Bin ein Schreiberling - Peter Wawerzinek - E-Book

Bin ein Schreiberling E-Book

Peter Wawerzinek

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Beschreibung

Kaum jemand in der deutschen Literatur der letzten Jahre hat solche Höhen und Tiefen erlebt, ist so oft »abgeschrieben«, so oft in den Himmel gehoben worden wie Peter Wawerzinek. Über seine Erfahrungen, über die Selbsterfindung als Autor, über schaurig-komische Erlebnisse im Literaturbetrieb, über sein »Eintauchen« in die alltäglichen Lebensweisen als Voraussetzung fürs Schreiben, über Orte von Köln bis Dresden, von St. Wolfgang/Österreich bis Oberlin/USA, in die er eingeladen wurde als See-, Orts- oder Stadtschreiber – davon erzählt er anspruchsvoll und komisch in diesem Buch. Eine pointiert erzählte Reise durch ein Schriftstellerleben und die deutsche Literaturlandschaft – mit all ihren lieblichen und schrecklichen Seiten.

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Seitenzahl: 191

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© 2017 : TRANSIT Buchverlag

Postfach 121111 | 10605 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung @ Gudrun Fröba

Umschlagabbildung @ Reto Klar

Layout: Gudrun Fröba

eISBN 978 3 88747 345 7

Peter Wawerzinek

Bin ein Schreiberling

Inhalt

Schriftproben

Liebesbriefe

Ausschreibung

Schreibmaschinen

Sammeltopf

Müßiggang

Wortschatz

Schreibtisch

Budenzauber

Wanderzirkus

Baader

Umbruch

Suppenkasper

Schwedt

Langenbroich

Irland

Wewelsfleth

Visitenkarten

Ahrenshoop

Die verrückte Millionärin

Neuauflage

Werkstatt

Lohme

Klagenfurt

Island

Puppenlesung

Jena

Magdeburg

Dresden

Hände

Ruhm

Schriftproben

Ich stamme aus einer Gegend, in der die schreibende Zunft zu Hause ist. Am Strand schreiben die Menschen Worte und Sätze mit ihren blanken Fingern oder kleinen Stöcken in den feuchten Sand. Die Wellen sind gierig darauf, ganz versessen, sie zu verschlingen. Die Menschen sammeln bei uns weiße, kleine Steine, legen die, wenn kein Stock zur Verfügung steht, als Schriftprobe fein in den Sand. Reserviert bis Ende August, steht dann als Warnung an der Schräge ihrer riesigen Burg zu lesen, hinter der sie dann versteckt wohnen, sonnenbaden, sich erholen.

Auf den einem in den Weg gestellten Schautafeln schreibt der Küchenchef bei mir daheim auf, was in seiner Küche bereitet wird. Heute ganz besonders zu empfehlen: Würstchen im Schlafrock, Klammer auf Blätterteig Klammer wieder zu. An bestimmten Tagen werden an alle Kinder bunte Kreidestifte verteilt. Sie können mit ihren Narrenhänden alles mit bunter Kreide vollmalen, Straße und Bürgersteig umfärben. Man ist bei uns zu Hause dermaßen in die Schrift verliebt, dass die Verrücktesten unter ihnen, die Piloten, die ihnen wichtigen Botschaften auf ein langes Transparent drucken lassen, sie über den Himmel hinweg für jedermann lesbar hinter sich herziehen. Manuela, willst du mich heiraten?

Die zu uns kommen, die Sommergäste, schreiben vor allem Postkarten, Briefe. Deutlich mehr, als in den umliegenden Orten, die nicht Ostseebad sind, keinen saisonalen Zuzug erleben. Vor fast jedem Haus rufen auf extra angefertigten Tafeln und Aufstellern unsere Bewohner den Gästen, die zu uns kommen, verlockende Angebote zu: Zimmer mit TV und Badewanne. Man schreibt aber auch: Heute frischer Räucherfisch, Orgelkonzert ab sofort wieder jeden Donnerstag um neunzehn Uhr.

Unser Dorfsheriff ertappte uns in der Kindheit und Jugend aus seinem Versteck heraus beim falschen Radfahren oder zu dritt auf dem Moped und verbotenen Wegen. Er schrieb sehr fleißig lange Strafzettel mit Begründungen dafür, was wir nicht hätten tun sollen, wogegen wir alles verstoßen hätten.

Voller Stolz kritzelten die Fischer auf ihre Schultafeln, welchen Fisch sie überlistet, gefangen und weiterverarbeitet haben. Schollenfilet, Flunder geräuchert, Aal fangfrisch, Dorschköpfe, Salzheringe, Meerforelle, kalt geräucherter Seelachs, Hornfisch. Solange der Vorrat reicht.

Sie beschrieben bei uns gern die Bushaltestelle mit wirklich bösen Worten, die man nicht öffentlich zur Schau stellen sollte, wie die Wörter mit F oder V am Anfang. Sie brannten ihre Buchstaben in Holzbretter, klatschten ihre Flugblätter an Haustür, Lampenpfahl und Bäume, teilten allen mit, dass ihnen der Lieblingswellensittich auf und davon geflogen, der Kater ausgebüchst, ein Schlüsselbund abhanden gekommen sei.

Es heißt, ich hätte erst spät zu reden begonnen, war bis zum Schulbeginn ein stiller Junge, hätte erst in der Schule, dort dann aber mit der ersten Unterrichtsstunde zu sprechen begonnen. Wahrscheinlich, weil ich mich nur melden musste und dann auch drangenommen wurde.

Die Herkunft spielt bei mir eine wichtige Rolle und hilft mir bei der Entscheidung, mich auf die Seite der Schreiberlinge zu schlagen. In den Heimen war alles eher buchlos. Ich kann mich einzig an »Peterchens Mondfahrt« von Gerdt von Bassewitz, mit den wundersamen Bildern von Hans Baluschek erinnern. Der böse Holzhacker hackt dem Maikäfer Sumsemann das sechste Beinchen ab. Zur Strafe für sein Vergehen wird er mit dem Beinchen auf den Mondberg verbannt. Anneliese und Peterchen wollen dem Sumsemann sein Beinchen wieder zurückholen. Auf der Reise zum Mond werden sie nacheinander von der Blitzhexe, dem Donner, Wassermann, Sandmännchen und einer Nachtfee und weiteren Himmelsbewohnern unterstützt. Ich erinnere mich an die Geschichte, dass es mich heute noch innerlich erregt und ich an mich halten muss, um die Arme nicht wieder auszubreiten, wie ein Maikäfer zu fliegen. Vom Schreibtisch aus über den Stuhl hinweg zum Fensterbrett und weiter, weiter: Rechtes Bein, linkes Bein, summ, es wachsen mir zwei Flügelein, summ, summ.

Mit Büchern kam ich erst bei den Adoptiveltern in Berührung. Der Dachboden in meinem neuen Zuhause war über eine sehr schmale, steile Treppe zu erreichen und das Gegenteil zu der aufgeräumten, gutbürgerlichen Wohnung. Man kann ihn sich in dem Film »Das Testament des Dr. Mabuse«, 1933 von Fritz Lang gedreht, anschauen. Der gleiche Schaukelstuhl, dieselbe Staubschicht über Töpfen, Schalen, Lampen, Goldrahmen, Ölgemälden, Töpfen, Steingut, Kanistern, Flaschen, Kästen, Weinballons, Fahrradteilen. Nicht zu enträtselnde Gerätschaften und Gestelle. Wäsche, Tücher, Altkleidung, Pelze, Schlitten. Leinen, Stricke, Kordeln an langen, eckigen Nägeln und in die Balkenwinkel gehängt. Regale, Kisten, Truhen. Teller, Tassen, Bestecke, Geschirr, alles in vergilbtes Zeitungspapier gewickelt. Zeitungsseiten, die ich glättete und eifrig las. Und ausrangierte Hocker, Stühle, Spiegel, kleinere, größere und wuchtigen dreitürige Schränke, vorher sicher in Einzelteile zerlegt dorthin nach oben geschafft und wieder aufgebaut. In ihnen hoch aufgestapelte Bücher, teilweise in hauchdünnem Papier. Ich stöberte herum. Ich liebte die alten, dicken Enzyklopädien, die vielen Abbildungen, Nummerierungen, Unterschriften, Benennungen, vor allem die lateinischen, und die durchsichtigen Seiten, zwischen die Bilderseiten gelegt, die teilweise gemustert waren, Schneeflocken glichen.

Liebesbriefe

Bei mir begann alles mit dem Verfassen von Liebesbriefen für meine Freunde. Damit ging es mir gut. Ich bekam die Raubeine des Ortes auf meine Seite, hatte nicht groß mehr was zu befürchten. In meinen ersten Jugendtagen schrieb ich Reime und Schwüre, die sie dann den Mädchen vortrugen oder auf Schmusepapier mitteilten. Die Raubeine, für die ich schrieb, hatten poetisch nichts in ihren Birnen. Mit meinen Texten kamen sie bei den Mädchen gut an. Die Mädchen hielten meine Texte in ihren Händen und drehten ihre schönen Hälse verstohlen an mir vorbei zu den Jungen hin, für die ich all die weißen Seiten mit Schwüren beschrieben hatte. Die Jungen überließen mir ihre Zimmer, bewirteten mich, schenkten mir ihre liebsten Dinge, steckten mir Geld zu. Ich war ihr Stipendiat, ohne dass sie oder ich gewusst hätten, was das ist, ein Stipendium, und wer ich dann bin.

Ich stand da ganz unter Einfluss der Lektüre von »Die Räuberbande« von Leonhard Frank. Eine Geschichte imponierte mir besonders: Einer mit Namen Georg trägt den Namen Falkenauge seit einer Schlägerei mit fünf Gymnasiasten, wobei er ein Auge verliert und dafür ein Glasauge trägt. Ein Kapitän und ein Schreiber entdecken das Glasauge in seiner Dachkammer, als er nicht da ist. Das Glasauge liegt in einem Wasserglas. Der Kapitän fordert den Schreiber heraus, auf dieses eine Auge zu schießen. Das Glas bricht, Wasser spritzt, das Glasauge kullert unters Bett, von wo es der bleiche Kapitän hervor holt und zum Fenster hinaus wirft.

So wollte ich auch schreiben. Wovon man bei mir denken könnte, es wäre ausgedacht, sollte stimmen, wovon man meinte, ich würde die volle Wahrheit sagen, sollte man sich sicher sein, dass ausgerechnet die gelogen wäre. Ich bin dann ein Stegreifdichter geworden.

Die Mädchen meinten, ich würde Tagebuch schreiben. Ein Tagebuch schreiben kann ich nicht. Ich sagte ihnen, ins Tagebuch Erlebnisse hinein kritzeln, ist nicht meine Sache, ich will Bücher schreiben, Leser haben. Tagebuch schreiben ist wie die morgendliche Katzenwäsche. Ich will in Wörter, Sätzen baden, lange Lebensberichte aufzeichnen, mich froh und frisch jeden Tag an den Schreibtisch setzen, in die Maschine hacken. Sie sahen mich mit offenen Mündern an und wandten sich ab von mir.

Auf den rechten Pfad eines Schreiberlings brachte mich mein Deutschlehrer, Herr Eichler. Ich verdanke ihm, was an mir ein Literat genannt werden darf. Er trug Rollkragenpullover, was in meiner Jugend zur Topmode gezählt wurde, sich außer ihm kein Lehrer sonst zu tragen traute. Über dem Pullover trug er einen dunkel glänzenden Arbeitskittel wie ein Lehrmeister in der Produktion. Er war sehr agil, es hielt ihn nicht hinter dem Lehrertisch. Er konnte einfach nicht stillsitzen. Er las uns Sachen vor, die nicht im Lehrplan standen. Er schritt rezitierend oder aus einem Buch lesend durch die Bankgänge, stellte sich zwischen die Stuhlreihen, reihte seine Worte auf lange Fäden, löste komplizierte Sätze wie Kandiszucker auf. Stellte er sich auf seine Zehenspitzen, ging es um höhere Werte und Worte. Er gestikulierte, vollzog einen Armschwung mit dem Buch. Er hielt das Buch sich unter die Nase, lugte gerade so über die Buchseiten hervor. Dann ging es um sehr vertrackte Geschehnisse. War er von einem Ausspruch fasziniert, stand er steif, stumm, stur. Man hätte ihn nun packen, unterfassen und wie eine Skulptur forttragen können. Ein Räuspern von ihm war für mich die Geburtswehe vor dem ersten Wort. Er gebar die Worte, presste sie aus seinem Brustkorb hervor, nachdem er zuvor mit ihnen schwanger ging. Der Klassenraum wurde zum Kreißsaal. Ich erlebte ihn wie einen Großen im Theater, hielt ihn für einen echten Charakterdarsteller, genoss seine Vorträge. Er las. Er rastete ein. Er stand steif und unbewegt. Er konnte laut werden, den Text brüllen, dass sein Speichel über die vorderen Sitzreihen spritzte wie bei einer Massentaufe.

Aus jedem von uns hätte ein Schreiberling werden müssen, denke ich mitunter. Es ging dem Mann nicht nur um den vorzulesenden Text, es ging ihm um die Faszination, die man mit ihm auslösen kann. Er diente dem Text wie man einer Sache dient, von der man beseelt und besessen ist. Er schaffte es, einen in den Text hineinzuziehen. In seinen Stunden entstand in mir eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihm und mir. Uns verbanden Reime und Wortgebilde der Literatur. Er imponierte mir sehr. Während die meisten Schüler abschalteten, folgte ich ihm begeistert bis zum Pausenklingeln, das er mit einem: Ein anderes Mal mehr dazu quittierte.

Der erste Schriftsteller, den ich kennenlernte, hieß Jan Koplowitz, kam aus Berlin, trug weißes Langhaar und einen Rauschebart. Er wurde uns liebevoll vom Deutschlehrer vorgestellt und saß dann vor der Klasse am Lehrertisch. Er las listenreich, das heißt, er unterbrach an einer absichtlich gewählten Textstelle seine Lesung, zog ein Plattencover aus seinem Umhängebeutel und fragte uns, ob wir wüssten, wer der Mann auf dem Cover sei? Niemand kannte ihn. Er sagte den Namen Bob Dylan. Wir standen auf The Who und Jimi Hendrix, unser Musikfreak hatte Frank Zappa zum Idol.

Ich interessierte mich nach der Lesung für Bob Dylan, schaffte mir Musikstücke von ihm herbei, und ließ bald schon wieder ab von ihm. Ich stieß unterwegs zu Bob Dylan auf Dylan Thomas, von dem der sich den Vornamen als Pseudonym ausgeliehen hat, denn Bob Dylan hieß in Wirklichkeit Robert Zimmermann, was eben nicht wirklich irre und toll klingt.

Dass ich den Schriftsteller gut fand, mir seine Bücher besorgte, zeigt nur, dass ich auf dem besten Weg war, ein Schreiberling zu werden. Ich beklagte diese Entwicklung nicht. Ich sah diesen Fakt nie als ein lästiges Schicksal. Es braucht nicht wirklich viel, sich zu einem zukünftigen Schreiberling hin zu entwickeln. Ich sah mich auf einer Stufe mit den Bergarbeitern Paraguays, von denen ich las, dass sie am hellen Tag freiwillig in die Nacht des Berges einfahren und dort hart schuften. Und nach der Arbeit kehrten sie aus dem Schacht in die dunkle Nacht zurück. Und waren trotzdem recht lustige Gesellen, frohgemut darüber, sich und die Familien durch die Arbeit ernähren zu können. Ich wurde zum Schreiberling aber auch mit der notwendigen Hochachtung der Bratkartoffel gegenüber. Ich habe ja im Kinderheim schon keinen besonderen Geschmack ausbilden können.

Das Buch, das ich von Anfang an von den vielen Büchern damals mochte, war eine Doppelausgabe zu den Reisen von Marco Polo. Ich las mich da regelrecht in die Landschaft zwischen den Buchstaben und Zeilen hinein. Ich schmeckte Worte wie Großkhan, Islam, Dschunke, Sumatra, Mönch, Asien, Mongole, Jerusalem, Kreuzfahrer, Basar, Oase, Seide, Gewürze, Präfekt und Barbar, Harnisch, Gefolge am Hofe, Persien und Republik Venedig. Ich bewegte meine Lippen, wenn mein Hauptheld redete. Ich selbst war Marco Polo in China, hielt mich im fernen Land auf, traf mit Kublai Khan zusammen, ritt mit ihm aus, sang mit ihm, schrieb für ihn Werbelieder an seine mongolische Prinzessin, die sie im Innersten erreichten. Mir wehte der Wind um die Ohren. Ich stand mit ihm an Bord. Ich träumte von Galeeren, Gefangenschaft. Bagdad war für mich ein Traumort. Seeweg war ein seltsam-magisches Wort, Dschingis Khan nicht wirklich zu begreifen, nur zu idealisieren. Ich lief durch meine Kleinstadt wie durch ein riesiges Reich. China war mehr als nur der kleine Fischerhafen in Rerik, das gesamte Gebiet um ihn herum war mein chinesisches Reich. So plastisch und vollkommen wie sich eben ein Junge einen großen fernen Palast vorstellt, der nur die Dorfkirche, einen Leuchtturm in seiner Nähe, das für damalige Zeiten hypermoderne Lesecafé kennt. Ich sprach mit den Geistern, sie zu mir, die im Buch beschrieben worden sind. In mir klangen die beschriebenen Musikinstrumente, obwohl ich bis dahin doch nur auf der Gitarre und einem Akkordeon gespielt hatte. Ich schlug das Buch zu, es wirbelte Wüstenstaub auf, der roch, ach, so verlockend und verführerisch.

Ich liege auf dem Feldbett ganz auf mich zurückgezogen. Ich verbringe Stunden auf dem Dachboden und schaue durchs Fenster auf Kletterpflanzen und Zwischenräume, die sie zum Anschauen frei geben. Wie der heranwachsende Bengel von einst sitze ich am Fenster, und traue mich nicht aus dem Haus heraus und zur schmalen Treppe herunter, wo die Mädchen sind, mit denen man reden oder anbändeln könnte. Ich sitze im Sessel und denke lieber darüber nach, was ich den Mädchen gerne sagen würde, zu ihren langen, schönen Haaren, dem albernen Gekicher, ihren roten Mündern und leichten Brustansätzen. Ich habe mich am Bodenfenster wieder einmal nur damit zu begnügen, die Morgentiere zu betrachten, die paar Boote am Horizont mit dem Fernglas einzufangen, und mache mich nach dem Hinausgucken über meine Texte her oder lese in einem Buch.

Ich stellte mir oft genug vor, wie es sein wird, habe ich erst einmal ein Buch herausgebracht, und alle halten mich fortan für einen Schriftsteller. Ich sehe mich in einen dunklen Tunnel gestellt, und aus der Helle der Tunnelenden treten zaghaft meine ersten Leser auf mich zu. Ich weiß nicht, wie ich mir meine Leser vorstellen muss, wie sie zusammengenommen ausschauen. Ich erlebe in meinem Traum nur diese Helle an den beiden Enden des Tunnels, die zugleich auch das Ende der Dunkelheit um mich herum bedeuten.

Ich denke mir meine Leser als Scherenschnittfiguren, Schattengestalten und habe Angst vor den Begegnungen, möchte weglaufen, noch bevor mein erstes Buch erscheint, mit dem Kopf möglichst durch die Tunnelwand. Ich weiß früh schon, dass meine Schreibbestrebungen der herrschenden Literatur entgegen geraten und gehe besser davon aus, nicht gleich verstanden zu werden.

Ausschreibung

Wer keinen vernünftigen Studienplatz kriegte, nicht dafür genommen wurde, wofür er sich erwärmte, versuchte es eben mit einem Lehrerstudium. Das war die sichere Bank, die Bank der Zukunft. Man konnte hinterher ja immer noch etwas völlig anderes machen, zum Beispiel sich als Offizier verpflichten, in einem hässlichen Neubau wohnen, den Wohlstand der Marke Nullachtfünfzehn genießen, die drei Kinder bekommen, die sich der Staat von jeder Familie wünschte.

Ich suchte meinem Schicksal zu entfliehen, wollte nicht Lehrer werden und beteiligte mich also an diesem Schreibwettbewerb zum Thema, wie man sich die Zukunft im Jahr Zweitausend vorstelle. Ich war ja schon in der Kindheit ein begeisterter Leser von entsprechenden Fachzeitschriften wie Bummi, die ABC-Zeitung, Atze, Mosaik, die Trommel, Fröhlich sein und singen, Abkürzung Frösi, und vor allem Technikus, wo Zukunftsthemen die Seiten beherrschten. Andere Zeitschriften gab es nicht. Man kann auch sagen, ich war jung und brauchte die Anerkennung.

Und dann wurden die Texte veröffentlicht, ehe es zur Siegerehrung kam. Meine erste Feststellung: Die anderen schrieben wie ich. Sie hatten wie ich die gleichen Zeitschriften studiert und ausgeschlachtet. Es wimmelte nur so von fliegenden Untertassen als Dienstwagen vor der Haustür. Sie gingen bei Amerika nur noch von den Vereinigten Sozialistischen Staaten aus, ernährten sich in den Geschichten synthetisch und von Algen, die Früchten ähnlich sahen. Sie lehnten Alkohol und Nikotin strikt ab. Sie arbeiteten, atmeten, schliefen und träumten inmitten der Weltrevolution und erlebten ihre besten Zeiten an der Seite von Automaten, die einem den Anzug passgenau maßschneiderten. Sie tummelten sich in Städten auf dem Mond, im ewigen Eis, und bekamen die Rente schon mit fünfundvierzig Jahren pünktlich ausgezahlt. Die Welt war überwiegend glücklich und kommunistisch. Kein Insekt stört uns, schrieb eine, sind alle ausgerottet worden. Bei schlechtem Wetter spiele ich mit meinem Roboter Dame, Halma, Mühle, Schach. Meistens gewinnt der Roboter, weil er mit Beschiss spielt, wusste ein anderer aus der fernen, nahen Zukunft zu berichten. Gehe ich essen, gibt es mariniertes Plankton.

Und dann gewann ich den Schreibwettbewerb der Zeitung. Mein Text mit dem Titel »Die Zeit der Wettermacher hat begonnen« landete auf dem ersten Platz. Ich beschrieb mich darin als guter Papa, der mit seinem Sohn endlich in den Urlaub nach Mirny 2000 fliegt, eine Stadt unter einer riesigen Kuppel, wo das Wetter nach Wunsch der Bewohner gemacht wird. Die Sahara ist ein großes Getreideanbaugebiet, der Krebs besiegt, irgendwie wird alles mit Uran beschossen, und ich bin einer derjenigen, die das vorantreiben. Das beste an meinem Text, heute noch, ist der Anfang mit den Worten: Ich beginne meinen Urlaub. Unterschrift: Peter Wawerzinek, Rerik, 15 Jahre.

Ich weiß noch haarklein, wie stolz meine Adoptivmutter mehrmals durch den Ort lief, um sich zu ihrem Stiefsohn beglückwünschen zu lassen, weil es in der Bezirkszeitung mit einem Bild von mir jedermann bekanntgegeben worden war. Ich bekam in der Nachfolgezeit sämtliche Wünsche von ihr erfüllt. Eine Staffelei, um zu malen. Eine Gitarre, wie sie mir als Jungen zustand. Schreibhefte, wertvolle Füllfederhalter, einen Zauberkasten, weil ich kurzzeitig ein Zauberer werden wollte. Sie taten es auch in voller Absicht, mich wieder wegzubekommen von meinem Hang zur Kunst. Denn mein Adoptivvater war Lehrer, stellvertretender Schuldirektor, ein Meister in Mathematik, Physik, Erdkunde. Er spielte Simultanschach gegen zwanzig Leute zeitgleich, wenn so viele Gegner überhaupt aufzutreiben waren. Er besaß das Pokergesicht, gewann beim Skatturnier genau den Preis, den er gewinnen sollte. Hatten wir bereits eine Weihnachtsgans daheim, gewann er eben den schönen Präsentkorb mit den vielen Naschereien, Kaffee, Konfekt, Kandiszucker, Kokosmilch, Mandarinenkompott und ähnliche Sonderrationen.

Pech nur, ich wurde als Gewinner fürs Jahr Zweitausend in die Hauptstadt der DDR, nach Berlin eingeladen, das schicke Moped ging an den Zweiten, der dritte Sieger erhielt ein Tonbandgerät, Tesla 93, ich weiß es wie heute noch, das man an der Wand anbringen konnte und es spielte trotzdem. Ein sehr flaches Modell, nicht so eine fette Maschine wie mein altes Gerät. Mit Bandteller, Mitnehmer, Sicherung für den senkrechten Betrieb, abnehmbaren Deckel und Stifte, die die Tonbänder festhielten. Ich verliebte mich in den Anleitungstext des Apparates, den ich nie besitzen würde. Schieberegler, Drehhebel, Klangdrehhebel, selbstlösender Tastenblock, Pegelanzeige, Bandzählwerk, rechter, linker Kanal. Der Vierte hatte immerhin eine doppelte Luftmatratze bekommen.

Das große Bankett im Jahr 2000 fand statt. Ich war tatsächlich sechsundvierzig Jahre alt. Sie hatten über uns geschrieben, wer wir waren und was aus uns geworden ist, unter anderem auch über mich: Inzwischen fangen Wawerzineks Texte anders an, hieß es. Zitat: Meine Kindheit war verschwiegen und blond. / Mein Vater ging an einem Donnerstag durch den Flur nach Malta. Aus dem kleinen Peter im Ostseebad Rerik ist nun der Kultdichter in Berlin geworden, wird also keine Häuser mehr auf dem Grund des Mittelmeeres errichten, die Ostsee gar mit Infrarot-Strahlen heizen.

Vierhundertneunundneunzig Siegertexter neben mir. Vierhundertneunundneunzig Eintrittskarten auf dauerhaft haltbare Stoffe gedruckt, mit dem Echtheitssiegel versehen, in durchsichtige Spezialhüllen verschweißt, wie ich sie damals zugeschickt bekam. Dreißig Jahre lang alle Adressen und Texte der vierhundertneunundneunzig Gewinner und mir, dem fünfhundertsten von allen, in einer schusssicheren, schweren Seemannstruhe unter Ketten, Eisenbeschlägen verstaut, mit etlichen Schlössern versehen. Und dann ist der Finanzfonds von zehn Mal zweitausend Mark für das Fest mit der Wende abhandengekommen oder, wie man eher vermuten darf, für einen anderen Zweck verwendet worden. Großzügig sprangen Sponsoren ein, blechten die nötigen Summen für diesen Treff der Sieger in der Mensa der Humboldt-Universität.

Achthundert Leute, übern Daumen gepeilt, am kalten Büffet. Achthundert Leute, die sich irgendwie alle kannten, du zueinander sagten, sich gegenseitig versicherten, mit dem Eintreten in die Mensa in das Früher geraten zu sein. Sie belobigten haltlos die alten, guten Zeiten, als der Schreibwettbewerb gerade erst ins Leben gerufen worden war. Über die Zukunft, in der sie längst angekommen waren, sprachen sie nicht ein Wort.

Wie bei einem Klassentreffen alter Verbündeter fühlte ich mich wie aus einer anderen Schule stammend. Das alles war so offensichtlich von langer Hand für die Leute vorbereitet, die sich hier nicht zum ersten Mal treffen, sondern nie wirklich auseinander gegangen sind, schien es mir. Und dieser Täve Schur schwärmte ununterbrochen von früheren Trainingsbedingungen, den besten der Welt, derweil Karl-Eduard von Schnitzler wie aufgezogen und aufs Parkett gesetzt mit einem Gehstock durch den Festraum jagte. Eine abgehalfterte, aufgedrehte Parkettpuppe mit Blindenhundbinde im Gesicht, die den Umstehenden zuruft, gerade zu nix Zeit zu haben und mit dem Suchstöckchen auf dem Weg zu alten Kampfgenossen zu sein, und dann auch nur für kurz bei Egon Krenz anhielt, der am nächsten Tag rechtskräftig in den Knast gehen musste, sich von allen trösten und als Widerstandskämpfer hochjubeln, ja sogar mit Ost-Produkten wie Rotkäppchensekt und Florenacreme fotografieren ließ.

Zum Ende hin soll ein Chor der Singebewegung die Nationalhymne der DDR mit Inbrunst intoniert haben, aber da war ich schon auf und davon. Das Spukfest der Baufacharbeiter, Polizisten, Technologen, Väter, Mütter und Unverheirateten des untergegangenen Staates tobte noch eine Weile weiter, die Eingeladenen ignorierten eisern weiter die zehn Jahre Wende, die auch sie bereits hinter sich gebracht hatten, so zwanghaft lustig, als wären hier nicht vierhundertneunundneunzig Verlierer versammelt und angemeiert worden. Nicht einen Schritt weiter gekommen bei der Eroberung des Lebens, von Mond oder Mars so weit entfernt wie je und stets.

Ich war jedenfalls durch den Erfolg bei der Jugendzeitung angesteckt und begann gleich sehr viel mehr zu schreiben, mehr als tausend Wörter pro Tag hinzulegen. Ich gewöhnte mir feste Schreibzeiten an. Ich fand auf dem Dachboden vor dem halbrunden Dachfenster meinen geeigneten Ort. Ich schrieb über all die Dinge, die mir zustießen. Ein am Strand gefundenes Stück Treibgut reichte aus, es in eine ausgedachte Geschichte einzubauen und dort munter weiterschwimmen zu lassen. Ich ließ es für die Geschichte treiben. Ich trieb es in ungewöhnliche Situationen hinein, dichtete ihm kleine Geheimnisse an, verwickelte mich, während ich die tolle Reise des Treibgutes beschrieb, in allerlei verschrobene Gedanken. Ich erfand mitunter eine neue Sprache, die mich dann mit dem lebendig gewordenen Treibgut verband. Ich lief nur noch als potentieller Schreiberling umher. Alles wurde für mich wichtig. Ich beobachtete die Leute in meiner Umgebung, suchte herauszufinden, wie sie sich an Tagen der Hitze, in Zeiten der Kälte mit Schnee und Eis verhielten. Ich suchte meine Emotionen in wenigen Sätzen wiederzugeben. Ich schrieb und schrieb. Nach Vollendung eines Werkes strebte ich noch nicht. Einen großen Roman zu verfassen, war damals noch kein Ziel.

Schreibmaschinen