Tod in der Glaskugel - Jessica Müller - E-Book

Tod in der Glaskugel E-Book

Jessica Müller

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Beschreibung

London, 1865. Madame Blanche, das bekannteste Medium Londons, wird erdrosselt auf dem Friedhof Highgate gefunden. Somit bleibt für Inspector Basil Stockworth und seine Frau Charlotte keine Zeit für Flitterwochen, die Ermittlungen drängen, da der Fall in der Gesellschaft Wellen schlägt. Doch wie sich herausstellt, hatte nicht nur das Medium selbst, sondern auch seine Kundschaft viel zu verbergen. Charlotte erhält unterdessen Besuch von ihrer Tante – die ein lang gehütetes Familiengeheimnis lüftet.

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Jessica Müller

Tod in der Glaskugel

Ein viktorianischer Krimi

Für A. M.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Personenregister

Blanche Beauford, das bekannteste Medium Londons, warf die Decke zurück und schwang ihre Beine aus dem Bett. Trotz der frühen Uhrzeit war sie ausgeruht. Der Tag konnte für sie niemals früh genug beginnen. Sie dürfe ihr Leben nicht verschlafen, hatte ihre Mutter stets gemahnt. Sie müsse immer ein wenig früher auf den Beinen sein als alle anderen, wenn sie ihnen die entscheidenden Schritte voraus sein wollte. Ihre Mutter war eine hervorragende Lehrmeisterin gewesen. Dank ihr lebte Madame Blanche ihr Leben nicht einfach, sondern sie beherrschte es. Genauso wie das der Menschen in ihrer Umgebung. Und sie würde sich von niemandem das Zepter aus der Hand reißen lassen, schwor sie sich.

Sie schauderte in ihrem knöchellangen weißen Nachthemd, als sie barfuß zu ihrem Toilettentisch am Fenster ging, um eine Kerze anzuzünden. Das Schlafzimmer war wie jeden Morgen ausgekühlt. Sie zog die Vorhänge zurück und schlang die Arme um sich. Hampstead Heath, der Park, der sich fast vor ihrer Haustür erstreckte, war noch in Dunkelheit gehüllt. Madame Blanche schloss einen Moment lang die Augen, um sich auf den Tag und das vor ihr liegende Treffen vorzubereiten. Sie liebte den Nervenkitzel, den diese heimlichen Zusammenkünfte hervorriefen, und sie lächelte in sich hinein.

Sie ließ die Stille des Hauses einen weiteren Moment lang auf sich wirken und atmete tief ein und aus. Noch schlummerten die Dienstboten in ihren Kammern, und auch aus dem Schlafzimmer ihres Ehemanns Raymond direkt nebenan drang kein Laut an ihr Ohr. Sie genoss die Ruhe nach dem Aufstehen. Frühmorgens war ihr die Gegenwart anderer Menschen ein Gräuel, weshalb sie in den kalten Monaten sogar das Feuer im Kamin eigenhändig entfachte und sich stets allein ankleidete. Weder ihr Ehemann noch das Personal würden es wagen, sie vor dem Frühstück zu behelligen, denn sie wussten, wie viel ihr Metier ihr abverlangte. Trauernden Hinterbliebenen Nachrichten ihrer Liebsten aus dem Jenseits zu überbringen, war kein Spaziergang. Es war harte Arbeit, und jede Séance musste gut vorbereitet werden.

Das Medium wandte sich um und ging zum Kamin, um Feuer zu machen. Im April ließ der Frühling noch immer auf sich warten, und Madame Blanche versprach sich selbst, dem tristen Wetter schon bald für immer zu entfliehen. Kälte, Nebel und Regen deprimierten sie und beeinträchtigten an manchen Tagen gar ihre Arbeit. Es fiel ihr nicht leicht, ihr inneres Gleichgewicht zu halten, wenn dunkle Wolken den Himmel verdüsterten. Ein Umstand, gegen den sie mit aller Macht ankämpfte, denn ihre gut betuchte Klientel erwartete Souveränität und vollen Einsatz von ihr als Mittlerin zwischen den Welten.

Madame Blanche verausgabte sich täglich, um sich ihr Leben so angenehm wie möglich gestalten zu können. Schon von Kindesbeinen an hatte sie von ihrer Mutter gelernt, Menschen zu lesen, ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte aus ihnen herauszukitzeln, und ihr Wissen sodann für ihre eigenen Zwecke zu verwenden. Sie war unerschrocken, und sie ließ niemals ihr Ziel aus den Augen.

Blanche Beauford blickte sich wohlwollend in ihrem Schlafzimmer um. Das Himmelbett aus massivem Holz, den Kleiderschrank und den Toilettentisch hatte sie eigens für sich anfertigen lassen. Die Möbel und selbst die dunkelgrünen Samtvorhänge und Teppiche hatten ein kleines Vermögen gekostet. Das herrschaftliche Domizil, das ihr ein glücklicher Klient vermacht hatte und seit ihrem Einzug Beauford House genannt wurde, entpuppte sich als wahrer Glücksgriff für sie und ihren Mann. Als sie vor drei Jahren das erste Mal über die Schwelle getreten war, schien es sie willkommen zu heißen. Hampstead war zwar nicht Belgravia oder Mayfair, doch es war perfekt für sie und ihre Arbeit als Medium. Hier konnte sie diskret ihre wohlhabenden Kunden empfangen und ihre Séancen abhalten. Für die oberen Zehntausend war sie innerhalb kürzester Zeit zu einer wahren Wohltäterin avanciert. Nicht nur den armen Verstorbenen, sondern auch deren Angehörigen konnte sie Frieden schenken. Manches Mal aber kam sie nicht umhin, schlafende Hunde zu wecken, dachte sie berechnend. Denn wenn man ihre Hilfe suchte, bekam man am Ende immer, was man verdiente.

Madame Blanche wartete einige Augenblicke, bis sich wohlige Wärme im Raum ausgebreitet hatte, bevor sie sich das Nachthemd von den Schultern streifte, um sich zu waschen und anzukleiden. Für ihre morgendlichen Abstecher auf den Friedhof Highgate wählte sie stets ein hochgeschlossenes, schlichtes schwarzes Kleid, und ihr dichtes braunrotes Haar verbarg sie unter einem dazu passenden Hut mit schwarzem Schleier. Niemand sollte sie erkennen oder gar behelligen, wenn sie Hampstead Heath durchquerte oder zwischen den Grabsteinen und pompösen Grabmälern umherwandelte. Ganz London kannte schließlich ihr Gesicht, sprach von ihren allessehenden grauen Augen und den zahlreichen Sommersprossen, die ihre Stupsnase zierten und ihr diese gewisse kindliche Leichtigkeit verliehen. Ihr Erfolg beruhte nicht zuletzt auf ihrem unschuldigen und jugendlichen Aussehen, wusste Blanche. Manchmal war es ihr selbst fast unheimlich, wie spielend es ihr gelang, andere in ihren Bann zu ziehen. Auch wenn so mancher ihr Scharlatanerie unterstellte, galt Madame Blanche doch als eine Meisterin ihres Fachs, und niemand konnte ihr das Wasser reichen.

Sie öffnete die Schublade ihres Nachtkästchens und griff nach der Nachricht, die sie gestern Abend erhalten hatte. Sie faltete das Blatt Papier auseinander und warf nochmals einen prüfenden Blick auf die liegende Acht. Das Unendlichkeitssymbol schien ihr passend für die kryptischen Nachrichten, die sie in regelmäßigen Abständen erhielt, doch diese war dringlicher als die üblichen. Sie kaute einen Augenblick lang angespannt auf ihrer Unterlippe, bevor sie einem plötzlichen Impuls folgend die Nachricht wieder verschwinden ließ und nicht wie sonst in den Kamin warf. Kurz darauf schlüpfte sie aus ihrem Schlafzimmer und huschte die Treppen nach unten zum Dienstboteneingang, um das Haus unbemerkt zu verlassen.

Die Morgendämmerung setzte ein, als sie mit raschen Schritten durch den Park lief, denn sie durfte keine Zeit verlieren. Die Treffen waren riskant, und je schneller sie wieder zu Hause war, desto besser.

Außer Atem erreichte Blanche die Pforte des Friedhofs und huschte hinein. Nur einen Moment später hielt sie inne und fuhr herum. Sie glaubte, Schritte hinter sich gehört zu haben, doch ihre Augen konnten niemanden entdecken. Zwischen den Gräbern und den Mausoleen schien alles ruhig. Trotz der kühlen Witterung stieg mit einem Mal unangenehme Hitze in ihr auf. Sie zwang sich, weiterzugehen, und blieb erst am Grabmal der Fentons wieder stehen. Sie war Lady Felicia Fenton ein einziges Mal begegnet und erinnerte sich an den Argwohn in deren Augen. Sie gehörte zu den Zweiflern. Zu den Menschen, die ihr Metier verachteten.

Blanche Beauford war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie die Bewegung hinter sich zu spät wahrnahm. Ohne zu begreifen, wie ihr geschah, fühlte sie den sanften Luftzug, als eine Schlinge um ihren Hals geworfen und zugezogen wurde. Verzweifelt versuchte sie, sich zu wehren, doch es war vergeblich. Das Letzte, was sie im Morgengrauen ausmachen konnte, waren die Umrisse des Kreuzes auf dem spitzzulaufenden Dach des Mausoleums der Fentons. Dann wurde es dunkel um sie herum, und die Geister, die sie immer wieder gerufen hatte, begrüßten sie in ihrer Mitte.

KAPITEL 1

Charlotte Stockworth unterdrückte ein Gähnen und ging an der Seite ihres Ehemanns die Treppen im Haus ihrer Schwiegereltern, Lord Charles und Lady Henrietta Stockworth, hinunter. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das frischgebackene Ehepaar sein eigenes Heim, ein elegantes Stadthaus in Mayfair, beziehen konnte, denn die Renovierungsarbeiten in dem jahrzehntealten Gemäuer neigten sich dem Ende zu. Das Haus war ein Geschenk ihrer Schwiegereltern zu ihrer Hochzeit gewesen und gehörte einst einem entfernten Cousin ihres Schwiegervaters.

Charlotte konnte es kaum erwarten, in ihren eigenen vier Wänden zu leben. Sie liebte ihre Schwiegereltern, doch sie sehnte sich nach der Zweisamkeit mit ihrem Ehemann. Außerdem lag das Haus in direkter Nachbarschaft von Roisin O’Mahoneys Einrichtung für gefallene Frauen, wo Charlotte seit dem Tod ihrer ehemaligen Gouvernante Florence, zu der sie in der vergangenen Silvesternacht geflüchtet war, als Hauslehrerin arbeitete. Roisin wollte so vielen jungen Frauen wie möglich helfen, denn sie kannte die Gefahren der Straße aus eigener Erfahrung.

Charlotte blinzelte ungläubig, als Stockworth die Tür zum Esszimmer öffnete. Lord und Lady Stockworth saßen nicht wie erwartet allein am Frühstückstisch. Enthusiastisch riss sie sich von ihrem Mann los und machte einen kleinen Luftsprung vor Freude.

»Tante Anna! Wann bist du angekommen?«, rief sie und wäre beinahe über ihre Röcke gestolpert, als sie auf den Tisch zulief. Sie verdankte ihrer Tante viel. Anna von Krenze, die Cousine ihrer Mutter, hatte Charlottes Flucht vor der von ihrem Vater arrangierten Ehe mit Heinrich von Burgfeld nach Kräften unterstützt. Nur mit ihr war sie nach ihrer Ankunft in London in Kontakt geblieben.

Erst spät am vergangenen Abend waren Charlotte und ihr Mann aus Cornwall zurückgekommen, wo sie das Wochenende auf dem Landsitz der Familie an der Küste verbracht hatten. Die Nacht war daher kurz gewesen, und sie war nicht so ausgeschlafen wie sonst, aber der Anblick ihrer Tante weckte ihre Lebensgeister.

»Charlotte!« Von Krenze erhob sich und breitete die Arme aus. Sie trug ein dunkelgrünes hochgeschlossenes Kleid, und ihr grau meliertes dunkelbraunes Haar war sorgfältig nach oben gesteckt. Ihre blauen Augen strahlten, und ihre Nase und Wangen waren sanft gepudert. »Ich freue mich so, dich zu sehen! Ich bin gestern Nachmittag angekommen, aber ich war so müde von der Reise, dass ich schon auf meinem Zimmer war, als ihr beide aus Cornwall zurückgekommen seid. Und Henrietta meinte, wir sollten dich überraschen.« Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihre Nichte wohlwollend. »Du siehst wunderschön aus! Die Ehe scheint dir gut zu bekommen«, fügte sie mit einem schelmischen Grinsen hinzu.

»Das tut sie! Es kommt mir auch immer noch wie ein Traum vor«, lachte Charlotte, während Basil Stockworth ihre Tante begrüßte.

»Es freut mich sehr, die Tante meiner Frau endlich kennenzulernen.« Er beugte sich lächelnd über ihre Hand. »Die Reise war hoffentlich nicht allzu anstrengend?«

»Auf Schiffen werde ich immer seekrank, aber ich habe überlebt.« Ihre Tante wirkte so robust wie eh und je, fand Charlotte. »Erinnerst du dich an unsere Bootsfahrt auf der Spree, Charlotte? Du kannst damals nicht älter als zehn gewesen sein.«

»Oh, diesen Ausflug vergesse ich nicht!«, prustete sie. »Du hättest dich beinahe übergeben.«

»Nicht nur beinahe, Liebes. Weißt du das etwa nicht mehr?« Sie verdrehte die Augen. »Sobald ich auf dem Wasser bin, macht mein Magen, was er will. Ich werde also ganz sicher keine Bootsfahrt auf der Themse unternehmen. Sei das Wetter auch noch so schön.«

»Umso mehr weiß ich es zu schätzen, dass du die Reise auf dich genommen hast, um zu meiner Geburtstagsfeier zu kommen, Anna«, freute sich Lord Stockworth. »Deine Tante und deine Schwiegermutter schwelgen seit gestern Nachmittag auch schon in Erinnerungen, Charlotte.«

»Ach ja?« Sie blickte aufmerksam zwischen den beiden hin und her.

»Ich habe dir doch erzählt, dass ich als kleines Mädchen mit meinen Eltern meine Tante in Berlin besucht habe, und dort habe ich nicht nur deine Mutter, sondern auch ihre Cousine Anna kennengelernt«, sagte Lady Henrietta. »Mir kommt es fast so vor, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dass wir mit den Kindermädchen im Garten deiner Großeltern gespielt haben. Deine Mutter Amalie war damals aber noch sehr klein. Sie kann kaum älter als zwei oder drei gewesen sein«, kalkulierte sie.

»Dann war ich ungefähr vier oder fünf Jahre alt«, schätzte von Krenze.

Ein Strahlen erhellte Lady Stockworths Züge. »Ich sehe noch die Katzen vor mir, mit denen wir gespielt haben. Es waren schöne Tage damals.«

»Ja, das waren sie«, stimmte von Krenze ihr zu, bevor sie sich wieder an Charlotte und Stockworth wandte. »Es tut mir sehr leid, dass ich nicht rechtzeitig zu eurer Hochzeit hier gewesen bin«, bedauerte sie. »Ich wollte mich viel früher auf den Weg machen, wie ihr wisst, aber dann hatte ich doch noch einiges Unverhofftes zu regeln.« Sie holte tief Luft, und Charlotte konnte sehen, dass ihre Tante mit sich haderte. Sie wollte sich gerade erkundigen, ob alles in Ordnung sei, als von Krenze weitersprach. »Unter den gegebenen Umständen konntet ihr aber auf gar keinen Fall auf mich warten.«

Sowohl Lady Henrietta als auch Roisin hatten Charlotte und Stockworth gedrängt, sich schnellstens das Jawort zu geben. Ihr ehemaliger Verlobter Heinrich von Burgfeld wollte sich rächen, aber als Schwiegertochter von Lord Stockworth, einem der angesehensten Richter des Landes, und Ehefrau eines Inspektors bei Scotland Yard war Charlotte geschützt. Selbst von Burgfeld und seine einflussreichen englischen Freunde würden es sich nun sehr genau überlegen, ihr zu nahe zu kommen. Ihre Hochzeit mit Basil Stockworth fand daher vor gut drei Wochen nur in kleinem Kreis statt, doch Charlotte war dennoch überglücklich gewesen.

»Es war nötig, Anna«, bekräftigte Stockworth, als er und Charlotte ihren Platz am Tisch einnahmen. »Von Burgfeld ist zwar immer noch unberechenbar, aber zumindest weiß er jetzt, gegen wen er ins Feld zieht.« Er legte den Arm um seine Frau und drückte sie rasch an sich.

»Henrietta und Charles haben mir berichtet, was mit Johann passiert ist.« Selbstvorwürfe und Trauer standen Anna von Krenze ins Gesicht geschrieben. »Ich hätte für ihn und Lina mehr tun müssen. Ich …« Charlottes Freundin Lina, das frühere Dienstmädchen ihrer Eltern, hatte Charlotte ebenfalls bei ihrer Flucht geholfen und nach einer Rettungsaktion in letzter Sekunde bei Roisin Unterschlupf gefunden. Linas Mann Johann aber war von Burgfelds Schergen zum Opfer gefallen.

»Es ist nicht deine Schuld«, fiel Charlotte ihr sanft ins Wort. »Mach dir bitte keine Vorwürfe. Es reicht, wenn ich das tue.« Sie blinzelte die plötzlichen Tränen weg.

»Das Wichtigste ist, dass Lina jetzt in Sicherheit ist«, bemerkte Lord Charles Stockworth und nahm einen Schluck Tee. »Sie ist eine bemerkenswerte und mutige junge Frau. Wenn ich daran denke, was sie und ihr Mann auf sich genommen haben, um dir zu helfen, Charlotte, ziehe ich meinen Hut! Und obwohl es seinen Vater verloren hat, hat Linas Kind großes Glück. Und wir werden ihr bei allem helfen.«

»Ich möchte sie sobald wie möglich sehen.« Von Krenze nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Ich habe beschlossen, Vorkehrungen für sie und ihr Kind zu treffen. Wenn das Kleine nur halb so klug und aufgeweckt ist wie seine Eltern, dann möchte ich es fördern.«

»Es soll genauso aufwachsen können wie eines Tages unsere Kinder. Das ist das Mindeste, was wir für sie tun können«, sagte Charlotte. Jetzt war die Zeit gekommen, in der ihre Freundin sich auf sie verlassen konnte. »Lina wird sich sehr freuen, dich zu sehen.«

»Und ich möchte unbedingt diese Roisin kennenlernen.« Neugier schwang in von Krenzes Stimme. »Sie und ihre Einrichtung interessieren mich sehr. Es sollte viel mehr für diese armen Frauen getan werden, die sich an den Meistbietenden verkaufen müssen, um ein halbwegs erträgliches Dasein zu fristen«, nannte sie die traurige Tatsache beim Namen.

»Der Meinung bin ich auch«, gab Charlotte ihr recht, bevor sie das Thema wechselte. »Tante Anna, wie geht es Mutter? Hast du mit ihr in letzter Zeit gesprochen?«

»Ich habe es immer wieder versucht, Charlotte. Du kennst meine Hartnäckigkeit.« Von Krenze war eine starke Persönlichkeit, die zur Not auch mit dem Kopf voran durch die Wand ging. Sie und Charlottes Mutter hätten unterschiedlicher nicht sein können. »Es war schwierig, weil sie nach deiner Flucht und dem Selbstmord deines Vaters eine Weile wie betäubt war. Auch jetzt kann man kaum zu ihr durchdringen. Am Tag vor meiner Abreise habe ich sie noch einmal besucht und ihr gesagt, dass ich nach London reisen werde.« Sie blickte ihrer Nichte in die Augen. »Sie schämt sich, Charlotte. Sie bedauert ihr Leben, und dass sie es zu all dem hat kommen lassen. Es ist niemals leicht, die eigenen Fehler vor anderen zuzugeben, aber noch viel schwieriger ist es, sie sich selbst einzugestehen. Sie fürchtet, dass du ihr niemals verzeihen kannst, was sie getan hat.«

»Sie war so gleichgültig mir gegenüber, und sie hat die Augen vor allem verschlossen, was ihr unangenehm war. Sicher werde ich viel Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen, was passiert ist, aber vielleicht werden wir eines Tages …« Charlotte ließ den Satz unvollendet. Die widersprüchlichsten Gefühle tobten in ihr.

»Es ist der Mut, den du aufgebracht hast, alles hinter dir zu lassen und dich nicht zu beugen. Genau den hat sie nie in sich finden können. Und dafür straft sie sich nun selbst, weil sie euch beide unglücklich gemacht hat. Deine Mutter hat dir …« Ihre Tante holte tief Luft und senkte den Kopf.

»Tante Anna, was …«

»Lass uns später in Ruhe weiterreden, Charlotte«, schlug sie vor. »Wir werden in den nächsten Tagen noch ausreichend Gelegenheit dazu haben.«

Charlotte runzelte die Stirn und blickte ihre Tante nachdenklich an. Sie rätselte, worauf diese hinauswollte. Irgendetwas schien ihr auf der Seele zu brennen. Hatte ihre Mutter etwa ein Geheimnis, von dem sie nichts wusste? Seit ihrer Flucht aus Berlin hatte sie viel über Amalie von Winterberg nachgedacht, und Charlotte beschlich immer wieder das Gefühl, dass ihre Mutter sich für irgendetwas schämte. Manchmal hatte sie ihr kaum in die Augen sehen können, wenn Charlotte sich bei ihr über das Verhalten ihres Vaters beklagte. In diesen Augenblicken hatte sich das schlechte Gewissen ihrer Mutter in deren Körperhaltung und Mimik unübersehbar manifestiert. Steckte hinter ihren Schuldgefühlen am Ende mehr als nur das Unvermögen, die eigene Tochter zu schützen?

»Ich wüsste nur gern, was in Mutter vorgeht«, unternahm sie einen weiteren Versuch, ihre Tante aus der Reserve zu locken.

»Als dein Vater sich erschossen hat, und Amalie das Haus verlassen musste, war sie wie gelähmt.« Von Krenzes Antwort war noch immer ausweichend. »Ich habe ihr übrigens angeboten, bei mir zu wohnen, aber sie zog es vor, sich im Haus ihres Cousins zu verkriechen. Sie wollte sich vor der Welt und vor allem vor sich selbst verstecken. Deine Mutter meinte, ich würde sie zu sehr an ihr Versagen erinnern.« Ihre Stimme klang wie ein Hauchen.

»Ihr Versagen? Aber was …« Charlottes Wissensdurst blieb unbefriedigt, denn eine Kutsche kam vor dem Stadthaus der Stockworths zum Stehen. Pferde wieherten, und kurz darauf klopfte es mehrmals rasch aufeinanderfolgend an der Tür. Was auch immer das Anliegen des unangemeldeten Gastes sein mochte, es schien keinen Aufschub zu dulden.

»Erwartest du jemanden, Charles?«, erkundigte sich Lady Stockworth verwundert.

»Nicht, dass ich wüsste.« Lord Stockworth zuckte die Schultern, als Lawson, der Butler, gefolgt von einem Constable, den Raum betrat.

»Verzeihen Sie, Sir«, erklärte Lawson an den Inspektor gewandt. »Das ist Constable Hanley. Er muss Sie dringend sprechen.« Der junge Polizeibeamte wirkte aufgeregt. Er war bleich, und in seinen grünen Augen lag Entsetzen. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen, so als müsse er austreten. Seine Nasenflügel flatterten regelrecht, fand Charlotte, und sie fürchtete, er könne jeden Moment aus seinen Schuhen kippen.

»Was kann ich für Sie tun, Constable?« Stockworths Tonfall war beruhigend.

»Es tut mir sehr leid, Sie beim Frühstück zu stören, Inspektor, aber Lady Felicia Fenton schickt mich. Sie hat darauf bestanden, dass ich nur Sie benachrichtige. Sie hat mir sogar ihre Kutsche zur Verfügung gestellt«, kam es ehrfürchtig über seine Lippen, und Charlotte konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Dank Stockworths beschwichtigendem Auftreten schien der Constable sich ein wenig zu entspannen.

»Lady Fenton?« Lady Stockworth runzelte die Stirn. »Ist etwas passiert?«

»Allerdings, Mylady.« Der Constable schluckte. »Heute ist erst mein zweiter Tag, und ich war auf den Anblick weiß Gott nicht vorbereitet. Ich …«

»Beruhigen Sie sich, Constable.« Stockworth stand auf. Das Frühstück war für ihn zweifelsfrei beendet. »Erzählen Sie mir einfach, was geschehen ist.«

»Constable Stevens und ich kamen auf unserer Runde gerade am Friedhof Highgate vorbei, als Lady Fenton aus dem Eingang lief und auf uns zustürzte. Sie meinte, sie habe zu den Mausoleen ihrer Eltern und Schwiegereltern gehen wollen, und …«

»Wir verstehen, Constable«, unterbrach der Inspektor ihn sanft. »Ist Lady Fenton etwas zugestoßen?«

»Ihr nicht, aber dieser Madame Blanche. Sie wissen schon, sie …«

»Ist ein Medium«, vollendete Lady Stockworth seinen Satz.

»Richtig, Mylady. Lady Fenton hat sie am Grabmal ihrer Familie mit einem Strick um den Hals gefunden. Jemand muss sie erdrosselt haben.« Der junge Polizist hielt sich die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie, Inspektor, aber es ist heute das erste Mal, dass ich eine Leiche gesehen habe, oder besser gesagt, dass ich einen ermordeten Menschen aus nächster Nähe gesehen habe. Da war kein Leben mehr in ihren Augen, und …«

»Schon in Ordnung, Constable.« Der Inspektor klopfte dem jungen Mann nachsichtig auf die Schulter. »Glauben Sie mir, im Laufe der Zeit werden Sie sich an einen derartigen Anblick gewöhnen.« Stockworth wandte sich um. »Ihr müsst mich entschuldigen, aber ich werde umgehend nach Highgate fahren.« Er beugte sich zu Charlotte und gab ihr einen Kuss. »Mach dir einen schönen Tag mit deiner Tante.« Er lächelte. »Ihr beide habt euch bestimmt viel zu erzählen.«

»Das haben wir«, nickte Anna von Krenze und drückte die Hand ihrer Nichte.

»Constable, wir fahren über Whitehall, um Sergeant Bennett zu holen, und dann machen wir uns schnellstens auf den Weg zum Friedhof. Ich möchte Lady Fenton nicht länger als nötig warten lassen.«

»Jawohl, Inspektor.« Constable Hanley folgte Stockworth nach draußen.

»Wenn Madame Blanche tatsächlich ermordet worden ist, dann wird das sehr viel Aufsehen nach sich ziehen«, seufzte Lord Stockworth und griff nach seiner Tasse. »Basil wird bei seinen Ermittlungen in viele Wespennester stechen müssen.«

»Sie war ein Medium und hat Kontakt zu Verstorbenen aufgenommen?«, hakte Charlotte interessiert nach. Sie wusste, dass viele Menschen mit ihren Liebsten im Jenseits sprechen wollten und deshalb regelmäßig an Séancen teilnahmen. Sie selbst hielt das Ganze für Humbug und für eine perfide Art und Weise, mit den Hoffnungen der Trauernden zu spielen. Nicht zuletzt wurde Hinterbliebenen auf diese Weise viel Geld aus der Tasche gezogen.

»Sie hat angeblich Kontakt zu Verstorbenen aufgenommen«, stellte ihre Schwiegermutter richtig. »Ich will zwar nicht behaupten, dass es das Unerklärliche tatsächlich nicht gibt, aber wenn du mich fragst, war Madame Blanche eine geldgierige Betrügerin. Jeder kann schließlich behaupten, Stimmen zu hören oder etwas in einer Glaskugel zu sehen, was andere nicht sehen. Doch es gibt genügend Gutgläubige, die ihr in den letzten Jahren Unsummen in den Rachen geworfen haben.«

»Manchen Leuten fällt es schwer, loszulassen, und sie brauchen die Gewissheit, dass es den geliebten Angehörigen auf der anderen Seite gut geht und sie vor allem eines Tages wieder mit ihnen vereint sein werden«, bemerkte Anna von Krenze schulterzuckend. »Die Vorstellung, von den Liebsten nach dem eigenen Tod mit offenen Armen begrüßt zu werden, ist bei Weitem beruhigender als die Aussicht auf ein dunkles kaltes Nichts oder auch brütende Hitze in den Untiefen der Hölle.«

»Und die Sehnsucht vieler nach Gewissheit, was nach dem Tod auf uns wartet, hat dieses Medium schamlos ausgenutzt. Gut möglich, dass ihr das zum Verhängnis geworden ist«, mutmaßte Lord Stockworth.

KAPITEL 2

Nicht weit von Hampstead entfernt befand sich der parkähnlich angelegte Highgate Friedhof, dessen westlicher Teil im Mai 1839 durch den Lord Bishop von London eröffnet worden war. Elf Jahre später war schließlich die Osterweiterung des Friedhofs erforderlich geworden. Seine Entstehung beruhte auf dem Plan, sieben große Friedhöfe außerhalb des Stadtzentrums zu schaffen, da auf den innerstädtischen Gottesäckern, die meist an Kirchen angegliedert waren, der Platz nach und nach zu knapp geworden war. Laut Stockworths Freund Dr. Honeywell stellten die überfüllten Friedhöfe im Stadtkern außerdem ein gesundheitliches Risiko für die Einwohner dar, und viele Gläubige hielten die Bestattung auf engstem Raum ohnehin für eine Respektlosigkeit gegenüber den Verstorbenen. Auch Stockworth fand, dass die Würde des Menschen noch im Tod gewahrt werden sollte, und nicht zuletzt deshalb lag ihm seine Arbeit so sehr am Herzen. Dass ihn viele seiner Standesgenossen für den Weg, den er eingeschlagen hatte, argwöhnisch beäugten, daran hatte er sich längst gewöhnt. Scotland Yard genoss nicht den besten Ruf, und als adliger Inspektor erntete er immer wieder verächtliches Naserümpfen.

Stockworth und Sergeant Enoch Bennett stiegen aus der Kutsche und gingen auf das Tor am Eingang des Friedhofs zu. Auf einer Anhöhe mit Blick auf die Stadt gelegen, galt Highgate mittlerweile als einer der schönsten Friedhöfe in der Nähe Londons. Besucher gelangten durch die Swain’s Lane zu seiner im gotischen Stil gestalteten Pforte. Die breiten Kieswege führten zur Kirche St. Michael, und bei schönem Wetter ließ es sich dort gut und gerne eine Weile zwischen den beeindruckenden Grabsteinen flanieren. Besonders angetan war Stockworth stets vom Grabmal des Tierausstellers George Wombwell, der fast fünfzehn Jahre zuvor verstorben war, und dessen letzte Ruhestätte nun von einem großen Löwen bewacht wurde.

An diesem Morgen jedoch bahnten sich der Inspektor, Sergeant Bennett und Constable Hanley ihren Weg durch den Westteil des Friedhofs, ohne die Schönheit des Ortes auf sich wirken zu lassen. Sie erblickten Lady Felicia Fenton, Constable Stevens und den leblosen Körper zu ihren Füßen.

»Basil! Es tut mir sehr leid, dass ich dich bei diesem grässlichen Wetter so früh auf den Friedhof holen muss.« Lady Fenton blickte nach oben, als es zu nieseln begann. Wie immer bot sie einen adretten Anblick. Ihr schwarzes, von vereinzelten grauen Strähnen durchzogenes Haar war kunstvoll nach oben frisiert, und ihre Wangen waren sanft gepudert. Bis auf die attraktiven Lachfältchen war ihre Haut jugendlich und makellos. Lady Henrietta beneidete ihre Freundin um ihre, wie sie es scherzhaft nannte, straffe Elefantenhaut. Der Vergleich mit den grauen Giganten war mehr als nur passend, fand Stockworth, denn Lady Fenton war nach keinem noch so herben Schlag jemals zu Boden gegangen. So war sie nun zwar sichtlich erschüttert, eine Leiche gefunden zu haben, doch sie hielt sich, wie er erwartet hatte, aufrecht. Erleichterung flackerte in ihren blaugrauen Augen auf, kaum dass sie ihn gesehen hatte. Für gewöhnlich begrüßte sie ihre Freunde mit ihrem ansteckenden Lachen, doch an diesem Morgen war Fröhlichkeit unangebracht. Der schwarze Mantel, den sie über ihrem hochgeschlossenen schlichten braunen Kleid trug, unterstrich die düstere Atmosphäre. Sie blinzelte, als ein kühler Windstoß ihr ins Gesicht schnitt.

»Felicia, es tut mir sehr leid, dass es so lange gedauert hat. Du musst mittlerweile ganz durchgefroren sein«, sagte Stockworth. »Aber ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ich musste Sergeant Bennett noch in Whitehall abholen.« Er stellte die beiden einander vor.

»Trotz der unschönen Umstände freut es mich sehr, Sie kennenzulernen, Lady Fenton.« Sergeant Bennett beugte sich sogleich nach unten, um Madame Blanches leblosen Körper eingehend zu betrachten. Er hielt seinen dunkelbraunen Bowler-Hut fest, der drohte, ihm vom Kopf zu rutschen. Einzelne Strähnen seines schwarzen Haars blitzten unter der Krempe hervor.

»Mich ebenfalls, Sergeant.« Sie schlang zitternd die Arme um sich und deutete auf den reglosen Körper vor ihr auf dem Boden. »Was ich auch von Madame Blanche gehalten haben mag, derart hinterrücks getötet zu werden, hat sie nicht verdient.«

»Da stimme ich dir zu, Felicia. Aber wir werden dafür sorgen, dass ihrem Mörder ebenfalls die Schlinge um den Hals gelegt wird.«

»Ich werde zusammen mit den Constables erst einmal die Umgebung absuchen, Inspektor«, entschied Bennett. »Vielleicht finden wir etwas Aufschlussreiches.« Er gab den beiden Beamten entsprechende Anweisungen.

»Tun Sie das, Sergeant. Der Täter könnte Spuren hinterlassen oder etwas verloren haben«, hoffte Stockworth.

»Wie geht es deiner entzückenden Frau?«, erkundigte sich Lady Fenton, während sich die drei Polizisten an die Arbeit machten. »Es tut mir wirklich leid, dass ich dich ihr so früh am Montagmorgen abspenstig machen muss, aber ich hielt es für besser, dich und keinen deiner Kollegen zu rufen. Das hier riecht förmlich nach Skandal, Basil. Es ist sicher von Vorteil, wenn Madame Blanches illustre Klientel von ihresgleichen und nicht nur von einem einfachen Polizisten befragt wird«, schätzte sie, und Stockworth nickte zustimmend. Die gut betuchte Kundschaft des Mediums würde nicht freimütig aus dem Nähkästchen plaudern.

»Charlotte geht es sehr gut, und sie hat vollstes Verständnis«, versicherte er ihr. »Wie du weißt, habe ich eine Frau gefunden, die meine Arbeit versteht und unterstützt. Außerdem ist ihre Tante gestern Nachmittag aus Berlin angekommen. Die beiden haben sich viel zu erzählen. Sie wird mich also kaum vermissen«, grinste er, bevor er wieder ernst wurde. »Du hast Madame Blanche genau in dieser Position gefunden?«, vergewisserte er sich. Der Hut mit dem schwarzen Schleier war dem Opfer vom Kopf gerutscht, und die toten Augen starrten ins Leere. Er konnte kleine rote Punkte in ihren Augen erkennen. Dr. Honeywell hatte ihm vor einiger Zeit erklärt, dass diese Blutpünktchen typisch seien für Ersticken, Erwürgen oder Strangulation. Das Seil lag noch um ihren Hals und bot einen gespenstischen Anblick. Es war feige, jemanden auf diese Weise zu töten, dachte Stockworth abfällig. Man musste seinem Opfer nicht in die Augen sehen, und wenig Kraft reichte aus, um die Schlinge zuzuziehen. Vermutlich wäre auch eine Frau dazu in der Lage, überlegte er. Er durchsuchte die Taschen von Madame Blanches Mantel, doch es war ernüchternd. Bis auf ein Stofftaschentuch konnten seine Finger nichts ertasten.

»Genau so lag sie auf dem Boden, Basil. Ich habe nichts angefasst oder verändert«, beteuerte Lady Fenton. »Heute ist der Geburtstag meiner Schwiegermutter, und wie du weißt, besuche ich meine Angehörigen an den hohen Festtagen immer«, nannte sie ihm den Grund für ihren Abstecher auf den Friedhof. »Als ich auf das Mausoleum zuging, sah ich sie hier liegen. Ich habe sie sofort erkannt, immerhin bin ich ihr einige Male auf Empfängen begegnet. Sie war eine Schwindlerin, die von der Naivität ihrer Kunden profitiert hat, wenn du mich fragst. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie deshalb irgendjemanden sehr gegen sich aufgebracht hat.«

»Das mag durchaus sein, Felicia«, stimmte Stockworth ihr zu, während er sich wieder aufrichtete.

Bennett und die beiden Constables kamen von ihrer Suche zurück. Ihre Stimmung war gedrückt.

»Sie hatte offenbar nichts weiter bei sich, Inspektor.« Die Enttäuschung war dem Sergeant anzusehen. »Wir konnten weder eine Tasche noch ein Portemonnaie finden. Auch haben wir nichts entdeckt, was auf den Täter hindeuten könnte. Nicht einmal Fußspuren oder dergleichen.«

»Fast so, als hätte ein Geist sie ermordet«, rutschte es aus Constable Hanley heraus, und er schlug sich sogleich die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie, Inspektor, ich wollte damit natürlich nicht andeuten, dass ich glaube, dass …«

»Schon gut, Constable. Ich verstehe genau, was Sie sagen wollten«, beruhigte ihn Stockworth. »Wer auch immer sie getötet hat, könnte ihre Tasche, sofern sie eine bei sich hatte, natürlich an sich genommen haben«, gab er zu bedenken. Mochte es ein Raubmord gewesen sein?, überlegte er. Lady Fentons Einschätzung war richtig. Als Medium hatte sich Madame Blanche mit der Gutgläubigkeit und der Verzweiflung ihrer Klienten eine goldene Nase verdient. Hatte sie womöglich Geld oder Wertsachen bei sich gehabt? Und vor allem: Aus welchem Grund war sie so früh am Morgen auf dem Friedhof? Hatte das angebliche Medium mit verirrten Seelen Kontakt aufnehmen wollen?, fragte er sich kopfschüttelnd. Wie Lady Fenton betrachtete er Madame Blanches Metier als billigen Schwindel.

»Gut möglich, dass ihr Mörder sie bestohlen hat«, stimmte Bennett dem Inspektor zu und ging neben Madame Blanche in die Hocke. »Ihr Mörder muss sich von hinten an sie herangeschlichen haben, hat ihr die Schlinge um den Hals geworfen und zugezogen«, sprach er seine Theorie laut aus und richtete sich wieder auf.

»Wir müssen sie schnellstens zu Dr. Honeywell bringen. Dass er tatsächlich mit den Toten kommunizieren kann, weiß ich«, sagte Stockworth. Er hatte großen Respekt vor der Arbeit seines Freundes, die für seine Ermittlungen von unschätzbarem Wert war. »Außerdem müssen wir umgehend den Coroner benachrichtigen, dass wir es ganz offensichtlich mit einem Mord zu tun haben.« Er fasste einen Entschluss. »Sergeant, ich möchte, dass Sie den Transport von Madame Blanches Leiche überwachen und Coroner Davies informieren, sobald Sie sie Dr. Honeywell übergeben haben. Sie wissen, dass er heute im Krankenhaus arbeitet?«, vergewisserte er sich, und Bennett bejahte. Daraufhin wandte er sich an Lady Fenton. »Felicia, ich möchte deine Hilfsbereitschaft zwar nicht über Gebühr strapazieren, aber würdest du mich bei Madame Blanche absetzen? Ihr Haus ist schließlich nicht allzu weit von hier entfernt. Ich muss Madame Blanches Ehemann von ihrem Tod in Kenntnis setzen.«

»Selbstverständlich, Basil. Es ist doch nur ein Katzensprung.« Die Freundin seiner Mutter seufzte. »Ich beneide dich nicht um diese Aufgabe. Wie schaffst du es nur, Menschen diese schrecklichen Nachrichten zu überbringen?«

»Das gehört nun einmal zu meiner Arbeit, Felicia«, erinnerte er sie und machte eine selbstverständliche Handbewegung. »Ich wusste, worauf ich mich einlasse, wenn ich diesen Beruf ergreife. Sergeant, ich komme so schnell es geht zurück nach Whitehall. Richten Sie bitte Dr. Honeywell aus, dass ich ihn nach meinem Gespräch mit Madame Blanches Ehemann aufsuchen werde.« Mit einem Lächeln klopfte er Constable Hanley im Vorbeigehen auf die Schulter. Der junge Polizist hatte sich mittlerweile wieder gefangen. »Constable, Sie haben sich heute wacker geschlagen. Ich bin mir sicher, dass Sie schon bald ein sehr guter Polizist sein werden.«

»Danke, Inspektor.« Seine Züge erhellten sich, und Farbe schoss in seine Wangen. Mit dem Lob schien er nicht gerechnet zu haben.

»Du bist ein wirklich guter Mensch, Basil«, flüsterte ihm Lady Fenton zu, als sie den Friedhof verließen. »Der arme Junge war vorhin ganz außer sich. Ich hatte schon Angst, er müsse sich zwischen den Grabsteinen übergeben.«

»Du musst bedenken, dass heute erst sein zweiter richtiger Tag im Polizeidienst ist, und schon stolpert er über sein erstes Mordopfer. Und dann handelt es sich auch noch ausgerechnet um ein stadtbekanntes Medium. Das muss man erst einmal verdauen, Felicia. Aber nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, hat er sich äußerst professionell verhalten. So etwas weiß ich zu schätzen.«

Lady Fenton drückte lächelnd seinen Arm und nannte dem Kutscher Madame Blanches Adresse.

Es dauerte nicht lang, bis die Pferde vor Beauford House in Hampstead wiehernd zum Stehen kamen. Der Inspektor verabschiedete sich von Lady Fenton und ging auf das Eingangstor vor dem roten Backsteinhaus zu. Die meisten wohlhabenden Londoner zogen es zwar vor, in Belgravia oder Mayfair zu leben, da sich diese Stadtviertel näher am Zentrum befanden, aber die Lage von Madame Blanches Domizil war dennoch gut gewählt. Fernab des Trubels der Metropole konnte das Medium in elegantem Ambiente diskret ihre gut betuchte Klientel empfangen. Der Inspektor war davon überzeugt, dass nicht wenige ihrer Kunden die etwas abgeschiedene Lage wertschätzten. Stockworth war zu Ohren gekommen, dass selbst der eine oder andere Wissenschaftler an die Existenz von Geistern glaubte und sich von Übernatürlichem fasziniert zeigte. Oftmals wurden diese Gelehrten deshalb zum Gespött ihrer Kollegen, und sollte einer von ihnen aller Häme zum Trotz doch die Dienste eines Mediums in Anspruch nehmen wollen, konnte er das hier unbehelligt tun, dachte Stockworth, während er darauf wartete, dass ihm Einlass gewährt wurde.

»Was auch immer Ihr Anliegen ist, Sir, Madame Blanche empfängt Hilfesuchende ohne vorherige Anmeldung nicht vor elf Uhr vormittags«, erklärte ihm der Butler ohne Umschweife, als er sich mit raschen Schritten dem Tor näherte. Seine dunklen Augen blickten ihn abweisend an. Mit einer ungehaltenen Geste strich er sich eine ergraute Haarsträhne aus der Stirn, als ein sanfter Wind aufkam. »Ich habe diesbezüglich strikte Anweisungen und möchte Sie daher bitten, entweder eine Nachricht zu hinterlassen oder später wieder …«

»Ich bin Inspektor Basil Stockworth«, fiel er ihm ins Wort, »und ich bin wegen Madame Blanche hier. Ich muss unverzüglich mit ihrem Ehemann sprechen. Es duldet keinen Aufschub. Lassen Sie mich bitte eintreten.«

»Inspektor?« Die Augen des Butlers weiteten sich, und er zog das Tor auf, um ihn einzulassen. »Ist etwas passiert?«

»Das möchte ich mit Madame Blanches Mann unter vier Augen besprechen.«

»Ich bringe Sie zu ihm. Hier entlang, Inspektor.« Furcht zeigte sich in den Gesichtszügen des Butlers.

Stockworth folgte ihm den Kiesweg hinauf zum Haus und durch den holzvertäfelten Eingangsbereich ins Esszimmer. Der Raum war fast noch größer als das Esszimmer seiner Eltern, und dank der hohen Fenster war er an schönen Tagen gewiss sonnendurchflutet. Bis auf die dunklen Möbel bestimmten helle Farben die Atmosphäre. Vorhänge und Teppiche waren farblich auf die hellgrüne Tapete mit dem weißen Blumenmuster abgestimmt, und über dem Esstisch hing ein kristallener Kronleuchter. Die Einrichtung musste ein kleines Vermögen verschlungen haben. Madame Blanches Metier war einträglich.

Der Ehemann des Mediums blickte von seinem Teller auf. Seine fast schwarzen Augen sahen Stockworth mit Erstaunen entgegen, und er erhob sich stirnrunzelnd. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen ergraut, doch seine Erscheinung war jugendlich. Er war fast so groß wie der Inspektor und von muskulöser Statur. Seine Wangen waren glattrasiert. Stockworth fiel auf, dass ein Glied am kleinen Finger seiner rechten Hand fehlte. Zwar hätte es den Ermittler in ihm interessiert, zu erfahren, wie es zu dieser Verstümmelung gekommen war, doch er war aus einem anderen Grund hier.

»Sir, das ist Inspektor Stockworth. Er meinte, es gehe um Ihre Frau, und es sei dringend.« Der Butler wirkte angespannt. Das unverhoffte Erscheinen des Inspektors verhieß nichts Gutes.

»Danke, Ludlow. Sie können vorerst gehen. Ich werde Sie rufen, falls ich Sie brauche.« Er wartete, bis der Diener verschwunden war, bevor er zögerlich auf Stockworth zukam, als wäre dieser ein aggressiver Löwe, der sich jeden Moment auf ihn stürzen würde. Seine Nasenflügel blähten sich nervös. »Ich bin Raymond Lorrimer«, stellte er sich vor. »Als die Tür aufging, dachte ich, Sie wären meine Frau. Blanche sollte eigentlich längst zurück sein. Sie erscheint nie zu spät am Frühstückstisch. Auf diese gemeinsame Zeit am Morgen legen wir beide sehr viel Wert. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Ich schlage vor, Sie setzen sich, Sir«, bat Stockworth ihn leise.

»Sicher.« Lorrimer fuhr sich nervös mit der Zunge über seine Lippen, und seine Bewegungen wirkten fahrig. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« Er deutete auf das unberührte Frühstücksgedeck seinem Platz gegenüber. »Wenn meine Frau kommt, lasse ich einfach ein frisches Gedeck für sie bringen, und …« Mit einem Blick in Stockworths Gesicht verstummte Lorrimer und schluckte. »Warum sind Sie hier, Inspektor?« Seine Hände begannen zu zittern.

»Sir, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau heute Morgen auf dem Friedhof in Highgate tot aufgefunden worden ist. Es tut mir sehr leid.«

»Was?« Die Farbe wich aus seinem Gesicht, und er sank auf seinen Stuhl. »Sie sagen, Blanche ist … Aber das … Ich meine, wie …«, stammelte Lorrimer, bevor er sich verzweifelt die Faust vor den Mund hielt.

»Allem Anschein nach ist Ihre Frau keines natürlichen Todes gestorben.« Stockworth zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Er ließ Madame Blanches Ehemann nicht aus den Augen. »Ganz offensichtlich ist sie von jemandem erdrosselt worden. Die Schlinge lag noch um ihren Hals, als man sie gefunden hat. Sie muss nun genauestens von einem Arzt untersucht werden.«

»Sie ist erdrosselt worden? Und jetzt wird sie aufgeschnitten?«, entfuhr es Lorrimer entsetzt.

Stockworth überraschte seine Reaktion nicht. Viele Angehörige von Mordopfern hielten es für eine Art von Leichenschändung, wenn Mediziner den Getöteten mithilfe des Skalpells ihre letzten Geheimnisse entlocken wollten.

»In Fällen wie diesem ist eine genaue Untersuchung leider unvermeidlich, Sir. Mein Partner Sergeant Bennett wird außerdem den Coroner benachrichtigen. Es wird also eine Anhörung geben.«

»Ich möchte Blanche sehen, ich … ich muss sie …«, brach es mit zitternder Stimme aus ihm heraus. »Ich kann das nicht glauben«, flüsterte er. »Wer würde denn …«

»Das werden wir herausfinden, Sir«, versprach Stockworth. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um den Mörder Ihrer Frau zu finden und seiner gerechten Strafe zuzuführen, aber jetzt ist es wichtig, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten. Je mehr Sie mir sagen können, desto einfacher gestalten sich unsere Ermittlungen. Verstehen Sie das?«, vergewisserte sich Stockworth.

Der Schock stand Lorrimer ins Gesicht geschrieben, doch er nickte kaum merklich.

»Ich kann das einfach nicht glauben«, wiederholte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meine Blanche nie wieder sehen werde. Es ist mir unbegreiflich, dass jemand ihr so etwas antun konnte!« Er kniff die Augen zusammen und atmete einige Male tief ein und aus. »Ich werde versuchen, Ihnen so gut es geht zu helfen. Sie müssen denjenigen finden, der sie getötet hat, Inspektor! Sie hat Menschen mit ihrer Gabe doch immer nur helfen wollen!«, betonte er fassungslos. »Das hat sie nicht verdient.«

»Wir werden denjenigen finden, Sir. Der Mörder Ihrer Frau wird nicht davonkommen«, verstieß Stockworth wie schon vorhin gegen seine eigene Regel, niemals Versprechungen zu machen, von denen er nicht wusste, ob er sie würde erfüllen können. »Können Sie mir sagen, ob sie vielleicht irgendwelche Feinde hatte? Gibt es jemanden, der nicht gut auf sie zu sprechen ist?«

»Wo denken Sie hin, Inspektor?« Lorrimer schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie ich gerade sagte, wollte sie anderen immer nur helfen! Meine Blanche war ein Engel! Sie hatte diese wundervolle Gabe, mit der sie sowohl den Verstorbenen als auch den Hinterbliebenen Trost spenden konnte. Unzählige gequälte Seelen haben dank ihr Frieden gefunden. Sie hat das Leben vieler nicht nur erträglich gemacht, sondern sogar bereichert! Es ist unvorstellbar, dass auch nur irgendjemand …« Seine Stimme versagte.

»Ich weiß, dass das sehr schwer für Sie sein muss, Sir, aber fällt Ihnen wirklich niemand ein? Gibt es vielleicht doch den einen oder anderen Hilfesuchenden, den sie in irgendeiner Weise verärgert hat? Mit der unerfreulichen Botschaft eines Verstorbenen womöglich?«

Der Witwer senkte den Kopf und schwieg einen Moment. Stockworth konnte sehen, wie er mit sich haderte.

»Sir?«, half er ihm in sanftem Tonfall auf die Sprünge.

»Wissen Sie, Inspektor, wenn jemandem eine solche Gabe in die Wiege gelegt wird, dann bringt das leider auch Neid und Missgunst mit sich«, begann Lorrimer schließlich. »Es gibt Menschen, die Blanche um ihre Fähigkeiten beneidet haben, und manche versuchten, sie schlechtzumachen, indem sie das Gerücht in die Welt gesetzt haben, sie sei eine Schwindlerin. Das ist aber nichts weiter als eine haltlose Unterstellung und Rufmord!« Er schnaubte verächtlich. »Sir Albert Langston hat erst vor Kurzem noch behauptet, dass es mit einer Betrügerin wie ihr eines Tages ein schlimmes Ende nehmen würde.«

Stockworth nickte. Sir Albert Langston war einer der bekanntesten Naturforscher des Landes und scharfer Kritiker