Schlittenfahrt ins Glück - Susanne Rößner - E-Book
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Schlittenfahrt ins Glück E-Book

Susanne Rößner

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Beschreibung

Nach dem tragischen Tod ihrer großen Liebe hat Laura nicht zuletzt wegen ihrer kleinen Tochter Toni zu einer Art Alltag zurückgefunden. Doch das Dasein als alleinerziehende Mutter nagt an ihr – vor allem seit sie von Schwindelanfällen geplagt wird. Wer kümmert sich um Toni, wenn sie wirklich krank ist? Bei einem Ausflug an den Schliersee tritt der Ernstfall ein: Laura wird ohnmächtig, und nur einem aufmerksamen Mann ist es zu verdanken, dass sie gefunden und in eine Klinik gebracht wird. Was sie nicht ahnt: Florian hat nicht nur ihr Leben gerettet, er wird es auch gehörig durcheinanderbringen …

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deISBN 978-3-492-99145-2© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

1. Als Florian die …

2. Zwei Tage später …

3. Fünf Tage später …

4. Das kleine Grüppchen …

5. Bedrückt betrachtete Florian …

6. Nach zwei Besuchen …

7. Der nächste Tag …

8. Am nächsten Vormittag …

9. Du hast mich gestern …

10. Am nächsten Tag …

11. Lauras Zustand stabilisierte …

12. Am nächsten Morgen …

13. Vor Lauras Entlassung …

14. Lauras erster Abend …

15. Ein paar Tage …

16. Da am Samstag …

17. Dreißig Minuten später …

18. Es dauerte keine Minute …

19. Zwei Tage später …

20. Ich bin so froh …

21. Laura schreckte hoch …

22. Im gleichen Tempo …

23. Am nächsten Morgen …

24. Bist du so weit …

25. Seit Florians unerwarteter Abreise …

26. Ich dachte, wir lassen …

»Mami?«

»Ja, Mäuschen?« Laura war völlig verzaubert vom Eifer ihrer kleinen Tochter. Sie war, wie so oft, hin und her gerissen, dem Mädchen jeden Wunsch von den Augen abzulesen und doch dafür zu sorgen, dass es nicht über die Stränge schlug. Das war ein immerwährender Kampf, den Laura deswegen mit sich ausfocht, aber immerhin einer, der sich über die Maßen lohnte.

»Können wir Kuchen backen?« Toni strahlte schon jetzt vor Vorfreude. Ihre Mutter war eine leidenschaftliche Bäckerin und verköstigte jeden Wanderer und Mountainbiker, der zufällig oder auch weniger zufällig an ihrer pittoresken kleinen Alm in den bayerischen Voralpen des Weges kam, mit einer Kostprobe ihrer Kreationen. Was im Laufe der Zeit dazu geführt hatte, dass der Backofen fast täglich in Betrieb war und Toni sich zu einer eifrigen kleinen Helferin entwickelt hatte, auch wenn ihre Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, den Kuchenteig wieder und wieder zu probieren, um herauszufinden, ob er auch wirklich gut genug gelungen war.

»Klar backen wir einen Kuchen, wenn du das möchtest. Welchen wünschst du dir denn heute?«

»Himbeerkuchen!«

Laura lächelte. »Ich weiß nicht, ob es noch frische Himbeeren gibt«, sagte sie. »Aber wir können schnell in den Ort fahren und nachsehen, was hältst du davon?«

»Ja!« Toni strahlte übers ganze Gesicht.

Drei Stunden später herrschte in der Küche ein einziges Durcheinander. Eifrige Kinderhände hatten im ganzen Raum Mehl verstreut, und die Arbeitsplatte war mit kleinen Teigklumpen überzogen, die es sogar bis an die Wände geschafft hatten. Doch jetzt war der Kuchen im Ofen, und Laura lächelte glücklich, während sie Toni ansah, die, auf einem hohen Hocker sitzend, das Backrohr mit Argusaugen beobachtete.

Als Laura sich bückte, um die Tür unter der Spüle zu öffnen, konnte sie sich gerade noch an der Arbeitsplatte festhalten, so heftig war der Schwindel, der sie plötzlich überkam. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Nach zehn Minuten war der Anfall vorüber. In letzter Zeit passierte ihr das ziemlich oft, doch bislang hatte sie es als Nachwehen einer fiesen Sommergrippe abgetan, die sie während der brütenden Augusthitze vierzehn Tage lang komplett ausgeknockt hatte. Wobei das auch schon wieder Wochen her war. Falls es nicht bald besser wurde, würde sie nicht umhinkommen, einen Arzt aufzusuchen. Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie eine fürchterliche Angst, dass der Auslöser für diese Schwindelanfälle etwas Ernsthaftes sein könnte.

Allein beim Gedanken, was aus ihrem Töchterchen würde, falls sie eine schlimme Krankheit hatte, wurde ihr schlecht. Doch ihr Verstand sagte ihr auch, dass es reichlich dämlich war, den Arztbesuch auf die lange Bank zu schieben. Gerade bei einer schwerwiegenden Erkrankung war es doch besser, diese frühestmöglich zu behandeln. »Du hast ja recht«, antwortete Laura der Stimme in ihrem Kopf. Und vielleicht war ja auch alles in Ordnung, und sie machte sich umsonst Sorgen. Laura griff nach ihrem Telefon, wählte die Nummer ihres Hausarztes und vereinbarte einen Termin für den nächsten Tag.

Während sie anschließend weiter die Küche putzte, beschloss sie, nachher noch eine Runde im Schliersee zu schwimmen. Vorher würde sie Toni zu ihrer liebsten Freundin bringen, bei der sie heute übernachten durfte und mit der sie morgen früh zusammen zum Kindergarten laufen würde. Sie packte ein paar Badesachen in ihre Sporttasche, steckte ein Handtuch und Flipflops dazu, dann begab sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter, die sie wie erwartet bei ihren kleinen Lieblingen im Ziegengehege fand.

Die heftigen Regenfälle der letzten Woche hatten die Wanderwege und Trails der Umgebung in Schlammpisten verwandelt, und obwohl Laura das früher nie für möglich gehalten hätte, fehlte es ihr, sich in der freien Natur zu verausgaben. Seit Franzi ihr das Mountainbiken beigebracht und sie ausgelacht hatte, als sie im Hochsommer zum Schwimmen im Schliersee einen Neoprenanzug brauchte, hatte sich vieles geändert. Die letzten sechs Jahre hatten sie abgehärtet, und aus der verweichlichten Großstadtpflanze war ein robustes Landmädel geworden.

Als Florian die Treppen des Sprungturms vor sich sah, schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter. Er war felsenfest entschlossen, über kurz oder lang die diffuse Furcht zu überwinden, die ihn immer wieder wie aus dem Nichts heraus erfasste, seit seine kleine Schwester bei einem Tauchgang in Ägypten verunglückt war. Deshalb kam er mehrmals in der Woche hierher. Früher hatte er das Wasser nicht nur geliebt; er war eine leidenschaftliche Wasserratte gewesen und hatte es in vollen Zügen genossen, von dem kleinen Turm in den See zu springen. Manchmal war er sogar bis nach München ins Olympiabad gefahren und stand dann mit zitternden Knien auf dem Zehnmeterbrett. Irre hoch war das gewesen, und der Kick war unglaublich, wenn man sich erst einmal überwunden hatte, den entscheidenden Schritt zu tun. Das Adrenalin schoss wie ein Turbo durch seine Blutbahn, und alle Zellen seines Körpers schrien förmlich nach mehr.

Doch dann passierte Charlies Unfall. In der ersten Zeit peinigten ihn jede Nacht Albträume, aus denen er schweißgebadet erwachte. Die Panik, die seine Schwester unter Wasser mit Sicherheit erfasst hatte, musste entsetzlich gewesen sein, und seine Fantasie, die im Schlaf noch lebhafter war als sonst, ließ ihn ihre Todesangst am eigenen Leib spüren. Als die bedrückenden Träume nach vielen Monaten endlich nachließen, musste er feststellen, dass das Ungeheuer sich von seinem Unterbewusstsein in die Realität geschlichen hatte. Seither war ihm selbst das Seeufer unheimlich, und eine veritable Höhenangst hatte sich ebenfalls dazugesellt.

Sein Hausarzt hatte ihm dazu geraten, einen Therapeuten aufzusuchen, nachdem sie das Thema ausführlich miteinander besprochen hatten. Und während der Sitzungen bei dem Spezialisten, den ihm sein Arzt empfohlen hatte, wurde Florian dann auch klar, dass er unter höllischen Schuldgefühlen litt. Er glaubte, seine Schwester im Stich gelassen zu haben, auch wenn er wusste, dass es Unsinn war, sich für etwas die Schuld zu geben, woran er in keiner Weise beteiligt gewesen war. Doch das entsetzliche Gefühl war geblieben.

»Versuchen Sie, sich Ihrer Furcht zu stellen, so lange, bis sie sich abnutzt. So ein Prozess wird wahrscheinlich einige Zeit dauern, aber keine Sorge, eines Tages wird die Angst Stück für Stück kleiner werden«, hatte der Therapeut ihn ermutigt.

Seither kam Florian immer dann ins Schlierseer Strandbad, wenn noch keine Horden von Jugendlichen den Dreimeterturm belagerten. Unter der Woche war es bis zum frühen Nachmittag fast menschenleer, und die wenigen Besucher waren entweder Senioren oder junge Mütter mit Kleinkindern. Touristen verirrten sich hauptsächlich in der Ferienzeit hierher, aber die war glücklicherweise seit ein paar Wochen vorbei.

Von der Ferne betrachtet, wirkte der Sprungturm lächerlich klein. Doch je näher Florian dem Wasser kam, desto größer wurde die Bedrohung, die es auf ihn ausstrahlte.

Dennoch ließ er sich nicht entmutigen; immerhin kam er in kleinen Etappen voran. Gerade heute wäre es ihm eine besondere Genugtuung, endlich den entscheidenden Schritt machen zu können. Eine Zeit lang hatte er eine Frau beobachtet, die ihm auf dem Weg vor den Umkleidekabinen entgegengekommen war. Nicht nur, dass er sie bildhübsch fand, es war auch etwas in ihrem Blick, das ihn besonders ansprach. Erst hätte er nicht sagen können, was es war, doch dann wurde ihm bewusst, dass es der Hauch von Wehmut in ihren Augen war, der sein Innerstes berührte. Eine Traurigkeit, wie er sie selbst nur zu gut kannte. Er atmete tief durch. Ja, heute würde er es schaffen. Er würde den Turm erklimmen, den Kloß in seinem Hals hinunterschlucken, und dann würde er springen. Und zur Belohnung würde er sie fragen, ob er sie auf einen Kaffee einladen durfte.

Einer spontanen Eingebung folgend, hatte Laura ihr Vorhaben, bei den Bootshäusern im Süden in den See zu springen, zugunsten eines Besuchs im Schlierseer Strandbad geändert. Auch wenn es an schönen Sommertagen oft brechend voll war, hatte das Strandbad wirklich alles, was das Herz begehrte. Außerdem war es eine Institution, die fast schon Kultcharakter besaß. Es gab einen beaufsichtigten Nichtschwimmerbereich, mehrere im See verankerte Badeinseln, ein Beachvolleyballfeld, einen Biergarten, eine Loungeinsel, die in den See hineingebaut worden war, und einen riesigen, runden Holzpavillon mit Glasdach, in dem man herrlich sitzen und auf den See und die dahinterliegenden Berge hinausschauen konnte. Um den Strandbadcharakter beizubehalten, musste man sich seine Getränke und das Essen zwar selbst holen, dafür saß man aber an hübsch gedeckten Tischen vor einem traumhaften Panorama. Im letzten Winter war der Pavillon mit bis zum Dach ragenden Glastüren versehen worden, die an warmen Tagen zur Seite geschoben wurden und bei schlechtem Wetter einfach geschlossen werden konnten. Nun konnte man bis in die Abendstunden dort sitzen, ohne dass einem kalt wurde. Dazu war das angebotene Essen nicht nur vielfältig und köstlich, es war auch für jeden Geldbeutel etwas dabei. Wegen Toni hatte Laura zwar nicht allzu oft die Möglichkeit, am Abend herzukommen, aber die lauen Sommernächte, in denen sie hier mit einem Glas Wein in der Hand den Sonnenuntergang am gegenüberliegenden Ufer beobachten konnte, während um sie herum die Glühwürmchen flogen und die Grillen zirpten, waren einfach Balsam für die Seele.

Laura beschloss, erst eine Runde zu schwimmen und es sich dann mit einem Kaffee und einem Stück Kuchen am Ufer gemütlich zu machen. Mit dem großen Zeh prüfte sie die Wassertemperatur, während sie die herrliche Umgebung in sich aufnahm. Obwohl sie sich abgeduscht hatte, kostete es sie eine ziemliche Überwindung, in den kalten See zu steigen. Sie biss die Zähne zusammen und ließ sich vorsichtig in das glasklare Nass gleiten. Nach dem ersten Schockmoment war es einfach herrlich. Sie begann, den Kopf noch über Wasser, zu kraulen. Anfangs hatte sie diesen Schwimmstil gehasst. Sie kam sich so unbeholfen vor wie ein junger Welpe, geradeso, als ob sie dabei keinen Meter vorankäme. Doch jetzt genoss sie es, mit langen Zügen durch den See zu schwimmen, vor sich ein Alpenpanorama, wie es schöner nicht sein konnte. Sie schwamm ein Stück auf die bewaldete Insel Wörth und den Westerberg zu, dann bog sie nach links in Richtung Süden ab und sah Brecherspitz, Bodenschneid, Miesing und Jägerkamp vor sich. Ihre Bewegungen wurden langsamer, dann richtete sie sich im Wasser auf. Nur mit den Beinen tretend, sog sie das Bild in sich auf. Obwohl sie bei schönem Wetter jeden zweiten Tag mit Toni ins Strandbad kam, konnte sie sich nicht an den Bergen sattsehen, die den smaragdgrünen See umgaben. Von imposanten Gipfeln flankiert, hatte dieses kleine Naturwunder dem Menschen nur seine Ostseite zur Bebauung freigegeben, während am Westufer gerade genug Platz für einen Spazierweg blieb. Als sich eine Erinnerung in Lauras Kopf schlich, musste sie lachen. »Ich hasse die Berge«, hatte sie vor einigen Jahren zu ihrer Freundin Gabi gesagt. Heute wusste sie im tiefsten Inneren ihrer Seele, dass sie ihre Heimat waren. Sie waren der Platz, an den sie gehörte, auch wenn sie für das Schlimmste verantwortlich waren, was in Lauras Leben passiert war.

Nach ein paar Minuten spürte sie, wie sie durch das kalte Wasser ganz steif wurde. Sie riss sich vom Anblick ihrer geliebten Berge los, setzte ihre Schwimmbrille wieder auf und fing erneut an zu kraulen. Ihre Züge wurden schneller, als sie merkte, dass ihre Muskeln warm wurden. Nachdem sie einige Male hin- und hergeschwommen war, wechselte sie in die Rückenlage und ließ sich treiben. Sie beobachtete, wie ein Mann mit vorsichtigen Schritten auf den Sprungturm kletterte, und musste lächeln. Ihr hatte es nie etwas ausgemacht, oben zu stehen und hinunterzuspringen. Er jedoch fühlte sich ganz offensichtlich unwohl. In Gedanken spornte sie den Mann an, weiter hinaufzuklettern und seine Angst zu überwinden. Als er endlich oben angekommen war, erkannte sie ihn. Es war der Mann, der ihr schon bei den Umkleiden aufgefallen war. Sie erinnerte sich an seine warmen, freundlichen Augen, als er sie angesehen hatte, und an das verlegene, jungenhafte Lächeln, das er ihr schenkte, als sie seinen Blick erwiderte.

Einen Moment lang war sie in Versuchung, ihm zuzuwinken, doch dann kam sie sich albern vor. Sie kam zurück in Bauchlage und fing wieder an, geschmeidig durchs Wasser zu pflügen.

Ohne Vorwarnung wurde ihr auf einmal erneut schwindlig. Vermutlich hatte die rasche Drehung im Wasser ihr Gleichgewichtsorgan durcheinandergebracht. Hilflos richtete sie sich auf, doch alles um sie herum drehte sich. Sie strampelte hektisch mit den Füßen, dann merkte sie, wie ihr übel wurde. Panisch blickte sie sich um, suchte das Ufer, doch das schien meilenweit entfernt zu sein. Mit den Händen versuchte sie nach etwas zu greifen, das sie über Wasser hielt, doch sie fasste ins Leere. Ein gequälter Schrei drang zwischen ihren Lippen hervor. Das Element, das sie so liebte, war plötzlich zu einer Bedrohung geworden. Hektisch schlug sie um sich, dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Florians Knie waren weich wie Gummi, als er endlich die oberste Stufe des Turms erreicht hatte. Mit schweißnassen Händen klammerte er sich an das Geländer, das das Sprungbrett seitlich flankierte. Auch heute würde er es nicht schaffen zu springen. Aber immerhin hatte er es bis ganz nach oben geschafft, und das war mehr, als er in den letzten Tagen hätte behaupten können. Als sein Blick die Wasseroberfläche streifte, breitete sich ein dumpfes Gefühl in ihm aus. Schnell sah er auf und versuchte mit den Augen die Berge zu fixieren, die sich im Süden des Sees malerisch gegen den Himmel erhoben. Das half, und sein Atem wurde wieder etwas ruhiger. Als er erneut nach unten sah, entdeckte er die Frau von vorhin wieder. Sie ließ sich auf dem Rücken treiben und hatte ihren Blick nach oben gerichtet. Fast hatte er den Eindruck, als würde sie ihn beobachten. Doch dann drehte sie sich zurück auf den Bauch und begann mit kräftigen Zügen vorwärtszuschwimmen. Während er ihr nachblickte, vergaß er für einen Augenblick, wo er sich befand, bevor ihn die Angst mit einem Schlag zurück in die Wirklichkeit katapultierte. Seine Hände umklammerten das Metallgeländer, sein Herz raste, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er musste zusehen, dass er wieder nach unten kam. Langsam hangelte er sich zurück zu dem Punkt, an dem die Treppe begann. Von dort warf er einen letzten Blick auf den See und war irritiert: Die Frau, die zuvor noch mit anmutigen Bewegungen durchs Wasser geglitten war, schlug jetzt wild um sich. Er erschrak. Hilflos irrte sein Blick zum Ufer, doch der Bademeister war gerade damit beschäftigt, ein Kind zu verarzten, das sich das Knie aufgeschlagen hatte, und auch sonst schien niemand zu bemerken, dass die Frau offenbar in Not war. Sein Gehirn berechnete in Windeseile die Zeit, die er brauchen würde, um die Treppen hinunterzuklettern und den Bademeister zu verständigen. Dann wurde ihm klar, dass es zu lange dauern würde.

Plötzlich stieß sein Körper Adrenalin im Übermaß aus. Allein davon wurde ihm erneut schlecht. Doch nun zögerte er keine Sekunde mehr. Mit unsicheren Schritten lief er über das wippende Brett nach vorne, blendete jeden Gedanken aus, holte einmal tief Luft und ließ sich in die Tiefe fallen.

Als er mit den Füßen voran eintauchte, drückte ihm die Wucht alle Luft aus der Lunge. Für einen Moment dachte er, er würde ertrinken. Doch dann strampelte er sich nach oben, orientierte sich mit einem kurzen Blick, schwamm mit kraftvollen Zügen zu der Stelle, wo er die Frau zuletzt gesehen hatte, holte erneut tief Luft und tauchte ab. Eine eiserne Faust umklammerte sein Herz, als er sie im Wasser treiben sah. Er packte sie an den Oberarmen und zerrte sie hinauf, dem Licht entgegen, das sich mit schimmernden Strahlen einen Weg durchs Wasser suchte. Sobald er die Wasseroberfläche durchbrochen hatte, schrie er lauthals um Hilfe, und mehrere Personen am Ufer wurden auf ihn aufmerksam. Der Bademeister hechtete in voller Kleidung ins Wasser und schwamm Florian entgegen. Gemeinsam schafften sie es bedeutend schneller, die ohnmächtige Frau ans Ufer zu bringen. Dort angelangt, streckten sich ihnen sechs helfende Hände entgegen. Völlig erschöpft taumelte Florian aus dem Wasser. Wie durch einen Nebel sah er, dass der Bademeister damit begonnen hatte, die Frau wiederzubeleben.

»Brauchen Sie auch einen Arzt?«, fragte der Bademeister eine Viertelstunde später besorgt und drückte Florian einen Kaffee in die Hand. »Der Krankenwagen kommt gleich.«

Immer noch benommen, richtete Florian sich auf. Wieso kümmerte sich der Mann um ihn statt um die Frau? »Was ist mit ihr?«

»Sie ist vor ein paar Minuten zu sich gekommen, ist aber völlig desorientiert. Ich habe auch die Polizei gerufen.«

»Die Polizei? Wieso denn das?«, wollte Florian wissen.

»Vorsichtshalber. Das ist…«

Bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, liefen zwei Sanitäter mit einer Trage, gefolgt von einem Notarzt, durch das Strandbad. Laura, die versucht hatte, sich aufzusetzen, lag mittlerweile wieder flach am Boden. Irgendjemand hatte die Umsicht bewiesen, ihr ein paar große Handtücher unter die Beine zu schieben und sie hochzulagern. Da sie wieder ansprechbar war, hatte sich die stabile Seitenlage erübrigt.

Laura war das Ganze fürchterlich unangenehm. Am liebsten hätte sie sich angezogen und wäre nach Hause gefahren. Doch dem Gesichtsausdruck des Arztes zufolge war das im Augenblick keine Option, und sie war auch wirklich noch ganz schön zittrig und durcheinander.

»Sie haben sie aus dem Wasser gezogen?« Die beiden Polizisten sahen Florian fragend an.

»Ja.« Florian nickte. »Ich stand auf dem Sprungturm, als ich gesehen habe, wie sie um sich schlug.«

»Dann haben Sie ihr wohl das Leben gerettet«, stellte der Polizist fest. »Kennen Sie die Frau?«

Florian schüttelte den Kopf. »Nein, aber soweit ich es mitbekommen habe, ist sie alleine hier.«

»Mist«, sagte der Polizist zu seiner Kollegin. Der Krankenwagen war so schnell mit seiner Patientin abgefahren, dass sie sie nicht hatten fragen können. »Dann müssen wir warten, bis alle Badegäste weg sind, damit wir den Spind finden und feststellen können, wer sie ist.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«

Verwundert sah der Polizist Florian an. »Ich dachte, Sie kennen sie nicht?«

Florian verzog den Mund. »Tue ich auch nicht. Ich habe aber gesehen, welchen Schrank sie belegt hat.«

Der Polizist nickte. »Gut. Zeigen Sie ihn mir bitte.«

Fünf Minuten später kam der Bademeister mit einem Generalschlüssel zu ihnen und öffnete den Spind der jungen Frau.

Der Polizist rief seine Kollegin zu sich, die die Personalien der anderen Badegäste aufnahm, die den Vorfall beobachtet hatten. »Besser, du machst das.«

Die junge Beamtin holte eine Handtasche heraus und durchsuchte die Fächer nach einem Portemonnaie. Nach ein paar Sekunden hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie öffnete den Reißverschluss und zog einen Ausweis heraus. »Laura Wagner«, las sie vor. »Wohnhaft in Schliersee.«

Erleichtert atmete Florian aus. Nachdem der Polizist ihn weggeschickt hatte, hatte er in der Nähe darauf gewartet, ob er noch etwas über die Frau erfahren würde. Nun wusste er ihren Namen. Immerhin. Und dass sie in Schliersee wohnte. Der Ort war klein genug, sodass er gute Chancen hatte, sie später wiederzufinden. Aber zuerst musste er wissen, ob es ihr gut ging. Er holte seine Sachen, lief zur Umkleide und zog sich an.

Zwanzig Minuten später fuhr er auf den Parkplatz des Krankenhauses Agatharied, in das der Krankenwagen Laura sicher gebracht hatte, da es die einzige Klinik in der Nähe war und nur wenige Kilometer vom Schliersee entfernt lag. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich erhielt er eine Auskunft darüber, wie es Laura ging. Auch wenn er vielleicht nichts Genaues erfuhr, er musste es einfach versuchen. Irgendetwas war mit ihm passiert, als er die hübsche Frau mit dem traurigen Ausdruck gesehen hatte. Das scheue Lächeln hatte sein Herz berührt, und die schönen dunklen Augen hatten bis tief in sein Innerstes geblickt. Zumindest war es ihm so vorgekommen.

Er blieb noch eine Weile im Auto sitzen und dachte nach. Schließlich fasste er einen Entschluss, stieg aus und lief mit langen Schritten zum Eingang. An der Rezeption wartete er geduldig, bis die junge Frau hinter der großen Glasscheibe ihm Beachtung schenkte.

»Die Polizei hat mich verständigt, dass meine Freundin nach einem Badeunfall hierher gebracht wurde. Können Sie mir sagen, in welchem Zimmer sie liegt?«

Einen Augenblick lang dachte er, dass die Frau ihn nicht verstanden hatte, da sie ihn weiterhin wartend ansah. Als er nicht reagierte, schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln. »Solange Sie mir den Namen Ihrer Freundin nicht sagen, kann ich Ihnen nicht helfen.«

Florian wurde rot. Wie dumm von ihm. »Entschuldigung. Ich bin etwas durcheinander. Der Name ist Laura Wagner.«

»Einen Augenblick bitte.« Die Frau tippte etwas in ihren Computer und hatte nach weniger als einer Minute das Gesuchte gefunden. »Im Moment ist Ihre Freundin noch in der Notaufnahme«, sagte sie bedauernd. »Sie wird vermutlich noch untersucht. Solange das Ergebnis nicht feststeht, wissen wir auch nicht, auf welche Station sie anschließend kommt.«

Florian überlegte. Es machte keinen Sinn, vor der Unfallstation zu warten, da man dort sicherlich wissen wollen würde, wer er sei und was er von Laura wollte. Wenn er Pech hätte, wäre sogar bereits jemand von ihrer Familie vor Ort, und derjenige würde erst recht Fragen stellen. Es war besser, später zurückzukommen. Dann hätte er vielleicht mehr Glück und würde erfahren, auf welcher Station Laura lag.

Am nächsten Morgen parkte er schon um acht Uhr vor der Klinik. Sein Wunsch, dass heute jemand anderes an der Rezeption sitzen würde, wurde ihm zu seiner Erleichterung erfüllt. Nie im Leben hätte ihm die junge Frau von gestern abgenommen, dass er noch immer nicht wusste, wo seine angebliche Freundin untergebracht war. Jetzt saß ein alter Drachen hinter der Glasscheibe und musterte ihn unwillig.

Florian grüßte freundlich und fragte nach Laura Wagner.

»Station vier, Zimmer zwölf.«

Erleichtert sah Florian sich um, bis er ein Schild entdeckte, das ihm den Weg wies. Nachdem er die halbe Nacht gegrübelt hatte, was er sagen sollte, wenn er Laura wiedersah, war die einzige Möglichkeit, die ihm eingefallen war, sich an die Wahrheit zu halten: Er hatte sie gerettet und wollte wissen, wie es ihr ging, und damit basta.

Bevor er die Treppe nahm, die zu der Station führte, auf der Laura lag, klingelte sein Telefon. Er sah auf das Display und wusste sofort, dass das Gespräch zu wichtig war, um es zu ignorieren. Mist. Er meldete sich, ging mit dem Handy am Ohr in Richtung Cafeteria und setzte sich an einen Tisch, der etwas abseits von den wenigen Patienten stand, die dort ihren Kaffee tranken.

Entnervt hörte er dem Anrufer zu und versuchte ihn schnellstmöglich abzuwimmeln, als Laura, gefolgt von einer Frau, die nur eine Freundin sein konnte, um die Ecke bog. Florians Herz machte einen Satz. Laura schien es wieder besser zu gehen, sonst hätte sie das Zimmer niemals auf eigenen Beinen verlassen dürfen. Trotzdem gefiel ihm nicht, was er sah. Im Gegensatz zum Vortag, als sie ihm im Schwimmbad über den Weg gelaufen war, sah Laura sehr blass aus, und ihr Gesicht war von Sorgen gezeichnet. Schnell senkte er den Blick und wandte sich etwas ab, damit sie ihn nicht erkannte.

»Hier ist es prima«, sagte Laura gequält. »Ich musste einfach aus dem Zimmer raus, sonst wäre mir noch die Decke auf den Kopf gefallen.

»Bist du dir sicher, dass du dich überhaupt von dort entfernen darfst?«, fragte Franzi besorgt.

»Alles ist besser, als untätig im Bett zu liegen. Lass uns den Tisch dort drüben nehmen.«

Das Café war um diese Uhrzeit zwar nur mäßig besucht, aber sie wollte keine Zuhörer bei dem, was sie ihrer Freundin gleich erzählen musste. Der Tisch in der Ecke war der einzige, der so etwas wie Privatsphäre bot, auch wenn am Nebentisch ein Mann saß, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Doch da er telefonierte, würde ihn kaum interessieren, was sie mit Franzi zu besprechen hatte.

»Laura, du machst mir Angst. Wenn ich dich so ansehe, weiß ich sofort, dass etwas Schlimmes passiert ist. Und ich bin hin und her gerissen, ob ich überhaupt erfahren möchte, was los ist.«

Laura fasste nach den Händen ihrer Freundin und begann zu weinen. »Ach, Franzi, ich habe solche Angst. Die Ärzte haben festgestellt, dass die Schwindelanfälle durch ein gerissenes Trommelfell kommen. Wahrscheinlich sind das noch die Nachwehen der Ohrenentzündung, die ich infolge der Sommergrippe hatte.«

Franzi atmete erleichtert auf. »Aber das ist doch nicht schlimm. Das heilt bestimmt wieder!«

Laura ließ Franzis Hand los und putzte sich mit einer Serviette die Nase. »Das mit dem Riss ist nicht schlimm, das stimmt. Aber die Ärzte haben auch ein MRT von meinem Kopf gemacht, und dabei kam heraus, dass …«

Franzi wartete darauf, dass Laura weiterredete. Doch es kam nichts. »Laura«, sagte sie schließlich ängstlich. »Bitte sag mir, was los ist.«

Laura wurde noch blasser, als sie sowieso schon war. »Auf den Bildern ist zu sehen, dass ich ein Aneurysma im Kopf habe.«

Minutenlang war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Florian, der gerade seine Tasse zum Mund führen wollte, stellte sie zurück auf den Teller, ohne getrunken zu haben. Dem Anrufer, dessen Stimme noch immer dumpf aus seinem Telefon drang, hörte er schon längst nicht mehr zu. Obwohl es im Raum sicherlich dreiundzwanzig Grad hatte, war ihm plötzlich eiskalt. Nachdem er zuvor ebenfalls erleichtert darüber gewesen war, dass Lauras Anfall im Freibad nur von einer noch nicht verheilten Ohrenentzündung herrührte, hatte er jetzt das Gefühl, man habe ihm gerade einen Schlag in den Magen versetzt. Ein Aneurysma im Kopf? Auch wenn er sich in medizinischen Dingen nicht gut auskannte, so wusste er doch, dass mit der krankhaften Erweiterung einer Arterie nicht zu spaßen war. Am liebsten wäre er zu Laura hinübergelaufen und hätte sie in die Arme genommen.

»Und was heißt das?«, wisperte Franzi. »Muss das operiert werden?«

»Die Ärzte raten dazu«, antwortete Laura. »Sie sagen, es sei eine tickende Zeitbombe.«

»Oh mein Gott.« Franzi schlug die Hände vor den Mund. »Und wenn dabei was schiefgeht?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich kann überhaupt nicht mehr klar denken.« Laura begann erneut zu weinen.

»Ach, Schätzchen.« Franzi streckte ihre Arme nach Laura aus und zog sie an sich. »Wir schaffen das. Irgendwie. Ich bin immer für dich da. Und all deine anderen Freunde auch, das weißt du.«

»Ja.« Laura schluchzte. »Aber ich weiß auch, dass so eine Operation fürchterlich in die Hose gehen kann.«

Liebevoll griff Franzi nach Lauras Hand. »Vielleicht solltest du nicht gleich alles so schwarzsehen. Noch hast du dich nicht entschieden, ob du die Operation überhaupt durchführen lassen willst. Oder etwa doch?« Mit einem Anflug von Panik starrte sie Laura an. »Auf alle Fälle solltest du eine zweite Meinung einholen.«

In Lauras Gesicht machte sich ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit breit. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte sie. »Das Problem ist nur, dass ich überhaupt nicht weiß, an wen ich mich wenden soll.«

»Ich denke, du kannst in jeder anderen Klinik mit dieser Frage vorstellig werden. Oder dir einen Neurologen in der Nähe suchen, der dich ebenfalls beraten kann.«

Laura starrte auf ihre Hände. »Und was dann? Was, wenn sich die zweite Meinung mit der ersten deckt?«

»Haben die Ärzte gesagt, wie dringend die Operation ist?«, wollte Franzi wissen.

»Wenn man ihnen Glauben schenken darf, dann besser gestern als heute.«

»Scheiße.«

»Da sagst du was.« Laura starrte aus dem Fenster. »Bei der OP kann einfach so viel schiefgehen. Ich will nicht darüber nachdenken, wie mein und Tonis Leben aussehen würde, falls es zu Komplikationen kommt …«

Franzi war nicht daran gelegen, ihrer Freundin falsche Hoffnungen zu machen. Trotzdem war sie sich sicher, dass die OP nicht zwangsläufig fehlschlagen müsste. »Womit musst du rechnen, falls du das beschissene Ding nicht wegmachen lässt?«

»Dass das beschissene Ding, wie du es sehr treffend nennst, irgendwann reißt, eine Blutung in meinem Gehirn verursacht und es dann vermutlich gleich ganz vorbei ist.«

»Keine gute Option«, murmelte Franzi düster.

»Ich mag mir gar nicht vorstellen…«, Laura unterbrach sich. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Jeden.«

»Ich fühle mich nicht in der Lage, das alles hundertmal zu erzählen. Könntest du Maria und Mick informieren und auch die Feuerwehr anrufen, ihnen alles erzählen und sie für heute Abend zum Skypen zusammentrommeln?« Die Feuerwehr, das waren Lauras älteste Freunde aus Berlin. Laura, Helene, Gabi und Helge waren seit ihrer Kindheit ein eingeschworenes Team, und das hatte sich auch nicht geändert, als Laura vor drei Jahren eine überraschende Erbschaft gemacht hatte und an den Schliersee gezogen war.

»Klar.« Franzi war erleichtert, dass sie etwas für ihre Freundin tun konnte. Auch wenn die fürchterlichen Neuigkeiten für die anderen sicher genauso ein Schock sein würden wie für sie, war Franzi dankbar, darüber reden zu dürfen und nicht alles in sich hineinfressen zu müssen.

»Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt«, unterbrach Laura Franzis Gedanken.

»Bedankt? Wofür denn?«

»Dafür, dass du dich um Toni kümmerst, bis ich morgen entlassen werde.«

»Jetzt hör aber auf! Das ist ja wohl selbstverständlich!«

»Trotzdem danke.« Laura sah auf die Uhr. »Ich muss wieder hoch. In einer Viertelstunde steht eine weitere Untersuchung an. Drück mir die Daumen.«

»Aber so was von!« Franzi stand auf und nahm Laura fest in die Arme. »Ich drück dich und bin bei dir, was auch immer passiert«, flüsterte sie. »Ganz viel Glück!«

Erschüttert von dem, was er gehört hatte, trank Florian den Rest seines kalten Kaffees aus. Angewidert verzog er den Mund. Als er die Tasse abstellte, merkte er, dass seine Hand zitterte. Er wusste nicht, was er denken sollte. Konnte es sein, dass er Laura gestern vor dem Ertrinken gerettet hatte, nur damit sie jetzt erfahren musste, dass in ihrem Kopf eine Bombe tickte, die jederzeit hochgehen konnte? Er verstand nicht, wieso die Welt manchmal so ungerecht sein musste.

Zwei Tage später begleitete Franzi Laura nach München ins Klinikum Harlaching. Zum Glück hatte Laura dort schnell einen Termin bekommen. Da sie eine halbe Stunde zu früh waren, schlug Franzi vor, in der Cafeteria noch etwas trinken zu gehen.

»Lieber nicht.« Laura schüttelte den Kopf. »Ich befürchte, dass ich in den nächsten Wochen genügend Krankenhaus von innen zu sehen bekomme. Lass uns die Zeit lieber für einen kleinen Spaziergang nutzen.«

Das kleine Wäldchen hinter dem Krankenhaus war wie eine Oase, doch Laura hatte keinen Blick für die schönen alten Bäume und das Laub, das unter ihren Füßen raschelte. Der Herbst war gerade dabei, seine Pracht in allen Farben zu entfalten. Es war die Jahreszeit, die Laura nach dem Frühling am liebsten mochte. Zumindest, seitdem sie in Oberbayern lebte. In Berlin waren die Jahreszeiten einfach ineinander übergegangen. Aber in den Bergen des südlichsten deutschen Bundeslandes war der Unterschied zwischen den Jahreszeiten viel deutlicher spürbar. Obwohl sie den Winter früher gehasst hatte, freute sie sich mittlerweile darüber, wenn meterhoch Schnee lag. Es war so wunderschön anzusehen, wenn die Berge und Täler im Winterwunderland versanken. Doch heute konnte auch ihre geliebte Natur Laura nicht von ihren angstvollen Gedanken ablenken.

»Frau Wagner, Frau Hauser. Guten Tag.« Der ernst dreinschauende Arzt streckte ihnen die Hand zur Begrüßung entgegen. »Ich bin Professor Maurer. Bitte kommen Sie herein.«

Laura ließ sich zögernd auf der Stuhlkante nieder. Sie hatte alle Unterlagen dabei, die man ihr in Agatharied ausgehändigt hatte, wusste aber auch, dass sich die Ärzte bereits ausgetauscht hatten.

Eine Weile studierte der Arzt aufmerksam die Aufnahmen, die Laura auf einer DVD mitgebracht hatte. Dann sah er sie besorgt an.

»Ich würde Ihnen gerne erzählen, dass sich meine Kollegen geirrt haben, aber das wäre eine Lüge.« Professor Maurer nahm einen Stift, drehte den Monitor so zu ihr, dass sie das Bild darauf sehen konnte, und deutete auf die Stelle, die ihr bereits hinreichend bekannt war. »Sie müssen sich von dem Gedanken freimachen, dass es bessere oder schlechtere Stellen im Gehirn gibt, an denen ein Aneurysma sitzen kann. Egal, wo es sich befindet, es kann jederzeit reißen, und dann ist die Katastrophe in aller Regel nicht mehr aufzuhalten.« Er nahm seine Brille ab und wischte sich über die Augen. »Das Problem dabei ist, dass Sie nicht schnell genug reagieren können, falls es zu einer Ruptur der Gefäßaussackung kommt. Sie schaffen es weder rechtzeitig ins Krankenhaus, um die Blutung stoppen zu lassen, noch können Sie davon ausgehen, dass in dem Augenblick ein Operationssaal frei und ein Neurochirurg vor Ort ist, selbst wenn Sie direkt vor seiner Tür umkippen. Deswegen schließe ich mich der Meinung meines Kollegen uneingeschränkt an. Man kann im weitesten Sinne sagen, dass Sie Glück hatten, dass das Aneurysma durch einen Zufall überhaupt entdeckt wurde.«

»Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ding reißt?«, wollte Franzi wissen, da Laura wie gelähmt auf ihrem Stuhl saß.

»Wie Sie sich vorstellen können, gibt es dazu relativ wenig aussagekräftige Erfahrungswerte.« Der Arzt kniff die Augen zusammen. »Es gibt sicherlich Menschen, die mit einem angeborenen Aneurysma bis ins hohe Alter niemals Probleme verspüren, ja, noch nicht mal wissen, was da in ihrem Kopf für eine Gefahr sitzt. Sie müssen aber auch bedenken, dass die meisten Aneurysmen, die man entdeckt, bevor sie reißen, Zufallsbefunde sind wie bei Frau Wagner. Aussackungen, die reißen und damit zum Problemfall werden, waren vorher meist nicht bekannt. Jetzt können Sie sich sicher vorstellen, dass die Dunkelziffer der Betroffenen, die damit leben, es aber nie erfahren werden, enorm hoch ist.«

»Aber das würde doch heißen …«

»Es heißt vor allem, dass man damit rechnen muss, dass eines Tages der Ernstfall eintritt«, sagte der Arzt, der genau wusste, was Franzi durch den Kopf ging. »Die Frage ist, wie man damit umgeht. Oftmals leidet die Lebensqualität betroffener Personen enorm darunter, dass sie sich nicht mehr trauen, Dinge zu unternehmen, die sie zuvor für ihr Leben gern gemacht haben, da sie Angst davor haben, dass jede noch so kleine Anstrengung tödlich sein könnte.«

Laura schloss die Augen und atmete tief durch. »Was würden Sie Ihrer Frau raten, wenn die an meiner Stelle wäre?«

Müde schob der Mediziner die Unterlagen aufeinander. »Nichts anderes als Ihnen. Dass sie die Operation durchführen lassen soll. Aber das ist eine Entscheidung, die Ihnen niemand abnehmen kann. Wie man Ihnen in Agatharied sicherlich bereits gesagt hat, birgt auch die Operation Risiken.«

Laura nickte. »Ich weiß. Und die Gefahr, dass es zu gravierenden Komplikationen kommen kann, ist groß genug, um mir eine Heidenangst zu machen.«

»Es wäre nicht normal, wenn jemand in einer solchen Situation keine Angst hätte, glauben Sie mir.« Professor Maurer zog die DVD aus seinem Rechner, schob sie in die Hülle und gab sie Laura zusammen mit den Papieren zurück. »Wenn Sie möchten, können wir Sie hier noch einmal durchchecken. Allerdings haben die Kollegen in Agatharied bereits alle Untersuchungen durchgeführt, die nötig sind.«

Laura schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass das was bringt. Es sei denn, Sie können sich vorstellen, dass Ihre Untersuchungen noch genauere Ergebnisse liefern.«

Bedauernd schüttelte der Arzt den Kopf. »Davon ist nicht auszugehen.«

Laura erhob sich und reichte ihm die Hand. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Bevor sie das Zimmer des Arztes wieder verließen, hatte Franzi noch eine Frage. »Falls Frau Wagner sich zur Operation entschließen sollte, bliebe noch die Frage, wo und vom wem sie sie durchführen lassen soll.«

Professor Maurer warf einen raschen Blick auf die Patientenakte. »Sie leben am Schliersee?«

»Ja.«

»Dann befindet sich vermutlich Ihr gesamter Freundeskreis in der Gegend?«

»Bis auf ein paar Freunde, die in Berlin wohnen.«

»Dann spricht meiner Ansicht nach nichts dagegen, dass Sie den Eingriff in Agatharied vornehmen lassen. Zumindest hätte das den Vorteil, dass Sie täglich Besuch bekommen könnten. Man sollte den Einfluss sozialer Kontakte auf die Genesung keinesfalls unterschätzen.«

»Und wie steht es mit der Qualität der Klinik?«, wollte Franzi noch wissen.

»Agatharied verfügt über eine ausgezeichnete Neurochirurgie«, sagte der Arzt. »Genau wie wir hier in Harlaching. Diese Entscheidung kann Ihnen leider auch niemand abnehmen. Aber ich bin mir sicher, dass Sie hier wie dort gut aufgehoben sein werden, falls Sie sich zu dem Eingriff entscheiden.«

Die nächsten Tage vergingen für Laura wie in einem Nebel. Sie nahm nicht wahr, dass draußen die Sonne schien, und auch nicht, in welch glühenden Farben der Herbst Einzug ins Schlierseer Tal gehalten hatte. Doch sie merkte, dass ihr ganzes Leben nur noch von dem einen Gedanken beherrscht wurde. Deshalb fasste sie einen Entschluss.

»Ich werde mich operieren lassen«, teilte sie ihren Freunden mit. Helene, Gabi und Helge waren erneut über Skype zugeschaltet, Franzi, Mick und Maria hatten es sich zusammen mit Laura in deren großer Küche bequem gemacht, nachdem sie Toni gemeinsam ins Bett gebracht hatten.

»Bist du dir da wirklich sicher?«, fragten die Freunde fast gleichzeitig.

»Nein. Aber ich habe keine ruhige Minute mehr, wenn ich es nicht machen lasse«, sagte Laura bestimmt. »Ich denke an nichts anderes mehr, und auch Toni leidet schon darunter, dass ich mehr mit mir selbst beschäftigt bin als mit ihr.«

»Aber das ist doch ganz normal, dass du wegen dieser Entscheidung am Grübeln bist!«, sagte Gabi.

»Ich weiß«, gab Laura zu. »Aber ich traue mich fast nicht mehr, etwas zu unternehmen. Ich habe ständig Angst, dass das beschissene Ding in meinem Kopf reißen könnte, selbst wenn ich nur meine Tochter hochhebe. Das heißt, ich könnte in Zukunft weder wandern noch mountainbiken gehen, noch den Skikurs weitermachen, den ich im letzten Winter begonnen habe, oder sonst irgendwas unternehmen, das auch nur im Ansatz anstrengend ist. Ich würde permanent wie die sprichwörtliche Kuh auf dem Eis stehen und nur noch wie ein Zombie durch die Gegend wandeln.«

Mick, der neben Laura saß, zog sie zu sich heran und streichelte über ihre Haare. »Ich finde auch, dass du noch etwas abwarten solltest. Das ist eine Entscheidung, die man nicht übers Knie brechen sollte.«

»Gabi und Mick haben recht«, murmelte Maria düster, die eine besonders enge Beziehung zu Laura hatte. Obwohl Laura mit Marias Bruder Anton nicht verheiratet gewesen war, war Laura für sie nicht nur ihre Freundin, sondern spätestens seit Tonis Geburt auch ihre Schwägerin, Ehebund hin oder er. Und seitdem Maria wusste, wie krank Laura war, schien alle Lebenslust von ihr gewichen zu sein. Normalerweise gab es nichts, das ihren schier unbändigen Lebenswillen zu dämpfen vermochte, aber dass Laura urplötzlich vor einer Entscheidung derartiger Tragweite stand, raubte ihr den Schlaf. »Trotzdem …« Sie sammelte sich, bevor sie weiterredete. »Trotzdem klingt das, was Laura beschreibt, nicht nach Lebensqualität.« Sie drehte sich zu Laura und blickte ihr fest in die Augen. »Spür in dich hinein, ob du denkst, dass du es schaffen kannst, deine Lebensfreude auch ohne den Eingriff wiederzufinden. Wenn dieser zombieähnliche Zustand jedoch auch in Zukunft dein Tun und Handeln beherrscht, dann bleibt dir gar nichts anderes übrig, als dich unters Messer zu legen.«

Laura begann zu weinen. »Genau das ist es, was mich so fertigmacht.« Sie schniefte. »Und dazu kommt, dass ich nicht weiß, was mit Toni werden soll, falls mir etwas zustößt.«

Es dauerte ungefähr drei Sekunden, bis die Freunde wie auf ein Stichwort anfingen, wild durcheinanderzureden. »Darüber musst du dir keine Gedanken machen!«, »Wir kümmern uns um sie!«, »Da finden wir ganz sicher eine Lösung!«

Laura hob die Hände. »Stopp! Nicht alle auf einmal.« Sie warf einen unsicheren Blick in die Runde. »Ihr könnt mir glauben, dass ich weiß, dass ihr alle für mein Mäuschen da sein werdet. Aber falls die Operation schiefgeht, und damit meine ich nicht nur, dass ich dabei sterben könnte, sondern dass ich unter Umständen danach schwerstbehindert sein könnte, dann wird das, was mit Toni geschieht, nicht in eurer Hand liegen. Dann wird sich das Jugendamt einschalten und sich um einen Vormund kümmern.«

Nach Lauras Worten trat eine betretene Stille ein. Auch die Freunde in Berlin starrten hilflos auf den Bildschirm. Irgendwann hielt Franzi das Schweigen nicht länger aus. »Ganz ehrlich, wenn ich nur daran denke, drehe ich komplett durch.«

»Geht mir genauso.« Mick stand auf, ging zum Kühlschrank und nahm ein Bier heraus. Die Flasche in der Hand, warf er einen fragenden Blick in die Runde. »Noch jemand?«

Die anderen schüttelten die Köpfe.

Als er sich wieder setzte, sagte er: »Das kann man nur im Suff ertragen.«

Trotz der bedrückenden Situation musste Laura kichern. Sie wusste, dass Mick so gut wie nie Alkohol trank. Dass ausgerechnet er, der an einem Tag mehr Sport machte als alle anderen in einer Woche zusammen, von einem Besäufnis sprach, entbehrte nicht einer gewissen Heiterkeit.

Als Mick sah, dass Laura für einen Augenblick ihre Sorgen vergessen hatte, zog er sie erneut an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Es tut gut, dich lachen zu sehen.«

»Ich weiß. Und ich möchte das in Zukunft auch wieder unbeschwert können«, sagte Laura. »Was meint ihr, schafft ihr es, euch um Toni zu kümmern, solange ich im Krankenhaus liege?«

»Toni kann gerne bei mir und Stefan wohnen, solange du dich erholen musst. Egal, wie lange das dauert«, sagte Maria sofort. »Stefan wird sich riesig freuen, wenn seine kleine Cousine bei uns übernachten darf. Ich bringe ihn sowieso in der Früh in die Schule, das kann ich ohne Weiteres damit verbinden, Toni in der Kita abzusetzen. Und das mit dem Abholen bekommen wir gemeinsam ganz sicher auch hin.«

»Auf alle Fälle«, bestätigten Franzi und Mick gleichzeitig. »Zu dritt werden wir ja wohl bewältigen können, was du normalerweise alleine schaffst«, setzte Franzi hinterher. Sie war sogar froh, wenn sie etwas zu tun bekam, das ihr Ablenkung verschaffte. Nachdem sie erst vor ein paar Monaten zu ihrem Freund gezogen war, mit dem sie seit immerhin zwei Jahren zusammen gewesen war, hatte er sich, kaum dass sie ihr letztes T-Shirt in seinen Kleiderschrank geräumt hatte, als unerträglicher Pedant erwiesen, der schon ausrastete, wenn er morgens ein Haar im Bett fand. Franzi hatte sich das Theater ein paar Wochen lang angesehen und sich dabei ertappt, dass sie mit jedem Tag verstörter durch die Wohnung lief, immer auf der Hut, etwas falsch gemacht zu haben. Dann hatte sie die Reißleine gezogen. Genauso schnell, wie sie eingezogen war, hatte sie ihre Koffer gepackt und war zurück in ihre alte Wohnung geflüchtet, die sie zum Glück noch nicht gekündigt hatte. Als Peter dann, beleidigt darüber, dass sie ihm den Laufpass gegeben hatte, anfing, sie mit unfreundlichen Nachrichten zu bombardieren, hatte sie im Internet eine besonders scheußliche Badekappe aufgetrieben und ihm diese mit den Worten geschickt, dass er die seiner nächsten Freundin nachts aufsetzen solle, damit die nicht auch gleich die Flucht ergriff. Das hatte gewirkt, denn seither war Ruhe.

Auch die Berliner Feuerwehr versicherte unisono, dass sie alles dafür tun würden, um Laura und Toni zu unterstützen.

»Ich habe noch drei Wochen Urlaub«, sagte Gabi. »Die kann ich jederzeit nehmen. Vermutlich ist mein Chef sogar froh darüber, wenn ich ausnahmsweise meine Urlaubstage mal nicht mit ins neue Jahr hinüberziehe.«

»Geht mir ähnlich«, sagte Helene. »Obwohl mein Chef eher darüber froh wäre, wenn ich meine Urlaubstage verfallen lassen würde.«

Eine Weile war es still, und alle hingen ihren Gedanken nach. Und doch schwebte das, was Laura zuvor gesagt hatte, wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. Schließlich war es wieder Franzi, die das Schweigen brach. »Ich weiß, dass keiner von uns darüber reden will, weil wir es am liebsten nicht wahrhaben würden. Aber Laura hat recht, wir müssen überlegen, was mit Toni geschieht, falls wirklich der schlimmste Fall eintritt.«

»Ich würde Toni jederzeit zu mir nehmen«, sagte Maria. »Da ich ihre nächste Verwandte bin, hätte ich vermutlich auch die besten Chancen, dass das Jugendamt sie zu mir gibt.« Maria schluckte einen dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Als Mutter konnte sie sich gut vorstellen, welche Sorgen Laura beschäftigten. Ihr selbst wäre es in dieser Situation genauso ergangen. »Aber das sollten wir vor deiner OP schriftlich festhalten, obwohl das rechtlich vielleicht nicht ohne Weiteres haltbar wäre. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass das Jugendamt oder ein Richter deinen Wünschen folgen würde, wenn sie den Eindruck hätten, dass es das Richtige für Toni wäre. Ich wäre auch sofort bereit, meinen Halbtagsjob aufzugeben, falls das erforderlich sein sollte.«

Laura sah ihre Schwägerin gerührt an. Sie war ihr dankbar für ihre Spontaneität und auch dafür, dass sie sich sofort bereit erklärte, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintanzustellen. Sie wusste genau, dass Maria ihre Arbeit als Floristin und Dekorateurin nicht nur liebte; sie ging völlig darin auf, etwas Neues, Kreatives zu schaffen. Laura war sich schon vorher darüber im Klaren gewesen, dass Maria keine Sekunde zögern würde zu kündigen, wenn die Familie sie brauchte, dennoch tat es ihr gut, es jetzt noch einmal zu hören. Sie zog Maria in ihre Arme und drückte sie so fest, dass die fast keine Luft mehr bekam. »Ich danke dir so sehr.« Gerührt wischte sie sich die Tränen vom Gesicht, dann sah sie ihre anderen Freunde der Reihe nach an. »Ich danke euch allen, dass ich mir keine Sorgen um mein Mäuschen machen muss! Ich weiß, dass ihr alles Menschenmögliche unternehmen würdet, damit sie ihre Kindheit so unbeschwert wie nur irgend möglich genießen kann, und auch, dass ihr sie dabei unterstützen würdet, einen guten Weg einzuschlagen.« Erneut sah sie ihre Schwägerin an. »Bevor ich mich operieren lasse, werde ich von meinem Anwalt ein Testament aufsetzen lassen, in dem Toni alles erbt, was ich besitze, und du das Geld bis zu ihrer Volljährigkeit verwalten müsstest. Und das würde auch einschließen, dass du ausreichend Geld hättest, damit ihr ein gutes Leben führen könnt. Du sollst keinen Nachteil haben, wenn du nicht mehr arbeiten kannst.«

Nun begann auch Maria zu weinen. »Ich will aber kein Geld von dir. Kannst du nicht bitte einfach wieder gesund werden?«

Laura, die gerade das Gefühl hatte, dass ihre Freunde noch mehr Trost benötigten als sie selbst, versuchte tapfer zu lächeln. »Ich arbeite daran, versprochen.«

Fünf Tage später fuhr Laura nach München, um ihr Testament zu unterzeichnen. Alfred Brechtinger, der frühere Anwalt ihrer Tante, hatte alles nach ihren Wünschen aufgesetzt, und nun fehlte nur noch ihre Unterschrift.

»Ich würde gerne sagen, dass es mir eine Freude ist, dich zu sehen. Aber der Grund für unser Treffen ist natürlich alles andere als erfreulich.« Brechtinger führte Laura in sein Büro. Die Freundschaft, die er mit Lauras Tante ein halbes Leben lang gepflegt hatte, hatte er nach deren Tod auf Laura übertragen. Seither stand er der jungen Frau in allen rechtlichen Fragen uneigennützig zur Seite. »Ich habe alles so aufgesetzt, wie du es wolltest«, fing er an. »Allerdings habe ich eine Klausel hinzugefügt, über die wir noch nicht gesprochen haben. Die besagt, dass Maria Oberhofer monatlich eine Maximalsumme von zweitausend Euro abheben kann. Warte«, winkte er ab, als Laura ihm ins Wort fallen wollte. »Ich weiß, dass du eine derartige Einschränkung nicht willst. Trotzdem ist es zu Tonis Bestem. Auch wenn du Maria bedingungslos vertraust, glaube mir, ich habe schon Pferde kotzen sehen.« Brechtinger lächelte. »Keine Bange, ich habe mit Frau Oberhofer auch darüber gesprochen.«

Laura sah ihn erstaunt an. »Du hast mit Maria über mein Testament gesprochen?«

»Ja, sicher habe ich das. Nun guck mich nicht so entsetzt an. Frau Oberhofer begrüßt es sehr, dass dieser Paragraf existiert. Vermutlich hätte sie sich sonst nicht einmal getraut, überhaupt Geld vom Konto abzuheben. Du musst auch daran denken, dass es im Ernstfall nicht nur Toni, sondern auch sie schützt.«

»Und was ist, wenn eine größere Anschaffung ansteht?«

»Laura.« Brechtinger lächelte seine Freundin nachsichtig an. »Zweitausend Euro im Monat sind viel Geld. Vergiss das nicht. Maria hat mir verraten, dass sie für ihren Halbtagsjob etwa dreizehnhundert monatlich bekommt. Mit zweitausend ist sie also nicht schlechtergestellt als jetzt, selbst wenn sie kündigen und einen zusätzlichen Mund füttern müsste. Außerdem lässt sich der Betrag jederzeit anpassen, sobald der Lebenshaltungsindex steigt. Und die Klausel besagt ja auch nur, dass sie dieses Geld abheben kann, ohne mich fragen zu müssen. Falls sie einen größeren Kauf tätigen möchte, kann sie sich jederzeit an mich wenden, und wir entscheiden gemeinsam, inwieweit sie das Geld von deinem Konto abheben kann.«