mir zu dumm, es war ein schönes Spiel, in dem ich mehr als ein Unentschieden erreichen wollte. Wir tranken Kaffee und versuchten, ein Gespräch zu beginnen. Eigentlich redeten wir den üblichen Müll. Beide im selben Jahr Abitur, sie Au-Pair in Paris, ich jobbe und stehe kurz vorm Zivildienst, nichts ist absehbarer als eine westeuropäische Jugend gegen Ende des 20. Jahrhunderts (DAS fiel mir natürlich NICHT ein). So ganz bekamen wir es nicht hin. Ich bräuchte ihr die Tüten nur zu der Ampel tragen, sagte sie. Dann würde sie in der Metro verschwinden. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte, sie bewegte sich so natürlich und heimisch, während ich verkrampft nebenher tappte. Ich konnte ihr nichts entgegenhalten. Sie sah mich stark an. "Wie lange willst du denn noch bleiben in Paris?" Die Frage kam so trocken, ich wusste nicht, was sagen, dadurch geriet meine Antwort genauso trocken. "Mein Zivildienst beginnt am 2. Januar, da muss ich zurück sein." Wie ein kleiner Junge. Die Autos jagten an uns vorbei, zweimal war es schon grün geworden. Sie setzte noch einmal ihre Einkaufstüten ab und kramte eine Visitenkarte und einen dicken Stift hervor. Sie ersetzte den Namen ihres Gastvaters dick durch ihren und ich las: Anke. Neurologue. "Vielleicht kannst du ja noch bei uns bleiben. Ruf heute abend an, ich frage mal." Am Abend rief ich an und hörte, dass ich kommen durfte. Später begriff ich, dass Anke dort allein war und nur einen ruhigen Tag und etwas Bedenkzeit gebraucht hatte. Typisch. An dem Abend jedenfalls ging ich für mich singend durch die Straßen und ahnte, dass ich verliebt war. Die Wohnung war erschlagend, riesig, weiß, chic, bis zur Unbewohnbarkeit sauber und durchdacht, eine Szene, von der ich nie zu träumen gewagt hätte, auch in Paris nicht. Ich war erstarrt auf der Schwelle zu dieser anderen, aggressiv-exklusiven Welt. Anke aber lotste mich einmal ganz durch die ungewohnte Szenerie. Nicht mal das Kinderzimmer strahlte etwas anderes aus als keimfreien Glanz, sah pädagogisch wohlüberlegt angelegt aus, aber was hat das mit dem Leben von Kindern zu tun? Anke zog mich vor eine Collage aus den zwanziger Jahren. "Das ist ein echter..." Kein Klischeedetail fehlte, von der Espressomaschine bis zum Flügel. Insgesamt wirkte alles edel ausgestorben. Mir fiel ein Spruch ein: "Geschmack macht einsam." Die Familie, die ich mir zu Ankes Vergnügen in den blödsinnigsten Variationen vorstellte und in dem Ambiente placierte, war über Silvester in Italien. Die Wohnung gehörte Anke. Zumindest ihr kleines Zimmer sah erleichternd anders aus, und dort durfte ich für zwei Nächte meinen Schlafsack ausbreiten. Am Tag vor Silvester, überall ballerte es schon, schenkte sie mir eine maßgeschneiderte Stadtrundfahrt mit Lieblingsflohmarkt, Lieblingscafé, Lieblingsbuchladen, Lieblingsvorort und einem Pfefferminztee bei einer echten Moschee. Weder Notre Dame noch Sacre Coeur bekam ich zu sehen. Silvester selbst war genauso sinnlos wie überall. Die Gegend um den Eiffelturm wimmelte von sektseligen Touris. Es war eine Art Neuauflage des Wehrmachteinmarsches. Mitten in Paris gröhlten sich Pauschaldeutsche "Frohes Neues" zu, Anke brummte "Mieses Altes", dafür allein hätte ich sie umarmen können. An der Seine fiel das Tor für mich Auswärtsmannschaft. Ich hatte dort einen erschlagenden Blumenstrauß versteckt. Dafür war in einem exklusiven Laden neben einem noch exklusiveren Friedhof mein letztes Geld draufgegangen. Geschickt hatte ich unseren Weg in die entlegene Ecke gelenkt und den Blumenstrauß hervorgezaubert. Wer die Wirkung eines schönen, liebgemeinten Blumenstraußes auf Frauen nicht kennt, wird im Leben nichts Wesentliches erreichen. Sie und ich standen uns im windigen Dunkel gegenüber, und ich wusste, dass ich es durfte, und nahm erst ihre Haare, dann ihr Gesicht in die Hand, dann umarmten wir uns, und das war das schönste Gefühl meines Lebens. Dann zog sie eine Augenbraue hoch und sagte: "Dies Jahr küsse ich dich nicht mehr." Das Feuerwerk am Eiffelturm war nur eine leidige Formalität. Wenn man schon mal in Paris ist... Wir gingen in die Wohnung. Eigentlich brauchten wir nur uns. Aber wir hatten das Gefühl, frei zu sein und Raum zu haben, das Licht blieb aus, Marmor, Leder, Glas, Bücher, alles war nachtblau, gelegentlich flackerte draußen etwas auf oder ein vereinzelter Kracher kam genervt seiner Bestimmung nach. An mehr als Küssen und Streicheln hätte niemand von uns gedacht, damals. Alles verschwomm. Ich roch ihre Haare, wir erfühlten uns, ich entdeckte ihr Gesicht wie ein Blinder, einmal rammte ich mir den Kopf unter dem Flügel. Wir spielten dann noch Klavier und nutzten die ganze Wohnung, wie das vor uns wohl nie jemand getan hat. Wir küssten immer beser, waren aber ein wenig verlegen und unsicher auch. Ich bekam ihren süßen Busen in die Hand, etwas Spannenderes habe ich noch nie gefühlt. Unten in der Straße gröhlten ein paar Kerle, die nicht begriffen, dass Anke und ich die Sieger von Paris waren, in dieser Nacht. So begannen die neunziger Jahre für mich. Morgens um 6 raffte ich mich auf, ließ Anke schlafen und nahm meine Sachen. Meine Adresse ließ ich mit dem besten Buch von Cocteau beschwert da. In der Stadt war Schweigen. Die wenigen Leute, die unterwegs waren, duckten sich unter ihrem dicken Kopf und der Erkenntnis, dass nun wieder alles genauso wie sonst weiterlaufen würde. Der Wind trieb leere Bierbüchsen über den Trocadéro, die rötliche Pergamentverpackung der Silvesterknaller wehte herum, ein paar miesgelaunte Müllmänner machten sich an die Arbeit. In der angekokelten Metro brüteten dumpf die verschiedensten Leute, starrten über ihre Augenränder hinweg. Ein paar Smokingmänner hatten noch ihre Papphüte auf dem Kopf. Am Bahnhof spendierte mir eine Amerikanerin einen Kaffee, als sie merkte, dass meine Francs alle waren. Der Zug war pünktlich. Der Schaffner in Belgien grinste über den Geisterzug voll mit Schlafenden und redete alle mit "citoyen" an. In Deutschland wartete eine Behindertenwerkstatt auf mich.

28. April Erinnerungsexzess gestern! Meine Jazztapes liegen auf dem Boden verstreut, meine Unibücher unberührt, Bier habe ich mir gegönnt, zwischendurch den Balkon, Bucht bei Nacht, und immer weiter geschrieben. Begeistert von der Verselbständigung sah ich, wie meine Hand über das Papier ging und die Vergangenheit hinterließ. Abends war ich vom Schreiben total fertig mit der Welt. Ich ging ins Bett und machte noch etwas melancholische Selbstbefriedigung. Heutzutage ist alles ein Problem. Eben ging eine ganze Vorlesung dafür drauf, die zu behandelnde Geschichte einzugrenzen. Eigentlich geht es mir mit Anke nicht anders: Was ist unsere Epoche? Wo ist die Wende, der Anfang vom Ende? War es ein Fehler, nach Bonn zu kommen? Blödsinn. Wir liebten uns. Meterlange Briefe, horrende Telefonrechnungen, soviel Liebe, es war unheimlich. Sie wollte, dass ich kam. Aus uns sollte keine Wochenendbeziehung werden. Die Behindertenwerkstatt war erträglich, aber meine Freunde wurden mir immer weniger wert. Anke, die einzige, die mir etwas sagte, war weit weg, alle anderen studierten schon und verstanden meine Probleme nicht. Verstand Anke meine Probleme? Alles, was ich in Bonn bei einem Wechsel meiner Dienstelle bekommen konnte, war ein Altenheim. Schon eine andere Kiste. Ich sagte mir was von Pflicht und Erfahrung fürs Leben, und immer wieder Liebe, und ließ mich darauf ein. Bonn, die ersten Tage auf Station, was weiß ich noch davon? Alles verdrängt? Unglaublich. Ich weiß noch, am Anfang wurde mir einmal übel, ich musste nach Hause gehen. Nach Hause! Ein muffiges Wohnheim, hellgrün gestrichene Wände. Anke war wirklich mein einziges Glück. Ich erinnere mich an alles, aber ich weiß nichts. Ich weiß nicht mal, wann dieser Rolf in ihr Leben kam, und wie. Eines Tages erwähnte sie ihn mal. Sie studierte. Ich versackte in meinem Job, aber es schien zu gehen. Ich lernte ein paar brauchbare Zivis kennen, und Hanna, meine Lieblingsomi. Soll ich es mir einfach machen, oder positiv gesagt, auf den Punkt bringen, der Klarheit wegen? Streng genommen ist es nicht korrekt, aber falsch ist es auf keinen Fall. Gebe ich uns ein Jahr als Ära! Silvester fuhren wir wieder nach Paris. Eine Nostalgietour mit all ihren Gefahren, aber wir waren ganz arglos. Das Karussell am Eiffelturm, das metallische Aufspringen der Metrotüren, das Sprudeln im Rinnstein, alles war beim alten. Wir mussten merken, dass unsere Liebe verloren war. Wie kam es? Ich weiß es nicht. Wir stolperten durch die Straßen, über den Flohmarkt, in den Louvre, verwirrt, traurig, schließlich schweigend, gereizt. Es war schrecklich. Das war die Epoche. Die Silvesterfröhlichkeit verlachte uns, nur der Fluss schwappte im Feuerwerk herum, als täte es ihm um uns leid. Ich erinnere mich an den schlimmsten Moment davor, in Bonn. Bestimmt war es so ein finsterer Novemberabend. Manchmal drangen Rufe eines verwirrten Alten herüber zu meinem Wohnheim: Haaallooo. Sie hatte mich mit ihrem Besuch überraschen wollen. Ich war müde und traurig von der Arbeit gekommen. Wir lagen da. Hellgrüne Wände. Sie streichelte mich vorsichtig. Plötzlich spürte ich tastende Hände an mir. Ich erstarrte. Tastende Hände. Bewegungen, wie Klopfzeichen, an mir. Meine Seele lag unerreichbar im Schwarzen. Ein Schrei zerplatzte in mir. Tastende, tappende Hände. Ich bin gelähmt. Ausgeliefert liege ich da. Sie hat es bemerkt. Ratlose Blicke befragen mich. Ich kann nicht antworten. Sagt sie etwas? Ich sehe nichts mehr, nur Hände, ihr Tasten, Klopfen an mir, ich liege da, tot, es war - ich war - --- Später: ich ertrug diese Egohorrortour nicht mehr und verduftete auf den Balkon, um dort mit ein bisschen Cool Jazz Frieden zu finden. Ich erschrak beinah, als da auf dem Balkon nebenan, auf gleicher Höhe, nur durch eine kleine Mauer getrennt, ein Mädchen in einem Korbstuhl saß und mich anlächelte. Ich hätte nie gedacht, dass da wer wohnt, schon gar nicht so ein nettes, junges - Mädchen? 25 wird sie bestimmt schon sein. Sie wirkte sehr lustig und offen und wir quatschten ein bisschen. Gestern ist sie eingezogen, studiert nur der Form halber, arbeitet in ´nem Modeladen in der Heerstraße. Ein Glück, endlich etwas Abwechslung. Sie mag sogar Jazz.29. April Draußen in der Bucht höre ich Musik, und zwar von allem Kram, mit dem man einen scheppernden Kassettenrekorder füttern kann, ausgerechnet Miles Davis. Dazu MUSS ich einfach einen Kommentar abgeben. Ich werde mal beiläufig mein Handtuch zum Trocknen rausbringen. --- Da bin ich wieder, ein nettes Gespräch und zwei Becher Tee später. Ulli ist gut, schön, so eine Nachbarin zu haben, wenn schon vom Physiker nichts kommt. Wir redeten den üblichen Kram zum Kennenlernen, über Musik, Bücher, Hobbys. Konversation ist nicht einfach! Was habe ich für ein Hobby? Ich glaube, sie und ich haben ganz schön aneinander vorbeigeredet. Sie sagte, die Heuschnupfenzeit gehe los, und ich erzählte was von meinem Studium. Ulli grinst bestimmt jetzt auch über die Situation. Sie öfters mal zu treffen, ist eine gute Aussicht. Anke und ich haben uns damals sofort verstanden. Heute habe ich das Gefühl, wir hätten uns gleich küssen können. Das Einhalten der Spielregeln war eine spaßige Formsache, das Ziel war sicher. Alles Reden, schön und verspielt, war schon reine Kulisse für unsere Blicke, unser Lächeln, unsere Nähe. Das Ende ist uns nie gelungen. So ein würdiges Ende, mit Knall, wie im Film, wie in Büchern - wie auch immer, es hat nie geklappt. Woran lag es, an Liebe, an Schwäche? Sie hatte schon IHN, da brach es immer noch aus, die eine Nacht werde ich nicht vergessen, erst recht nicht den Morgen danach. Immer wieder mal Küsse, zerstreut oder wild, verliebt oder gedankenlos, mal von mir erobert, mal von ihr angezettelt, zwischen Tür und Angel oder nach einem schönen Gespräch voller Verständnis. Kein Wunder, dass ER schon bei der Erwähnung meines Namens ausflippte. Mir hat es nichts gebracht, nur Traurigkeit. Nichts ist schlimmer, als wenn Vergessen verhindert wird. Grundsätzlich ist Vergessen vielleicht falsch, aber zum Weiterleben muss es sein. Die Welt lebt davon. Diese eine Nacht, unser Abend einmal am Rhein, mein Anruf an ihrem Geburtstag, die zufälligen Treffen, das Kino, der Abend in der Jazz-Galerie, die Küsse, das alles hat mir damals erst klargemacht, was ich verloren hatte. Denn es war vorbei. Erst in der Zeit hat sie sich mir auf ewig eingebrannt. Ihre Stimme, ihr Verständnis, ihre Einfühlsamkeit, erst da wurden sie mir so schrecklich klar, dass ich vor einem Leben ohne sie nur noch zusammensacken konnte.30. April Ich hätte dies nicht heraufbeschwören sollen. Ich wollte ja ganz bewusst noch einmal alles aufrollen und dann zerdenken, bis nichts mehr von Bedeutung ist, aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Ich verliere mich so hoffnungslos in dieser Vergangenheit, dass ich schon davon träume, aber so schrecklich wirklich träume ich es in einem schlingernden Schlaf, dass ich nach dem Aufwachen nicht erleichtert die Kaffeemaschine anwerfe, nein, bedrückt liege ich noch ewig da und glaube das eben geträumte, mehr noch, es ist mir soeben passiert und von nun an Wirklichkeit, mit der ich leben muss: Ich treffe Anke, wo, weiß ich nicht mehr, unwichtige Traumwirklichkeit, vielleicht eine Straße, vielleicht mitten in der Stadt, auf dem Markt, Anke geht dort mit ihrem Mann, ich weiß gar nicht, wie er aussieht, sehe nur Anke, älter, verändert, aber immer noch groß und schön - mit vier Kindern. Ja, es sind vier Kinder, das zumindest weiß ich noch genau. Wir stehen uns plötzlich gegenüber und reden, ich verschweige einen Aufschrei und frage sie, wie es ihr geht, die Kinder springen um uns herum, es sind ihre, ohne Zweifel, und sie scheint mir eine glückliche Frau zu sein, glücklich, nur ein bisschen durcheinander, dass ein vergangener Bekannter wie ich vor ihr steht, den sie seit zehn Jahren (es waren zehn Jahre) nicht gesehen hat. Sie kennt die Erinnerungen, aber die Kinder sind da, spielen und lachen, sie lacht ein wenig mit, was sie so schrecklich schön macht wie immer, noch immer wirkt sie jung, nur weiter, aufrecht und erwachsen. Ich habe nichts entgegenzuhalten, nichts vorzuweisen, bin genausoweit wie vor zehn Jahren, stehe ratlos da, rede ein wenig, eine hilflose Wärme liegt in der Luft, es ist so schrecklich wirklich. Und dann wache ich auf und liege allein im Bett, Anke ist fort, aber sie ist glücklich, verheiratet, älter und weiter, mit vier Kindern, und ich liege allein im Bett.1. Mai Tag der Arbeit, für einen Studenten an sich sinnlos. Habe auch keine Lust, zu demonstrieren. Keine Bibliothek offen, Ausrede, hätte sowieso keine Lust, etwas über den deutschen Sonderweg zu lesen. Mit Kaffee zur Seite und einem dicken Kissen im Rücken sitze ich im Bett und stelle fest, dass ich mich langsam an diese Kladde gewöhne. Nicht mal in meinen schlimmsten Zivildienstzeiten habe ich Tagebuch geführt! Habe ich damals alles Anke erzählt? Als ich gestern abend auf den Balkon ging, in Latschen, Gammelhose, Labbershirt und aufgeknöpftem Hemd, das alles in den heftigsten Farbkombinationen, stand da Ulli, ganz in Schwarz mit einer roten Bluse, sah verträumt in die zaghafte Sonne und schien einen Moment den Vögeln zuzuhören. Sie zuckte zusammen, als ich sie ansprach und ein Kompliment machte. Richtig entsetzt fragte sie, ob ich denn nicht in den Mai tanze. Ich sagte etwas dahin, aber ihr befremdetes Gesicht, ihr fragender Blick und ihre Anteilnahme an einem, der am Vorabend des Mai müde auf den Balkon schlurft, hatten mich selbst auf meinen Mangel gestoßen. Sie sagte, wir zwei sollten doch mal was unternehmen. Dankbar sagte ich ja, da klingelte es auch schon bei ihr, und sie verschwand in ihrer Wohnung. Von einem Moment auf den anderen war ich wieder traurig. Tanz in den Mai. Plötzlich wollte ich Anke sprechen (treffen, sehen, lieben). Ich wusste, dass das dumm war, dass es mich nur noch trauriger machen konnte. Ich erreichte sie nicht, niemand nahm ab. Niedergeschlagen holte ich mir ein Bier auf den Balkon, setzte mich und sah dem Abend zu. Ich ging früh zu Bett. Und da sitze ich nun und frage mich, was ich aus diesem Tag machen soll. Einer, den ich flüchtig vom Studieren kenne (kennt man die Leute da jemals anders als flüchtig? Wovor flüchtet da jeder?), der Kerl ist total aktiv, Fachschaft, arbeitet in ´nem Ökoladen, und gäbe es einen linken Skatclub, wäre er sicher dabei, dieser Studi jedenfalls meinte, ich solle doch mal beim Straßenfest in der Nordstadt vorbeikommen, das sei immer sehr lustig. Da gibt es sicher multikulturell Verkohltes vom Grill, ich könnte mir Kochen und Abwasch sparen, meine Geschmacksnerven vor allem von einer weiteren Packung Miracoli verschonen. Jetzt brauche ich erstmal etwas Jazz, dann werde ich entscheiden, ob ich heute unter Leute gehe. --- Zusammenstoß mit der Wirklichkeit. Die Altstadtstraße voll mit fröhlichen, einfach lockeren Leuten, Spaß, Gedränge, politischer Blödsinn, mittendrin ich, total verloren, was mach ich hier, und dann die Band. ER war es nicht, aber plötzlich fiel mir wieder ein, dass ER auch Gitarre spielt. Auf einer wackeligen Bühne droschen die 4 so einen Krachikram, und der singende Gitarrist sah aus wie ER. Schön, souverän, stark. Ich sah die fröhlichen Gesichter der Leute um mich, manche fingen zaghaft an zu tanzen, alle himmelten die 4 an für ihr bisschen Musik, voll verklärender Bewunderung für ein wenig Unmittelbarkeit. Ein Kindheitsblitz. Das Vorspiel in der Musikschule. Hinterher meine Eltern, beugen sich herunter zu mir und fragen, was ich davon denn gerne lernen würde. Kontrabass, und ihre verständnislosen Gesichter. Das Klavier war längst beschlossen. Anke. Manchmal hat sie gesungen. Sie saß nackt auf dem Bettrand, gebannt lag ich da, die Hand auf ihrem Rücken. Siegessicher kündigt der Gitarrist die Lieder an, die er bestimmt alle selbst geschrieben hat. Ich starre hoch auf die Bühne, voller Neid. Das sind die Helden, die jeder hört, die man einfach gut finden muss, so sehen sie aus, souverän, gestylt, nicht stinkiger, als die Szene es vorschreibt. Du bist nichts, und was du hattest, hast du verloren. Leere Hände, leeres Herz, leeres Hirn, kein Antrieb, kein Sinn, kein Leben, eine Illusion, dein "Studium", klein und dumm, du kletterst und krabbelst und kommst nicht mal an den Rand deiner Grube. Ein wenig Regen fällt nieselig aus dem Himmel, niemanden stört es, alle starren hoch auf die Bühne und hören zu. Der Gitarrist lächelt. Flucht aus der Heerstraße. Gesichter gleiten vorbei, redend, lachend, kauend, spaßverzerrt, bis ich endlich auf meinem Fahrrad sitze und erleichtert festelle, dass der 1. Mai in Poppelsdorf ein lebloser, leerer Tag ist wie die Sonntage. Im Fahrradkorb lag ein PDS-Fähnchen, das jetzt in meinem Blumentopf steckt. Miles, Stan, meine einzigen Freunde, meine einzige Freude, ich danke euch, dass ihr jetzt für mich spielt.2. Mai Axel, mein alter Zivikumpel, hat mir lieb geschrieben. Der Arme arbeitet immer noch in der Werkstatt. Er schreibt, er beneide mich um meine Freiheit. Was gibt es an MIR zu beneiden zur Zeit? Schön ist etwas doch nur, wenn man es teilen kann, wenigstens mitteilen! Wertvoll ist etwas doch nur, wenn man es gemeinsam mit einem Menschen zustandebekommt, den man liebt! Nähe, gemeinsames Sehen, gemeinsame Geheimnisse, das bedeutet für mich Leben! Dann kommt meinetwegen die Freiheit, was immer sie einem dann noch bedeutet! Was ist schon wertvoll am Alleinsein, was sinnvoll, gut? Na gut, was man sich erkämpft, ist eigen. Nichts tut weh, nichts zerbricht, nichts piekt und sticht an einem anderen. Die einzige Wahrheit findet man nur in sich. Aber kann man sich das nicht gegenseitig beibringen, und wieder teilen, helfen, halten, lieben?3. Mai Was weiß ich schon von ihm? Auf wen habe ich eigentlich Wut? "Rolf." Ist es eine Person, ein Mensch? Details, die ich von ihm weiß, ergeben zusammengesetzt eine Fratze, die gut in den Kram von einem passt, der hasst. Aber diese Details hat Anke mir ja nur zugetragen, wenn ausgerechnet ich wieder ihren Beziehungsmüll erzählt bekam, denn nur mir konnte sie ihn ja erzählen - ich verstehe sie ja als einziger so gut... Ein seltsamer Trost, zu hören, dass er oft unsensibel, unnahbar und stoisch ist, jedem Streit ausweicht. Was hilft es mir, zu wissen, dass er ihr eigentlich nicht gewachsen ist? Nichts hilft es, sie klagt, und küsst ihn, sie weint, aber sie gehört ihm. Meine paar Einblicke bedeuten gar nichts dagegen. "Ich hänge an ihm", sagt sie, und sagt das nicht alles? Wie oft hat sie mich weinend angerufen, sobald er gegangen war! Das sagt noch lange nichts! Was zählt, weiß ich selbst nur zu genau, und es mir vor Augen zu halten, bedeutet schreckliche, klare Traurigkeit. Was für eine Ohnmacht, was für ein Hohn, zu ahnen, dass er sie kaum versteht, und doch ihre Liebe bekommt! Was zählen dann noch unsere Gespräche? Alles Quark, Happen für zwischendurch!