Schluckspecht - Peter Wawerzinek - E-Book

Schluckspecht E-Book

Peter Wawerzinek

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Beschreibung

Ein Prosagewitter aus Verzweiflung und Zärtlichkeit, Vernichtungswut und Komik. Schluckspecht ist ein Roman über die Liebe zum Alkohol, den Rausch, die Sucht, den Suff – von einem, der dies alles kennt, bis an die Grenze zur Selbstvernichtung. Mit dem fröhlichen Egészségdre Palinka von Tante Luci fing es an, mit dem Schnüffeln am Rumtopf ging es weiter. Und dann folgten Eierlikör, die selbstgebraute ›Schwarze Johanna‹, fröhliche Trinkrunden mit Freunden, Mutproben, Überbietungswettbewerbe, die Unsicherheiten der Adoleszenz, Bier, Wein, ein wildes Leben für die Kunst, Frauen, Feiern, Probleme, Abstürze, Weinbrand, Goldbrand, Schnaps.Der Weltschmerz des von den Eltern verstoßenen Helden und der Versuch, ihn zu vergessen, führen in eine unglaubliche Nachtfahrt bis in die Abgründe des Exzesses. Auf seinem Weg trifft er weitere Zechkumpane, Saufausse, Co-Trinker und andere Verdammte. Doch wie der Autor Peter Wawerzinek einst selbst, schafft es auch seine Romanfigur, sich auf fast mirakulöse Art und Weise am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Alkohols zu ziehen.Bei allem bodenlosen Schrecken gelingt Peter Wawerzinek ein Buch ohne Selbstmitleid. In Schluckspecht mischen sich explosive Lebensfreude, Verzweif lung, Komik, Schmerz, Poesie, tiefe Menschenliebe und ein aus dem Reservoir einer abenteuerlichen Biografie geschöpftes Weltwissen auf einzigartige Weise.

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Seitenzahl: 659

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Peter Wawerzinek

Schluckspecht

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Peter Wawerzinek

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

FördernachweisWidmungTante LuciOnkelonkelReifeprüfungPubertätReifungUnter SäufernSaufkumpel FlohAbsturzDie WandlungDie RettungBewohnerHeilungschancenIm DuettDichterhausAblebenDank
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Der Autor bedankt sich beim Deutschen Literaturfonds in Darmstadt für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

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Für Frau Hannelore Kayn †

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Tante Luci

Der Alkohol ist ein Gift. Das haben die Physiologen bewiesen. Aber gegen den Alkohol ist damit gar nichts bewiesen. Denn ein Gift kann immer noch eine Medizin sein.

Egon Friedell

Hätte ich besser auf Tante Luci gehört, es wäre nicht so schlimm mit mir gekommen. Hätte ich die Augen fest verschlossen und meine Nase gut abgedichtet, wie es die Delphine tun, wenn sie abtauchen, und nicht an Tante Lucis Likörglas gerochen, als Tante Luci es mir unter die Nase hielt, ich wäre vielleicht davongekommen. So aber kam es, wie es kommen musste, und ich sehe Tante Luci vor mir in eindeutiger Absicht. Mich zu warnen, schenkt sie sich einen ein, ruft:

Egészségedre Palinka.

Und ich denke: Das muss ein wichtiger Mann in ihrem Leben gewesen sein, jener Egészségedre Palinka, den sie lieb gehabt hat oder nicht haben konnte, der sie umschwirrt und interessiert hat oder betrogen. Oder er ist ihr genommen worden, neunzehnhundertsechsundfünfzig bei den Straßenkämpfen in Budapest, wenn Tante Luci dort je gewesen ist.

Egészségedre Palinka!, sagt sie kampfeslustig, während sie die Flasche wieder verkorkt:

Ich trinke, wie du weißt, Junge, nur ganz, ganz selten Alkohol.

Und wenn, dann trinke ich immer nur Heiligabend diesen einen Likör.

Und steht in ihrem dunkelroten Cha-Cha-Cha-Seidenkleid mit dem Likörglas in der Hand am Kachelofen. Kirsche mit Nussgeschmack. Sonnengereift.

Egészségedre Palinka.

Da, schau nur her, mein Junge.

Das alles ist passiert. Wie ich es sage. Steht vor dem giftgrünen Kachelofen, das violette Glas mit zackigem Schliff in ihrer Hand. Hebt es bis an ihr Kinn. Schaut mich mit dunklen Adleraugen an. Ein Blick wie eine Hundeleine, stramm an meinen Blick gebunden. Und ich kann nicht von ihrem Blick ablassen und auch nicht weggucken. Sie sagt:

Egészségedre Palinka.

Und schaut jetzt aus wie Greta Garbo, ihre Lieblingsschauspielerin in dem Tonfilm, neunzehnhundertdreißig, in dem sie eine alkoholsüchtige Nutte mit Namen Anna Christie spielt. O ja doch. Tante Luci kann locker auf die besoffene Garbo machen, wenn sie nur in Laune dazu ist. Tante Luci sitzt dann am Küchentisch und legt ihren Kopf in beide Hände und lallt sehr gekonnt: Gimme a whiskey, ginger ale on the side and don’t be stingy, baby. Whiskey, aber nicht zu knapp!

Und nippt den kleinen Schluck, von dem sie sagt, dass er ihr hinreicht.

Merke es dir gut!

Alkohol ist der schlimmste Teufel dieser Welt.

Und trinkt die zweite Hälfte des Glases, sagt weiter nichts, lässt ihre Augen für sie sprechen. Schüttelt sich. Atmet laut aus und ein. Hechelt ihre Atemluft, als würde sie mit Egészségedre Palinka um ihr Leben ringen. Und drückt mir das Glas unter die Nase, faucht, wie eine Klapperschlange zischt:

Hast du es gesehen, Junge?

Hast du gesehen, wie es mich geschüttelt hat?

Riech nur, da riech, wie des Teufels Atem riecht.

Presst mit dem schönen Glas die Nase mir zur Zimmerdecke nach oben, dass ich mit meinen Nasenlöchern hätte in Tante Lucis feurige Augen sehen können, wenn in den Nasenlöchern Pupillen wären. Ist nicht zufrieden mit meiner Reaktion. Drückt meinen Hinterkopf nach hinten und meine Nase füllt das Glas, dass ich nicht riechen noch atmen und den Teufelsatem auch nicht übel finden kann. Speit:

Egészségedre Palinka.

Erst nachdem sie ablässt, setzt mein Geruchssinn ein. Nusslikör kitzelt meine Nasenlöcher, dass ich huste und den Teufelstropfen von meiner Nase wische, den Tropfen vom Finger lutsche, zum Ärger der Tante innehalte, seltsam breit grinse und zu ihr sage: Egészségedre Palinka.

Steter Tropfen höhlt jedes Hirn, sagt Tante Luci. Tante Lucis Warnungen haben mich nicht abgeschreckt, eher angezogen, mich auf den schlechten Pfad geführt. Meine Träume hießen allesamt Egészségedre Palinka und spielten in lila gefärbten Räumen aus Glas mit raffiniertem Schliff wie Tante Lucis Likörglas. Egészségedre Palinka hat mich verführt und fallen gelassen.

Werd mir bloß kein Schluckspecht!

Versprich mir fest in die Hand, kein Schluckspecht zu sein.

Ein Schluckspecht zu werden, bereitet mir keine Angst. Er trägt einen roten Hut. Er hat einen langen Hals aus Glas, eine Kugel zum hinteren Ende hin ist der Bauch. Er senkt sich zu einem Becher vor sich, nippt von der Flüssigkeit. Braucht keine helfende Hand dafür. Er taucht sein Schnabeldings in die Flüssigkeit, labt sich an ihr, lässt ab vom Glas. Schwappt unerwartet empor, juhu.

Steht auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer der Tante zur Straße, der Wippvogel. Und Tante Luci singt dazu: Es sitzt ein Vogel auf dem Leim. Er flattert sehr und kann nicht heim. Ein schwarzer Kater schleicht herzu. Die Krallen scharf, die Augen gluh, kommt er dem Vogel näher.

Tante Luci ist dürr wie eine Büroklammer, von geschickten Fingern in eine menschliche Figur umgewandelt. Dürre Ärmchen. Dürre Beinchen. Brustkorb. Bauch. Als wäre da nichts dahinter. Das pure Knochengerüst unter ihrem Kittel. Kahl und nadellos. Wie ein abgehalfterter Tannenbaum. Und all die inneren Organe, sagen wir Herz, Leber, Lunge, Milz, Magen, Galle, Blase, Darm, aus Spaß an der Freude wie Weihnachtskugeln in die Zweige gehängt.

Wenn sie sich kleidet, wird sie zur bunten Büroklammer. Mal gelb mit Punkten. Mal rot gestreift. Und ausschließlich bläulich mit Blümchen geschmückt. In dem Wort natürlich ist die kleine Tür eingebaut, die man mit dem Wort ausschließlich öffnet und schließt.

Ist ständig im Kittel, die Tante. Geht gar nicht andersherum. Kurzärmlig. Über den Strickpullover gezogen. Damit sie nicht so dürre wirkt, friert und bibbert. Zieht am liebsten rote Stricksachen mit Faserflaum an, die zusätzliches Volumen gaukeln. Und dass sie nicht so dürre ausschaut und weniger fröstelt. Sagt mit den Zähnen klappernd schon am Morgen, wenn sie die Küche betritt:

Ist kalt hier heute.

Junge, findest du nicht auch?

Mehr als sich was überziehen kann der Mensch doch nicht.

Und ich höre dieses Lachen so hell, so von meinen Kindheitstagen her in unsere Gegenwart hinein von ihr ausgestoßen, dass es in meinen Ohren in der gleichen Lautstärke hallt wie kein Lachen wieder in meinem Leben. Ein Lachsack in Kittelschürze, sagt Onkelonkel von Tante Luci.

Ich finde sie passend gekleidet, muss ich gestehen. Ich habe mich an den Anblick gewöhnt. Und alle anderen mit mir auch. Viele kennen die Tante gar nicht anders. Tante Luci wäre nicht Tante Luci ohne eine ihrer vielen Kittelschürzen am Leib. Man redet über Kittelschürzen und meint die Tante. Und spricht von der Tante und sieht nur die Kittelschürze, in der sie steckt. Und ob nun Kittelschürze oder Tante, ist ein und dasselbe. Woraus nicht hervorgeht, warum die Tante eine Kittelschürzentante ist.

Tante Luci erwacht, putzt sich, schlüpft in ihre stoffliche Hülle. Und man kann sich sagen: Es ist, weil die gern kocht, jeden Tag für alle das Essen zubereitet. Und im Garten ist. Und auch so viel gute Kochrezepte kennt. So viele, dass sie jeden Tag etwas anderes kochen könnte. Ohne sich zu wiederholen. Jahrzehntelang. Kochen könnte sie die Gerichte locker, nur würde sie oftmals keiner essen, außer sie selbst und ich.

Und oben aufgesetzt auf den dürren Hals sitzt der Kopf. Wie ich es sage. Aus dem gleichen Draht geflochten und mit Haut bespannt. Dass sich die Lippen gerade so schließen. Lippen, die sie nicht übereinanderlegen kann. Wer sich für Mumien interessiert und ihr zufällig unterwegs begegnet, wird meinen, ihm laufe eine lebende Mumie entgegen. Und Tante Luci weiß um ihr altehrwürdig ägyptisches Aussehen.

Wem es nicht passt, der kann ja weggucken, faucht sie.

Man kann sich Tante Luci auch als eine aus Pappe gerissene menschliche Gestalt vorstellen. Pappe mit Röhren zwischen den einzelnen Packpapierschichten, die dadurch an Stabilität gewinnen.

Ihre Haare wie von einer gut gemachten Puppe aus Omas Zeiten. Allzeit zu dünn frisiert. Mehr ein Gespinst aus Baumwollfasern. Ein hohler aufgeblasener Kokon. Wie er entsteht, wenn man Luft in einen Luftballon hineinbläst und den Luftballon sodann mit störrischen Fäden umspannt, ihn mit der spitzen Nadel zum Platzen bringt. Die übrig gebliebene wirre Fadenkugel ist dann Tante Lucis toupierte Frisur.

Sei es drum.

Sehe ich aus wie eine Pusteblume.

Nur dass mir kein Haar wegfliegt bei Wind.

Sagt das im Brustton der Überzeugung ohne Brust. Mit ihrer kräftigen, rauen, warmen Stimme, die gar nicht zu ihr passen will. Klingt wie Wuchten, Sägen, Hacken, Knarren, Tante Lucis Alltagsstimme. Wenn ich still und erwartungsvoll im dunklen Kino sitze und die Filme mit dem Löwen zu brüllen beginnen, höre ich Tante Luci brüllen. Kann dabei auch so weich werden, die knarrende Stimme. Weich und sanft wie Rasierschaum am Ohr des Mannes, der nur vergessen hat, den Schaum wegzuwischen. Sie fällt durch ihre Stimmgewalt auf. Wie leise sie sich auch bemüht zu reden. Meist aber ist sie nicht bemüht. Man muss sie nicht sehen. Und hört sie doch drei Ecken vor der Ecke, um die sie biegt.

Ich muss, wenn ich Janis Joplin in Ekstase höre, an Tante Lucis Stimme denken. Ich höre Tante Luci, wenn ich Janis Joplin auf einem Foto sehe. Ich mag Janis Joplin, weil sie mit der Stimme meiner Tante singt. Ich glaube nicht nur in diesem einen Fall an Wiederauferstehung. Nein, nein. Ich bin fest davon überzeugt, dass Janis Joplin in die körperliche Hülle meiner Tante geschlüpft ist und in ihr stimmlich wohnt. Nur weiß die Tante nichts davon. Kennt Janis nicht einmal. Würde deren Gesang für Katzenjammer halten. Bei dem Wort Katze denkt man gleich auch Tatze. Ich mag Tante Luci in ihren zornigen Momenten, weil das die Momente der Janis Joplin auf der Bühne sind.

Wenn Tante Luci Onkelonkel ausschimpft, dabei mit ihren Armen fuchtelt, mit den kleinen Füßchen stampft, den Kopf dabei hin und her wirft, den Oberkörper nach vorne, nach hinten, nach oben, nach unten, zurückwippt, dann ihre Finger wie Stachelflossen spreizt, singt Tante Joplin Luci für mich Try, just a little bit harder.

Ihre Kittelschürzen zusammengenommen sind so bunt wie die Kleider und Hosen der Joplin. Ihr Haar ist nach dem Aufstehen zumindest genauso verwegen wie das der wilden Janis. Sie hat auch den Hang zu solch extremem Klunker und glänzendem Kettenschmuck um ihren Hals.

Tante Luci raucht wie der Schlot. Ihre Wangen höhlen sich und werden durchsichtig, zieht sie den Lullenrauch nach innen ein. So verharrt sie für Sekunden. So. Ja, richtig. Das Kinn leicht erhoben. Schaut dabei aus wie ein Fisch, der sein Maul spitzt und die Kiemen einzieht. Bittersüßes Brackwasser im Nebelrachen. Aus dieser Pose heraus stößt sie, wenn ihr danach ist, Rauchringe aus. Kann sie echt richtig wunderschön. Hellgrau wabern sie. Wie rauchige Reifen von ihrem Gesicht weg auf dich zu. Als seien sie Teil einer kleinen Zaubershow, schweben ihre rauchigen, bauchigen Ringe im Raum.

Oftmals sehr, sehr lange, ehe sie, plopp, vergehen. Stellt manchmal uns zur Freude sieben, acht, neun, zehn solcher Ringe schräg-horizontal in eine luftige Reihe. Wie Rauchsoldaten. Brav von ihrem Mund weg. Wie von einer unsichtbaren Peitsche angetrieben trotten sie. Sie kann jeden einzelnen Ring in seinem Drehmoment verlangsamen, stillstehen lassen. Dass sie sich dann von ihren Rauchringrändern her in Luft verstieben. Rauchringe, Bauchringe reime ich. Und sehe jedes Mal wieder rauchige Tiger durch die sich auflösenden Ringe springen, die sich auch in Auflösung befinden. An Auflösung finde ich schön, dass es in dem Wort eine Lösung gibt.

Besetzt in der Küche das Eckchen zwischen Fenster und Kühlschrank. Auf dem Tisch steht der runde Aschenbecher. Drückst du den Mittelknopf, fährt die Kippe Karussell. Wie die Musik auf dem Plattenteller Karussell fährt und nach außen bis in unsere Ohren drinnen wirbelt. Sieht festlich aus, wenn die brennende Kippe hinfort ins Innere gesogen wird. Simsalabim vom dunkelschwarzen Loch geschluckt. Und der Deckel surrt in seine Ausgangsstellung zurück. Und schließt sich. Als wäre da nichts passiert. Stille. Kein Rauch dringt von innen nach außen. Kein rauchiger Hilferuf. Nur jedes Mal wieder dieses: Ja, das ist noch wahrhaft feine Technik von damals, lobt Tante Luci ihr Kettenraucherkippenkarussell. Der Mensch kann recht sinnvolle Sachen erfinden, sagt sie, klatscht in die Hände, als wären dort kleine Fliegen zu erledigen.

Sieh an, sieh aus.

Rauchen ist ein internationales Menschenthema, sagt Tante Luci. Auf einer Zugfahrt hat sie ein Paar im Abteil angetroffen, das sich in einer ihr fremden Sprache unterhalten hat, vielleicht Italienisch. Vielleicht auch Serbokroatisch.

Kann sein, kann nicht sein.

Das Wort vielleicht mag ich wegen dem »viel« vor dem »leicht«. Viel leicht ist ein Wort, das sich versprüht, wie die Zeit sich in Luft auflöst, zisch, zisch, schwups. Zeit, in der die beiden Frauen leben, von denen Tante Luci erzählt. Die so lebhaft miteinander geredet hätten, dass sie ihr Buch, in welchem sie noch innig liest, in den Schoß sinken ließ, den beiden Frauen zuzuhören. Stellt sich eigens schlafend. Die Augen nur zum Blinzeln kurz hin und wieder aufgetan. Sich an den Gesten der zwei Redenden ergötzt.

Mit den Wimpern. Mit den Augenbrauen. Mit den Falten um ihre Münder hätten sie geschwatzt. Eine lustige Gesichtspantomime. Über zwei Stunden. Und dann erst habe sich die eine der beiden Frauen erhoben, den Zug zu verlassen. Von der anderen zur Tür gebracht, hätten sich die beiden Frauen nur so ungern voneinander verabschiedet. Rasch noch die Adressen ausgetauscht. Man hätte das Thema nur gestreift. Es gäbe so viel mehr zu bereden, wimmern sie. Umhalsen, umarmen, halten sich. So eindeutig traurig und unmotiviert ihre Abschiedsgesten. Dass man sie förmlich vor Augen hat.

Als die Frau auf ihren Platz zurückgekehrt war, habe Tante Luci sich ein Herz gefasst, die Frau mit einem Kauderwelsch gefragt, worüber genau gesprochen wurde. Die Frau ist zu ihrem Erstaunen eine Deutsche, des Deutschen mächtig. Nun ja. Es sei ein bisschen meschugge, gestand sie, sich über nichts anderes als über das Rauchen zu unterhalten, über die Schaumpfeife rauchende Großmutter zum Beispiel, den Bruder, der weiße Zigarillos gepafft hat. Oder den Vater, der alt wie ein Methusalem geworden ist. Nicht, weil er nicht, sondern bestimmt, weil er wie ein Teufel geraucht hat, und ich wage einmal vorsichtig zu behaupten: Seither raucht Tante Luci mit einem internationalen Hintergrund.

Rauchen ist ihre Morgenmesse, ihr Mittagsgebet und ihr Nachtgesang, sagt Onkelonkel. Sie wäre, was das Rauchen betrifft, eine sehr gläubige Person. Die verrauchte Küche hier käme einem Kloster gleich. Zigarettenqualm wäre der Weihrauch, Halleluja. Ich und Kirche, kichert Tante Luci in sich hinein. Ich werde im Leben nicht in die Kirche gehen. Meinen Körper können sie auf die morsche Bank binden und verbrennen. Meine Asche sollen sie in Flaschen füllen, die Flaschen gut verkorkt als Flaschenpost dem Meer übergeben.

An dem Wort Flaschenpost mag ich, dass die Asche in dem Wort Flasche schon drinnen steckt, was Tante Luci bestimmt nie aufgefallen ist. Sie wäre so gern Matrose geworden, wenn man Mädchen damals genommen hätte. Und schweigt dann eine Weile, denkt darüber nach, wie es geworden wäre mit ihr, wenn man Mädchen unterrichtet hätte, sie eine von den Auserwählten gewesen wäre.

Über den Horizont.

Um den Globus herum.

Auf einer Südseeinsel sterben.

Onkelonkel singt oder summt nur: Weißt du, wie viel Mücklein spielen in der heißen Sonnenglut, wie viel Fischlein auch sich kühlen in der hellen Wasserflut. Und schon freut die Tante, dass Onkelonkel ein Angler ist, es deswegen immer bei uns frischen Fisch auf dem Tisch gibt. Wäre es nicht an dem, sie wären nicht zusammen all die Jahre.

Glitschiger Fisch hat uns aneinandergebunden.

Und immer denke ich heute beim Flunderessen an Tante Luci. War einmal ein Armeleuteessen, sagt Tante Luci. Wird heutzutage in den besten Restaurants zum horrenden Preis angeboten. Was man sich oftmals wünscht, ist, dass Armeleuteessen den armen Leuten erhalten bleiben, sich nicht die reichen Leute noch der letzten billigen Kost armer Leute bemächtigen. Wo es Essen für arme Leute gibt, sollen die armen Leute auch richtig Fisch essen können.

Der Butt ist der Fisch, der zu ihr wie kein anderer Fisch passt. Zierlich, wie sie ist. Schmalbrüstig. Ein Hemd wie man sagt. In ihrer roten Strickjacke. Und hat dann aber auch etwas von einer Stierkämpferin, wie sie das Messer in der Hand hält. Meine ach so gute und immer auch wieder so tollkühne dünne, kleine Matadorin ohne Stier.

Karpfen ist ihr nicht koscher.

Karpfen findet sie teuflisch.

Karpfen braucht er erst gar nicht anschleppen.

Ein unheimlicher Fisch, dieser Karpfen, schimpft Tante Luci.

Ich sehe dem Onkel erregt beim Schlachten des Karpfens zu. Er entschuppt ihn, legt eine große Goldschuppe für mich beiseite, nimmt den Fisch aus, schneidet ihn in Fischteile. Und so zerlegt liegt der Karpfen dann auf dem Küchentisch. Die Nerven unter seiner Haut, sagt Onkel, drückt meinen Kopf ganz nahe über die Fischhaut, sie zucken. Und nimmt dann die einzelnen Fischstücke, wirft sie in die Pfanne, wo sie noch einmal so richtig aufleben. Totgeglaubt, springen die Karpfenstücke aus der Pfanne, hüpfen über den Küchenboden, entkommen der Küche nicht.

Seid ihr so weit?, ruft Tante Luci.

Der Fisch ist geputzt, antwortet Onkelonkel.

Tante Luci kommt in die Küche, bereitet den Fisch zu, stellt Kartoffeln und Soße auf den Tisch. Vom Fisch zu essen, zwingt sie keiner. Onkelonkel lacht immer wieder darüber, wie akkurat ich den Fisch in seine Bestandteile zerlege, ganz so wie es mir Tante Luci beigebracht hat, oder besser gesagt, wie ich es bei ihr abgeschaut habe.

Ich fahre mit dem Messer entlang der Mittellinien, nehme die Haut ab. Und erst dann widme ich mich mit Hochachtung seinem inneren Fleisch. Ich trenne wie eingeübt zuerst das Fleisch von der mittleren Gräte her. Ich putze den Fisch von der Gräte her blank, dass sie am Ende blank gegessen und von allem Fischfleisch befreit wie für das Meeresmuseum vorbereitet daliegt. Und fühle mich bei dieser Art Arbeit wie ein Safeknacker.

Walle, walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe, und mit reichem, vollem Schwalle zu dem Bade sich ergieße!, schnell weitererzählt, nicht lange bei diesen kleinen Seltsamkeiten sich aufgehalten. Wenn Leute Tante Luci am Telefonhörer haben, halten sie diesen weit vom Ohr weg zum Beispiel. Und sind sie bei uns zu Besuch, blicken sie sich fragend nach einem Riesen um. Und dann kommt da diese kleine Person angewackelt. Nicht viel größer, als eine Türklinke hoch ist. Und sie weiß um den Effekt. Hat es sich zur Gewohnheit gemacht, in der noch ganz und gar verschlafenen Morgeneinkaufshalle alle trüben Tassen mit ihrer markanten Stimme zu erschrecken und zum Klirren zu bringen. Kann krächzen und trompeten. Kann schmusen und schmettern. Kann den Amboss in deinem Ohr massieren, am Hammer zum Amboss reißen.

Tante Luci kann nervend sein.

Sie sitzt und überlegt und rennt nicht hin und her, ist nicht außer sich in der ganzen Wohnung unterwegs. Sie geht gezielt an den Schrank. Sie weiß, was sie will, bevor sie in der Schublade kramt. Und zieht mich jedes Mal mit hinein, wenn sie sich anzieht. Anziehen. Mit reinziehen. Ich muss sie ansehen. Ich soll ihr sagen, ob der Schal nicht oder doch der Armreifen passabel zur Bluse passt, die Hose nicht zu kurz, nicht zu gewagt, vom Outfit her betrachtet ausgefallen ist. So umfassende Sachen verlangt sie mir ab.

Ein Kleid ist ein Kleid ist ein Kleidungsstück, dass ich von einem falschen Faltenwurf nicht mitreden kann, den das Kleid angeblich aufweist. Woher soll ich denn nur wissen, ob ihre Ohrclips längst aus der Mode sind, die runde braune Brosche nicht nach Friedhof riecht, die Schuhe für den Anlass viel zu elegant ausfallen, sie in der Jacke wohl schnell ins Schwitzen geraten wird?

Ich sehe sie an. Ich stecke da nicht drinnen. Ich nicke. Ich stimme ihr zu. Ich bin wie eine Wand, von der ihre Worte wie Bälle zurückgeschmettert ihr in die Ohren schießen. Ich bin nur ihr Echo. Ohne mich geht es nicht, sagt sie. Ob ich nun etwas sage oder nicht. Ich soll immer und überall freiheraus meine Meinung kundtun, ihr nicht nach dem Munde reden, sagt sie. Und ist es zufrieden, wenn ich unsicher dastehe, nach Worten ringe, bis sie fertig ist und ihr Gutgemachtjunge zu mir sagt.

Sie braucht mich als ihren Ankleider, sagt sie. Ich finde die Silbe leider in Kleider passend für die Tortur. Der Stein klatscht mit Wucht auch in die kleine Pfütze, sagt sie. Tätschelt meine Wange. Der Stein spritzt auch den nass, der es von der kleinen, pfiffigen Pfütze nicht gedacht hat. Und ist sie dann mit mir und allem durch, trägt sie, was sie immer trägt. Rot zu Gelb. Lila zu Blau. Das Ewiggleiche in leicht abgewandelter, neuer Kombination, sagt sie, sei das Beste. Und ist, wenn sie sich im Spiegel betrachtet, jedes Mal wieder so revolutionär gestimmt, dass sie ihren Lieblingsausruf anstimmt, der da heißt:

Nun lasset uns die feste, starre Hülle Alltag sprengen.

Ballt ihre kleine Faust. Kneift freudig meine andere Wange. Flattert durch die Tür wie ein Schmetterling. Schwebt zur Tür hinaus. Und weg sind wir. Hinaus aus dem Haus. Ich und die kleine Maus.

Ich sehe uns in der Küche sitzen. Und ihr Mann, den ich Onkelonkel nenne, lebt da noch. Und ist der Fisch gegessen, klatscht Onkelonkel in die Hände, wendet sich an die Tante, die erst tut, als ahnte sie nicht, was nun kommt, wenn er:

Her mit dem Schnaps, Fisch muss schwimmen, ruft.

Dann stellt sich die Tante stur, verschränkt die Arme vor der Brust, weigert sich aufzustehen, ins Wohnzimmer an den Schrank zu gehen, wo die feinen Sachen stehen. Und jedes Mal sagt sie zum Onkel:

Schämt euch.

Nicht vor dem Jungen.

Sie sagt zum Onkel »euch«, und nur deswegen schäme ich mich für den Onkel mit, der sich jedes Mal wieder neu darüber freut, dann aber selbst ins Wohnzimmer geht, den feinen schottischen Whisky hervorholt, von dem er meint, dass er am besten zu Karpfen passt.

Nach der Scholle zum Beispiel ist ihm nach Gin. Den Dorsch spült er mit Wodka nach. Hering begießt er mit Wacholderschnaps. Aal geräuchert verlangt einen trocknen Sherry, sagt er, während Aal gekocht mit einem schönen Calvados abgeschlossen wird. Onkelonkel ist den Großteil ihres Lebens der einzige Mann an Tante Lucis Seite. Das nur kurz zur Erklärung. Sitzt in seinen Arbeits- oder Gartenklamotten auf seinem Stuhl gleich neben der Tür. Redet nicht viel, der Mann. Schenkt Tante Luci mit seinen himmelblauen Augen Schmachtblicke. Das regt sie jedes Mal wieder auf. Und sie fährt ihn an.

Wie der mich wieder anschaut.

Hör auf, mich so anzugucken wie Junggemüse.

Geh besser da draußen die alten Weiber begaffen.

Und dann wieder sitzen sie schweigend am gleichen Tisch und reden kein Wort miteinander, sehen sich nur an wie ein Liebespaar, dass ihre Augen Funken sprühen. Tante Luci, sagt der Onkel, und sie führen Augengespräche, reden miteinander über Blicke, schütten einander mit stummen Blicken ihr Herz aus. Sie müssten dabei ihre Lippen nicht bewegen. Es herrscht eine Art von Gedankenübertragung zwischen ihnen, die ohne gesprochene Worte auskommt. Ich werde mich an diesen Fakt gewöhnen, mich bald schon darauf einlassen, ihnen folgen können.

Mochte am liebsten Bratwurst, von Tante Luci mit dem Messer in die Pelle geritzt und zu kleinen Igelwürsten gebraten. Und Tante Lucis Pommes dazu. Aus rohen Kartoffeln geschnitten. In Öl gewendet. Und hat, sagt die Tante, wenn er was gesagt hat, genau das Falsche zur falschen Zeit im richtig falschen Zusammenhang von sich gegeben. Wie zur Hochzeit damals, zum stolzen Bräutigam vor versammelter Gesellschaft, deutlich und laut für das Ohr der Braut:

Die du da jetzt heiratest, die passt gar nicht zu dir.

Und hat recht behalten, der verdammte Nörgelkerl mit seiner Weissagung. Keine drei Jahre und sie waren getrennte Leute, die einst so glücklich Verheirateten.

Tatsache ist, Tante Luci hat mich zu sich genommen. Sie nennt das eine tiefe, menschliche Herzensangelegenheit. In der Nachbarschaft wissen sie, dass Tante Luci nicht meine Mutter, Onkelonkel nicht mein Vater ist. Auf bohrende Fragen muss ich niemals lügen. Die Lügenstelzen bleiben unbenutzt.

Tante Luci ist die Schwester von meinem Vater, dem großen Schauspieler in der Stadt, der nichts mit mir zu tun haben will. Bin nicht der Einzige auf dieser Welt, wird gemunkelt. Da gibt es einige unbekannte Größen, sagt Tante Luci. Ist ein Schwerenöter, Lindemann o Lindemann, der das Küssen nicht lassen kann. Sieht er nur ein hübsches Mädchen, gleich ist er dem hinterher mit Dutzend Küssen mehr, ob groß oder klein. Was hab ich geredet, Mensch, lass den Unsinn sein, Lindemann, was gehen dich die Mädel an, pass auf mit deinen Küssen und dem etwas mehr, das endet im Malheur, das führt zu ungewollten Kindern, blutender Nase, fehlendem Vorderzahn, o Lindemann.

Ist nichts zu fürchten.

Wirst nicht wie dein Vater enden.

Da passt deine Tante aber gewaltig darauf auf.

Ich lege den Vater auf Eis. Ich lege die Mutter auf Eis. Mein Kopf ist ein Kühlfach. In ihm gefriert der Wunsch auf Vollständigkeit und Familie. Das heile, perfekte Familienleben, ich habe es bei Onkel und Tante. Und finde es wiederum nicht bei ihnen. Und bin ein kindliches Pendel, von Sehnsüchten angezogen und auch wieder abgestoßen. Sehnsucht, die ausschlägt und jedes Mal wieder tief ins Herzfleisch schneidet. Vaterverlust, der wie Blut aus den kleinen Schnitten quillt. Vaternot, die erfinderisch werden lässt. Man kümmert sich nicht um den Mangel, wenn der Ersatz so gut ist wie Tante Luci und Onkelonkel.

Am Küchentisch geschieht uns alles Familiäre. Und ich kenne keine bessere Kindheit als die bei Tante Luci und Onkelonkel. Wenn ich an die beiden denke, die gemeinsamen Jahre in der Küche, erfüllt einzig die kräftige Stimme der Tante den Raum, die im Alter keine Spur schwächer geworden ist. Und die Blicke von Onkelonkel schmachten sprungbereit und unbenutzt an der Deckenleuchte.

Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör, sagt Onkelonkel und krächzt dazu wie ein Gockelhahn. Die Brücke kömmt, Fritzilein, Fritz. Und zeigt auf mich. Und sagt:

So einer kann dem Jungen hier doch nimmer ein Vater nicht sein. Solch einer sieht überall Hunde, groß wie Ackergäule. Cave canem. Sieh dich vor vor solchen Hundepferden. Hunde sind es. Bleiben bissig, sagt er.

Und die Tante schlägt mit der Zeitung nach ihm wie nach der fetten Fliege. Und er hält die Hand schützend vor das Gesicht. Und beugt sich nach hinten. Und nennt meinen Vater oft einen Halunken, der meiner Mutter den Kopf verdreht, ihr das Hirn verrührt hat. Was der gefallen hat, die sich fallen gelassen hat. Und immer nur gehimmelt, statt sich zu wehren und kräftig hinzulangen, wo hingelangt hätte werden müssen.

Backpfeifen bewirken Wunder.

Und sagt, dass er sich im Grab noch umdrehen würde, deswegen. Weil er mit angesehen hat, wie die Mutter mit diesem Mann schon verunglückt war, als sie gerade zum ersten Mal aufeinander zugerauscht sind. So unheilvoll einander verfallen. So kopflos übereinander hergefallen. Und bietet sich ihm die Gelegenheit dafür, zischt er mir ins Ohr.

Dein Vater hat es fett hinter seinen Ohren. Hat viel Unglück über die Frauen gebracht, sagt Onkelonkel. Schickt sie mit seinen Schmeicheleien ins Verderben. Liebt seinen verruchten Ruf, die unter seiner Hand verbreiteten Geschichten und Skandale. Hat einige Frauen auf dem Gewissen. Hat sie in sich verliebt gemacht, nie wirklich ernsthafte Absichten gehegt, nur den Flirt gesucht. Hat eine Menge Kummer und Herzleid verursacht.

Ein Schauspieler halt.

Was will einer da erwarten.

Durchtrieben durch und durch.

Sagt mit bissigem Unterton: Verschafft sich die Gunst deiner Mutter. Und nach ihr die anderer Frauen. Ein Herzensbrecher ist er. Wie er in keinem Buche steht. Ein Dieb, der Unschuld klaut und Frauen bricht, ewig den jugendlichen Liebhaber gibt, sagt Tante Luci. Und sagt, dass sie da dem Onkel ausnahmsweise zustimmen muss. Leider.

Ist spannend, sie so reden zu hören, etwas wirre auch, und stimmt mich traurig, dass es so und nicht anders bestellt ist um meine Eltern. Ist, wie es ist, sagt die Tante und Onkelonkel wippt mit seinen Schultern dazu, sagt, dass sie sagen wird, was gesagt werden muss. Und nennt meinen Erzeuger einen Hallodri, schlimmen Finger, Playboy, Schürzenjäger, Frauenheld. Ist ein schlechtes Vorbild für dich. Und singt dazu das Lied, das behauptet, die Herzen der stolzesten Frauen zu brechen.

Ich glaube, ich erwähne an dieser Stelle schnell, dass meine Tante diese seltene Gabe besitzt:

Wärme.

Wärme für Menschen, die nichts von ihr erwarten, nichts von ihr wollen, sich nie bei ihr bedanken werden. Menschen, die neben uns existieren und etwas anderes sind als wir. Also außerhalb aller Wertung. Menschen, von denen sie gut denkt. Personen, die im Dorf leben und sich von den anderen Menschen im Dorf nichts groß erhoffen, wie die Tante sagt. Und drückt mich fest an sich, wenn sie sagt:

Mir ist jede Dorfdoofe lieb.

Sage mir keiner was gegen den Klosettreiniger.

Was kann der Kohlenlude dafür, dass er kein Professor geworden ist.

Menschen also, die einfach da sind und denen sie es ansieht, dass sie in der Klemme klemmen, Patsche patschen, Notlage liegen. Und sie hilft dann aus. Und lässt auf die unfreiwillig in ihr Dilemma gestürzten, in Not geratenen Personen nichts kommen. Im Gegenteil. Da ist es möglich, dass sie sehr ungehalten wird und rasch auch einmal ausflippt, wenn sich jemand gegen sie und die Person ausspricht, im Ansatz auch nur aufmüpfig wird. Wenn große Hagelkörner fallen, bekommen die Karossen Sommersprossen.

Oh, weh.

Deine Mutter, o weh.

Die arme, irre, kranke Frau.

Hatte damals gerade ein wichtiges Engagement angeboten bekommen, deine Wertefraumutter am großen Theater. Hat sich daraufhin Trockenbrot und Wasser verordnet. Der Figur wegen. Hat verrückte Sachen angestellt. Mit dir im Bauch. Ist gegen die Wand angerannt und der Hungerlust verfallen.

Warst ihr kein Rosenkind.

Warst ihr mehr der Dorn in ihrem Leib.

Dir aber hat das alles nichts anhaben können. Bist in ihrem Leib redlich gewachsen und ein Wonneproppen geworden. Bist der Welt drei Wochen vor dem Termin geschenkt worden. Pünktlich zu Beginn der neuen Spielzeit. Und was dein körperliches Wachstum anbelangt, weigertest du dich strikt. Spucktest, was man dir gab, nur so um dich. Nahmst ab und ab. Und landetest schließlich unter meinen Fittichen. Kann nun einmal mit Schauspielern absolut nichts beginnen, der Onkel. Wäre und bliebe halt ein Bauernlümmel, lästert die Tante.

Unsinn.

Faulenzer sind es.

Braucht kein Theaterspiel.

Was einer auf einer Bühne so klug von Dingen daherredet, von denen er nichts weiß, die er vom Textblatt abliest und fürs Publikum hersagt. Textblatt, Tablett. Sieh einer an, wie ähnlich sich die Worte sind. Wahnsinnige seien sie, die sich in Wahn verrennen. Wie man nur sein Leben für die Kunst opfern kann. Und Tante Luci drückt mich immer fester an sich. Wie man der Karriere zuliebe nur solch einen Sohn beiseiteschieben kann. Und das alles ohne Arbeit, erregt sich der Onkel. Arbeit wäre das, kontert die Tante. Das solle er nur nicht denken.

Texte seien zu lernen. Er solle doch selbst einmal nur überlegen, wie wenig er damals in der Lage gewesen ist, sich eine Strophe von einem der Lieder, die sie hundertmal in der Schule gesungen haben, zu merken, geschweige denn ein Gedicht aus dem Gedächtnis nachzusprechen, fehlerlos.

In Teufels Küche bringt es uns, sagt Tante Luci.

Sagt, wenn sie darüber redet zu meiner Mutter, nur die Wertefraumutter, wie man der Bösesteuerfahnder sagt. Als wäre Wertefraumutter ein Beruf. Wäre nicht viel zurückhaltender als mein Vater gewesen. Das Unschuldslamm. Das Luder. Lässt auch keine schöne Mannsperson aus. Spielt die große Verführerin. Ist wie eine Sucht, allen Männern immer nur gefallen zu wollen. Sind im Grunde zwei armselige Schaufensterpuppen. Gehüllt in nichts weiter als das Tuch der Eitelkeit. Unbefriedigt. Gelangweilt. Durstig beide. Das doppelte böse Bündel. Bis zum Ende in den Spelunken. Bis in die Puppen dann auf ihren Bärenhäuten. Müssen ja erst wieder am Abend aktiv sein.

Er versteht die Tante gut und versteht sie nicht. Er nennt sie Retterin und sagt, dass es vielleicht nicht recht gehandelt war, das Kind anderer Leute großzuziehen.

Was, anderer Leute, erregt die Tante sich.

Ist kein Anderer-Leute-Kind, der Junge.

Musst ja nicht mittun, schaffe ich auch allein.

Ungeeignet, eine Kindfrau zu sein, wäre die Frau, sagt Tante Luci. Ehe die Löwin ihr Kleines totbeißt, nimmt man es ihr lieber weg. Ums Kind der Löwin geht es dabei, um die Löwin doch wohl am wenigsten. Im Grunde ist so eine Frau zu bedauern, die so gar nicht das Zeug hat, Mutter zu sein.

Und doch lässt Onkelonkel nicht locker. Nennt meine leibliche Mutter lolitahaft. Sagt von ihr, dass sie ein Püppchen in seidig kurzen Höschen mit durchsichtigem Oberteil ist. Was immer sie trägt, alles sieht bei ihr nach Schlafanzug aus. Schnell abzulegen, und schon ist sie nackt und bereit.

Ein Püppchen, beharrt er.

Eine einzige menschliche Tragödie, sagt Tante Luci.

Ein Babydoll, sagt Onkelonkel. Puppenhaft aufs schöne Äußere bedacht. Und dabei so stocknaiv von sich überzeugt, dass es verboten gehört. Das löchrige Sieb hält das Wasser nicht.

Geh zu deinem Boot.

Erzähl deinen Fischen das.

Füttere die mit deinem Gerede.

Trinken immer noch eins, zitiert Onkelonkel Tacitus ungefragt dazwischen. Der einzige Schreiberling, den er gelesen hat, in und auswendig kennt. Jedenfalls wirft er immer mal wieder einzelne Zitate ein, die nicht zu der Situation passen. Der Tante gelingt ein Kuchenboden nicht und Onkelonkel sagt dazu nur: Den Erfolg nehmen alle für sich in Anspruch. Der Misserfolg aber wird immer nur einem einzigen zugerechnet.

Die Tante wartet auf eine wichtige Postsendung, und der Onkel geht in der Küche auf und ab und wiederholt immerfort: Es entspricht dem menschlichen Wesen, den zu hassen, den man verletzt hat.

Was hat das damit zu tun?, schmettert die Tante.

Und er sagt, dass alles mit allem verwoben ist, es keine Zufälle gibt und nur Zusammenhänge. Und deswegen stimme auch das Wort, von dem man es nicht denkt. Die Uhr, die steht, zweimal am Tag zeigt sie die richtige Zeit an, auf die Sekunde.

So sieht es aus.

Und dass die Eltern immer betrunken sind, immer beschwipst, ist genauso wahr. Wie Feuerwerkszunder zu Beginn. Später dann zwei aus einem Schandmaul speiende Vulkane. Bei jedem Aufruhr dabei. An jedem Streit interessiert. Überall zündelnd. Und wo sie nicht sind, fehlen sie nicht einmal. Und nach dem Krawall, sie bei ihm untergehakt. Auf dem Weg in die nächste Kneipe. Wo es dann durch sie schnell genauso wild wird. Und enden nicht viel anders als jedes Mal wieder im Chaos. Zwei, die sich gegenseitig herunterziehen und ruinieren.

Aus, vorbei.

Mir wächst der Kamm.

Genug darüber gesprochen.

Es wird immer Eltern geben, die sich um ihre Kinder nicht kümmern. Ich habe es gut, weil ich nicht ins Heim gesteckt worden bin. Wo die armen anderen Kinder wohnen. Misshandelte Waisen. Seelen in engen Käfigen. Und selten habe ich Onkelonkel je wieder so reden gehört. Schon gar nicht in dieser Länge. Das kommt davon, dass die Tante es nicht zulässt, ihn anherrscht.

Herkunft?

Stör dich nicht daran.

Glück gehabt, mein lieber Junge.

Und spricht vom Albatros, dem Vogel, den sie so bewundert, weil er sein Leben über dem Meer im Flug verbringt. Die Beine des Albatros hätten sich zurückentwickelt, weil er sie so selten braucht, dass der Vogel Schwierigkeiten hat beim Landen. Er müsse aber an Land gehen, Eier legen, Eier ausbrüten, sich um den Nachwuchs kümmern. Landet mehr auf dem Bauch. Überschlägt sich mitunter. Rutscht über den glatten Felsen ins Meer. Baut sein Nest neben die lange Anlaufbahn. Sind einige Tricks und Mühen nötig, eh so ein Federfleisch seine Erdhaftung verliert, zurückfindet in sicheren Luftbereich.

Tante Luci sagt, sie wäre auch wie der Albatros, so über den Dingen schwebend. Und rezitiert aus dem Kopf ein Gedicht dazu: Oft kommt es, dass das Schiffsvolk zum Vergnügen die Albatrosse, die großen Vögel, fängt, die sorglos folgen, wenn auf seinen Zügen das Schiff sich durch die schlimmen Klippen zwängt. Kaum sind sie unten auf des Deckes Gängen, als sie, die Herrn im Azur, ungeschickt die großen weißen Flügel traurig hängen und an der Seite schleifen wie geknickt. Der sonst so flink, ist nun der Matte. Der Weiche verfällt in Steife. Der Lüfte König duldet Spott und Schmach. Der eine neckt ihn mit der Tabakspfeife. Ein andrer ahmt den Flug des Armen nach. Der Dichter ist wie jener Fürst der Wolke. Er haust im Sturm. Er lacht dem Bogenstrang. Doch hindern drunten zwischen frechem Volke die riesenhaften Flügel ihn am Gang.

Sie könnte gut als Andenkondor auftreten, scherzt der Onkel dazu. Wenn sie, die Arme gebreitet, dasteht und nachsinnt, wie es ihre Gewohnheit ist, fliege sie für ihn.

In der Küche hängt noch das Bild vom Onkel an der Wand. Mächtiger schwarzer Greifvogel. Nackte rötlich braune Kopfhaut. Und dieser Haarflaum drum herum, wie die Tante doch aussieht, mit ihrer auf Ballon geföhnten Frisur. Ist ein Wappenvogel. Wird in mehreren südamerikanischer Staaten verehrt. Ist eine herausragende Erscheinung. Unverwechselbar, sagt Onkelonkel, witzelt, die Haut verfärbe sich tiefrot bis rotviolett bei größerer Erregung. Und die Tante drückt ihm den Mund zu, zischt ihn an.

Nicht vor dem Jungen.

Löscht besser den nächsten Satz.

Und wenn er dir noch so auf der Zunge brennt.

Es gibt nicht viele solch schöne Momente mit dem Onkel. Er ist abwesend, als sei er nur zu Besuch im Haus. Man sieht ihn kaum. Er stört nicht. Er fehlt nicht einmal, wenn er da ist, sagt die Tante. Still und genügsam wie eine Zimmerpflanze. Mischt sich nicht mehr ein, gibt der Tante nie wieder Kontra. Ist viel zu sehr auf Wohlwollen bei ihr bedacht.

Und der Onkel sagt, er habe im Traum meinen Vater mit einer Axt in der Hand gesehen, wie er sich einen Finger von der Hand abhackt. Das Beil fällt ihm aus der Hackhand gegen die Ferse, trennt die Ferse ab. Blutrot, der Traum. Als hätte man einen Eimer Farbe in ihn hineingegossen.

Was er mir damit nur sagen will, seufzt Tante Luci, schüttelt den Kopf, schickt hinter seinem Rücken eindeutige Gesten zu mir herüber, wischt mit der flachen Hand langsam vor dem Gesicht hin und her.

Und es ist kein Traum, auch wenn ich die Erinnerung traumschön vor meinem Auge flimmern habe. Und Tante Luci als meine Retterin sehe, mit einem Flimmern um ihre Frisur herum. Mag sein, es gehört zum Traumhaften an der Erinnerung. Mag sein, der Tiefstand der Sonne findet in dem Flimmern seinen Ausdruck. Eine frühe Sonne, die hinter ihr steht, über ihre Schultern blinzelt, während ich im Gras zapple, trampelnd um Hilfe rufe.

Tante Luci sagt:

Besser, wir reden nicht weiter davon.

Ich wäre in keinem guten Zustand gewesen, bevor sie sich meiner angenommen hat. Annehmen musste, verbessert sie der Onkel. Schweig, sagt sie barsch. Und er schweigt. Und nennt mich liebevoll ihr Schmerzenskind, ihren kleinen, minderschweren Fall.

Meine kleine, dünne Tante Luci hat die große Bedrohung abgewendet und sich für mich starkgemacht. Weil ich so zart gewesen bin und zurückgeblieben. Das Küken im Nest. Unter welchen Umständen ein Kind in dieser schönen großen weiten Welt groß wird, piepegal. Wo die Hütte klein ist, kann man in ihr schneller die Wände fassen. Und piepegal ist nun einmal nur die Steigerungsform zu egal.

Piepegal holen sich die Vögel und streiten sich darum in der Luft, sagt Onkelonkel. Man kommt in jeder Enge mit dem Platz aus, der geboten ist. Gute Startbedingungen können niemals schlechte Ausgangspunkte sein. Der Vater sei schuld. Er habe sie mit ins Unglück gezogen. Woher er nur diese Unselbstständigkeit habe. Ich hätte keinen Vater, wie man ihn sich wünsche. Er lebe zwar nicht auf der Straße, benähme sich aber nicht wie der Gescheiteste. Veranstaltet diesen Spuk um sich. Sei der Lauteste von allen. Lenke ab von sich. Betrinke sich vor, nach, im Theater. Penne in der Garderobe den Rausch aus. Gebe ein Fest nach dem anderen. Spiele sich auf wie ein dummer Junge.

Sie sind oft sehr raupelzig zueinander. Und wenn sie beide, so aufeinander eingespielt, reden, kann ich mir besser vorstellen, was man sich bei Onkel und Tante nicht vorstellen will. Dass sie einmal ein Liebespaar gewesen sind. Dass sie im Wasser getollt haben, er unter ihr hinweggeschwommen ist und vor ihr aufgetaucht, sie zu erschrecken. Und dass sie ihn morgens mit einem nassen Lappen im Gesicht geneckt hat. Und dass sie sich zum Abendrot umarmt, gedrückt, geküsst haben.

Sie streiten sich recht selten, aber wenn, dann ausgiebig und gern. Ob der Mensch nun schwitzt, ob das Pferd schwitzt.

Der Mensch schwitzt.

Der Mensch transpiriert.

Das Pferd transpiriert auf keinen Fall.

Schwitzt nicht.

Transpiriert.

Schwitzt doch.

Transpiriert nie im Leben.

So geht es hin und her bei ihnen. Ein Halali wie unter Jägern.

Am Frühstückstisch sitzen sie friedlich vereint und schauen in den Garten und sind dabei, mit den Augen zu jagen, wie sie sagen, wenn sie im Umfeld die Vögel sichten.

Da, sieh nur, eine Blaumeise.

Blaumeise, von wegen, Gimpel.

Rauchschwalbe. Haubenmeise. Amsel. Rotkehlchen. Buchfink. Gartengrasmücke. Gartenbaumläufer. Er kennt sie alle. Den gelbbraun gefiederten Laubsänger. Die Sumpfohreule. Den Ziegenmelker, auch Nachtschwalbe genannt. Und fängt am Tisch an zu gurren, hecheln, hupen und röhren. Fabriziert satte Geräusche. Begibt sich in nicht für möglich gehaltene Tonhöhen und Lautstärken. Beginnt zu schnurren.

Quorro quoorr und erree erree rrree rrree eerr.

Nein, nein, sagt Onkelonkel, den Mund zum Überlegen weit aufgerissen. Das ist es nicht. Und Tante Luci grübelt und grübelt und kommt nicht auf den Namen, der ihr auf der Zunge liegt. Und Onkelonkel freut sich, dass sie nicht sagen kann, wie der Name ist, zu raten beginnt, ob nun Grauschnäpper oder Fitis, Goldammer oder Girlitz im Gartenvogelhaus zu Besuch hereingeflogen sind. Hier handelt es sich um die Heckenbraunelle, den Distelfink, die Mehlschwalbe, belehrt Onkelonkel die Tante, die Amsel, Drossel, Fink und Star kennt und meint, das reiche vollkommen hin. Zu klug gescheißert ist auch nicht beliebt unter den Schülern in der Dorfschule.

Dann beginnt er Vogelstimmen nachzuahmen, korrigiert sich, teilt Tante Luci mit, dass er den Ton nicht findet, wie der Frosch am Bachteich klingt, und wechselt über zum asthmatischen kuu iik, als würde er auf einem holländischen Markt Flundern ausrufen, beginnt dabei, mit den Ellenbogen zu schlagen. Sitzt flatternd am Frühstückstisch, das Balzverhalten einer Meise aufzuführen. Und nimmt mich beiseite, wenn er meint, den Ruf der Mutter im Gegensatz zu dem des Vatervogels besser zu können. Rückt nahe an mein Ohr, beginnt leise mit wuuk wuuk und bricht dann ab, quu uuk von sich zu geben, deutlich lauter, deutlich artikulierter als von dem Vogel selbst zu hören.

Wie ein Mensch nur durch das Spiel klein werden kann wie der Spatz in der Hand.

Onkelonkel ist mir am angenehmsten, wenn er betrunken in der Küche sitzt und nichts sagt, nur versucht ist, etwas zu sagen, kein Wort hinbekommt. Das geschieht immer öfter. Und Tante Luci, der das peinlich ist, baut sich wie ein Wandschirm vor ihm auf, will nicht, dass er vor dem Kinde, wie sie sagt, so tonlos besoffen herumhängt, mit dieser dümmlichen Gestik, zu den unverständlichen Worten.

Und sitzt da.

Und ringt mit sich.

Und will was sagen. Zum Beispiel, dass er sich von seinem Küchenplatz nicht vertreiben lassen werde, auf dem Stammplatz einschlafen wolle, im Sitzen, in voller Arbeitermontur. Da könne die Tante nichts dagegen unternehmen. Es wäre sein eiserner Wille. Und kneift zu den Worten, die man sich denken muss, die Augen zu, was ihn noch dümmlicher aussehen lässt. Wie eine Echse, von der man nicht weiß, was mit ihr los ist, wie sie sich benehmen wird, wenn man sie unterzufassen und umzusetzen sucht.

Onkelonkel wechselt das Schuhwerk, selbst wenn er stockbetrunken ist, schafft er immer, den einen Schuh vom Fuß zu streifen, und müht sich dann wankend mit den Zehen des freien Fußes am Haken des widerspenstigen Schuhs, der nicht runterwill, wie er sich auch redlich bemüht, mitunter auf dem Rücken liegend, unendliche Male versucht, das Bein wie ein Katzenschwanz einzufangen, den Schuh in den Griff zu bekommen. Drinnen bereiten ihm die Hauslatschen Schwierigkeiten, wenn er sie nicht gleich nach Eintritt richtig trifft, sie sich in ihrer Anordnung verändern, zur Seite rutschen, überschlagen, gegen ihn kehren, dass er die Öffnung nicht findet, in sie hineinfährt, sich tief gebückt dabei dann auf die Hand tritt, davon umkippt, im Liegen nach der Pusche greift, sie überzuziehen versucht und unbeabsichtigt dann mit einiger Wucht von sich schleudert, ins Dunkel der Küche, von woher sie scheppern, krachend, knallend den ungefähren Aufprallort angeben. Er kriecht dann zwischen Stuhl, Tisch, Kühlschrank und Kochofen herum und richtet nur noch größeres Durcheinander an, das immer wieder Tante Luci auf den Plan ruft, die nach ihm schlägt, als wäre ein kanadischer Waschbär in ihre Küche geraten.

Mir rät Tante Luci, ich solle besser wegsehen, übersehen, was zu sehen sei. Ich solle meine Augen dieses Mal lieber nicht gebrauchen, wenn er mir etwas sagen wolle, meine Ohren verschließen.

Aus die Maus.

Ins Hirn hinein.

Zum Hirn hinaus.

Das sei kein Vorbild für mich. Sie schäme sich in Grund und Boden. Wie könne ein Mann sein gutes Weib nur so blamieren?, ruft sie, schlägt Luftlöcher mit dem, was sie zu fassen bekommt. Er soll verdammt noch einmal aufhören mit der Sauferei. Er solle in die Anstalt gehen, sich den Suff ausschaben, ausbrennen, austreiben lassen, schreit Tante Luci, während sie auf ihm herumklöppelt. Was nur der Junge von ihm denken soll.

Schande, du.

Ja, Schande ist es.

Schande bist du, Elender.

Mit dem falschen Mann ist sie beisammen. Hätte sie das Geringste davon geahnt, damals, sie wäre auf dem Hacken umgekehrt, auf ewig davongelaufen.

Im düstern Auge keine Träne, höre ich den Onkel pressen. Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland, wir weben dein Leichentuch. Wir weben hinein den dreifachen Fluch. Wir weben, wir weben. Das schöne Lied hat er laut gesungen, wenn er schwankend zu unserem Haus unterwegs war. Vor der Treppe stand er, die Faust zur Arbeiterfaust gereckt, als ginge es in die Revolutionsschlacht und nicht in die Mausefalle.

Tante Luci ist dann wie wild geworden aus den Federn und gleich hin zu ihm. Er werde die Nachbarn wecken. Es könne uns in Verruf bringen. Der mit seinem unmöglichen, depperten Arbeiterprotest.

Sie schießt durch die Küche zur Haustür hinaus, springt den Onkel an, der sich lachend, die Tante an seinen Leib geklemmt, um die Körperachse dreht und dreht und unbeeindruckt seinen Fluch dem Götzen schmettert, zu dem wir gebeten in Winters Kälte und Hungers Nöten. Und während die Tante sich an ihn klammert wie das Äffchen und mit ihrer Knochenhand das Schandmaul ihm zu versiegeln sucht, grölt Onkelonkel umso gestärkter: Wir haben vergebens gehofft und geharrt. Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt. Wir weben, wir weben.

Und ich darf der lustigen Aufführung vom Fenster aus beiwohnen, den Onkel in dieser Rolle meinen Star nennen. Es sieht zu putzig aus, wie die beiden sich zum Tanz aufführen. In jeder Disko wären sie die Stars im Programm. Wir weben, wir weben, will ich zukünftig antworten, kommt mir einer von der Seite dumm.

Er braucht sehr lange, ehe er die Klinke drückt, die Tür aufstößt, sie hinter sich offen lässt oder hinter sich heftig zuschlägt, sie einige Male hinterrücks fassen will, sich selbst im Wege ist. Und dann wie aufgezogen durch die Küche rattert, manchmal laut, manchmal leise surrend wie eine Geldzählmaschine, und alles umstößt, zu Boden wirft auf seinem Weg. Und die Tante greift meinen Arm, hält mich mit ihrer Nur-nicht-beistehen-Geste zurück. Und ich sehe einen Roboter. Und wünsche, er würde Robert heißen, dass der Name Robert im Wort Roboter mitschwingt. Habe ihn Roboterrobert genannt, wenn er besoffen war. Davon hat er nie etwas erfahren. Ich kann sehr gut schweigen, ein Grab sein.

Onkelonkel ist mir unsympathisch, ist er nur halb angesoffen und hält mit seinen Händen nicht an sich. Dann kommen mir seine Arme und Finger wie künstliche Gliedmaßen vor, und diese Prothesen fuchteln vor meiner Nase herum. Und seine Nase weist einen Stich ins Rotblauviolette auf. In diesem Zusammenhang spreche ich von den zwei Gesichtern Onkelonkels.

Hatte auch etwas Trauriges, ihn proletarisch gestimmt, schwankend zu sehen, wenn er: Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, sang. Den unser Elend nicht konnte erweichen. Der den letzten Groschen von uns erpresst und uns wie Hunde erschießen lässt. Wir weben, wir weben.

Waren schwere Zeiten, sagt er.

Waren gute Zeiten, sagt sie.

Besser, man vergisst die Zeit, sagt er.

Besser, man behält die Zeit in Erinnerung, sagt sie.

Besser, die Zeiten kehren nicht wieder, meint der Onkel.

Besser, als besser wäre, sie kehrten wieder und würden nie vergangen sein, beharrt Tante Luci.

Früher war alles besser, sagt Onkelonkel und hat etwas Spitzbübisches dabei. Im Grunde, sagt Tante Luci, wäre sie auch besser mit diesem schweigsamen Mann ausgekommen, der in der Küche nur zu den Mahlzeiten vorhanden ist, ansonsten auf der Werft arbeitet, nach der Arbeit in die Kneipe verschwindet, mit den Kollegen auf die getane Arbeit trinken. Dann nach Hause getorkelt kommt, ins Bett fällt. Und morgens schon wieder weg ist, wenn ich zur Tante Luci in die warme Küche schlüpfe.

Genug darüber gesprochen. Schon springt Tante Luci auf, eilt in den Keller. Kehrt aus ihm mit diesem Steintopf zurück. Hält den Topf mit der Hand gegen ihren Oberkörper gedrückt. Die dürren Arme wie Fahrradspeichen geknickt und in den Raum gestochen.

Hast du so etwas schon einmal gesehen?, fragt Tante Luci.

Die zweite Hand ruht auf dem Deckel mit Knauf. Alles aus Steingut. Graubläulicher Untergrund. Ultramarine Bemalung. Weintrauben. Früchte. Irgendein Pinselschwung. Rumtopf in Großbuchstaben. Ich will dir reinen Wein einschenken, Junge, sagt die Tante. Das hier ist ein Rumtopf. Man kann ihn in jedem Haushaltsladen kaufen, in allen Größen. Sie füllen den Topf mit Erdbeeren und überschütten sie mit Alkohol, dass er über den Früchten steht, sie in ihm ertrinken. Sie saugen sich voll damit, die Früchte. Mit Rum, Junge. Merke dir die zwei Worte.

Dick und Doof.

Rum und dumm.

Klethi und Plethi.

Ihre Augen weiten sich. Ihre Stirnfalten grollen. Sie scheint mir größer zu werden. Ich sehe ölige Männer im Hintergrund. Die schlagen mit ihren Stöcken auf Trommeln, dass Speichel spritzt. Kaum schaut eine Beere mit ihrem Bäuchlein hervor, übergießen sie alle Beeren mit ihrem scharfen Schnaps. Siebenundfünfzig Prozent. Mehrere Wochen lang erstreckt sich die Tortur. Erhöhen den Alkoholgehalt, wenn es sein muss, bis an die Schmerzgrenze. Und nicht nur das. Sie verbergen den Topf. Sie verbannen ihn in einen dunklen Raum, dem kühlen Eck.

Und werfen zu den Erdbeeren die Sauerkirschen. Und schnippeln schnalzend die Birne hinzu. Die Weintrauben. Die Pflaumen entkernt und geviertelt. Die Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren. Und zum guten Ende einen Boskopapfel. Für den Tick, den Geschmack.

Sie holen die Früchte zu sich ins Heim. Sie pferchen sie in solch einen Topf. Beschütten sie mit Zucker. Lassen sie Saft ziehen, bevor sie sie zu den anderen armen Gefangenen in den Topf sperren. Wo sie mit Rum begossen dann unterm Rumtopfdeckel harren.

Und meine Tante spricht zu ihrer Rumtopfrede die Worte mit einem rollenden R aus. Rum klingt mit diesem rollenden R, grollend. Ein Rrr, mit dem Tiere Menschen auf Abstand halten. Sie sagt nicht Rumtopf, sondern erst Rum mit rollendem R und Topf mit Pause vor dem T. Also Rrrum Pause, kurzes t und opf. Und presst das T mit einiger Energie hervor. Dass mich ihr Speichel umflirrt. Pfirrrsiche überrrbrrrühen sie, sie abzuschrrrecken. Zerrrschneiden sie in mundgerrrechte Happen. Stechen mit Nadeln die Frrüchte an. Damit der Rrrum besserrr über sie herrfallen kann. Lösen Frruchtfleisch vom Kerrrn.

Hebt den Steintopfdeckel an, wedelt mit ihm wie mit einem Fächer. Hebt die Nase zur Küchendecke. Schnuppert. Führt mir plastisch vor, welch ein Gewese die Eltern um die Rrrrumtopf genannte Obstsuppe veranstalten. Als würden sie mit dem Rrrrumtopf zur Rrrrumtopfolympiade fahren. Und hält den Topf wie einen Pokal, die Tante. Ihre Nase eine Fotolinse, die mehrmals klickt und schnappt, ist der Deckel erst einmal angehoben, das Gummiband vom Pergament gelöst.

Rumtopfnebel quellen förmlich aus dem Topf hervor, steigen auf zu den Worten der Tante. Lassen ihre Nasen vibrieren. Wie Pferdenüstern. Nasenflügel, die in heiligen Gesang zu verfallen scheinen, dann auch wirklich zu singen beginnen. Wie ich hier stehe und es euch sage. Oh, Rumtopf, du. Oh, flüssiger Batzen. Aus Obst und Schnaps. Zu uns gekommen. Gut, dass es dich gibt. Wir sind alle so in dich verliebt.

Onkelonkel nennt Rumtopf, Bowle, Fruchtwein und Kirschlikör Allesmist und Gehmirwegdamit und sagt, wer so etwas trinkt, bringt kleine Kinder um. Und ich muss die Tante wohl sehr erschrocken angesehen haben, dass sie zu mir gesagt hat, der Onkel meine nicht Kinder, sondern Gartenzwerge, die von den besoffenen Radaubrüdern gern mit dem Gewehr aufs Korn genommen und zerschossen werden, als wäre ihr Vorgarten eine Schießbude. Früher hat sie die zerschossenen Zwerge gegen immer kleinere Zwerge ausgetauscht, die wären aber viel lieber geschossen worden, weil sie so klein waren und ein Treffer dann viel mehr Jubel auslöste. Jetzt, wo sie den großen Gartenzwerg aufgestellt hat, ist der noch nicht angegriffen worden, toi, toi und dreimal aufs Tischholz geklopft.

Tante Luci schaut aus wie eine Furie aus der Unterwelt, zu uns in die enge Küche aufgestiegen. Eine kleine, dünne, jungfräulich wirkende Schamanin. Sitzt, wenn sie nachdenken muss, in Trance, fällt in Ekstase. Ruft für ihre Ziele die Mithilfe von Geistern an, wenn auch ohne Erfolgschancen, dass der Onkel vom Kneipenstuhl aufsteigt und bei ihr am Küchentisch landet.

Ganz bestimmt weist ihr Gesicht Züge vom edlen Antlitz eines alten Häuptlings auf. Und sie redet auffällig weise wie Sitting Bull. Der Hang zum Besitz ist eine Krankheit, sagt sie, wenn sie von der Nachbarin spricht, die ständig neues Land kaufen muss. Und hohe Zäune um das Land baut, die Nachbarn auf Abstand zu halten. Schändet die Erde mit ihren Zaunbauten, lässt ihre Hühner die geschändete Erde noch obendrein bescheißen. Die scheißen einem Fluss gleich, der eines Tages über die Ufer tritt, alles mit sich reißt, sagt Tante Luci. Und ich weiß, Sitting Bull würde nicht anders darüber reden.

Und der Satz davon, dass wir die Erde nicht von unseren Vorfahren vererbt bekommen, sondern sie von unseren Kindern leihen, könnte gut und gerne auch von Tante Luci stammen statt vom großen Stammesführer der Lakotaindianer. Wenn sie sich hinsetzt und überlegt, wie sie sich ausgehfähig kleiden soll und sitzend zögert, ehe sie sich entscheidet, ist sie für mich Sitting Bull bei seiner Amtseinführung.

Ich erlebe sie oft in diesem geistigen Ausnahmezustand, der der Bewusstseinssteigerung dient, wenn sie mich anzischt wie ein Chamäleon, in innerlicher Verzückung, wie sie ihr visionäres Gehabe nennt. Sie verfüge über eine Atemtechnik, sagt sie und beginnt den Oberkörper rhythmisch zu bewegen, mit den Fingern aufs Tischtuch zu trommeln, einen murmelnden Gesang, mit geschlossenen Augen. Dass sie aus sich heraustreten kann, sozusagen kleine, unsichtbare Heißballons aus ihrem Körper hervor aufsteigen und in die Gegend spionieren. Wie das funktionieren soll, bleibt mir unverständlich. Aber es gibt ja auch die Hundepfeife bei Onkelonkel, die niemand sonst als der Jagdhund hört, der auf sie reagiert und angelaufen kommt. Ich glaube nicht direkt daran, dass sie mit Geistern kommunizieren kann, sicher bin ich mir nicht. Wie ich nicht abstreiten möchte, dass es sie nicht doch gibt, in der Mongolei oder hoch oben im unwägbaren Gebirge, diese Himmelspforte, von der sie reden.

Es braucht eine Portion Besessenheit, sagt die Tante, das große Ziel zu erreichen. Und verändert ihre Mimik, dass sie besessen wirkt und man sich fragt, wie sie sich nur so sehr verändern kann, dass ich zweimal hinsehen muss und sie trotzdem nur an ihrem Küchenkittel wiedererkenne. Ist ihr meist gar nicht bewusst, sagt sie danach, schüttelt sich wie von einem zähen Zauber befreit.

Ich möchte sie nicht Hexe heißen. Aber aufgeschnappt habe ich das Wort ein-, zweimal in Bezug auf ihre Person. Zumindest Kräuterhexe nennt sie sich selbst. Und das ist ja auch negativ besetzt. Wo es den Medizinmann gibt, wäre sie dessen Medizinfrau, ganz gewiss. In der Fremde gilt der Besondere als normal.

Wie ich es sage. Ihre Haut vibriert. Ihre Gestalt umgibt ein Dunst. Ihre Blumenkittelschürze beginnt schwach zu leuchten. Fast griechisch, klassisch. Ihre Haare ein Ringelnatternest. Dem offenen Mund entweicht gefährlicher Atem. Wie bei den Ausgrabungen der Fluch des Pharao seinen Entdecker trifft, der daraufhin stirbt, soll auch ich zu ihren Worten das tödliche Schimmelgift atmen, das in der Küchenluft wabert. Die Rednerin soll wie in einer Grabkammer vor mir stehen. Ihre Worte sollen Mückenstiche sein, den sicheren Malariatod bringen. Und, um die Wahrheit zu sagen, wenn Tante Luci den Deckel anhebt, den Inhalt herzeigt, wohnt man einer Graböffnung bei. Alle potenziellen Krankheiten werden von ihr wie Teufelsnamen ausgerufen. Leberschaden. Magensausen. Sodbrennen. Brechreiz. Bierbauch. Zwölffingerdarmkrebs. Hirnschlag.

Zu Tode erschreckt und todesmutig entschlossen drückt sie den Deckel wieder fest auf Pandoras Unglückssteingut. Hebt den Rumtopf höher an. Hält ihn fern von sich und über sich. Dass keiner mehr den Deckel packen und öffnen kann. Hält den Steintopf so für lange Sekunden wie ein Gewichtheber erhoben. Das unhandlich dicke runde Ding. Groß genug für einen fetten Fisch, der in ihm schwimmen würde und schön anzusehen sein möchte, wäre der Topf aus Glas und ein Fisch aus Früchten in diesem Aquarium.

Jungemein. Behütedichselbst.

Und immer schön aufgepasst. In deinen Augen hab’ ich einst gelesen, es blitzte drin von Lieb und Glück ein Schein: Behüt’ dich selbst, es wäre schön gewesen, behüt’ dich selbst, es hat nicht sollen sein. Und bringt den Topf flugs weg. Stellt ihn ins Dunkle. Gleich auf die oberste Stufe zum Kellergewölbe hin. Die Sucht sucht tüchtig, sagt sie, klopft ihre Hände am Kittelstoff ab, die welche süchtig. Und tausend Schlangenköpfe mit zweimal tausend Schlangenaugenpaaren blitzen das Wort Teufelsdreck.

Behütedichselbst.

Tante Luci kann so leicht nichts schrecken und aus der Bahn bringen. Tante Luci nimmt Niederlagen hin. Tante Luci klagt nicht. Tante Luci hat nicht zu jammern gelernt. Und bleibt bei großer Aufregung um sich herum sachlich, unterkühlt, konzentriert. Sie sagt, was sich wozu auswächst und unter welchen Umständen groß wird. Sie sieht mit dem ersten Blick, was einer an Charakter mit sich führt. Sie sagt, sie wisse genau, wie etwas Dummes gescheit wird und das Hässliche Gestalt annimmt. Und weiß den Ort zu benennen, an dem ein Gegenstand von Interesse ist. Und erwartet von mir, dass aus dem Kind ein guter Mensch wird.

Was die Tante so gegen den Alkohol aufgebracht hat, könnte damit zu tun haben, dass sie früher als Kellnerin gearbeitet hat, vermutet der Onkel. In so einer wilden Seemannsstampe unten am Hafen ist ihr einer frech gekommen. Hat es schwer bereut. Das Tablett habe sie auf dem Tisch abgestellt, es in Seelenruhe leer geräumt, es angehoben, kräftig ausgeholt, dem närrisch gewordenen Kerl eins zur Hirnheilung übergezogen. Aber wie. Sie habe den Baum nicht gefällt, aber mächtig ins Wanken gebracht. Mitsamt seinem Stuhl. Das Tablett hat sie drohend allen hingehalten und den Kerlen ein für alle Mal gesagt:

Bin weder Fräulein, noch schön.

Kann ungeleitet meiner Wege gehn.

So ein Großer ist das gewesen, sagt Tante Luci, zum Schlagabtausch befragt. Zeigt die Größe mit Händen und Füßen an. Zwei Meter der Mann, bestimmt. Und sie eine winzige Ameise dagegen. Nicht einmal ein Meter und sechzig, damals schon.

Ist das schicklich, fragt sie den Kerl, so laut sie nur kann, einer Frau im Vorbeigehen in den Allerwertesten zu kneifen? Ihr obendrein auf die Pobacke zu klatschen, dass es durchs ganze Lokal davon hallt? Und holt mit der Hand aus, verabreicht dem Bären von Mann eine Ohrfeige. Alle fünf Finger seien auf dessen linker Wange zu sehen gewesen, dort, wo sie ihn geohrfeigt hat. Zum Schatten seiner selbst, zum Gespött im Ort habe sie ihn gestempelt. Haben pariert, die großen Männer wie die kleinen seit diesem Tag. Haben sie rundum höflich behandelt fortan.

Wie eine Dame.

Gehört sich nicht.

Ist nimmer gentlemanlike.

Schon gar nicht mittenmang der Kundschaft.

Bei meinen Eltern wäre aus mir nichts geworden, sagt der Onkel, wenn Ruhe herrscht und er für sich am Küchentisch philosophiert, leise in sich, die mangelnde Obhut meiner Eltern bespricht. Ihr gesamtes Leben lang am Vorspielen seien sie. Sich unentwegt belügen, anderen etwas vorgaukeln würden sie. Auf der Bühne, im Leben, kein Unterschied. Lebensvagabunden. Immer auf Achse am ewigen Platze. Keine Zeit, Zeit zu verschenken. Man müsste sie hernehmen, in den Sack stecken, auf ihn hauen. Sind Diener einer höheren, künstlerischen Idee, sagt die Tante. Verbietet Onkelonkel den Mund.

Hast uns.

Musst nicht Trauer blasen.

Und Tante Luci zeigt ihre Hände her. Die wären nun einmal die richtige Backform für mich. Was genau sie damals weiter