Tod im East End - Jessica Müller - E-Book

Tod im East End E-Book

Jessica Müller

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Beschreibung

London, 1865. Jack Calder, Lehrer an der Greenland's Ragged School im East End, wird erschlagen aufgefunden. Schnell entdecken Inspektor Stockworth und Sergeant Bennett bei den Ermittlungen, dass Calder Verbindungen in die Londoner Unterwelt hatte. Hatte er sich mit den falschen Leuten angelegt? Zeugen sind schwer zu finden. Doch die Ermittler bekommen tatkräftige Unterstützung von Stockworths Ehefrau Charlotte, die einer gefährlichen Spur nachgeht.

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Ähnliche


Jessica Müller

Tod im East End

Ein viktorianischer Krimi

Müller, Jessica: Tod im East End. Ein viktorianischer Krimi. ­Hamburg, Dryas Verlag 2022

Originalausgabe

Epub-ISBN: 978-3-948483-81-4

PDF-ISBN: 978-3-948483-82-1

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948483-80-7

Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Korrektorat: Lilly Seidel, Hamburg

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München, unter Verwendung von Fotos von © cassp / iStock und © mauritius images / Stock imagery / Alamy / Alamy Stock Photos

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© Dryas Verlag, Hamburg 2022

(1. Auflage 2022, Dryas Verlag, Hamburg)

Alle Rechte vorbehalten.

http ://www.dryas.de

Für Jacqueline

Inhalt

„Prolog“

„1. Kapitel“

„2. Kapitel“

„3. Kapitel“

„4. Kapitel“

„5. Kapitel“

„6. Kapitel“

„7. Kapitel“

„8. Kapitel“

„9. Kapitel“

„10. Kapitel“

„11. Kapitel“

„12. Kapitel“

„13. Kapitel“

„14. Kapitel“

„15. Kapitel“

„16. Kapitel“

„17. Kapitel“

„18. Kapitel“

„Personenregister“

Prolog

Der Abend des dreißigsten April war stürmisch, und der Wind fegte durch die Straßen des Londoner East End. Die Kerze auf dem Lehrerpult flackerte im Luftzug der undichten Fenster.

Jack Calder wollte nicht hier sein. Doch ein letztes Mal noch musste er sie sehen und einen Schlussstrich ziehen. Der Sonntagabend garantierte ihnen eine ungestörte Unterhaltung, wusste der Lehrer der Armenschule, und er wollte das Treffen schnellstmöglich hinter sich bringen. Calder sehnte sich nach seinem allabendlichen Glas Ale vor dem Kaminfeuer. Der Zimmermann, der in John Pounds’ Fußstapfen getreten war, und nun die Kinder der Ärmsten unterrichtete, starrte seine Besucherin angewidert an. In dem lediglich von einer einzelnen Kerze erhellten Raum wirkte sie fast nur wie ein unheilverheißender Schatten. Eine Gestalt der Finsternis, die ihn von Zeit zu Zeit heimsuchte, um ihn auszusaugen und Unaussprechliches von ihm zu verlangen. Lange hatte er jegliche Moral in sich betäubt, doch seit er die Trauer auf dem Gesicht einer ihres Kindes beraubten Mutter gesehen hatte, regte sich sein schlechtes Gewissen. Es brannte wie glühende Kohlen in ihm und raubte ihm nachts den Schlaf. Er würde ihr schmutziges Spiel, das ganz allein ihrer Bereicherung diente, nicht mehr länger mitspielen, sagte er sich entschlossen. Es war Zeit, ihr die Stirn zu bieten!

»Verschwinde!«, herrschte Calder sie an. »Ich kann, will und werde deine perversen Geschäfte nicht mehr unterstützen! Du hast mich lange genug ausgenutzt!«

»Der kleine Zusatzverdienst hat dir doch immer ganz gut gefallen«, tönte es boshaft von der Tür her. Zwar konnte er ihr Gesicht nur schemenhaft ausmachen, doch aus jahrelanger Erfahrung wusste er, dass ihre Züge wutverzerrt waren. Wie immer, wenn es nicht nach ihrem Kopf ging. Wenn sie gegen eine Mauer rannte und nicht weiterkam. »Du wirst gefälligst tun, was ich verlange, sonst …«

»Einen Dreck werde ich tun!«, erstickte er ihre Forderung im Keim.

»Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?« Sie war nicht bereit, aufzugeben. Nachgiebigkeit lag ihr nicht im Blut, wusste Calder. Sie war wie eine tödliche Spinne, die ihre Beute, wenn sie ihr nur einmal ins Netz gegangen war, quälte und marterte, bis sie die armen Kreaturen schließlich umbrachte und auffraß. Ihre pure Gegenwart war Gift. Mitgefühl war ihr fremd.

»Dinge können sich schlagartig ändern«, erklärte er ihr ausweichend. Er hatte nicht die Absicht, sein Geheimnis preiszugeben. Nicht vor ihr, nicht vor irgendjemandem. Er hatte immer schon geahnt, nahezu gewusst, dass sein angestammter Platz im Leben nicht das Armenviertel war. Von klein auf hatte er sich trotz der Lumpen, die er am Leib getragen hatte, von seiner Umgebung abgehoben. Pflichtgefühl allein war das Band, das ihn all die Jahre an sie gefesselt hatte. Doch nun hielt er im wahrsten Sinne des Wortes ein anderes Blatt in der Hand.

»Es wäre wirklich besser, wenn du …«

»Besser für wen?«, fiel er ihr ins Wort. »Es gibt rein gar nichts, was du mir antun könntest, um mich gefügig zu machen!« Calder machte einen entschlossenen Schritt auf sie zu. »Es ist vorbei! Das hier ist unser letztes Treffen. Ich will dich nie wieder sehen. Solltest du dich oder einer deiner Leute sich jemals wieder in meine Nähe wagen, werde ich die Obrigkeit informieren.«

»Das wagst du nicht!«, zischte sie erbost. »Wenn ich untergehe, dann ziehe ich dich mit mir!«

»Das wird dir nicht gelingen.« Calder stand nun nahe genug bei ihr, um die Überraschung auf ihrem Gesicht wahrzunehmen. Dass sie ihn nicht wie gewohnt einschüchtern konnte, brachte sie aus dem Takt. »Und jetzt geh endlich! Du hast hier nichts verloren und wirst auch nichts finden!«

»Das wirst du bitter bereuen, Jack!« Sie presste ihre Lippen aufeinander und drehte sich um.

Er hörte, wie das zornige Klacken ihrer Absätze im Gang vor dem Klassenraum langsam verhallte, und er seufzte erleichtert. Von dem bösen Geist befreit, konnte er nun endlich das neue Kapitel seines Lebens aufschlagen. Und in diesem war kein Platz für alte Dämonen.

Calder ging zum Fenster und zog den Brief aus seiner Jackentasche hervor. Erneut atmete er die Zeilen regelrecht ein, auf seinem Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln.

Innerlich in der goldenen Zukunft, die ihm bevorstand, schwelgend, nahm er seine Umgebung kaum noch wahr. Erst das Knarzen des Holzbodens holte ihn zurück ins Hier und Jetzt, und er fuhr herum.

»Was ist …« Die Worte erstarben auf Calders Lippen, und er blinzelte verwundert.

»Wir müssen reden.«

1. Kapitel

Charlotte Stockworth blickte sich um, und ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte sie. Die junge Frau konnte es noch immer nicht glauben, dass ihr Mann und sie nun endlich in ihren eigenen vier Wänden lebten. Die Renovierungsarbeiten an ihrem Domizil in Mayfair hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als Charlotte gedacht hätte, doch dafür war ihr Heim nun umso gemütlicher. Während das Esszimmer ihrer Schwiegereltern Lord und Lady Stockworth klassisch in Rot gehalten war, hatte Charlotte helleren Farben den Vorzug gegeben. Die jadegrüne Tapete mit Goldmuster und die dazu passenden Vorhänge ließen den Raum erstrahlen, fand sie, und auch ihr Mann Basil war angetan. Stockworth, der als Inspektor bei Scotland Yard tagtäglich mit der dunklen Seite der menschlichen Seele konfrontiert wurde, sollte in ihrem Zuhause zur Ruhe kommen können. Da der Farbe Blau beruhigende Eigenschaften nachgesagt wurden, hatte die Hausherrin darauf bestanden, das gemeinsame Schlafzimmer in genau diesem Farbton zu gestalten. Auf der königsblauen Tapete prangten silberne Blümchen, die abends im Kerzenschein sanft leuchteten. Doch auch der Salon mit der weißen Tapete, auf der sich rote Rosen und Vorhänge im selben kräftigen Farbton befanden, war Charlottes ganzer Stolz. Ihr Start ins Leben mochte holprig gewesen sein, doch nun war ihre Seele nach Hause gekommen, dachte sie dankbar bei sich und nahm einen Schluck Tee.

»Wirst du heute deine Mutter treffen?« Stockworth riss sie aus ihren Gedanken.

»Es sieht ganz danach aus.« Charlotte presste ihre Lippen aufeinander, und sie fühlte sogleich den inneren Widerstand. Von den Entwicklungen der letzten Zeit war sie regelrecht überrumpelt worden.

Noch nicht einmal ein Monat war ins Land gegangen, seit die Wahrheit über ihre Herkunft ans Licht gekommen war: Carl von Winterberg war nicht Charlottes leiblicher Vater. Als ihre Tante, Anna von Krenze, bei ihren Schwiegereltern auf Lord Clarence Hazelton getroffen war, hatte sie das lang gehütete Geheimnis um Charlottes Existenz gelüftet: Obwohl bereits mit Carl von Winterberg verlobt, hatte sich ihre Mutter Hals über Kopf in den englischen Adligen verliebt, der zu Besuch in Berlin gewesen war. Aller Widrigkeiten zum Trotz waren die beiden sich nähergekommen, und Charlotte war das Ergebnis ihrer verbotenen Romanze. Im Gegensatz zu ihr aber hatte Amalie nicht den Mut aufgebracht, alles hinter sich zu lassen und mit dem Mann, den sie liebte, zu fliehen. So waren Amalie und ihre Tochter gezwungen gewesen, ein nahezu unerträgliches Leben an der Seite Carl von Winterbergs zu führen. Bisher hatte Charlotte es nicht über sich bringen können, ihrer Mutter deren verhängnisvolles Handeln zu verzeihen.

Lord Hazelton hatte seine große Liebe nun nach London geholt, und er erhoffte sich einen Neuanfang mit den zwei wichtigsten Frauen in seinem Leben, wie er es formulierte. Außerdem stand die Sicherheit ihrer Mutter auf dem Spiel. Charlottes ehemaliger Verlobter, Heinrich von Burgfeld, den sie mit ihrer Flucht in der vergangenen Silvesternacht gedemütigt hatte, war noch immer auf Vergeltung aus. Und dass ihrer Mutter etwas zustieß, würde Charlotte trotz allem niemals wollen.

»Vielleicht tut es euch beiden gut, gemeinsam mit Anna die Einrichtung von Beauford House zu planen«, sagte Stockworth mit einem verständnisvollen Lächeln. Wie immer wusste er genau, was in seiner Frau vorging. »So könnt ihr euch zunächst auf neutralem Terrain begegnen.«

»Du glaubst, dass wir auf diese Weise unseren Problemen vorerst ausweichen können. Dass wir uns bei der Auswahl der Tapeten und Möbel nicht in die Haare kriegen«, deutete Charlotte seine Worte.

»Früher oder später werdet ihr euch aussprechen müssen«, brachte Stockworth das Unausweichliche zur Sprache. »Aber das muss nicht sofort sein. Wenn man Probleme mit einem Menschen hat, kann es hilfreich sein, eine unbelastete Ebene zu schaffen, auf die man sich zurückziehen kann, sobald es schwierig wird.«

»Seit wann ist mein Mann so weise?« Sie lächelte ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg an.

»Das war er schon immer«, grinste er, bevor er wieder ernst wurde. »Ich weiß, dass es dir schwerfällt, ihr zu begegnen. Und du hast jedes Recht, wütend zu sein«, gestand er ihr zu. »Aber schon Clarence zuliebe solltest du einen Weg finden, euren alten Ballast über Bord zu werfen.«

»Du hast ja recht«, gab Charlotte zu. »Und vielleicht wird das heute ein guter Anfang. Außerdem bin ich wirklich gespannt, welche Pläne Tante Anna für Beauford House hat.« Nachdem das Medium Blanche Beauford vor einigen Wochen ermordet worden war, hatte Charlottes Tante beschlossen, deren Haus zu kaufen und bis auf Weiteres ebenfalls in London zu bleiben. Das in Hampstead gelegene weitläufige Anwesen war beeindruckend. Anna von Krenze plante, es von Grund auf neu einzurichten und zu gestalten. Sie wolle die bösen Geister, die Madame Blanche zu Lebzeiten heraufbeschworen hatte, endgültig vertreiben und den Räumen ihre ganz persönliche Note verleihen.

»Wenn sie einen nur halb so guten Geschmack wie meine Frau hat, dann wird es wunderschön«, prophezeite Stockworth und griff nach Charlottes Hand.

»Es gelingt dir wirklich immer, mich aufzuheitern.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Und ich werde es schon schaffen, mich mit Mutter auszusprechen«, versicherte sie mehr sich selbst als ihm. »Ich kann ihr schließlich nicht für immer und ewig aus dem Weg gehen.« Bisher war es ihr auf Empfängen und Bällen jedes Mal gelungen, Amalie von Winterberg auszuweichen. Dass es so nicht weitergehen konnte, war Charlotte bewusst.

»Nein, das kannst du nicht«, stimmte Stockworth ihr zu. »Aber es wird alles gut. Du bist die stärkste Frau, die ich kenne, und …« Er hielt inne, als das Wiehern von Pferden vor ihrem Haus ins Esszimmer drang.

»Erwartest du jemanden?«, wollte Charlotte wissen. Da sie den ganzen Tag getrennt waren, war ihnen ihr gemeinsames Frühstück heilig. Jedoch wusste die junge Frau auch, dass Verbrecher sich nicht um ihre Gepflogenheiten scherten.

»Nicht, dass ich wüsste.« Ihr Mann zuckte die Schultern und rief, als es einen Moment später klopfte: »Herein!«.

»Verzeihen Sie, Sir. Aber der Sergeant meinte, es sei sehr dringend. Deshalb hielt ich es für das Beste, ihn gleich hereinzuführen.« Barnes, ihr neuer Butler, betrat gefolgt von Sergeant Bennett den Raum. Ein entschuldigender Ausdruck erschien in Barnes braunen Augen. Es war die erste Stelle für den jungen Mann, und noch immer war er ein wenig nervös. Leo Barnes hatte sich auf Empfehlung ihrer Freunde Roisin O’Mahoney und Ian Boyle bei ihnen beworben, und die Stockworths schenkten ihm schon aus diesem Grund uneingeschränktes Vertrauen. Neben seinen Pflichten als Butler würde Barnes alles tun, um jegliche Gefahr von ihnen fernzuhalten.

»Ich habe ihm keine Wahl gelassen, Inspektor.« Bennett schenkte dem jungen Mann ein Lächeln. »Wir haben einen neuen Fall.«

»Sie haben völlig richtig gehandelt, Barnes.« Stockworth erhob sich. »Wenn Sergeant Bennett oder ein anderer Polizist uns einen unangemeldeten Besuch abstattet, dann ist es in aller Regel wichtig. Ich danke Ihnen.«

»Soll ich ein weiteres Gedeck bringen lassen, Sir?«, wollte Barnes wissen.

»Ich fürchte, dafür haben wir keine Zeit.« Die Miene des Sergeants verfinsterte sich. »Wir müssen unverzüglich ins East End. In der Greenland’s Ragged School ist eine Leiche gefunden worden.«

»Eine Leiche in einer Armenschule?« Charlotte ließ Bennett nicht aus den Augen. »Bitte sagen Sie mir nicht, Sergeant, dass irgendjemand einem Kind etwas angetan hat.« Allein die Vorstellung entsetzte die junge Frau.

»Nein, Mrs Stockworth. Laut Constable Milner, der an den Tatort gerufen wurde, handelt es sich um einen der Lehrer. Sein Name ist Jack Calder, und allem Anschein nach ist er von hinten erschlagen worden. Ich habe Constable White bereits in die Schule geschickt, Inspektor. Ich dachte mir, es ist Ihnen lieber, wenn ein Beamter, dem Sie vertrauen, vor Ort die Stellung hält, bis wir dort eintreffen.«

»Eine exzellente Entscheidung, Sergeant«, lobte Stockworth. »Wir machen uns dann besser sofort auf den Weg. Und wir sollten …«

»Dr. Honeywell eine Nachricht zukommen lassen«, vollendete Bennett den Satz. »Auch das ist bereits geschehen, Inspektor.«

»Sehr gut, Sergeant. Sie werden es weit bringen.« Stockworth klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, und Charlotte konnte sehen, wie ein Schatten Bennetts Augen einen Moment lang verdüsterte. Er öffnete den Mund, als ob er etwas hätte sagen wollen, entschied sich dann aber dagegen. Irgendetwas schien ihn zu belasten.

»Stimmt etwas nicht?« Auch Stockworth war Bennetts plötzliches Unbehagen offenbar nicht entgangen.

»Es ist alles in Ordnung. Die Kutsche wartet, Inspektor.« Er räusperte sich und wandte sich zum Gehen.

»Ich bin sofort bei Ihnen, Sergeant«, versprach Stockworth und beugte sich zu Charlotte, um ihr einen Kuss zu geben. »Ich versuche, pünktlich zum Dinner hier zu sein, aber …«

»Du kannst es nicht versprechen.« Sie strich ihm über die Wange. »Ich weiß. Aber solange du nur gesund und munter zu mir zurückkommst, kümmert es mich nicht, wie spät es wird.«

»Das werde ich. Hab einen schönen Tag. Und grüß deine Tante und deine Mutter von mir.«

Charlotte blickte ihrem Mann nachdenklich hinterher. Wer mochte es wohl auf den Lehrer einer Armenschule abgesehen haben?

*

Stockworth und Sergeant Bennett stiegen vor der Greenland’s Ragged School aus der Kutsche. Der Inspektor hielt einen Moment inne und musterte die wenig einladende Fassade des Gebäudes. Die Kinder der Ärmsten wurden in diesen Lehrinstituten meist von ehemaligen Handwerkern unterrichtet. John Pounds, ein ehemaliger Schiffbauer, galt als Pionier der sogenannten Ragged Schools. Er war der Erste, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Kinder der Ärmsten kostenlos zu unterrichten, nachdem er nach einem Unfall arbeitsunfähig geworden war. Die meisten der Schüler trugen nicht einmal ordentliche Kleidung, wusste Stockworth, daher rührte auch der Name Ragged Schools, Lumpenschulen. Die Bildungseinrichtungen, für die sich Lord Shaftesbury verantwortlich zeichnete, dienten nicht nur dem Unterricht, sondern versorgten die Kinder oft auch mit Essen, Kleidung und Obdach. Stockworth erinnerte sich, dass Charles Dickens nach seinem Besuch in der Field Lane Ragged School sowohl zu A Christmas Carol inspiriert als auch zu einem wichtigen Unterstützer der Armenschulen geworden war. Auch Stockworths Mutter, Lady Henrietta, setzte sich sehr für die Kinder in den Armenvierteln ein. Was sagte es über eine Gesellschaft aus, wenn diese ihre Kinder verwahrlosen und im Stich lasse, hatte sie ihren Sohn einmal gefragt. Dem Inspektor selbst lag ebenfalls viel daran, die Schulen zu unterstützen, denn Intelligenz und Potenzial kannten schließlich keine gesellschaftliche Klasse, dachte er mit einem verstohlenen Blick auf Bennett. Er selbst hatte großes Glück gehabt, in ein sorgenfreies Leben hineingeboren worden zu sein.

»Da werden doch Erinnerungen wach«, flüsterte Bennett, als er an Stockworths Seite die Schule betrat.

»Hoffentlich auch ein paar gute, Sergeant«, wünschte er sich für seinen Partner. Bennetts Start ins Leben war keineswegs so privilegiert gewesen wie der seine. Der junge Enoch Bennett hatte sich mit harter Arbeit und einer ordentlichen Prise Ehrgeiz seinen Weg aus dem Armenviertel erkämpft, und Stockworth hegte den größten Respekt vor ihm. Anders als dessen alter Weggefährte Felix Shaw, der Besitzer des Shaw’s, des berühmten Gentlemen’s Clubs, war Bennett immer gesetzestreu geblieben. Er hatte sich aus jedem Ärger herausgehalten, und seine Weste war so rein wie frisch gefallener Schnee, hatte Superintendent Collins Stockworth augenzwinkernd erklärt, als er ihm Bennett zur Seite gestellt hatte. Bis vor Kurzem hatte der Sergeant noch einen weiten Bogen um Felix Shaw und dessen Club gemacht, denn Shaw hatte sich mit dunklen Geschäften und schmutzigen Dienstleistungen für die oberen Zehntausend eine goldene Nase verdient. So mancher wohlhabende Herr stand bis heute in Shaws Schuld, wusste der Inspektor. Der Clubbesitzer pflegte Verbindungen sowohl in die höchsten als auch die niedersten Kreise, weshalb er ihnen mit einem Wimpernschlag Zugang zu Informationen beschaffen konnte, der den Gesetzeshütern andernfalls verwehrt bleiben würde. Da sich Shaws Gesundheitszustand von Tag zu Tag verschlechterte, war ihm nunmehr daran gelegen, Wiedergutmachung zu leisten, bevor er für immer die Augen schloss. Nach Sir William Mays Ermordung war er zu einem wertvollen Informanten für Stockworth und Bennett geworden. Der Inspektor hegte aber gleichsam die Vermutung, dass Shaw neben der Unterstützung der Polizei noch andere Pläne verfolgte, und Bennetts Reaktion auf sein Lob an diesem Morgen bestätigte seinen Verdacht: Felix Shaw wollte sein Vermächtnis in Bennetts Händen wissen.

»Sagen wir, ich bin dankbar für jede Erfahrung, die ich gemacht habe, Inspektor«, gab der Sergeant hintergründig zur Antwort, als sie den Gang entlang zu Calders Klassenraum gingen, vor dem die Constables Milner und White Wache hielten. »Ich habe darum gebeten, die Kinder für heute nach Hause zu schicken«, erklärte er Stockworth, nachdem er dessen fragenden Blick richtig gedeutet hatte. Die Schule wirkte nahezu verwaist. »Sie würden am Ende unsere Arbeit behindern, und außerdem sollten sie sich nicht an einem Tatort aufhalten. Die meisten von ihnen erleben sicher jeden Tag genug Unerfreuliches.«

»Da haben Sie leider recht«, stimmte Stockworth ihm traurig zu, als Constable White zusammen mit einem älteren Herrn, auf dessen Nasenrücken eine Sehhilfe klemmte, auf sie zukam.

»Guten Morgen, Inspektor.« Der Constable begrüßte Stockworth mit Grabesmiene. »Das ist Mr Webster, der Schulleiter.«

»Mr Webster, das hier ist Sergeant Bennett, und ich bin Inspektor Stockworth. Der Verlust Ihres Lehrers tut mir sehr leid, Sir.« Der Inspektor ergriff Websters Hand. Dieser war bleich, und es hatte den Anschein, als habe er sich die grauen Haare vor Entsetzen gerauft, denn sie standen ihm im wahrsten Sinne des Wortes zu Berge. Seine Augen waren vor lauter Schock weit aufgerissen. Stockworth bemerkte, dass seine Hände zitterten. Dass einer der Lehrer ausgerechnet in der Schule ermordet werden würde, damit hatte Webster wohl kaum gerechnet.

»Ich danke Ihnen, Inspektor. Sergeant.« Er nickte Bennett rasch zu und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Das ist grauenvoll. Ich weiß gar nicht …« Seine Stimme verebbte.

»Sir, haben Sie eine Ahnung, was sich hier abgespielt haben könnte? Oder warum jemand Mr Calder etwas hätte antun wollen?«, fragte Bennett sanft.

»Nicht die geringste, Sergeant. Ich kann mir die Tat beileibe nicht erklären.« Webster zuckte hilflos die Schultern, und Stockworth glaubte ihm. Der Schulleiter schien völlig erschüttert. »Ich war gestern am frühen Abend noch kurz in der Schule, weil ich tags zuvor etwas vergessen hatte, und er war auch hier. Da habe ich ihn also das letzte Mal gesehen. Und ich kann Ihnen versichern, er war wohlauf, als ich ging«, kam er ihrer Frage zuvor. »Jack, also Mr Calder, ist ab und an auch am Sonntag hier gewesen, wenn er seinen Unterricht vorbereiten wollte. Die Arbeit hat ihm wirklich Freude bereitet. Manchmal hat er einem Kind auch noch außerhalb des eigentlichen Unterrichts geholfen, wenn er oder sie mit den Aufgaben nicht zurechtkam. Er war sehr gewissenhaft, zumal er weiß …« Webster holte tief Luft und korrigierte sich. »Wusste, dass die meisten der Eltern kaum bis gar nicht auf die Bildung ihrer Kinder achten.« Er schloss einen Moment die Augen. »Als ich heute Morgen hier ankam, bin ich gleich in mein Klassenzimmer, ich habe nicht nach nebenan in Jacks Raum gesehen. Ich bin schließlich immer der Erste hier und habe nicht damit gerechnet, dass er überhaupt schon … Erst als Edwin, Mr Roberts, kurz nach mir kam, ist der arme Jack entdeckt worden.« Webster ließ die Schultern hängen. »Ich begreife das nicht.«

»Und Sie kennen wirklich niemanden, der einen Groll gegen Mr Calder hegt?«, hakte Stockworth nach.

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete der Schulleiter, und er wich seinem Blick aus, was Stockworths Misstrauen weckte. Sein Instinkt signalisierte ihm, dass Webster nicht ganz ehrlich zu ihm war. »Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht besonders viel über sein Leben außerhalb der Schule weiß, denn er hat sich sehr bedeckt gehalten. Ich kann nur spekulieren, dass er aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und wie viele der Kinder, die wir betreuen, eine harte Kindheit erlebt hat. Manchmal hatte es den Anschein, er würde sich für seine Herkunft schämen.« Webster zuckte die Schultern. »Dabei ist das hier doch der letzte Ort, an dem er das tun müsste. Seine Ausbildung scheint Jack sich mit aller Kraft erkämpft zu haben, und seiner Arbeit in der Schule ging er sehr gewissenhaft nach. Und selbst wenn sein Lebenswandel zweifelhaft gewesen wäre, dann …«, brabbelte er und holte tief Luft, um sich zu sammeln. »Die Schule hat es schon schwer genug, ich kann nicht auch noch wählerisch sein, was die Lehrer angeht. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Natürlich, Sir«, sagte Stockworth nickend. Dass Webster sich seine Leute nicht aussuchen konnte, entsprach sicher der Wahrheit, nahm er an. »Sie wissen also nichts über seine Angehörigen oder seine Freunde und haben ihn auch nie mit irgendjemandem streiten sehen oder dergleichen?« Der Inspektor wollte den Schulleiter nicht so schnell vom Haken lassen.

»Ich bedaure sehr, dass ich Ihnen nicht helfen kann«, verneinte dieser und rückte nervös seine Sehhilfe zurecht. »In­spektor, wäre es möglich, dass ich mich jetzt um alles Weitere kümmere? Ich muss dringend mit meiner Tochter sprechen, ob sie Mr Calders Schüler übernehmen würde. Noch hat sie eine Stelle als Hauslehrerin bei Sir Rupert Robson, aber er und seine Familie gehen Ende des Monats für eine Weile nach Übersee. Daher hoffe ich, dass er Adelia nun vorzeitig gehen lässt, und …«

»Wir verstehen schon, Sir.« Stockworth konnte fühlen, dass er vorerst nicht mehr aus Webster herausbekommen würde. Dass der Schulleiter etwas vor ihm verbarg, dessen war sich der Inspektor sicher. »Sollten sich noch Fragen ergeben, wenden wir uns in den nächsten Tagen wieder an Sie.«

»Er verschweigt etwas«, wisperte Bennett ihm zu, als sie White in Calders Klassenzimmer folgten.

»Ich weiß, aber darum kümmern wir uns ein anderes Mal, Sergeant. Jetzt nehmen wir erst einmal Calders Leiche in Augenschein.«

»Es ist kein schöner Anblick, Sir«, warnte White sie vor.

»Inspektor.« Constable Milner gesellte sich zu ihnen. Der junge Mann war bleich, aber er wirkte gefasst. »Ich kann zwar nicht mehr zählen, wie viele Leichen ich in meinen zwei Dienstjahren schon gesehen habe, aber das viele Blut hier ist …« Seine Miene sprach Bände, und er hielt sich einen kurzen Augenblick lang die Faust vor den Mund. »Meiner Meinung nach begeht nur ein sehr verdorbener Mensch einen Mord in einer Schule. Ohne Skrupel, Kinder einem solchen Anblick auszuliefern. Ich bin froh, dass er gefunden wurde, bevor einer seiner Schüler den Raum betreten hat.«

»Da kann ich Ihnen nur beipflichten, Constable.« Stockworth ging an ihm vorbei auf Calders Leichnam zu. An diesem Tag würden die Bänke leer bleiben, dachte er erleichtert bei sich. Es war die richtige Entscheidung gewesen, die Kinder nach Hause zu schicken. Vor dem nächsten Unterricht musste der Raum gründlich gesäubert werden. Er drehte sich wieder zu Constable Milner, der noch in der Tür stand. »Wenn ich Mr Webster richtig verstanden habe, hat ein gewisser Mr Roberts ihn gefunden und keines der Kinder?«

»So ist es, Inspektor«, bejahte der Constable. »Mr Roberts sitzt in seinem Klassenzimmer nebenan und ist ziemlich mitgenommen. Er musste sich übergeben.«

»Verständlich«, bemerkte Bennett nüchtern, der neben Calders lebloser Gestalt in die Hocke gegangen war. »Es sieht mir ganz danach aus, dass er mit diesem Briefbeschwerer erschlagen worden ist«, spekulierte er und deutete auf den blutverschmierten Gegenstand in Form eines Löwenkopfes, der neben Calder auf dem Boden lag. Der Briefbeschwerer war kein billiger Trödel, fiel Stockworth auf. Er fragte sich, wie der Lehrer einer Armenschule sich diesen hatte leisten können.

»Wissen Sie, ob der Briefbeschwerer Calder gehört hat?«, wollte er von den Constables wissen.

»Ja. Laut Mr Roberts hat Mr Calder ihn letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen. Er wisse aber nicht, von wem.« Constable White zog vielsagend die Augenbrauen nach oben. Auch er schien sich über das wertvolle Präsent zu wundern.

»Verstehe.« Stockworth beugte sich über die Leiche. Der Kopf des Lehrers war zur Seite gedreht und lag in einer Blutlache. Seine braunen Augen begannen bereits einzutrüben. Er musste schon vor einigen Stunden getötet worden sein, kalkulierte der Inspektor. Sein Freund Dr. Honeywell hatte ihm einmal erklärt, dass bei Toten, deren Augen nicht geschlossen wurden, die Bindehaut nach dem Tod austrocknete. Er konnte gut verstehen, dass sich Menschen in früheren Zeiten vor den seelenlosen Blicken der Toten gefürchtet hatten. Heutzutage hingegen verlangte es schon allein der pietätvolle Umgang mit den Verstorbenen, ihnen die Augen zu schließen.

»Das sieht übel aus.« Stockworth wandte sich zur Tür, als er Honeywells Stimme hörte. Trotz der unschönen Szene brachte der Arzt ein Lächeln zustande. »Entschuldige die Verspätung, Basil, aber ich war noch bei Roisin, um nach Lina zu sehen.«

»Wie geht es ihr?«, wollte der Inspektor wissen.

»Es würde mich nicht wundern, wenn es heute noch so weit wäre«, prognostizierte der Arzt lächelnd. »Das Kleine will auf die Welt kommen. Ich habe Roisin geraten, die Hebamme zu holen.« Lina war Charlottes Freundin und das ehemalige Dienstmädchen der von Winterbergs. Sie und ihr Mann Johann waren gemeinsam mit Charlotte in der vergangenen Silvesternacht aus Berlin geflohen. Von Burgfelds Männer hatten die beiden vor ein paar Wochen in Wien aufgespürt, und Linas Mann war seinen Schergen zum Opfer gefallen. Roisins Männern aber war es zu Charlottes Erleichterung gelungen, die werdende Mutter zu retten und nach London zu bringen.

»Es wird auch Zeit. Charlotte kann es kaum noch erwarten«, verriet Stockworth. »Sie ist fast so aufgeregt wie Lina.«

»Ich weiß, und Linas Kind wird es sehr gut haben und eines Tages wohl nicht in einer Armenschule unterrichtet werden.« Der Arzt kam näher, sichtlich darauf bedacht, nicht in die Blutlache zu treten. »Ein Leben verlässt diese Welt, und ein neues wird schon bald von ihr begrüßt«, flüsterte er bedeutsam, während er die Wunde an Calders Hinterkopf in Augenschein nahm. Er griff nach dem Briefbeschwerer und nickte nachdenklich. »Ja, das scheint zu passen.«

»Der Täter muss mehrmals zugeschlagen haben, nicht wahr?«, vergewisserte sich Stockworth. Calders Mörder hatte seiner Wut freien Lauf gelassen.

»Es sieht ganz danach aus«, bestätigte sein Freund. »Wer auch immer ihn getötet hat, wollte ganz sichergehen, dass er nie wieder aufsteht. Er muss seinen Mörder unglaublich in Rage gebracht haben«, sprach er Stockworths Gedanken laut aus.

»Dann war der Täter sicher nicht derjenige, der Calder Blumen mitgebracht hat.« Bennett deutete auf eine Schlüsselblume, die oberhalb des Fensters angebracht war.

»Nein, Sergeant.« Milner räusperte sich. »Mir ist sie auch bereits aufgefallen. Laut Mr Roberts hat einer von Mr Calders Schülern sie vorsorglich über dem Fenster angebracht. Es muss sich wohl um eine Art Brauch in Lincolnshire, woher die Familie des Jungen stammt, handeln.«

»Walpurgisnacht«, fiel Stockworth ein. »Meine Frau hat mich gestern daran erinnert.« Charlotte und er hatten es sich im Salon gemütlich gemacht, als der Wind heulend durch die Straßen gefegt war. Es war eine stockfinstere, wolkenverhangene Nacht gewesen, und die Atmosphäre hatte gewiss in so manchen die alte Furcht vor Hexen und Dämonen geweckt. »Der Name geht auf die heilige Walburga zurück. Einem alten Aberglauben nach sollen in der Nacht auf den ersten Mai die Hexen ein großes Fest abhalten und ihr Unwesen treiben. Es gibt viele Bräuche, um das Böse in dieser Nacht fernzuhalten, so hängt man eben in Lincolnshire Schlüsselblumen auf.«

»Leider haben die Blumen in Calders Fall nichts genützt«, stellte Honeywell nüchtern fest und richtete sich auf. »Ich werde ihn jetzt ins St. Mary’s Hospital bringen lassen und die Autopsie vornehmen.« Er blickte sich seufzend um. »Schulen sollten ein sicherer Ort sein und keine Leichenhalle.«

»Allerdings«, pflichtete Stockworth ihm bei. »Ich werde den Coroner informieren.«

»Er kann die Anhörung getrost für morgen ansetzen. Das hier ist eindeutig Mord.« Der Arzt blickte seinem Freund in die Augen. »Und auch noch ein sehr feiger, wenn du mich fragst. Der Mörder war zwar sicherlich wütend, aber jemanden von hinten anzugreifen, sodass er mit möglichst wenig Gegenwehr rechnen muss, zeugt nicht gerade von Mut.«

»Vermutlich musste es schnell und ohne großes Aufsehen vonstattengehen.« Stockworth massierte nachdenklich sein Kinn. »Kannst du ungefähr einschätzen, wann er ermordet worden ist?«

»Wenn ich eine Vermutung anstellen müsste, dann würde ich sagen vor acht bis zwölf Stunden. Die Totenstarre ist schon sehr weit fortgeschritten. Ich frage mich, was er am Sonntagabend in der Schule wollte.«

»Laut Mr Webster, dem Schulleiter, hat er am Sonntagabend oft noch etwas für seinen Unterricht vorbereitet«, entgegnete Stockworth. »Wir werden jetzt erst einmal den Lehrer befragen, der ihn gefunden hat. Vielleicht hat er eine Ahnung, warum man Mr Calder ermordet hat.«

Stockworth und Bennett gingen nach nebenan, während der Leichnam des Lehrers nach draußen gebracht wurde. Roberts’ Klassenraum unterschied sich kaum von Calders. Auch hier waren die Bänke an diesem Tag verwaist, nur befand sich auf dem Holzboden kein Blut. Edwin Roberts war sichtlich geschockt. Er stand auf wackeligen Beinen von seinem Stuhl auf, als die beiden Ermittler den Raum betraten. Seine Lippen bebten, und in seinen blaugrauen Augen lag Fassungslosigkeit. Stockworth konnte es ihm nicht verdenken.

»Mr Roberts, das ist Sergeant Bennett, und ich bin Inspektor Stockworth. Ich kann gut verstehen, dass das sehr schwer für Sie ist, aber wir müssen Ihnen dennoch ein paar Fragen stellen.«

»Natürlich, Inspektor.« Er nickte und fuhr sich mit der Hand durch sein hellbraunes, gelocktes Haar.

»Wann haben Sie Mr Calder denn das letzte Mal gesehen, Sir?« Bennetts Stimme klang sanft.

»Das war Samstagabend. Ich wollte mich auf den Heimweg machen und ihn fragen, ob wir noch auf ein Pint gehen sollten, aber Jack meinte, er habe noch zu arbeiten.«

»Kam es denn oft vor, dass Mr Calder länger geblieben ist und sogar wie gestern am Sonntagabend hier war?« Stockworth wollte sich Websters Aussage bestätigen lassen.

»Eigentlich schon. Manchmal bereitet … hat er noch etwas für den Unterricht am Montag vorbereitet. Jack war mit Leib und Seele Lehrer.«

»Eigentlich?« Stockworth musterte ihn aufmerksam.

»Er hat sich irgendwie verändert in letzter Zeit und war nicht so bei der Sache wie sonst«, antwortete Roberts zögerlich. »Sein Verhalten war doch recht merkwürdig, und …« Der Lehrer hielt inne und senkte den Kopf.

»Mr Roberts, wenn Ihnen irgendetwas Merkwürdiges an Mr Calder aufgefallen ist, dann müssen Sie uns das sagen«, machte Bennett ihm klar.

»Gewiss hat es nichts zu bedeuten und erst recht nichts mit dem Mord an ihm zu tun, aber …« Er griff sich an den Hals, als wäre der Kragen seines Hemds mit einem Mal zu eng. »Es ist nur so, dass Jack letzten Sommer von einer sehr aufgebrachten oder vielmehr verzweifelten Mutter aufgesucht worden ist. Sie hat behauptet, er habe etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun. Das Mädchen ist eines Tages nach der Schule nämlich einfach nicht mehr nach Hause gekommen.«

Stockworth und Bennett wechselten einen Blick.

»Halten Sie es denn für möglich, dass er etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hatte?«, hakte Stockworth aufgeregt nach.

»Natürlich nicht!« Seine Beteuerung war ein wenig zu heftig für Stockworths Empfinden. »Die Mutter war einfach nur verzweifelt, wie ich bereits sagte, sie wusste weder ein noch aus. Sie wollte eben irgendjemandem die Schuld geben.«

»Hat sie sich an die Polizei gewandt?«, erkundigte sich Bennett.

»Natürlich. Aber man hat keine Spur von dem Mädchen gefunden.« Roberts zuckte die Schultern. »Allerdings ist es eine traurige Tatsache, dass jeden Tag Kinder verschwinden. Viele laufen weg von zu Hause, weil sie die Zustände nicht mehr ertragen. Aber Ihnen beiden werde ich das wohl kaum erläutern müssen.«

»Sind auch noch andere Kinder verschwunden, mit denen Mr Calder etwas zu tun hatte?«

»Das kommt immer wieder einmal vor, Inspektor. So ist nun einmal das Leben.« Er seufzte. »Aber das Verschwinden von Betsy hat ihn sehr getroffen«, erinnerte sich Roberts. »Jack hat mit ihrer Mutter regelrecht mitgelitten. Ich konnte fühlen, wie nah ihm ihr Verlust ging. Die Ärmste war am Boden zerstört, und obwohl sie diese wirren Anschuldigungen gegen ihn erhoben hat, hat er alles getan, um ihr Trost zu spenden.«

»Können Sie mir ihren Namen nennen?« Bennett zückte seinen Notizblock.

»Maggie Fields. Soweit ich weiß, wohnt sie in der Little Paternoster Row. Wenig verwunderlich also, dass Betsy weggelaufen ist.« Roberts blickte den Inspektor vielsagend an. Stockworth musterte ihn nachdenklich. Sein Gedankengang war nachvollziehbar, denn in dieser Ecke Londons herrschten Armut und Verbrechen. Sollten jedoch mehrere Kinder, die in der Schule betreut worden waren, verschwunden sein, wäre das eine Sache, der sie nachgehen sollten.

»Glauben Sie, dass Mr Calder sich Mrs Fields gegenüber schuldig gefühlt hat?«, setzte Stockworth die Befragung fort, ohne auf seine Theorie, dass das Mädchen schlichtweg von zu Hause ausgerissen sei, einzugehen.

»Nein, aber er hat ihren Schmerz geteilt. Betsy war trotz ihrer Lebensumstände ein fröhliches und aufgewecktes Mädchen. Er hat mir bei einem Pint anvertraut, der Klassenraum habe sich verdunkelt, seit sie nicht mehr da sei.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Erst seit ein paar Wochen hat sich seine Laune wieder gebessert.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum?«

»Nein, Sergeant. Er hat sich, wie er es immer getan hat, sehr bedeckt gehalten«, bedauerte Roberts. »Auf meine Frage, warum er plötzlich so fröhlich sei, hat er lediglich geantwortet, dass er es immer gewusst habe. Das waren seine Worte. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.« Er zuckte die Schultern. »Ich begreife das alles nicht. Er war wie ausgewechselt in den letzten zwei oder drei Wochen. Er hat mich an einen Ertrinkenden erinnert, der endlich wieder Land sieht.« Roberts blickte zwischen Stockworth und Bennett hin und her. »Wissen Sie, nach Betsys Verschwinden war er an manchen Tagen sehr schreckhaft und nervös. So als habe er vor irgendetwas Angst.«

»Oder vor irgendjemandem«, hielt Bennett fest, und Roberts erbleichte.

»Sie haben also keine Ahnung, wer Mr Calder außer Maggie Fields etwas hätte antun wollen? Gab es Probleme mit anderen Schülern oder deren Eltern?«, wollte Stockworth wissen.

»Nein«, wehrte Roberts entschieden ab. »Auch Mrs Fields wäre niemals imstande, etwas Derartiges zu tun«, behauptete er. »Außerdem war sie seit Monaten nicht mehr hier.«

»Und Sie haben auch nie mitbekommen, dass er mit jemandem Streit gehabt hat?« Stockworth konnte die Skepsis in Bennetts Stimme hören. Auch der Sergeant schien Roberts nicht über den Weg zu trauen.

»Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen«, entgegnete dieser stoisch. »So gut kannte ich ihn nun auch wieder nicht.«

»Aber immerhin gut genug, um mit ihm ein Pint trinken zu gehen«, provozierte ihn Bennett.

»Dafür muss man sich nicht besonders nahestehen, Sergeant.« Roberts presste seine Lippen aufeinander.

»Ihr Verhältnis zu Mr Calder war also unbelastet, wenn auch nicht freundschaftlich?«

»Wollen Sie mir etwa unterstellen …«, hob er an.

»Beantworten Sie bitte Sergeant Bennetts Frage«, forderte Stockworth ihn auf. Zwar wirkte der Lehrer erschüttert, und der Inspektor traute ihm den Mord nicht zu, aber Roberts’ Verhalten weckte seinen Argwohn.

»Wir haben uns sehr gut verstanden, Sergeant. Ab und zu waren wir nach der Arbeit im Pub und haben uns über die Schüler unterhalten. Es gab keinerlei Konfliktpunkte zwischen uns, falls Sie darauf hinauswollen.«

»Wenn doch, werden wir das sehr schnell herausfinden. Darauf können Sie sich verlassen, Mr Roberts«, versicherte ihm Stockworth. »Wir müssen Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten, falls wir noch weitere Fragen an Sie haben.«

»Gewiss doch. Sie wissen ja, wo Sie mich finden können.« Seine Stimme klang eisig.

»Eines noch: Können Sie uns Mr Calders Adresse nennen?«, fragte Stockworth.

»Er wohnt … wohnte in der Dorset Street bei einer gewissen Mrs Holt. Sie ist seit ein paar Jahren verwitwet und hat ihm die zwei oberen Räume in ihrem Haus vermietet«, antwortete er. »Er hat noch vor ein paar Tagen zu mir gesagt, dass er es kaum abwarten könne, dort auszuziehen, weil die Alte, wie er Mrs Holt genannt hat, so neugierig sei. Ich weiß die genaue Hausnummer nicht, aber nebenan hat ein Schuhmacher sein Geschäft.«

»Vielen Dank, Mr Roberts.« Stockworth verließ gefolgt von Bennett das Klassenzimmer.

»Was halten Sie von ihm, Sir?«, erkundigte sich der Sergeant auf dem Weg nach draußen.

»Ich denke zwar nicht, dass er etwas mit dem Mord an Calder zu tun hat, aber irgendetwas verschweigt er uns. Genauso wie der Schulleiter.«

»Der Meinung bin ich auch. Wir sollten so viel wie möglich über diese Schule herausfinden und uns mit Maggie Fields unterhalten. Auf dem Weg in die Little Paternoster Row könnte ich außerdem Mrs Holt in der Dorset Street einen Besuch abstatten und Calders Räume durchsuchen«, schlug Bennett vor.

»Das ist ein exzellenter Plan, Sergeant. Nehmen Sie Con­stable White mit. Ich werde inzwischen den Coroner benachrichtigen.«

2. Kapitel

Charlotte Stockworth ergriff die Hand des Kutschers und stieg vor Beauford House in Hampstead aus der Kutsche. Sie seufzte und schloss einen Moment lang die Augen, um sich zu sammeln. Die Sonne kämpfte sich zaghaft, aber stetig hinter einer Wolke hervor, und die junge Frau fühlte angenehme Wärme auf ihren Wangen. Ein gutes Omen, sprach sie sich Mut zu.

Charlotte hatte sich an diesem Tag mit besonderer Sorgfalt zurechtgemacht, weshalb sie mit Verspätung bei ihrer Tante erschien. Vermutlich würde ihre Mutter, der sie wie aus dem Ei gepellt entgegentreten wollte, bereits hier sein. Sie blickte zufrieden an sich hinunter. Kleidung schützte die Menschen längst nicht mehr nur gegen die zuweilen unbarmherzige Witterung, sondern zeigte der Welt auch, welche Persönlichkeit in ihnen steckte. Für den Besuch bei ihrer Tante hatte sich Charlotte deshalb in Schale geworfen: Sie trug ein violettes, nicht allzu hochgeschlossenes Kleid mit einem weißen gerafften Überrock. Die Farbe ihres Kleides stand für die falsche Identität, die sie sich für ihr Verschwinden aus Berlin zugelegt hatte: Violet Lewis. Auch wenn sie mittlerweile wieder zu Charlotte geworden war, würde sie doch nie wieder dieselbe sein und Violet immer ein kleiner Teil von ihr bleiben. Seit ihrer Flucht in der vergangenen Silvesternacht schien ein halbes Leben innerhalb weniger Monate vergangen zu sein. Sie war nun eine verheiratete Frau, nicht zuletzt die zukünftige Lady Stockworth, und sie stand ihrer Mutter in nichts nach. Charlotte konnte Amalie von Winterberg nun auf Augenhöhe begegnen, und sie würde sich ihren Wünschen nie wieder beugen müssen.

Doch um ihre Gefühle ging es an diesem Tag nicht. Heute wollte sie ihren inneren Konflikten ihrer Tante zuliebe keinen Raum geben und erst recht nicht mit ihrer Mutter einen Streit vom Zaun brechen. Anna von Krenzes neues Domizil sollte von Licht und Lebensfreude und nicht von Zwistigkeiten erfüllt werden, sagte sie sich. Das imposante rote Backsteingebäude war dank Madame Blanches Betrügereien lang genug in Finsternis gehüllt gewesen.

»Mrs Stockworth.« Der Butler Douglas ließ sie mit einem strahlenden Lächeln ein. Dessen ehemaliger Dienstherr Lord Shanton war vor Kurzem betrunken die Treppen in seinem Stadthaus hinabgestürzt. Dr. Honeywell hatte nur noch seinen Tod feststellen können. Die Erleichterung seiner Dienstboten über den Tod des jähzornigen Hausherrn war aber nur von kurzer Dauer gewesen. Lord Shantons Patensohn, Sir Baxter Stapleton, war der Alleinerbe des kinderlosen Lords, und sein Ruf eilte ihm voraus. Er war genauso rücksichtslos wie Lord Shanton und zudem ein guter Freund Heinrichs von Burgfeld. Nur zu gern nahmen Douglas, das Dienstmädchen Ada und die Köchin Miss Patchett daher Anna von Krenzes Angebot an, bei ihr in Beauford House zu arbeiten.

»Es freut mich sehr, Sie zu sehen, Douglas.« Charlotte folgte ihm den Kiesweg entlang zur Haustür. »Wie ich höre, haben Sie, Ada und Miss Patchett sich mittlerweile gut hier eingelebt.«

»Das haben wir, Mrs Stockworth. Wir fühlen uns, als wären wir nach einem Albtraum in einer schönen neuen Welt aufgewacht. Es gibt keinen Hausherrn mehr, der seine Frau schlägt und uns wie Vieh behandelt.« Ein entschuldigender Ausdruck erschien in seinen Augen. »Es tut mir leid, Mrs Stockworth. Ich wollte nicht respektlos klingen, und man soll auch nicht schlecht über die Toten sprechen, und …«

»Es ist schon gut, Douglas«, beschwichtigte ihn Charlotte. »Dafür, die Wahrheit zu sagen, braucht man sich nicht zu schämen. Lord Shanton war ein bösartiger Mensch. Und auch wenn nicht er selbst es gewesen ist, der seine Frau getötet hat, hat er sie doch jahrelang bis aufs Blut gequält. Auch Sie und die anderen haben es verdient, anständig behandelt zu werden.«

»Ich danke Ihnen, Mrs Stockworth. Erst recht dafür, was Sie für Ada getan haben, nachdem Lord Shanton die Hand gegen sie erhoben hat. Ich hatte die Befürchtung, sie könne auf der Straße enden, dabei leistet sie gute Arbeit, ist ehrlich und zuverlässig«, setzte er sich für das Dienstmädchen ein.

»Und meine Tante weiß das sehr zu schätzen, Douglas«, versicherte sie ihm. »Ich nehme an, sie wartet schon auf mich?«

»Ja, Mrs von Krenze und Ihre Mutter sind im Salon. Ihre Tante hat großartige Ideen für Beauford House«, ließ er sie mit bewunderndem Unterton wissen.

»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, Douglas. Ihr Haus in Berlin war wunderschön eingerichtet«, erinnerte sich Charlotte. Das Domizil der von Krenzes war einer der wenigen Orte, an denen sie sich in ihrer Kindheit geliebt und wertgeschätzt gefühlt hatte. Damals hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als bei Tante und Onkel leben zu können. Zwischen Anna und Hermann von Krenze schien die Liebe zu herrschen, die ihren Eltern fehlte. Heute wusste Charlotte, dass die von Krenzes zwar die besten Freunde, jedoch niemals ein Liebespaar gewesen waren. Ihre Ehe hatte einzig und allein dem Zweck gedient, die Tatsache zu verschleiern, dass ihre Tante eine Frau und ihr angeheirateter Onkel einen Mann liebte.

»Charlotte! Wie schön, dass du da bist!«, rief ihre Tante erfreut, nachdem Douglas sie in den Salon geführt hatte. Auch Amalie von Winterberg lächelte, als sie sich an der Seite ihrer Cousine erhob, um Charlotte zu begrüßen. Zum ersten Mal, seit sie denken konnte, sah sie so etwas wie Lebensfreude in den Augen ihrer Mutter. In den wenigen Wochen seit ihrer Ankunft war sie regelrecht aufgeblüht. Aus einem Nachtschattengewächs war eine Rose geworden. Sie gab nicht vor, um ihren verstorbenen Mann zu trauern, der ihr niemals etwas bedeutet hatte, stellte Charlotte fest, und sie war froh darüber. Eine derartige Heuchelei hätte sie nicht ertragen. Ihre Mutter trug ein weißes Kleid mit bordeauxroten Streifen und einem gerafften Überrock im selben Farbton. Ganz allmählich schien die Frau zum Vorschein zu kommen, die sie schon immer hätte sein können, hätte sie vor Charlottes Geburt nur den Mut aufgebracht, mit Lord Hazelton alles hinter sich zu lassen.

»Du siehst wunderschön aus.« Amalie machte ein paar Schritte auf sie zu und musterte ihre Tochter wohlwollend. »Das Violett steht dir ausgezeichnet. Du hast wirklich einen hervorragenden Geschmack.«

»Den hatte ich schon immer, und jetzt kann ich ihn endlich zeigen.« So sehr Charlotte sich auch bemühte, bahnte sich die Bitterkeit in ihrem Inneren doch einen Weg an die Oberfläche. Ihre Mutter senkte rasch den Blick, und sie lenkte ein. »Dein Kleid ist ebenfalls wunderschön. Es freut mich sehr, dass du dich gut eingelebt hast.«

»Dein Vater tut alles, um es mir so angenehm wie möglich zu machen, obwohl ich …« Sie stockte.

»Ich wollte deiner Mutter gerade die Tapete zeigen, die mir für den Salon vorschwebt«, durchbrach Anna von Krenze das betretene Schweigen der beiden. Sie nickte ihrer Nichte sanft zu, und Charlotte wischte die Emotionen, die sie zu überwältigen drohten, vehement beiseite. »Ich möchte denselben oder wenigstens einen ähnlichen Farbton wie das Sofa, und …«