7,99 €
Der Mörder lässt die Puppen tanzen ...
Krindelsdorf bereitet sich auf die Kirchweih vor - mit Schmalzgebäck, Blasmusik und der traditionellen Kerbeliesel. Doch statt dieser Strohpuppe hängt am Morgen die Leiche der jungen Ballerina Alina Sattler am Kirchweih-Baum.
Die ehrgeizige Tänzerin hatte viele Feinde. Für ihre Karriere stach sie Ihre Konkurrentinnen gnadenlos aus, sogar ihre ehemals beste Freundin. Hauptkommissar Hirschberg und Kommissarin Hansen tauchen tief ein in das Dickicht aus Tanzdrama, Brauchtum und Dorfgemeinschaft - und stoßen auf ein Geheimnis, das lieber im Schatten geblieben wäre ...
Witzig, bayrisch, spannend - der neunte Regionalkrimi mit Hirschberg & Hansen ist perfekt für alle, die Krimis mit Lokalkolorit, Kulinarik und einem Augenzwinkern lieben!
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank, dass du dich für ein Buch von beTHRILLED entschieden hast. Damit du mit jedem unserer Krimis und Thriller spannende Lesestunden genießen kannst, haben wir die Bücher in unserem Programm sorgfältig ausgewählt und lektoriert.
Wir freuen uns, wenn du Teil der beTHRILLED-Community werden und dich mit uns und anderen Krimi-Fans austauschen möchtest. Du findest uns unter be-thrilled.de oder auf Instagram und Facebook.
Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich auf be-thrilled.de/newsletter für unseren kostenlosen Newsletter an.
Spannende Lesestunden und viel Spaß beim Miträtseln!
Dein beTHRILLED-Team
Melde dich hier für unseren Newsletter an:
Der Mörder lässt die Puppen tanzen ...
Krindelsdorf bereitet sich auf die Kirchweih vor – mit Schmalzgebäck, Blasmusik und der traditionellen Kerbeliesel. Doch statt dieser Strohpuppe hängt am Morgen die Leiche der jungen Ballerina Alina Sattler am Kirchweih-Baum.
Die ehrgeizige Tänzerin hatte viele Feinde. Für ihre Karriere stach sie Ihre Konkurrentinnen gnadenlos aus, sogar ihre ehemals beste Freundin. Hauptkommissar Hirschberg und Kommissarin Hansen tauchen tief ein in das Dickicht aus Tanzdrama, Brauchtum und Dorfgemeinschaft – und stoßen auf ein Geheimnis, das lieber im Schatten geblieben wäre ...
Witzig, bayrisch, spannend – der neunte Regionalkrimi mit Hirschberg & Hansen ist perfekt für alle, die Krimis mit Lokalkolorit, Kulinarik und einem Augenzwinkern lieben!
Jessica Müller
Schmalzgebäck und Totentanz
Ein Bayern-Krimi
Für Paula
Die Sonne glitzerte auf den Wellen des Sees, und eine sanfte Brise verursachte Gänsehaut auf ihren nassen Beinen. Die Blätter des Baumes, unter dem sie lag, raschelten und schienen ihr etwas zuzuflüstern. Sie blickte nach oben und lauschte angespannt. Jedes noch so sanfte Geräusch im Gestrüpp des Ufers und jedes Knacken eines kleinen Zweigs ließen sie zusammenzucken.
Sie hatte nicht herkommen wollen. Hatte nicht mitfahren wollen. Doch was war ihr anderes übrig geblieben? Die Worte ihrer Mutter, dass es meistens richtig schön werde, wenn man so gar keine Lust auf etwas habe, dröhnten fast unheilverheißend in ihren Ohren. Diese Äußerung entbehrte jeglicher Wahrheit.
Sie lachte hämisch auf, und der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie. Wie so oft in letzter Zeit fragte sie sich, wann es zu dem Bruch gekommen war. Ab welchem Zeitpunkt sie einfach nicht mehr dazugehört hatte, weil sie sich selbst fremd geworden war. Einschneidende Erlebnisse und Trauer prägten und veränderten einen Menschen, das hatte ihre Therapeutin ihr erklärt. Trauer selbst sei Liebe, die kein Ziel, keinen Empfänger mehr habe. Erst nach und nach hatte sich ihr die Bedeutung dieser Botschaft erschlossen, doch was nützte ihr das? Liebe für jemanden zu empfinden, der nicht mehr existierte, um das höchste aller Gefühle zu erwidern, katapultierte Menschen an einen öden und eisigen Ort, an dem sie unaufhaltsam verkümmerten. Ihr Leben war mit einem Mal zu einem Stillstand gekommen, und sie selbst funktionierte nur noch auf Autopilot, wie sie es in ihrer letzten therapeutischen Sitzung formuliert hatte. Ein Teil ihrer Seele schien mit in dem ausgehobenen Grab verschwunden zu sein und wollte nun nicht mehr zu ihr zurückkommen. So fühlte es sich zumindest an. Und nun spürte sie die meiste Zeit eigentlich überhaupt nichts mehr. Wenn sie es doch tat, war es in aller Regel diese Traurigkeit, die sich ihr aufdrängte, um ihren Verstand zu malträtieren. Daher griff sie gern einmal zur Flasche und zu Glimmstängeln. Die Tabletten, die ihr die Therapeutin verordnet hatte, hatten sie abgestumpft und, was noch übler war, auseinandergehen lassen. Doch wenigstens ihre Taille sollte ihr bleiben, hatte sie sich resolut nach mehreren Kilos Gewichtszunahme gesagt. Wenn doch sonst schon alles auseinanderfiel! Daher hatte sie die Glückspillen schon vor Wochen abgesetzt und wie eine Wahnsinnige trainiert. Zumindest ihren Körper würde sie in all dem Chaos immer kontrollieren können.
Ihr Vater hatte ihr versprochen, dass es bergauf gehen, dass alles wieder gut werden würde. Doch das war nichts weiter als eine glatte Lüge. Womöglich hätte sie damit umgehen können, wenn er nur sich selbst etwas vormachte. Aber dass er auch sie von seiner Illusion vom wiederkehrenden Glück überzeugen wollte, war zu viel. Sie war umgeben von Heuchlern, die einfach weitermachen wollten, als wäre nichts passiert. Schlimmer noch: Sie war allein. Sie kniff die Augen zusammen, um die heißen Tränen zurückzudrängen. Der Ausflug würde sie auf andere Gedanken bringen, hatte ihre Tante ihr prophezeit, als sie regelrecht darum gebettelt hatte, zu Hause bleiben zu dürfen. Denn leider hatte die Schwester ihres Vaters nicht ahnen können, welche Gedanken das sein würden.
Vom gegenüberliegenden Ufer des Sees drangen lautes Lachen und Stimmengewirr an ihr Ohr, und zum hundertsten Mal in den vergangenen Tagen wünschte sie sich an einen anderen Ort. All das war ihr verhasst: Die Jugendherberge, der See, die anderen, deren Welt in Ordnung war, und die absolut nichts begreifen wollten. Sie griff nach der halb vollen Flasche süßen Sekts und nahm einen kräftigen Schluck, bevor sie ungeduldig die Plastikfolie von der Schachtel Zigaretten riss. Sie kramte ihr Feuerzeug aus ihrem Rucksack hervor, und kurz darauf inhalierte sie so gierig, als könnten sich ihre Sorgen in Rauch auflösen. Die Entspannung folgte prompt, und ihre Hände hörten auf, zu zittern. Rauchen mochte ihre Lunge und Bronchien schädigen, aber es half ihr nicht nur, ihre Figur zu halten, sondern auch bei Verstand zu bleiben. Eine Weile blickte sie tief in Gedanken versunken auf den See, bevor sie jemanden hinter sich hörte. Sie fuhr herum. Konnte man sie denn nicht einfach in Ruhe lassen?
»Hier steckst du also. Wir suchen dich schon überall.« Alina und deren beste Freundin, die ihr wie ein Schatten überall hin folgte, blickten sie ungeduldig an.
»Jetzt bin ich ja gefunden worden«, seufzte sie und drückte ihre Zigarette aus.
»Komm bitte mit, und lass uns reden. So geht es doch nicht weiter.«
Sie ließ sich einen Moment lang zurück auf das Handtuch fallen, bevor sie sich in ihr Schicksal ergab. Sie streifte sich ihr Kleid über die Schultern und stand auf.
»Von mir aus«, kam es widerwillig über ihre Lippen, und sie packte ihre Sachen.
Hauptkommissar Alexander Hirschberg und seine Frau Susan stiegen vor ihrem Haus aus dem Wagen. Die Dornbergs hatten sich wieder einmal bei ihnen einquartiert, da die Innenräume ihres Krindelsdorfer Luxusanwesens noch nicht fertig gemalert waren. Außerdem mussten erst noch die sündhaft teuren Designermöbel aus aller Welt aufs bayerische Land transportiert werden. Ganz besonders freute sich der erfolgreiche Geschäftsmann auf eine Möbellieferung aus Süditalien: In einer Schreinerei bei Neapel, deren Eigentümer sich auf die Herstellung von Mobiliar nach antik-römischem Vorbild spezialisiert hatte, hatten Isobel und er diverse Stücke für ihr Krindelsdorfer Domizil geordert. Die Fertigung würde einige Zeit in Anspruch nehmen, die Dornbergs rechneten daher nicht vor dem kommenden Frühjahr mit der Lieferung. Der Schreiner und Restaurator Vittorio Rossi sei ein wahrer Künstler seines Metiers, hatte Dornberg geschwärmt. Der großzügige Wintergarten würde dank ihm und seinem Bruder Valerio zu einer antik-römischen Oase werden. Valerio Rossi war Maler und hatte sich unter anderem auf Wandgemälde im Stil antiker Fresken spezialisiert. So würde er im Frühjahr die Wände des Wintergartens und die Decke des dornbergschen Schlafzimmers verschönern. Kein Zeitalter, so Dornberg, sei auch nur ansatzweise so sinnlich gewesen wie die Antike, daher müsse ihr Krindelsdorfer »Master Bedroom«, wie Isobel den Raum nannte, auch den Geist dieser Ära widerspiegeln. Ob sie Julian jemals bei den Dornbergs würden übernachten lassen können, sei dann allerdings fraglich, hatte Susan gewitzelt.
So anstrengend es mitunter auch war, die Tante seiner Frau und deren Ehemann in ihren vier Wänden zu beherbergen, bot ihr Aufenthalt doch auch gewisse Vorteile für die Eltern: Susan und er konnten sich einen kinderfreien Abend gönnen. Julian liebte Tante Isobel und Onkel Vincent abgöttisch und vermisste Mama und Papa nicht, wenn seine Lieblingsbabysitter zu Besuch waren. Auch lief Dornberg wieder einmal zur kulinarischen Hochform auf und verwöhnte sie schon zum Frühstück mit den exquisitesten Gaumenfreuden. Dornbergs Münchener Gourmetrestaurant war vor Kurzem mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet worden, und seither konnte sich das Vincobel's vor Reservierungen kaum noch retten. Der erfolgreiche Geschäftsmann, der sein stattliches Vermögen in der Erwachsenenindustrie mit der schönsten Nebensache der Welt gemacht hatte, platzte vor kindlich anmutendem Stolz. Nach Verleihung des Sterns waren ihm gar ein paar Tränen der Rührung über die Wangen gekullert.
»Hattet ihr einen schönen und hoffentlich auch romantischen Abend, ihr beiden?« Hirschberg drehte sich um, als er Dornbergs Stimme und das Getrappel von Pfoten hinter sich hörte. Der Pornotycoon wirkte erschöpft. »Ich musste mit Queen Laurel noch einmal vor die Tür gehen. Wir hatten zunächst gedacht, dass sie sich eine Blasenentzündung zugezogen hat«, erklärte er seufzend, und im Licht der Außenbeleuchtung konnte Hirschberg sehen, dass Dornbergs Stirn sich in sorgenvolle Falten legte. »Immerhin ist es doch sehr kühl, und in London hat es andauernd geregnet letzte Woche. Dr. Anderson meint allerdings, dass physisch mit ihr alles in Ordnung sei. Isobel glaubt deshalb, es könne an der Trennung von ihren Welpen liegen. Es war mit Sicherheit eine gute Entscheidung, dass wir für alle fünf ein liebevolles Zuhause in unserer Nachbarschaft in Chelsea gefunden haben. So kann sie ihre Kleinen regelmäßig sehen.« Nach einer nie gekannten Mordserie auf einer in Krindelsdorf stattfindenden internationalen Hundeshow war die Mopsdame nach dem Verlust ihres Herrchens wie zuvor schon Mops Picasso von den Dornbergs adoptiert worden. Isobels Hoffnung, das Mops-Paar könne sich füreinander erwärmen, hatte sich zwar nicht erfüllt, dafür jedoch war es zu einer heißen Affäre zwischen Queen Laurel und Mops Aristoteles gekommen, dessen Frauchen und Herrchen dem Mörder ebenfalls zum Opfer gefallen waren. Intelligenz mache nun einmal sexy, hatte Susan kichernd bemerkt, da der Waisen-Mops von seinen verstorbenen Besitzern, den Radlingers, das kleine Einmaleins gelernt hatte. In dieser Hinsicht könne Picasso in ihren Augen nicht unbedingt punkten. Aristoteles hatte mittlerweile bei alten Freunden der Radlingers ein neues Zuhause gefunden, und diese hatten für seine Decktätigkeit eine großzügige Summe von den Dornbergs erhalten. Immerhin handelte es sich um reinrassige Mopswelpen, deren Eltern bereits eine Vielzahl an Preisen auf Hundeshows eingeheimst hatten, wie Isobel niemals müde wurde, zu betonen. Daher hatten die Dornbergs letztlich einen stattlichen Gewinn mit dem Verkauf der Welpen gemacht. Und was die finanzielle Beteiligung für Aristoteles' neue Familie anging, hätten sich die frischgebackenen Züchter niemals lumpen lassen.
»Immerhin ist sie Knall auf Fall auch vom Vater ihrer Kinder einfach sitzen gelassen worden«, erwiderte Susan mit zuckenden Mundwinkeln. »Wer hätte sich das denn träumen lassen? Wir alle haben doch gesehen, wie sehr zwischen ihr und Aristoteles die Funken gesprüht haben. Das war ein richtiges Feuerwerk in unserem Wohnzimmer!«
»Aus diesem Blickwinkel heraus haben wir das noch gar nicht betrachtet.« Dornberg blickte nachdenklich nach unten. »Dr. Moser erinnert uns immer daran, dass Tiere – und gerade Hunde! – auch starke Gefühle haben und durchaus in Depressionen verfallen können. Am Ende hat sie tatsächlich Liebeskummer, der ihr auf die Blase schlägt. Vielleicht sollten wir ihr und Aristoteles die Gelegenheit geben, sich ab und an zu sehen«, überlegte er. »Wenn sie und Picasso sich so gar nicht füreinander erwärmen können, werden wir da auch nichts erzwingen können. Und was gesunden Nachwuchs angeht, scheinen sie und Aristoteles wie füreinander geschaffen zu sein. Ich werde das mit Isobel besprechen«, kündigte er nachdenklich an, noch während sie gemeinsam das Haus betraten.
»Was möchtest du mit mir besprechen, Darling?« Die englische Lady stand im Flur und schien seine letzte Bemerkung gehört zu haben. Dornberg berichtete ihr von Susans flapsigen Worten, und die Hirschbergs wechselten verstohlen einen amüsierten Blick.
»Aber natürlich!« Isobel schien ein Licht aufzugehen. »Da hat Susan einen guten Punkt. Wie ich immer sage, kann meine Nichte doch auch sehr sensibel sein, wenn es die Situation erfordert. Weißt du, Darling«, Isobel wandte sich an Susan, »es beruhigt mich auch sehr, dass mich meine Intuition dahingehend nicht trügt. Seit ihr in dieses mörderische Nest gezogen seid, hatte ich nämlich manchmal die Befürchtung, dass du von deiner Hochsensibilität kaum noch Gebrauch machst. Das hat mir wirklich nachhaltig Kopfzerbrechen bereitet. Nicht wahr, Darling?« Sie wartete, dass ihr Mann ihr zustimmte, bevor sie fortfuhr. »Deshalb habe ich darüber auch mit Indira Wiesner gesprochen. Erfreulicherweise konnte sie mich beruhigen: Deine Sensibilität und ausgeprägte Intuition seien dir immerhin von der höchsten göttlichen Macht in die Wiege gelegt worden. Deine spirituelle und mentale Stärke bestehe aber gerade auch darin, dich von deiner Hypersensibilität nicht überwältigen zu lassen.« Isobel lächelte glücksselig. »Dass du dir jetzt solche Gedanken um Queen Laurels Wohlergehen machst, rührt mich zutiefst.«
»Da muss ich deiner Tante zustimmen, Susan.« Auch Dornberg strahlte sie an. »Ich erinnere Isobel immer daran, wie stark deine mütterlichen Instinkte sind, und wie liebevoll du mit Julian umgehst. Für mich war das immer nur eine Frage der Zeit, bis du dieses Gespür auch für Queen Laurel und Picasso entwickelst. Wir sollten das bei unserem nächsten Besuch in Zürich mit Dr. Moser besprechen. Wenn Queen Laurel sich allgemein anerkannt und voll in die Familie integriert fühlt, beruhigt sich gewiss auch ihre Blase wieder. Bleibt nur noch das Problem mit Alex«, fügte er ein wenig zerknirscht hinzu.
»Welches Problem gibt es denn mit Alex?« Hirschberg, der gerade seine Jacke aufhängen wollte, hielt genervt inne.
»Nun ja, Dr. Moser meinte, Queen Laurel hätte Schwierigkeiten mit Männern, die sie ablehnten«, erklärte Isobel und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Immerhin ist sie männliche Bezugspersonen gewöhnt, und wenn sie sich von einem Mann ungeliebt fühlt, könnte das zu depressiven Verstimmungen und psychosomatischen Beschwerden führen. Du darfst auch nicht vergessen, auf welch tragische Weise sie ihr Herrchen verloren hat.«
»Wie könnte ich das denn?«, hörte Hirschberg sich zähneknirschend erwidern.
»Vielleicht solltest du regelmäßig ein wenig Zeit mit ihr verbringen«, schlug Dornberg vor. »So könntest du ihr zeigen, wie viel dir an ihr liegt.«
»Wie viel mir an ihr liegt«, wiederholte Hirschberg mechanisch, bevor er sich räusperte. »Ich denke nicht, dass ...«, hob er an.
»Alex hat einen stressigen Job«, kam Susan ihm zu Hilfe und drückte seinen Arm. »Ich glaube nicht, dass das gut wäre. Queen Laurel ist doch immerhin sehr sensibel. Ihr wollt doch nicht, dass sie etwas von Alex' Sorgen mitbekommt, oder?«
»Da hast du natürlich recht«, gestand Dornberg ihr zu.
»Das klingt plausibel«, meinte auch Isobel. »Zunächst einmal sollten wir ohnehin mit den Lachners Kontakt aufnehmen«, bestimmte sie. »Ich werde sie morgen anrufen. Wenn unsere Hunde echt ineinander verliebt sind, dann sollten sie Zeit miteinander verbringen dürfen. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass auch eine Fernbeziehung belastend sein kann. Queen Laurel ist doch viel unterwegs.«
»Sie sollen Zeit miteinander verbringen? Hier bei uns?«, hörte Hirschberg sich fragen. Noch immer hallte Barry Whites Gesang in seinen Ohren. Dessen Stimme hätte eigentlich Picasso und Queen Laurel in Stimmung bringen sollen, stattdessen aber hatte sie Aristoteles' Libido nachhaltig in Wallung gebracht.
»Wo immer es möglich ist«, entgegnete Isobel. »Es ist aber lieb von dir, dass du ein Treffen der beiden bei euch vorschlägst, Alex. In eurem Wohnzimmer scheinen sie sich ja sehr wohlzufühlen, immerhin haben sie dort ihren niedlichen Nachwuchs gezeugt. Aphrodite sieht im Übrigen aus wie ihr Vater!« Sie klang verzückt. »Sie wird eines Tages eine bildschöne Mopsdame sein und die Herzen sämtlicher Rüden brechen.« Das Mopsmädchen war laut Isobel und ihrem Mann die Erstgeborene und genauso intelligent wie ihr Vater. Ihre neue Besitzerin, Mrs Jennings, bringe ihr ebenfalls das kleine Einmaleins bei, denn zweifelsfrei gebe es auch Hochbegabungen bei Tieren, die man fördern müsse. Das bloße Apportieren von Stöckchen sei bei machen Hunden die reinste Verschwendung ihres wahren intellektuellen Potenzials.
»Wenn du das sagst«, murmelte Hirschberg vor sich hin und fand sich damit ab, dass ihr Heim zur offiziellen Zuchtstation der dornbergschen Welpen werden würde.
»Nur einen geeigneten Zwingernamen bräuchten wir noch«, kam es nachdenklich über Dornbergs Lippen. »Aber auch das wird sich finden lassen. Wie war denn nun euer Abend?«, lenkte er das Gespräch zurück auf seine anfängliche Frage. »Ich hoffe doch sehr, ihr habt euch gut amüsiert!«
»Ja, der Film war wirklich sehr gut«, lächelte Susan. Die Erleichterung über den Themenwechsel war ihr anzusehen. »Uns war gar nicht klar, wie lang wir nicht mehr im Kino gewesen sind. Oder überhaupt einmal einen Abend nur für uns hatten. Es ist wirklich sehr lieb, dass ihr auf Julian aufgepasst habt.«
»Aber das machen wir doch mit dem größten Vergnügen, nicht wahr, Liebes?«, erwiderte Dornberg an Isobel gewandt.
»Natürlich, Darling. Wir hatten sehr viel Spaß mit Julian! Und es ist faszinierend zu sehen, wie gut er sich entwickelt. Bei aller Kritik, die man an euch üben kann, ihr seid großartige Eltern. Er erkennt mittlerweile sogar schon den Buchstaben ›O‹«, schwärmte sie. »Wir haben ihm natürlich eine Geschichte auf Deutsch und auf Englisch vorgelesen, bevor wir ihn ins Bett gebracht haben. Es ist ungeheuer wichtig, seine Zweisprachigkeit zu fördern!«, mahnte sie ihre Nichte und deren Mann mit erhobenem Zeigefinger. »Ihr denkt doch an den Grundsatz: Ein Elternteil, eine Sprache und auf gar keinen Fall ein Mix! Erst letztens haben Vincent und ich uns in Wien mit einem Kinderpsychologen unterhalten: Er hat betont, wie wichtig es ist, dass ihr jeweils bei eurer Sprache bleibt, um Julian nicht zu verwirren. Ihr wollt doch schließlich kein Chaos im Hirn eures Sohnes anrichten!«
»Wir machen grundsätzlich nichts, was Julian schaden könnte«, antwortete Hirschberg entnervt, und die Entspannung der vergangenen Stunden schwand endgültig. »Wir sind durchaus in der Lage, unseren Sohn großzuziehen, ohne ihn dabei zu verkorksen.«
»Bist du dir da auch ganz sicher, Alex?« Die englische Lady verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Wenn ich daran denke, dass ...«
»Tante Isobel«, funkte Susan dazwischen, »wir wissen, was wir tun. Und du wirst doch zugeben, dass Julian ein fröhliches Kind ist, oder?«
»Da hat Susan ganz recht, Liebes«, stimmte Dornberg ihr in beschwichtigendem Tonfall zu. »Und du darfst nicht vergessen, wie aufgeweckt er ist!« Der erfolgreiche Geschäftsmann strahlte, und Hirschberg konnte sehen, wie stolz er auf seinen Großneffen war. »Heute auf unserem Spaziergang ist er schon eine ordentliche Strecke gelaufen, und er scheint sich sehr auf Halloween zu freuen. Er lacht immer, sobald er einen Kürbis sieht. Die Leute fangen jetzt schon an, welche auszuhöhlen und zu schnitzen, obwohl es doch noch zwei Wochen dauert.« Dornberg hatte recht: Seit Tagen rollten bereits die Kürbisse durch die kleine bayerische Gemeinde – zum Missfallen des Heimatvereins. Dieser wollte alte, bayerische Bräuche wiederbelebt sehen, weshalb auch eine Art Dorffest für die morgige Kirchweih, die stets am dritten Sonntag im Oktober stattfand, geplant war. Zudem hatten sich einige Leute aus Krindelsdorf und den Nachbargemeinden zusammengetan, um Bräuche wie das Aufstellen des Kirchweihbaums und das Bewachen und etwaige Stehlen der Kerbeliesel, einer am Baum befestigten Strohpuppe, wiederzubeleben, um dem bevorstehenden heidnischen Fest etwas entgegenzusetzen. Natürlich durften zum morgigen Kirchenfest auch die traditionellen Kirchweihnudeln nicht fehlen: Ein Gebäck, auf das Hirschberg gut und gern hätte verzichten können. Er hatte sich nie für das seiner Meinung nach viel zu fettige Schmalzgebäck erwärmen können, dennoch gehörte es nun einmal zu diesem Tag. Einige Freiwillige, darunter die Haushälterin des Pfarrers, backten schon seit mehreren Tagen wie die Weltmeister, um die Ausgezogenen am morgigen Kirchweihsonntag für einen guten Zweck verkaufen zu können. Der ganze Ort freute sich auf das Fest, da immerhin seit April kein Mord mehr das ländliche Idyll erschüttert hatte. Hirschberg hoffte inständig, dass es auch so blieb.
»Jetzt müssen wir erst einmal Kirchweih überstehen«, seufzte Isobel und rollte die Augen. »Hochwürden wird morgen ganz bestimmt zur Hochform auflaufen.«
»Immerhin ist es ein großer Tag für Schmalzengruber«, erinnerte Susan ihre Tante. »Und alles ist besser als seine apokalyptischen Prophezeiungen. Auch wenn er Halloween in Grund und Boden verdammen wird.« Sie schmunzelte. Das Kirchweihfest sollte schließlich den heidnischen Brauch aus dem Rampenlicht drängen, doch die Krindelsdorfer Kinder waren ganz versessen auf »Süßes oder Saures«. Auch war am 31. Oktober auf dem Marktplatz eine Geister- und Hexenparty geplant – zum Ärger des Pfarrers. Verbieten konnte dieser das Spektakel jedoch nicht.
»Wenigstens hat Schmalzengruber sich mit dem Kirchenchor wieder versöhnt. Dann gibt es morgen in der Kirche keinen Mord und Totschlag«, brach es ironisch aus Hirschberg heraus. Nach dem Mord an dem emeritierten Theologieprofessor Gottlieb im vergangenen April hatte es heftige Auseinandersetzungen zwischen Schmalzengruber und dem Krindelsdorfer Kirchenchor gegeben. Die Sänger hatten sich geschlossen und vehement geweigert, auf der Beerdigung des unbeliebten Professors zu singen, was der Pfarrer als nicht entschuldbaren Affront gesehen hatte. Hochwürden war, wenn man es so salopp ausdrücken wollte, der einzige Fan Gottliebs gewesen. Den Rest des Ortes hatte der aggressive Alkoholiker in jeder erdenklichen Form gegen sich aufgebracht. Nur ganz allmählich hatten sich die Wogen wieder geglättet, und morgen würde der Chor aus voller Kehle in einer – wie Hirschberg vermutete – nicht ganz so vollen Kirche singen. Die Krindelsdorfer waren erpicht auf Speis und Trank auf dem Straßenfest, aber nicht auf Schmalzengrubers Worte. »Ich kann nämlich mit allem leben, solange nur kein Mord geschieht«, fügte er trocken hinzu, während er sich die Schuhe von den Füßen streifte und ein Gähnen unterdrückte. Es war fast halb eins, und er war sehr müde. Die vergangene Woche steckte ihm noch in den Gliedern. Zwar hatten er und seine Kollegin Hansen sich nicht mit einem, wie Isobel es nannte, Provinzschlächter herumschlagen müssen, stattdessen aber hatten sie zunächst für einige Tage nach Barcelona und dann Madrid reisen müssen, um die dortigen Behörden bei der Fahndung nach einem deutschen Staatsbürger aus Bayern zu unterstützen. Dieser stand im Verdacht, seine Frau vom Balkon ihres Hotels gestoßen zu haben, woraufhin er geflüchtet war. Glücklicherweise konnte er wenige Tage später in Madrid aufgegriffen werden.
»Beschwör bloß nichts herauf, Alex!«, mahnte Dornberg ihn. »Es war hier so ruhig in letzter Zeit, dass es mir schon fast unheimlich ist.«
»Mir auch«, gestand Susan ein wenig kleinlaut. »Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich irgendwie auf den nächsten Mord warte. Für mich waren die letzten Monate wie die Ruhe vor dem Sturm.«
»Es kann aber auch gut sein, dass Frau Wiesner und ihre Freunde die Dunkelheit doch vertrieben haben«, warf Isobel ein. »Sie haben den Ort schließlich energetisch gereinigt, und ...« Sie verstummte, als es mehrmals hintereinander an der Haustür klingelte. Hirschberg schloss die Augen, und ein dumpfes Gefühl der Vorahnung machte sich in ihm breit. Er hätte das Wort ›Mord‹ einfach nicht in den Mund nehmen dürfen!
»Es wird doch nicht etwa wieder losgehen«, stöhnte Dornberg, als er zur Tür eilte. Hirschberg folgte ihm auf dem Fuß.
»Herr Hauptkommissar! Gott sei Dank, Sie sind noch nicht im Bett!« Vor ihnen stand Marvin Gansler, einer der – obwohl es sich um gestandene junge Männer handelte – sogenannten Kirchweihbuben oder andernorts auch Kärwaburschen, die am Marktplatz den Baum und die Kerbeliesel bewachen sollten. Er war bleich, und in seinen braunen Augen lag ein geschockter Ausdruck. Mit der linken Hand rieb er sich den Hinterkopf. »Sie müssen ... Sie müssen sofort kommen!«
»Herr Gansler, was ist denn passiert?«, wollte Hirschberg wissen, während er bereits nach seinem Handy griff.
»Die Kerbeliesel ... Die ... Die ist gestohlen worden!«
»Aber, Herr Gansler, das ist doch kein Fall für die Polizei.« Der Hauptkommissar entspannte sich sogleich wieder. »Das ist, soweit ich weiß, Teil des Kirchweih-Schabernacks, den Sie und die anderen jungen Männer aus den Nachbarorten treiben, und ...«
»Sie verstehen nicht!«, rief er mit zitternder Stimme. »Statt der Kerbeliesel ist jetzt eine Leiche am Baum befestigt! Es ist die Balletttänzerin. Die ... Die Sattler Alina«, fügte er flüsternd hinzu.
»Sind Sie sicher, dass sie tot ist?«, erkundigte sich Susan mit geschocktem Gesichtsausdruck.
»Ganz sicher. Jemand hat mich und meinen Freund niedergeschlagen. Er ist noch bewusstlos, aber atmet. Die Alina atmet aber nimmer.« Gansler hielt sich am Türrahmen fest, als er wankte.
»Ich rufe einen Krankenwagen.« Dornberg zückte sein Smartphone.
»Susan, ich muss ...«
»Nochmal los«, beendete sie seinen Satz. »Schon klar.«
Mit der Ruhe war es nun doch vorbei, dachte Hirschberg, als er auf die Nummer seiner Kollegin tippte.
***
Als Hauptkommissar Hirschberg mit Marvin Gansler wenige Minuten später auf dem Marktplatz eintraf, waren die Sanitäter bereits vor Ort. Schon von Weitem hatten sie Blaulicht gesehen und Sirenen gehört.
»Können Sie mir Ihren Namen sagen?«, wollte eine junge Notärztin mit rot gelocktem Pferdeschwanz von Ganslers Freund wissen, während Sanitäter mit einer Trage auf den am Boden Liegenden zukamen.
»Jannik Bergmeister. Ich bin einer der Kirchweihbuben, die hier Wache halten sollen.« Die Stimme des jungen Manns klang schwach, aber zu Hirschbergs Erleichterung schien er bewusstseinsklar zu sein. Auch Tag und Datum konnte er der Ärztin nennen, nachdem er auf die Trage gehoben worden war. Hirschberg bedeutete den Sanitätern, zu warten, denn auch er wollte dem Kirchweihbuben ein paar Fragen stellen. Sofern dieser sich dazu in der Lage fühlte und sich überhaupt an den Ablauf der Geschehnisse erinnern konnte.
»Herr Bergmeister, ich bin Hauptkommissar ...«
»Hirschberg«, beendete Ganslers Freund seinen Satz, als er näher kam. »Mein Hirn funktioniert anscheinend noch.« Er versuchte sich an einem schmerzverzerrten Grinsen. »Aber eine Beule wird's schon werden, und ich habe Kopfschmerzen. Solang's keine Gehirnerschütterung wird ...« Er seufzte.
»Das müssen die Kollegen im Krankenhaus feststellen. Ich gebe Ihnen jetzt erst einmal etwas gegen die Schmerzen, Herr Bergmeister.« Die Ärztin reagierte prompt. Sie öffnete den Arztkoffer und griff nach Injektionsnadel und Ampulle. Bergmeister zuckte kaum merklich zusammen, als sie ihm das Mittel injizierte.
»Ich stehe nicht so auf Nadeln«, kam es fast entschuldigend über seine Lippen.
»Da sind Sie nicht der Einzige«, bemerkte die junge Medizinerin trocken. »Ich kann mir gut vorstellen, dass Ihnen schwindlig ist, aber Sie müssen sich dennoch rasch aufrichten.« Sie signalisierte einem der Sanitäter, Bergmeister dabei zu helfen. »Ich muss einen Blick auf ihren Hinterkopf werfen, um zu sehen, wie schwer Sie verletzt sind. Hier ist eine Platzwunde«, stellte sie wenige Sekunden später fest. »Sie muss desinfiziert und genäht werden. Danach sind Sie schon fast wieder so gut wie neu. Zur Sicherheit werden wir aber, wie gesagt, noch ein Kopf-CT im Krankenhaus machen. Nur um eine Gehirnerschütterung auszuschließen. Es scheint mir doch recht fest zugeschlagen worden zu sein.«
»Geht es Ihnen gut genug, dass ich Ihnen ein paar Fragen stellen kann, Herr Bergmeister?«, wollte Hirschberg wissen und blickte zwischen Bergmeister und der Ärztin, die sich ihm nun als Dr. Hopfner vorstellte, hin und her. »Können Sie uns nur ein paar Minuten geben?«, bat er sie.
»Das geht schon«, entgegnete Bergmeister, in dessen Wangen die Farbe langsam zurückkehrte.
»Meinetwegen. Aber fassen Sie sich bitte kurz, Herr Hauptkommissar«, wies Dr. Hopfner ihn an, als sie sich daranmachte, die Wunde zu säubern. »Das kann jetzt etwas brennen«, warnte sie ihren Patienten vor, und dieser kniff sogleich die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Hirschberg wartete einen Moment, bis Ganslers Freund sich wieder etwas entspannt hatte. Eine Platzwunde zu behandeln, war kein Sonntagsspaziergang, dachte er. Seine Eltern erzählten ihm noch heute, wie er im Alter von vier Jahren im Kindergarten gestürzt war und sich ebenfalls am Hinterkopf verletzt hatte. Auch er hatte sich damals eine Platzwunde zugezogen, die genäht werden musste. Angeblich hatte er während der gesamten Prozedur wie am Spieß geschrien.
»Herr Bergmeister, haben Sie eine Ahnung, wer Sie und Ihren Freund niedergeschlagen haben könnte?«, begann Hirschberg mit der Befragung. »Haben Sie vielleicht irgendjemanden gesehen oder haben Sie etwas gehört? Ist Ihnen irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?«
»Ich habe keinen Schimmer, was passiert ist, oder wie das passieren konnte. Und wirklich aufgefallen ist mir auch nichts.« Der Verletzte zuckte die Schultern und blickte seinen Freund, der hinter Hirschberg stand und sich in regelmäßigen Abständen den Hinterkopf rieb, fragend an. Plötzlich runzelte Bergmeister die Stirn. »Warten Sie ... Ich bilde mir ein, dass da eine vermummte Gestalt war. Die hast du doch auch gesehen, Marvin, oder? Ich habe dich doch auf sie aufmerksam gemacht. Wir dachten, es wäre ein Kirchweihbub aus dem Nachbarort.«
»Ja, da war irgendwas oder irgendwer«, bestätigte Gansler und nickte nachdrücklich. »Aber ich konnte die Gestalt, oder was immer es war, nicht richtig erkennen. Es war viel zu dunkel. Sie sehen ja: Es ist bewölkt, und die Straßenlaternen sind so hell nicht. Eine ist sogar schon seit Tagen ausgefallen. Bin gespannt, wann endlich jemand kommt, um sie zu reparieren.« Hirschberg musste ihm zustimmen. Die mangelhafte Beleuchtung des Marktplatzes und einiger anderer Straßen beschäftigte mittlerweile auch den Gemeinderat. In den nächsten Wochen sollten zusätzliche Laternen aufgestellt werden. Immer mehr Krindelsdorfer fühlten sich unwohl dabei, nachts in den schlecht beleuchteten Ecken des Ortes unterwegs zu sein. Zu viele Morde hatten sich in den vergangenen Jahren hier ereignet. Und nun war allem Anschein nach ein weiterer dazugekommen.
»Wir haben aber nicht nachgesehen, weil wir doch die Kerbeliesel und den Kirchweihbaum bewachen mussten. Wir haben uns hier nicht von der Stelle gerührt. Immerhin hätte das ja ein Ablenkungsmanöver von den anderen aus dem Nachbarort sein können. Die Niederkreuzbacher sind ganz schön hart drauf! Denen ist nicht zu trauen, und ...« Ein aufgescheuchter Ausdruck huschte plötzlich über Bergmeisters Gesicht. »Was ist mit der Kerbeliesel? Sind die Puppe und der Baum noch ...«
»Oh Gott! Das weißt du ja noch gar nicht, Jannik!«, rief Gansler und ließ sogleich die Schultern hängen. »Du warst ja so lang ohnmächtig! Es ist was ...«, hob er an.
»Machen Sie sich darüber erst einmal keine Gedanken, Herr Bergmeister«, fiel Hirschberg Gansler ins Wort. Er wollte den Patienten nicht auch noch aufregen. Kirchweih und die damit verbundenen alten Bräuche hin oder her: Eine verschwundene Strohpuppe würde ganz gewiss niemanden interessieren, wenn sich erst einmal herumgesprochen hatte, dass sich vermutlich ein neuer Mord ereignet hatte. »Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts weiter aufgefallen ist? Dass Sie nichts und niemanden gesehen haben?«
»Ich kann mich wirklich nur an die vermummte Gestalt erinnern. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, denn müde war ich schon etwas, muss ich zugeben«, räumte Bergmeister ein. »Nachts stundenlang Wache zu halten, ist nichts für einen Lauch«, fügte er mit gequältem Gesichtsausdruck hinzu. »Da hilft auch Kaffee irgendwann nicht mehr.«
»Das verstehe ich gut«, stimmte Hirschberg ihm zu. Er selbst konnte sich nur allzu gut an ermüdende Nachtschichten erinnern, wenn er einen wichtigen Fall zu bearbeiten hatte. Da wurde ihm stets aufs Neue bewusst, warum Schlafentzug auch eine Foltermethode war. Koffein half nur bedingt, die Augen offen zu halten. Zudem war er Vater eines kleinen Sohnes, der Susan und ihn in so mancher Nacht auf Trab hielt. Die beiden Kirchweihbuben wirkten nach den Ereignissen mehr als nur mitgenommen, fand er. Und für den Heimatverein sowie den gesamten Ort würde es am nächsten Morgen ein böses Erwachen geben: Die Kerbeliesel war zwar verschwunden, aber dafür gab es nun eine Kerbeleiche.
»Herr Hauptkommissar, ich möchte Herrn Bergmeister jetzt gern ins Krankenhaus bringen lassen«, entschied Dr. Hopfner. »Er muss genau untersucht werden. Und ich werde mir noch eben den Hinterkopf von Herrn Gansler ansehen.«
»Natürlich«, erklärte sich der Hauptkommissar einverstanden. »Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, dann lassen Sie es mich bitte umgehend wissen, Herr Bergmeister«, bat er ihn, bevor die Sanitäter ihn in den Krankenwagen schoben.
»Das wird eine dicke, fette Beule, Herr Gansler«, hörte er die Ärztin sagen, als er Hansens Wagen, gefolgt von dem der Rechtsmedizin und der Spurensicherung, auf den Marktplatz einbiegen sah. Auch einige Streifenwagen näherten sich. Er vermutete, dass seine Kollegin Hilfe angefordert hatte, um den Tatort abzuriegeln, falls einige nachtschwärmende Krindelsdorfer angelockt würden. Es konnte nicht mehr lang dauern, bis die Ortsansässigen Wind von dem Treiben bekamen, und die Neugier sie hierhertrieb.
»Das war doch mal eine recht kurze Nacht. Ehrlich gesagt, hatte ich mich schon gefragt, wann es wieder so weit sein würde, Chef.« Mit diesen trockenen Worten begrüßte ihn Hansen, nachdem sie ihren Wagen verriegelt und einen Blick in Richtung Kirchweihbaum geworfen hatte. »Die Ruhe hier in Krindelsdorf in den letzten Monaten hat mich doch recht nervös gemacht«, gab sie zu. Seit den Morden auf der Ausgrabungsstelle in Siechstätten hatte es keinen nennenswerten Zwischenfall mehr gegeben. Erst vor Kurzem jedoch, fiel Hirschberg nun plötzlich ein, hatte ihm Indira Wiesner, das hiesige Medium, erklärt, dass Unheil in der Luft liege. Die Dunkelheit, die den Ort umgab, sei von ihr und ihren Freunden zwar in die Schranken gewiesen worden, verschwunden aber sei sie nicht. Den alten und mächtigen Seelen, die lang vor der Christianisierung hier gesiedelt und heidnische Magie betrieben hätten, seien besonders die christlichen Festtage ein Dorn im Auge. Noch dazu würden sie sich nach wie vor vehement weigern, in ein neues Leben zu gehen. Weder die Toten noch die Lebenden könne man zur Einsicht zwingen, hatte die Auraleserin ihm augenzwinkernd erklärt.
»Wir sind alle schon unruhig geworden, Frau Kollegin«, pflichtete er der Kommissarin seufzend bei. Er wandte sich wieder an Gansler, nachdem dieser von Dr. Hopfner verarztet worden war. »Herr Gansler, das ist meine Partnerin Kommissarin Hansen, wie Sie vielleicht bereits wissen.« Er wartete, bis der junge Mann seine Annahme bestätigt hatte. »Auch Sie können sich wirklich an nichts mehr erinnern? Ihnen ist tatsächlich nichts Ungewöhnliches bis auf die ominöse Gestalt aufgefallen?«, vergewisserte Hirschberg sich ein weiteres Mal.
»Es war alles so, wie der Jannik gesagt hat«, antwortete Gansler achselzuckend. Er kniff nachdenklich die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich meine wie gesagt auch, dass ich eine vermummte Gestalt oder irgendetwas Ähnliches gesehen habe. Ich könnte Ihnen aber nicht sagen, ob es eine Frau oder ein Mann war.« Der Bewacher der Kerbeliesel und des Kirchweihbaums klang frustriert und ballte seine Hände zu Fäusten. »Ich verstehe das alles nicht! Wenn die Niederkreuzbacher die Kerbeliesel geklaut hätten – mit so was mussten wir ja rechnen, aber doch nicht mit dem!« Er nickte in Richtung des Kirchweihbaums.
»Haben Sie vielleicht etwas Merkwürdiges gehört oder etwas Unangenehmes gerochen?«, unternahm Hansen einen weiteren Anlauf, etwas aus ihm herauszubekommen, während der Tatortfotograf seine Fotos knipste. Der Anblick verursachte Hirschberg regelrecht Gänsehaut: An den Baum gebunden befand sich die junge Balletttänzerin Alina Sattler. Sie trug ein schwarzes Tutu, und ihr Kopf hing nach unten und ruhte auf ihrem Dekolleté. Ihr straffer Dutt glänzte im Schein der grellen Tatortbeleuchtung. Wer auch immer ihre Leiche am Baum befestigt hatte, hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und allem Anschein nach auch die Kerbeliesel entwendet. Das alte Brauchtum, das Halloween etwas entgegensetzen sollte, war außer Kontrolle geraten und würde nun um Längen gruseliger als das heidnische Fest sein.
»Nix. Absolut nix!«, bekräftigte Gansler und warf verzweifelt die Hände in die Luft. »Ich würde Ihnen gern helfen, aber ich kann leider nicht.« Er atmete tief durch. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich einen Freund anrufe, damit wir zusammen zum Jannik ins Krankenhaus fahren würden? Ich will jetzt nicht, dass er allein ist. Und seine Freundin will ich um die Uhrzeit nicht anrufen. Die Steffi macht sich dann bloß Sorgen, und sie kann ja eh nix tun. Das ist alles so furchtbar!«
»Sicher doch«, gestattete ihm Hirschberg. Der junge Mann war sichtlich aufgewühlt, und sie würden zu diesem Zeitpunkt ganz sicher nichts Brauchbares aus ihm herausbekommen. »Aber auch für Sie gilt: Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann geben Sie uns bitte sofort Bescheid, Herr Gansler.«
»Das verspreche ich Ihnen«, versicherte der Zeuge ihnen, bevor er sich verabschiedete und sein Smartphone zückte. Auch für Ganslers und Bergmeisters Freund würde es ein Schock sein.
»Können Sie mir vielleicht sagen, was es mit diesem maibaumartigen Gebilde auf sich hat?«, wollte Hansen wissen, als sie sich umwandten und auf den Baum zugingen.
»Das ist ein alter Kirchweihbrauch«, erläuterte Hirschberg. »Ich bin mit diesen Traditionen auch nicht vertraut, aber der Heimatverein möchte Halloween Konkurrenz machen, wenn Sie so wollen, und gemeinsam mit den Nachbarorten lässt man die alten Bräuche wiederaufleben. Am Baum war auch die Kerbeliesel befestigt, eine Strohpuppe, die von rivalisierenden Kirchweih-Gangs aus den umliegenden Ortschaften auf keinen Fall gestohlen werden darf. Aber wie Sie sehen, ist sie jetzt verschwunden und durch eine tote Balletttänzerin ersetzt worden.« Er deutete auf Alina Sattler. »Kirchweih ist jetzt unheimlicher geworden als Halloween.«
»Ich bezweifle stark, dass der Heimatverein das als Triumph werten wird«, bemerkte die Kommissarin trocken und warf einen traurigen Blick auf den leblosen zierlichen Körper. »Sie hatte dem Täter sicher kaum etwas entgegenzusetzen. Würde mich sehr wundern, wenn sie mehr als fünfundvierzig Kilo auf die Waage gebracht hätte.«
»Das ist wohl der Preis, wenn Frau Karriere beim Ballett machen möchte«, seufzte Hirschberg. Alinas Körperbau erinnerte an den einer Vierzehnjährigen. »Und statt der Kerbeliesel haben wir es nun mit einem sterbenden Schwan zu tun«, fügte er traurig hinzu, woraufhin Dr. Meißner sich umwandte. Der Rechtsmediziner nickte zustimmend. Er musste seine Worte gehört haben.
»Wahre Worte, Herr Hauptkommissar. Frau Kommissarin«, begrüßte Meißner die beiden. »Das ist beileibe ein ausgesprochen unschöner Anblick. Die junge Dame hätte es weit bringen können. Ich habe sie sofort erkannt«, setzte er erklärend hinzu. »Vor ein paar Tagen gab es einen großen Artikel im Feuilleton über das Bayerische Staatsballett und den Neuzugang hier.«
»Können Sie uns schon etwas sagen, Dr. Meißner?«, erkundigte sich Hansen und ging in die Hocke, um von unten einen Blick in Alinas Gesicht zu erhaschen.
»Nun ja, das Seil um ihren Hals ist doch sehr aussagekräftig«, entgegnete er. »Auch sieht es so aus, als sei sie zunächst niedergeschlagen worden.« Er deutete rasch auf ihren Hinterkopf. »Anschließend hat man sie erdrosselt. Gewiss ist sie andernorts ermordet worden, und der Täter hat sie hierhergebracht, um sie zur Schau zu stellen. Bedenkt man die Außentemperatur, kann ich den Todeszeitpunkt nicht genau einschätzen. Aber ich würde vermuten, dass sie zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Uhr getötet worden ist. Genaueres kann ich Ihnen aber erst nach der Obduktion sagen.«
»Schätzungsweise hätte auch eine Frau die Kraft aufbringen können, sie zu erdrosseln«, hakte Hirschberg nach.
»Allerdings«, bejahte Dr. Meißner. »Sie ist ein Fliegengewicht, wie Ihre Kollegin bereits festgestellt hat. Es war kein großer Kraftaufwand nötig.«
»Wir sollten herausfinden, ob sie eine wütende Rivalin im Ballett hatte«, schlug Hansen vor. »Ich nehme an, sie hat sich einige Feinde gemacht auf dem Weg nach oben.«
»Davon können wir ausgehen«, stimmte der Hauptkommissar ihr zu. »Hinter den Kulissen des Balletts geht es sicher zu wie in einem Haifischbecken.«
»Wenn ich mich an den Artikel im Feuilleton recht erinnere, dann gab es tatsächlich einige heiße Anwärterinnen für den Platz im Ensemble und nicht zuletzt die Hauptrolle«, bemerkte Dr. Meißner nachdenklich, bevor er seinen Mitarbeitern signalisierte, Alina loszubinden und für den Abtransport fertig zu machen. »Es würde mich nicht wundern, wenn dort viel böses Blut geflossen wäre.«
»Durch dieses werden wir morgen und die nächsten Tage waten müssen«, fürchtete Hirschberg. »Aber zunächst einmal müssen wir Alinas Familie die traurige Nachricht überbringen.«
»Frühmorgens aus dem Bett geklingelt zu werden, um zu erfahren, dass das Kind ermordet worden ist, ist ein Albtraum.« Der Rechtsmediziner seufzte.
»Es bleibt uns nur leider nichts anderes übrig.« Hansen ließ die Schultern hängen. »Vielleicht haben ihre Eltern eine Idee, wer ihre Tochter auf dem Gewissen haben könnte.«
»Mal sehen, wie viel wir von ihnen erfahren können. Sie werden sicher unter Schock stehen.« Hirschberg überlegte rasch. »Ich werde morgen früh auch nach Niederkreuzbach fahren, um mich bei den dortigen Kirchweihbuben umzuhören. Immerhin ist die Kerbeliesel verschwunden. Vielleicht ist sie doch von den Niederkreuzbachern gestohlen worden, und einer von ihnen hat etwas Verdächtiges beobachtet.« Zwar glaubte er selbst nicht so recht daran, aber in Betracht ziehen mussten sie zu diesem Zeitpunkt jedes Szenario.
»Ich kann die Heerschar an Verdächtigen schon sehen: Das Ensemble des Balletts, die Kirchweihbuben und gewiss auch einige Krindelsdorfer ...« Dr. Meißner schüttelte den Kopf. »Zu beneiden sind Sie beide auch dieses Mal nicht«, fügte er mitfühlend hinzu. »Ich würde meine Patientin dann gern in die Rechtsmedizin bringen. Da ich nun schon wach bin, beginne ich gleich mit der Obduktion. In ein paar Stunden weiß ich dann hoffentlich ein wenig mehr.«
»Das hoffen wir auch«, sagte Hansen.
»Also fahren wir jetzt am besten zu den Sattlers«, bestimmte Hirschberg. »Dann kann die Spurensicherung hier in Ruhe ihre Arbeit zu Ende machen.«
Ein fröhlicher Festtag hätte dieser Kirchweihsonntag werden sollen, dachte der Hauptkommissar traurig, während er auf seinen Dienstwagen zuging. Stattdessen würde es nun ein Trauertag werden.