Tod hinter der Maske - Jessica Müller - E-Book

Tod hinter der Maske E-Book

Jessica Müller

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Beschreibung

Charlotte von Winterberg flieht aus ihrem Berliner Elternhaus nach London, um einer arrangierten Ehe zu entgehen. Dort übernimmt sie eine Stelle als Hauslehrerin in einer Einrichtung für gefallene Frauen. Auf einer Spenden-Soiree wird einer der Unterstützer des Instituts, Sir William May, vergiftet. Der junge und unkonventionelle Inspector Basil Stockworth übernimmt den Fall. Um mehr über Sir Williams Familie herauszufinden, vermittelt er Charlotte eine Stelle als Gouvernante im Haus des Verstorbenen. Dort erkennt sie rasch, dass jeder der Mays etwas zu verbergen hat.

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Ähnliche


Jessica Müller

Tod hinterder Maske

Ein viktorianischerKrimi

Für meine Großeltern

Inhalt

Berlin, 31. Dezember 1864

1. Kapitel: London, März 1865

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel: Wien

16. Kapitel: London

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Danksagung

Berlin, 31. Dezember 1864

Die züngelnden Flammen des Kaminfeuers warfen düstere Schatten an die Wand. Charlotte von Winterberg entzündete tief in Gedanken versunken die Kerzen auf ihrem Nachttisch. Bald schon musste sich die Tochter des Hauses zurechtmachen. Sie fröstelte, als sie aus dem Fenster blickte. Unzählige Schneeflocken tanzten im eisigen Wind, der seit Tagen um die Häuser fegte.

Im Haus herrschte aufgeregtes Treiben. Die Vorbereitungen für das Silvesterdinner waren in vollem Gange. Aus dem Salon drang Stimmengewirr nach oben, und Dienstboten liefen die Treppen auf und ab. Ihre Eltern wollten mit einigen Gästen das neue Jahr begrüßen.

Das neue Jahr. Charlotte seufzte und ging unruhig auf und ab. Es sollte ihr Schicksalsjahr werden. Ein Schicksal, das sie nicht bereit war hinzunehmen. Hitze stieg in ihr auf, und ihr Korsett drohte, ihr die Luft abzuschnüren. Ihr Blick fiel auf das glänzende roséfarbene Kleid auf ihrem Bett. Die Farbe schmeichle ihrem Teint, fand ihre Mutter.

Beim Anblick des Kleides zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, und Charlotte schloss einen Moment lang die Augen. Wie viel doch von dieser letzten Nacht des Jahres abhing! Sie barg Gefahr und Hoffnung zugleich.

Nicht nur der Beginn des neuen Jahres sollte an diesem Abend gefeiert werden, sondern auch Charlottes Verlobung mit Heinrich von Burgfeld. Ihr Vater hatte sich so sehr einen Sohn, einen Stammhalter, gewünscht. Die Geburt seiner einzigen Tochter war eine Enttäuschung gewesen, doch zumindest konnte er sie gut verheiraten, hatte er ihr erklärt, als sie gegen seine Entscheidung aufbegehrte. Die Verbindung mit den reichen von Burgfelds bedeutete die Überwindung seiner finanziellen Engpässe. Das einst stattliche Vermögen der von Winterbergs gehörte längst der Vergangenheit an. Charlottes Vorschlag, als Hauslehrerin für sich selbst zu sorgen, stieß bei ihrem Vater auf taube Ohren. Heinrich von Burgfeld begehrte sie und wollte sie besitzen. Und ihr Vater verkaufte sie nur allzu gern an diesen Meistbietenden, dachte sie bitter.

Die von Burgfelds, eine wohlhabende Bankiersfamilie, besaßen Einfluss und Macht, die sie nun schon seit Generationen missbrauchten, wusste Charlotte. Wie seinen Vater, so flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, zog es auch Heinrich in die Freudenhäuser und dunklen Ecken der Stadt. Er trank und behandelte seine Untergebenen wie Vieh. Und was wäre sie als seine Ehefrau schon anderes als seine Untergebene, schoss es ihr durch den Kopf. Was ihre Eltern als gute Partie und standesgemäße Heirat ansahen, war doch in Wahrheit nichts anderes als eine lebenslange Knechtschaft.

Charlotte atmete tief ein und aus. Wie schon unzählige Male an diesem Tag ging sie auf die Knie, um nach der heimlich gepackten Tasche unter ihrem Bett zu sehen. Ihr blieb keine andere Wahl, dachte sie, als sie sich wieder erhob und zum Fenster ging. In dieser Nacht bot sich ihr die einzige Möglichkeit, ihrem Schicksal zu entkommen. Und bei Gott, sie würde sie nicht ungenutzt verstreichen lassen!

Charlotte zuckte zusammen, als die Uhr im Salon zur vollen Stunde schlug. Es war fünf Uhr. In zwei Stunden würden die Droschken vorfahren. Darunter auch die der von Burgfelds. Wenigstens ein letztes Mal musste sie die Gegenwart ihres Verlobten ertragen.

Die junge Frau fuhr herum, als es klopfte und einen Moment später die Tür von außen geöffnet wurde.

»Lina, wo warst du nur so lange? Warum kommst du erst jetzt?« Sie stürzte auf das verschmitzt lächelnde Dienstmädchen zu. Der Winterwind hatte ein verwegenes Rot auf ihre Wangen gezaubert, und ihre fast schwarzen Augen blitzten abenteuerlustig. Zerzauste dunkelbraune Locken umrahmten ihr Gesicht.

»Sie hatten doch nicht etwa Angst, ich hätte es mir anders überlegt, Fräulein Charlotte?« Sie zwinkerte ihr zu. In ihrer Stimme lagen Mut und Entschlossenheit. Charlotte von Winterberg hätte sich keine bessere Verbündete wünschen können. »Sie ahnen ja nicht, was in der Stadt los ist! Es ist tatsächlich wahr, was die Leute sagen«, kam es staunend über ihre Lippen. »Das Silvestertreiben in den Straßen wird von Jahr zu Jahr ungezügelter. Das ist gut für uns. Heute Nacht werden so viele Menschen unterwegs sein, dass keiner weiter auf uns achten wird. Wir werden einfach mit der Menge verschmelzen, und wenn man Ihre Abwesenheit entdeckt, sind wir längst über alle Berge.«

»Ich wusste, dass dieser Abend der richtige Moment ist«, flüsterte Charlotte und drückte die Hand des Dienstmädchens, das ihr im Lauf der Jahre eine Freundin geworden war. Der Abschied würde schwerfallen.

»Das ist er ganz bestimmt. Aber jetzt sollten wir keine Zeit verlieren. Ich werde in der Küche erwartet, und die Köchin wird mich umbringen, wenn ich ihr nicht bald zur Hand gehe. Sie sind noch immer fest entschlossen, heute Nacht aus Berlin zu verschwinden?«, vergewisserte sich Lina.

»Noch nie zuvor war ich mir einer Sache so sicher«, entgegnete Charlotte mit fester Stimme. »Ich habe nicht vor, Heinrich von Burgfeld zu heiraten oder auch noch einen Tag länger mit meinen Eltern am Tisch zu sitzen! Ich werde niemals so enden wie meine Mutter. So gedemütigt und trotz allem so gleichgültig.«

»Gut. Mein Johann wird um elf am Dienstboteneingang auf uns warten. Die anderen werden alle Hände voll zu tun haben und nicht auf uns achten, wenn wir uns heimlich aus dem Haus schleichen. Wir werden noch vor Mitternacht die Stadt verlassen. Es ist alles vorbereitet«, versicherte sie. »Sie werden sicher nach England gelangen. Haben Sie Vertrauen. Es wird alles gut.«

»Dann werde ich rechtzeitig Kopfschmerzen vorschützen und mich zurückziehen«, nickte Charlotte. »Aber was ist mit dir und Johann? Sollte man euch je auf die Schliche kommen, dass ihr mir geholfen habt, dann … Die von Burgfelds werden …«

»Machen Sie sich keine Sorgen um uns, Fräulein Charlotte.« Lina lächelte. »Wir gehen nach Wien. Er wird dort bei einem Bäcker arbeiten. Sein Onkel hat ihm die Stelle vermittelt. Niemand wird uns finden. Vergessen Sie nicht: Lina Wolff verfügt über mehr Leben als eine Katze. Ich weiß meine Spuren zu verwischen.« Lina bückte sich nach der Tasche, die sie bei sich hatte. Sie kramte einen dicken Umschlag hervor. »Das ist von Ihrer Tante. Sie lässt Sie herzlich grüßen und wünscht Ihnen nur das Allerbeste. Sie sollen niemals den Mut verlieren. Wie versprochen hat sie Referenzen für Sie ausgestellt – oder vielmehr für Violet Lewis. Auch ein wenig Geld liegt bei. Es tut ihr sehr leid, dass sie Ihnen nicht mehr helfen kann, und sie möchte, dass Sie ihr eine Nachricht zukommen lassen, sobald Sie in London angekommen sind.« Das Dienstmädchen beugte sich erneut nach unten über die Tasche. »Das Kleid sollten Sie tragen, um nicht aufzufallen. Denken Sie an Ihren schlichten schwarzen Mantel. Noch bevor die Nacht vorbei ist, werden Sie keine Tochter aus adligem Hause mehr sein. Das hier sind Ihre Ausweisdokumente.« Sie griff in ihre Manteltasche.

»Du hast dein Wort tatsächlich gehalten.« Charlotte drückte dankbar Linas Hand. »Wie …«

»Stellen Sie niemals Fragen, deren Antwort Sie nicht kennen möchten. In dem Leben, das vor Ihnen liegt, gelten andere Spielregeln. Vergessen Sie das niemals, Fräulein Charlotte.«

»Nenn mich bitte Violet.« Die junge Frau blickte ihr fest in die Augen. »Charlotte von Winterberg wird in den Wirren dieser Silvesternacht verschwinden.«

1. Kapitel

London, März 1865

Das Wetter in der britischen Hauptstadt wurde seinem zweifelhaften Ruf gerecht. Der Himmel war grau und wolkenverhangen, und noch immer erschwerten frühmorgens dichte Nebelschwaden die Sicht. Charlotte von Winterberg hatte schnell gelernt, das Haus niemals ohne Schirm zu verlassen. Zu groß war die Gefahr, in einen heftigen Regenguss zu geraten. Durchnässte Röcke, die an ihrem Bein haften blieben und das Gehen erschwerten, waren der jungen Frau ein Gräuel.

Doch trotz der launischen Witterung zog es sie jeden Nachmittag in den Hyde Park. Diese Momente der Stille brauchte sie, um den herben Verlust zu verarbeiten.

Charlotte seufzte und blickte nach unten in das Wasser des Serpentine. Sie liebte den künstlich angelegten See, der doch so natürlich wirkte, und an dessen Ufer vor mehr als zehn Jahren die erste Weltausstellung stattgefunden hatte. Noch vor Kurzem hatte sie gemeinsam mit ihrer ehemaligen Hauslehrerin Florence Clarke auf der Brücke gestanden, um frische Luft zu schnappen und die Schönheit des Parks auf sich wirken zu lassen. Eine Ewigkeit schien seither vergangen zu sein, und sie erinnerte sich traurig an die Nacht, in der sie bis zum Schluss an Florence’ Bett gesessen hatte.

Schon wenige Wochen nach Charlottes Ankunft in London war ihre geliebte Hauslehrerin erkrankt. Noch immer konnte sie sie husten hören. Was als scheinbar harmlose Erkältung begonnen hatte, war letztlich zu einer Lungenentzündung geworden, gegen die Florence vor wenigen Tagen den Kampf verloren hatte.

Charlotte atmete tief ein und aus und riss sich vom Anblick des Sees und des Parks los. Es war längst an der Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Sie musste sich trotz ihrer Trauer auf den vor ihr liegenden Abend vorbereiten. Auch wenn sie der Verlust noch so sehr schmerzte, das Leben ging weiter, und sie musste unbeirrt dem Weg folgen, den sie in der Silvesternacht eingeschlagen hatte.

Charlotte erschrak, als ein Junge sie beim Verlassen des Parks so heftig anrempelte, dass ihr Regenschirm zu Boden fiel. Wie der Blitz hastete er an ihr vorbei, und sie konnte nicht einmal einen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Prüfend griff Charlotte in ihre Manteltasche. Die wenigen Münzen, die sie beim Verlassen des Hauses mitgenommen hatte, waren noch da. Florence hatte sie gleich bei ihrer Ankunft vor Taschendieben gewarnt. Mit ihren raffinierten Fingern erleichterten auch Kinder die Unachtsamen um ihr Geld, wenn ihnen der Magen knurrte, hatte sie traurig hinzugefügt. Flink wie Wiesel entglitten sie meist den Fingern der Gesetzeshüter.

Eine kühle Windböe schnitt Charlotte ins Gesicht, und Tränen schossen in ihre Augen. Sie blieb einen Augenblick stehen, um in ihrer Manteltasche nach einem Taschentuch zu kramen. Sie horchte auf, als erzürnte Stimmen an ihr Ohr drangen. Wenige Schritte von ihr entfernt standen sich zwei vornehm gekleidete Gentlemen mit geballten Fäusten gegenüber. Charlottes Herzschlag beschleunigte sich, als sie in die wutverzerrten Züge eines der Kontrahenten blickte. Ein zorniges Feuer loderte in seinen Augen, und er stieß seinen Gegner so unwirsch von sich, dass diesem der Hut vom Kopf rutschte. Fluchend bückte er sich, um ihn aufzuheben.

»Ich weiß sehr gut, was hinter meinem Rücken getrieben wird! Und das wird jetzt aufhören! Sonst …«. Er hob drohend die Faust, während der andere sich mit seinem Hut in der Hand wieder aufrichtete. Charlotte senkte rasch den Kopf und huschte eilends an den Streithähnen vorbei.

Die beiden Männer waren vergessen, als die eleganten Stadthäuser Mayfairs in Sichtweite kamen, und die ersten Regentropfen auf den Asphalt prasselten.

Gerade noch geschafft, dachte sie mit einem Blick nach oben, als die Tür ihres neuen Zuhauses auf ihr Klopfen hin geöffnet wurde.

»Ich fürchte, ich habe mich ein wenig in der Zeit verschätzt, Ian«, begrüßte sie Ian Boyle, der ihr Schirm, Hut und Mantel abnahm. Der dunkelhaarige Hüne, vor dem die Menschen instinktiv zurückwichen, wenn er eine grimmige Miene aufsetzte, war nicht nur die rechte Hand ihrer neuen Arbeitgeberin, sondern auch deren Vertrauter. Charlotte fühlte sich sicher in seiner Gegenwart. Boyle könnte gewiss auch Heinrich von Burgfeld in die Flucht schlagen, wenn nötig.

»Die paar Minuten sind kaum der Rede wert«, entgegnete er lächelnd und blickte dann mit einer angewiderten Grimasse zum Himmel. Sein schwarzes Haar war wie immer perfekt gekämmt, und seine Wangen glatt rasiert. Der schwarze Anzug saß wie angegossen, und die dazu passenden Schuhe glänzten. Fleur Fatale, die Hausherrin, legte großen Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild ihrer Angestellten. Erst recht auf ihren Soireen oder Bällen, dachte Charlotte ein wenig nervös. »Aber es ist gut, dass du zurück bist. Der Regen wird wieder heftiger, und Fleur möchte unbedingt wegen der Soiree heute Abend mit dir sprechen, Violet.«

»Ich weiß.« Sie ließ ihre Mundwinkel zuversichtlich nach oben wandern.

Violet. Mittlerweile hatte sich Charlotte an ihren neuen Namen gewöhnt. Sie erinnerte sich, wie sie in der vergangenen Silvesternacht das roséfarbene Kleid eilends von ihren Schultern gestreift hatte. Sie hatte beinahe fühlen können, wie ihr altes Leben an dem glänzenden Stoff haften geblieben war.

Sie blickte rasch an sich hinunter. In dem einfachen schwarzen Kleid erkannte sich Charlotte selbst kaum wieder. Und das war gut so. Nie wieder würde sie in eines der edlen Kleider schlüpfen, die ihre Mutter für sie auswählte. Roben, deren zarter Stoff ihrer Haut schmeichelte, und die ihr doch die Luft zum Atmen nahmen.

Charlotte verdrängte die Erinnerung an ihr früheres Leben, als ihr Blick auf einen Strauß dunkelroter Rosen fiel. Es waren ihre Lieblingsblumen. Als kleines Mädchen hatte sie oft von ihrem Traumprinzen geträumt, der ihr einen Strauß roter Rosen überreichen und ihr die Welt zu Füßen legen würde. Heute aber wollte sie die Welt aus eigener Kraft erobern.

»Die Blumen der Liebe.« Die Stimme ihrer Arbeitgeberin holte sie aus ihren Gedanken. Fleur Fatale kam lächelnd die Treppen hinunter. Ihr Anblick war wie immer atemberaubend. Sie trug ein weinrotes Kleid, das ihre schlanke Silhouette perfekt zur Geltung brachte. Rubinohrringe zierten ihre Ohrläppchen. Ihr langes schwarzes Haar war nach oben gesteckt, und nur ein paar gelockte Strähnen umrahmten sanft ihr Gesicht. Leuchtend blaue Augen musterten Charlotte wohlwollend. Charlotte fragte sich, warum sie sich selbst den rätselhaften Namen »verhängnisvolle Blume« gegeben hatte. Fleur verkörperte Stärke, Intellekt und Schönheit. Schon bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Tagen hatte Charlotte die Kämpferin in ihr erkannt. Und unter ihrem Dach fühlte sie sich geborgener, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.

»Die Rosen sind wunderschön.«

»So wie du.« Die Hausherrin lächelte. »Volles brünettes Haar, blaue Augen, rosiger Teint. Ich fürchte, ich werde dich schon sehr bald an einen glücklichen Ehemann verlieren, Violet.«

»Wenn du meinst.« Charlotte räusperte sich verlegen und fühlte, wie sie errötete. Sie war es nicht gewöhnt, Komplimente zu bekommen.

»Ich meine es nicht, ich weiß es. Allerdings hoffe ich, dass du mir trotzdem als Hauslehrerin erhalten bleibst. Die Mädchen mögen dich.« Sie drückte rasch ihren Arm. »Aber du wirkst ein wenig verstört. Ist dir auf dem Weg irgendetwas zugestoßen?«

»Nein, es ist nichts. Ich habe auf dem Rückweg nur eine heftige Auseinandersetzung zwischen zwei Gentlemen beobachtet«, beeilte sich Charlotte zu erklären. Sie wollte nicht zugeben, dass sie wegen des Maskenballs an diesem Abend angespannt war. »Sie standen kurz davor, sich zu prügeln. Ich habe mich beeilt, dort schnellstmöglich fortzukommen.«

»In den Straßen kann es rau zugehen. Es herrschen andere Gesetze.« Ein abgeklärter Ausdruck erschien in Fleurs Augen. »Die Kunst ist es, diese Gesetze für sich zu nutzen. Aber jetzt komm. Wir haben einiges wegen des Balls heute Abend zu besprechen. Du weißt, wie wichtig diese Soireen sind. Ohne großzügige Spenden könnte ich den Mädchen nicht helfen. Florence war übrigens sehr geschickt darin, Spenden zu sammeln«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Fleur Fatale leitete eine Zufluchtsstätte für gefallene Frauen, in der Florence als Hauslehrerin tätig gewesen war. Florence’ plötzlicher Tod brachte für Charlotte nicht nur Trauer, sondern auch die Sorge um ihre Zukunft mit sich, denn trotz der erstklassigen Referenzen ihrer Tante war es ihr nicht gelungen, selbst eine Stelle zu finden. Charlotte hatte schnell begriffen, dass sie es sich nicht leisten konnte zu trauern, wenn sie in der britischen Hauptstadt überleben wollte. Fleurs Angebot, in Florence’ Fußstapfen zu treten und die jungen Damen in Konversation, Französisch und Deutsch zu unterrichten, hatte sie daher dankbar angenommen. Ihrer neuen Arbeitgeberin lag das Wohl ihrer Schützlinge sehr am Herzen. Mit der Unterstützung ihrer Förderer wollte sie ihnen eine Zukunft fernab der Straßen und der Arbeitshäuser eröffnen. Die ehemaligen Prostituierten sollten eines Tages für sich selbst sorgen und als Kindermädchen, Gesellschafterin oder auch als Köchin arbeiten können.

»Florence hat mir von deinen Soireen erzählt. Ich glaube, sie waren eine schöne Abwechslung für sie«, erinnerte sich Charlotte und nickte zustimmend. »Immer wieder hat sie betont, wie wichtig deine Arbeit ist.«

»Ja, das ist sie. Nur leider finanziert sie sich nicht von selbst«, seufzte Fleur.

Charlotte folgte ihr in den Salon. Noch immer stockte ihr ehrfurchtsvoll der Atem, sobald sie den Raum betrat. An den bordeauxroten Wänden hingen Porträts einiger der jungen Damen, die unter Fleurs Dach Zuflucht gefunden hatten. Die samtenen roten Vorhänge waren mit einer goldenen Kordel zur Seite gebunden, und im Kamin prasselte ein Feuer. Die beiden setzten sich, und Charlotte streckte ihre Hände zum Feuer, um sie zu wärmen.

»Auf Veranstaltungen wie der ›Venezianischen Nacht‹ heute Abend sammle ich nicht nur Spenden, Violet. Sie sind für meine Geldgeber auch die Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass ihre Wohltätigkeit Früchte trägt«, erklärte ihr Fleur. »Sie können Gespräche mit den Mädchen führen und ihre Fortschritte sehen. Das ist sehr wichtig, denn es gibt leider noch immer zu viele Menschen, die bezweifeln, dass gefallene Frauen zu ehrbaren Mitgliedern der Gesellschaft werden können. Einigen meiner Freunde wurde im Vorfeld sogar ausdrücklich abgeraten, mir zu helfen.« Fleur schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf, bevor sie fortfuhr. »Wie es aussieht, kann ich einer oder mehreren der jungen Damen heute Abend außerdem eine Stelle vermitteln. Ich werde mich deshalb immer wieder einmal mit einzelnen Gästen zurückziehen müssen, und du wirst mich dann während meiner Abwesenheit vertreten. Ich möchte, dass du die Gäste unterhältst und dich um sie kümmerst, so wie es früher Florence getan hat. Du wirst dich ganz bestimmt nicht langweilen.« Fleur lächelte. »Einige der einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes werden heute Abend hier sein. Und du wirst sehen: es macht sehr viel Spaß, sich zu verkleiden und für eine Weile unerkannt zu sein.« Ihre Augen schillerten wissend, und Charlotte fragte sich, ob sie längst hinter ihre sorgfältig errichtete Fassade geblickt hatte.

»Ich muss zugeben, ich war noch nie auf einem Maskenball und …«

»Dann wird es höchste Zeit.« Fleur beugte sich nach vorne, und ihre Stimme nahm einen verträumten Tonfall an. »Warst du jemals in Venedig, Violet? Konntest du jemals die Masken bestaunen, die die Welt zu einem magischen Ort ohne Anfang und Ende machen? Zu einem Ort, an dem alles möglich scheint, an dem weder Wahrheit noch Lüge existieren?«

»Leider nein«, hauchte Charlotte, die mit einem Mal von Fernweh überwältigt wurde.

»Heute Abend wirst du deine Trauerkleidung ablegen und dich amüsieren. Ich bin mir sicher, dass du meine Gäste beeindrucken wirst.« Sie lächelte. »Florence war mir immer eine große Hilfe auf meinen Soireen, und für meine Gäste wird es ein Schock sein, von ihrem unerwarteten Tod zu hören.«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich ein passendes Kleid für den Ball besitze.«

Für ihre Flucht aus Berlin hatte sie nur das Nötigste gepackt. Viel Gepäck wäre nicht nur hinderlich gewesen, sondern hätte auch Aufsehen erregt, und um sich nach ihrer Ankunft eine neue Garderobe zuzulegen, hatte ihr das Geld gefehlt. Nicht einmal neue Trauerkleidung konnte sie sich leisten, dachte sie traurig. Die Kleider bei Jay’s in der Regent Street waren unerschwinglich. Sie musste mit dem alten schwarzen Kleid vorliebnehmen, das sie auf ihrer Flucht getragen hatte. Eine allem Anschein nach trauernde junge Frau behandelte man mit Respekt, hatte Lina ihr erklärt. Es gab ihr einen schmerzhaften Stich, wenn sie daran dachte, dass die vorgespielte Trauer mit Florence’ Tod Wirklichkeit geworden war.

Unbehagen überkam Charlotte nun bei dem Gedanken an die nächsten Stunden. Es war ihr leichtgefallen, zu Florence’ Nichte zu werden und in die Rolle der Hauslehrerin zu schlüpfen. Die Arbeit mit Fleurs Schützlingen bereitete ihr große Freude. Doch der Gedanke, an diesem Abend angeregte Gespräche zu führen und Spenden zu sammeln, machte sie nervös. Von klein auf war sie dazu angehalten worden, in Gesellschaft zurückhaltend aufzutreten. Junge Damen hätten zu warten, bis sie angesprochen wurden. Mit den Gästen ihrer Eltern hatte sie sich allerdings auch nie unterhalten wollen, dachte sie. Für sie war Charlotte doch niemals mehr gewesen als ein hübsches Gesicht. In ein paar Stunden aber sollte sie eine geistreiche und selbstbewusste Gesprächspartnerin sein. Dann würde sich zeigen, ob sie ihrem neuen Leben wirklich gewachsen war.

»Darüber musst du dir nicht den Kopf zerbrechen.« Fleur tätschelte ihren Arm. »Lucy wird dir später einige passende Kleider zeigen. Ich bin mir sicher, du wirst wunderschön aussehen.« Sie blickte ihr in die Augen. »Florence hielt große Stücke auf dich, Violet. Vor ein paar Wochen hat sie mir gesagt, dass im Falle eines Falles du ihre einzige würdige Nachfolgerin wärst. Als ob sie gespürt hätte, dass es bald zu Ende geht.« Fleur drückte ihre Hände. »Ich habe Florence immer vertraut. Daher weiß ich, dass du mich nicht enttäuschen wirst.«

2. Kapitel

Das sanfte Licht der Kerzen und das knisternde Feuer hatte etwas Beruhigendes. Charlotte gestattete es sich, einen Moment lang die Augen zu schließen. Fast fühlte es sich so an, als säße sie gemeinsam mit Florence bei ihrer allabendlichen Tasse Tee am Feuer. Sie öffnete die Augen und tupfte die Tränen vorsichtig weg. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu trauern.

»Die Menschen, die wir lieben, verlassen uns nicht, Violet. Auch nicht, wenn sie gestorben sind. Sie bleiben immer in unserer Nähe«, flüsterte Lucy in ihr Ohr, als hätte sie ihre Gedanken erraten.

»Woher willst du das wissen, Lucy?«, fragte Charlotte leise.

»Als ich ein Kind war, hat mir das mal eine alte Zigeunerin gesagt. Und seither glaube ich fest daran.« Sie lächelte. »Du siehst wunderschön aus, Violet. Warte! Ich bin fast fertig.« Lucy befestigte eine Feder in Charlottes hochgesteckten Locken. Die junge Frau war sichtlich stolz auf ihr Werk. »Nachher werden sich bestimmt alle fragen, wie du hinter deiner Maske aussiehst. Komm! Du musst dich ansehen!«

Lucy ergriff ihre Hand und zog sie zum Spiegel in der gegenüberliegenden Zimmerecke. Charlotte betrachtete sich eingehend und lächelte. Es fühlte sich gut an, die Trauerkleidung vorübergehend in den Schrank zu verbannen. Über einem weiten Reifrock trug sie nun ein hellblaues Seidenkleid, das ihre schmale Taille betonte. Silberne Stickereien zierten den Saum. Zum ersten Mal hatte nicht ihre Mutter, sondern sie selbst ihr Kleid für einen gesellschaftlichen Anlass gewählt. Niemals zuvor hatte sie sich so frei gefühlt, dachte sie voller Dankbarkeit.

Obwohl sie ihre Gesichter hinter einer Maske verbergen würden, hatte Lucy ihnen beiden Wangen und Nase sanft gepudert und eine glänzende Lippenpomade aufgetragen. Fleur hielt die jungen Damen dazu an, Puder, Rouge und Lippensalbe allenfalls sehr sparsam zu verwenden, wusste Charlotte. Grell geschminkte Gesichter waren das Merkmal der Prostituierten und gehörten für Fleurs Schützlinge der Vergangenheit an.

»Gefällst du dir?« Lucy blickte sie gespannt an. Auch sie bot einen strahlenden Anblick. Sie trug ein fliederfarbenes Kleid, und ihr langes blondes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern. Es schimmerte beinah wie ein Heiligenschein im sanften Licht der Kerzen, fand Charlotte.

»Sehr sogar.« Sie nickte.

»Es wird bestimmt ein schöner Abend werden.« Lucy ergriff ihre Hand und führte sie zu ihrem Bett. Die beiden setzten sich. »Du musst auch keine Angst haben. Fleurs Freunde und Förderer beißen nicht.« Sie grinste. »Sie haben keine Vorurteile, und unsere Vergangenheit interessiert sie nicht weiter. Florence hat diese Soireen geliebt. Sie hat sich immer sehr gerne mit Lady Elizabeth Clifton und Sir Richard Fallon unterhalten. Auch du wirst die beiden sehr mögen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Lady Clifton ist zwar ein wenig exzentrisch, aber auch sehr großzügig.«

»Florence war ein ganz besonderer Mensch«, sagte Charlotte mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich hoffe, ich werde euch und Fleur heute nicht enttäuschen. Aber ich werde alles tun, um genügend Spenden zu sammeln«, versprach sie weniger Lucy als mehr sich selbst.

»Du wirst dich bestimmt genauso gut schlagen wie Florence, Violet. Immerhin bist du ihre Nichte. Und Fleur vertraut dir, das ist offensichtlich.«

Charlotte senkte rasch den Kopf. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Berlin überkam sie das schlechte Gewissen, gegenüber ihren neuen Freunden nicht ehrlich gewesen zu sein. Streng genommen vertrauten sie alle einer Schwindlerin. Lucy war ein so aufrichtiges junges Mädchen, während sie selbst allen etwas vormachte. Ihre neu gewonnene Freiheit erschien ihr urplötzlich wie ein Gefängnis. Charlotte musste sich eingestehen, dass ihre Flucht mit ihrer Ankunft in London nicht geendet hatte. Sie würde für den Rest ihres Lebens auf der Hut sein müssen, und falls von Burgfeld sie doch aufspüren sollte … Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, und sie erschauderte.

»Ist alles in Ordnung, Violet? Du siehst auf einmal so aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« Lucy blickte sie besorgt an.

»Es ist nichts, Lucy.« Charlotte räusperte sich und brachte ein Lächeln zustande. »Der Gedanke daran, so viele neue Menschen kennenzulernen, macht mich ein wenig nervös.«

»Dafür gibt es wirklich keinen Grund«, versicherte ihr Lucy. »Für Fleur sind diese Soireen Arbeit, aber wir können uns für ein paar Stunden amüsieren. Sie setzt sich so sehr für uns ein«, flüsterte sie. Sie schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Weißt du, ich habe niemanden mehr. Meine Eltern sind schon vor einiger Zeit gestorben, und mein älterer Bruder war eines Tages einfach verschwunden. Ich habe tagelang nach ihm gesucht, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Und dann musste ich zusehen, dass ich Geld verdiene. Ich musste ja von irgendetwas leben.« Sie zuckte die Schultern, und Charlotte wartete darauf, dass sie weitererzählte. Die Mädchen sprachen nicht oft über ihre Vergangenheit. »Die Freier mögen junge Mädchen, und es fiel mir leicht, Männer für mich zu gewinnen. Aber einige Freier sind gefährlich. Ohne Fleur wäre ich vermutlich schon in einem dreckigen Hinterhof gestorben.« Ein Schatten verdüsterte ihre braunen Augen. »Ein Herr hat eines Tages seine Hände um meinen Hals gelegt und wollte …« Ihre Stimme verebbte. »Wäre Ian nicht zufällig in dem Moment … Er hat den Mann von mir weggezerrt und mich hierhergebracht.« Lucy atmete tief ein und aus, und das Lächeln kehrte zurück auf ihr Gesicht. »Fleur hat mir bei meiner Ankunft hier versprochen, dass mir nie wieder jemand wehtun würde. Ich müsse nur bereit sein, mein altes Leben hinter mir zu lassen und ihre Hilfe anzunehmen. Hier habe ich ein neues Zuhause gefunden. Und Ian und die anderen beschützen uns.«

»Müssen Fleurs Männer euch oft beschützen?«, erkundigte sich Charlotte und runzelte die Stirn.

»Manche der Herren geben nur vor, Fleur unterstützen zu wollen. Aber in Wirklichkeit wollen sie etwas ganz anderes. Sie werden dann von Ian, Joseph oder einem der anderen aus dem Haus geworfen. Aber einmal, da …« Sie verstummte und senkte den Kopf.

»Ja?«

Wiehernde Pferde und das Klackern ihrer Hufe vor dem Haus kündigten die ersten Gäste an. Lucy sprang auf.

»Ist nicht so wichtig.« Die junge Frau lächelte. »Vor uns liegt ein schöner Abend, und wir beeilen uns jetzt besser, Violet. Fleur hat uns ausdrücklich gebeten, rechtzeitig nach unten zu kommen. Schließlich möchte sie den Gästen die neue Hauslehrerin vorstellen.« Sie zog Charlotte rasch mit sich zum Frisiertisch. »Die hier müssen wir noch aufsetzen.« Lucy reichte ihr eine schwarzblaue Maske, die ihre Augenpartie bedeckte und an der seitlich eine blaue Blüte befestigt war. Sie selbst verbarg ihr Gesicht hinter einer fliederfarbenen, mit Perlen verzierten.

Charlotte warf einen letzten Blick in den Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr. Sie lächelte sich selbst ermutigend zu und nahm sich vor, Florence würdig zu vertreten.

Als sie an Lucys Seite die Treppen nach unten ging, erspähte sie Fleur. Die Gastgeberin hatte sich umgezogen und trug nun ein königsblaues Seidenkleid mit einer silbernen Maske. Schimmernde Perlen zierten das Dekolleté. Mit ausgestreckten Händen begrüßte sie die Gäste, während die Dienstmädchen in ihren schlichten Uniformen und mit einfachen schwarzweißen Masken Champagner servierten.

»Heute Abend sollen wir alle Masken tragen«, flüsterte Lucy ihr zu, als sie ihren fragenden Blick bemerkte. »Auch das Hauspersonal.«

»Sir Henry, willkommen! Wie immer freue ich mich sehr, Sie zu sehen.« Fleur begrüßte den gerade eingetroffenen Herrn.

»Wie könnte ich mir denn eine Soiree in Ihrem Haus entgehen lassen, Madam? Nur dass Sie mich trotz meiner Maske erkennen, enttäuscht mich.« Er führte ihre Hand an seine Lippen. Sein schwarzer Anzug saß wie angegossen, und am kleinen Finger seiner linken Hand prangte ein goldener Ring. Eine schwarzgoldene Maske rundete sein Erscheinungsbild ab.

»Ihr Ring hat es mir verraten«, entgegnete Fleur. »Er ist so etwas wie Ihr Erkennungszeichen.«

»Ihnen kann man einfach nichts vormachen«, lachte er und blickte auf. Seine Augen richteten sich auf Charlotte. »Kann es sein, dass Sie eine neue junge Dame bei sich aufgenommen haben?«, erkundigte er sich neugierig.

»Allerdings, Sir Henry.« Fleur wandte sich um und bedeutete Charlotte näher zu kommen, als eines der Dienstmädchen ihnen ein Glas Champagner reichte. »Ich möchte Ihnen gerne unsere neue Hauslehrerin vorstellen. Miss Clarke ist leider vor ein paar Tagen in den frühen Morgenstunden sehr plötzlich verstorben, und …«

»Miss Clarke ist verstorben?« Eine Dame in einem dunkelgrünen Kleid und einer Maske im selben Farbton erschien neben Sir Henry. »Das tut mir sehr leid zu hören.« Sie klang aufrichtig betroffen. »Wie ist das denn passiert? Ich habe sie immer um ihre robuste Gesundheit beneidet.«

»Ihr Tod ist für uns alle ein großer Schock gewesen, Lady Agatha. Miss Clarke ist an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Wir alle vermissen sie sehr.« Sie wandte sich Charlotte zu. »Das ist übrigens Miss Clarkes Nichte. Miss …«, begann sie, als sie von einem Aufschrei unterbrochen wurde.

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.« Fleur fuhr herum und lief gefolgt von Boyle die Treppen nach unten. Charlotte warf Lucy einen unruhigen Blick zu. Sie fühlte ein eisiges Prickeln in ihrem Nacken. Einige Augenblicke später stürzte Boyle die Treppen wieder nach oben. Seine Miene war grimmig.

»Ian, ist etwas geschehen?«, fragte Lucy.

»Eines der Dienstmädchen ist angegriffen worden, als sie die Abfälle nach draußen bringen wollte. Die Köchin fand sie bewusstlos auf dem Boden liegen.«

»Sir William! Um Gottes willen!« Im Salon schrie eine junge Frau auf.

»Das ist Abigail.« Lucy raffte ihren Rock und lief in den Salon. »Abby, was ist los?« Sie blieb so abrupt stehen, dass Charlotte beinahe in sie hineingelaufen wäre.

Charlotte erstarrte vor Entsetzen, als sie Lucys Blick folgte. Alle Anwesenden waren verstummt und blickten ebenfalls wie versteinert zu Boden. Einer der geladenen Gäste war zusammengebrochen und lag reglos auf dem Rücken. Die Maske war ihm vom Gesicht gerutscht.

»Ihm … ihm wurde plötzlich schlecht«, stammelte Abigail und deutete auf Erbrochenes auf dem Boden. »Als er hier angekommen ist, meinte er, er fühle sich erschöpft. Deshalb wollte er ein Glas Champagner trinken und einen Happen essen, und kurz darauf …«

»Oh mein Gott!« Charlotte schlug sich die Hand vor den Mund, als ihr die Erinnerung wie ein Blitz durch den Kopf schoss. Sie sah das Gesicht des leblosen Mannes nicht zum ersten Mal.

»Was ist mit ihm? Ist er …« Eine ältere Dame in einem cremefarbenen Kleid nahm ihre Maske ab. In ihren blauen Augen erschien ein ungläubiger Ausdruck. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Was ist …« Fleurs Stimme verebbte, als sie im Salon erschien. »Um Gottes willen!«, entfuhr es ihr, als ihre Augen sich auf Sir William richteten.

Ein Herr löste sich aus seiner Erstarrung und beugte sich über die reglose Gestalt. Nach einigen Augenblicken richtete er sich wieder auf und schüttelte den Kopf.

»So sieht es also aus, wenn das Schicksal zurückschlägt«, flüsterte die Dame in dem cremefarbenen Kleid, und Charlotte hatte Mühe, sie zu verstehen.

»Ich kann das nicht fassen«, hauchte Charlotte mit einem weiteren Blick in das leblose Gesicht.

»Es wäre wohl besser, du setzt dich, Violet. Du bist auf einmal ganz blass.« Fleur drückte mit besorgter Miene ihren Arm.

»Mir geht es gut, Fleur«, versicherte sie ihr. Sie deutete auf Sir William. »Aber das hier ist einer der beiden Gentlemen, deren Auseinandersetzung ich heute beobachtet habe.«

»Bist du dir ganz sicher?«

»Ich erinnere mich ganz deutlich«, beteuerte Charlotte. »Er war einer der beiden Männer, die heute Nachmittag aufeinander losgegangen sind.«

Fleur blickte ihr einen Moment lang fest in die Augen und nickte nachdenklich. Sie schien eine Entscheidung zu treffen.

»Ian, geh bitte sofort los, und bring Inspektor Stockworth hierher. Und nur ihn. Weiß der Himmel, was gerade hier geschehen ist. Joseph und Ralph sollen sich bitte um die Gäste kümmern, die noch eintreffen werden. Sie dürfen den Raum nicht betreten.« Sie wandte sich an die Dame in dem cremefarbenen Kleid und den Gentleman, der Sir Williams Tod festgestellt hatte. »Lady Clifton, Sir Geoffrey, da Sie beide anwesend waren, als Sir William zusammengebrochen ist, wird der Inspektor sicher mit Ihnen sprechen wollen. Ich möchte Sie daher bitten, noch zu bleiben.«

3. Kapitel

Charlotte fühlte sich merkwürdig benommen. Sie kauerte auf einem Sessel im Salon und konnte ihren Blick nicht von der leblosen Gestalt abwenden. Ihr war flau, und mit jedem ihrer Atemzüge schien ihr Korsett enger zu werden. Halbgeleerte Champagnergläser legten Zeugnis ab vom jähen Ende der »Venezianischen Nacht«, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Alle hatten ihre Masken mittlerweile abgenommen. Abigail, vor deren Füßen Sir William zusammengebrochen war, war kreidebleich. Ihr Kopf ruhte an Lucys Schulter. Charlotte hörte, wie Lucy ihr beruhigende Worte ins Ohr wisperte.

»Ich glaube, ein kräftiger Schluck Brandy täte Ihnen gut, Abigail. Der Schock steht Ihnen ins Gesicht geschrieben«, bemerkte Lady Elizabeth Clifton und bedachte sie mit einem besorgten Blick, während sie sich mit einem Fächer Luft zufächelte. Trotz des reglosen Körpers zu ihren Füßen wirkte sie gefasst, fand Charlotte. Sir Williams dramatischer Tod schien sie kaum zu berühren.

»Lady Clifton hat recht, Abby«, nickte Fleur und stand auf. »Ich werde dir selbst ein Glas holen. Ich möchte ohnehin nach Dotty sehen. Sie war vorhin kaum bei sich, geschweige denn ansprechbar. Sie muss einen sehr heftigen Schlag auf den Kopf bekommen haben.«

Dass das Dienstmädchen niedergeschlagen wurde und kurz darauf einer der Gäste tot zusammenbrach, konnte kein Zufall sein, überlegte Charlotte düster. Sie fragte sich, ob Sir Williams Tod womöglich etwas mit der Auseinandersetzung zu tun hatte, die sie vor ein paar Stunden beobachtet hatte.

»Wie geht es Dotty?«, erkundigte sich Lucy, als Fleur ein paar Minuten später zurück in den Salon kam.

Charlotte sah die feste Entschlossenheit in Fleurs Augen, als sie Abby den Brandy reichte. Dies war gewiss nicht der erste Sturm, durch den sie ihr Schiff manövrieren musste, vermutete sie.

»Sie wird sich wieder erholen, Lucy. Sie ist aber noch immer benommen, und ich werde den Arzt bitten, einen Blick auf sie zu werfen, wenn er doch hoffentlich mit dem Inspektor …«

»Fleur.« Boyle erschien in der Tür. »Inspektor Stockworth ist hier.«

Ein großer, dunkelblonder Mann betrat den Salon. Seine edle Abendgarderobe ließ darauf schließen, dass er nicht mit einer Leichenschau gerechnet hatte. Charlotte hielt den Atem an, als sich ihre Blicke trafen. Seine dunklen Augen musterten sie neugierig. Ohne ihre Maske fühlte sie sich mit einem Mal entblößt. Hitze schoss in ihre Wangen.

»Basil.« Fleur reichte ihm die Hand. »Danke, dass du so schnell gekommen bist.«

»Unter diesen Umständen ist das doch selbstverständlich, Fleur. Ich hatte doch ohnehin vor, später noch vorbeizukommen. Und ich bin auch nicht allein hier.« Der Inspektor lächelte, und seine Züge erhellten sich. Charlotte konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. »James und ich waren in unserem Club zum Dinner verabredet. Er hat mich hierher begleitet und kümmert sich jetzt erst einmal um Dotty. Die Lebenden sind wichtiger als die Toten.« Er betrachtete die leblose Gestalt. »Sir William kann warten.«

»Oh gut. Ich hatte gehofft, James würde dich begleiten.« Die Hausherrin klang erleichtert.

»Ich musste ihn gar nicht erst bitten.« Der Inspektor wandte sich von Fleur ab und ging lächelnd auf die Dame in dem cremefarbenen Kleid zu. Galant beugte er sich über ihre Hand. »Guten Abend, Lady Clifton. Ich hätte Sie gern unter erfreulicheren Umständen wiedergesehen.«

»Dem kann ich nur zustimmen, Inspektor. Ich hatte mir den Abend auch ganz anders vorgestellt«, fügte sie nüchtern hinzu. »Wie geht es Ihren Eltern? Ehrlich gesagt wundert es mich, dass sie nicht hier sind. Normalerweise lassen sie sich doch keine Soiree in diesem Hause entgehen.«

»Vielen Dank, Lady Clifton. Den beiden geht es ausgezeichnet, und sie wären gerne gekommen. Heute Abend feiert aber ein alter Studienfreund meines Vaters seinen Geburtstag, deshalb konnten sie leider nicht an der ›Venezianischen Nacht‹ teilnehmen«, antwortete er, bevor er sich umwandte. »Sir Geoffrey, es freut mich auch sehr, Sie zu sehen. Das letzte Mal ist lange her.«

»Es muss eine Ewigkeit her sein, Inspektor«, nickte er und reichte ihm seufzend die Hand. »Ich hoffe sehr, Sie können herausfinden, was sich hier abgespielt hat. Es ist mir unbegreiflich, wie das passieren konnte. Sir William ist wirklich der Letzte, von dem ich gedacht hätte, dass er einfach so umfällt.« Sir Geoffrey schüttelte den Kopf.

Obwohl die Polizei keinen allzu guten Ruf hatte, schien der Inspektor bei den Gästen hohes Ansehen zu genießen, wunderte sich Charlotte.

»Ich werde der Sache auf den Grund gehen. Darauf können Sie sich verlassen, Sir Geoffrey. Und ich hoffe doch, Sie können mir ein paar Fragen beantworten, die mir weiterhelfen werden.« Er blickte ihn erwartungsvoll an. »Schildern Sie mir doch bitte, was sich hier abgespielt hat, als Sir William zusammengebrochen ist.«

»Nichts weiter Außergewöhnliches, Inspektor.« Sir Geoffrey zuckte die Schultern. »Ich stand mit dem Rücken zu ihm und habe mich gerade mit Lady Clifton und Rose unterhalten«, er deutete auf die dunkelhaarige junge Frau, die neben Lady Clifton auf der Couch saß, »als Abigail hinter mir plötzlich aufschrie. Ich drehte mich natürlich sofort um und konnte noch sehen, wie er sich übergeben hat, bevor er mit einem Mal zusammengebrochen ist. Seine Maske ist ihm vom Gesicht gerutscht, und er hat sich nicht mehr gerührt.« Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, bevor er fortfuhr. »Lucy kam dann in Begleitung der jungen Dame hier«, er deutete auf Charlotte, »in den Salon gestürzt und kurz darauf auch Miss Fatale. Ich habe mich dann vergewissert, ob Sir William noch atmet, aber es war zu spät.« Sir Geoffrey schüttelte bedauernd den Kopf.

»Waren Sie zu diesem Zeitpunkt die einzigen Gäste im Raum?«, erkundigte sich Stockworth.

»Soweit ich mich erinnern kann, ja.« Lady Elizabeth Clifton runzelte die Stirn. »Sir Richard Fallon hatte kurz zuvor den Salon verlassen. Er hatte wohl sein Zigarrenetui in seiner Manteltasche vergessen und wollte es holen«, rekapitulierte sie. »Lady Agatha Rockbury ging ins Foyer, um Sir Henry Ashford zu begrüßen, und …« Sie hielt inne.

»Ja, Lady Clifton?« Der Inspektor ließ sie nicht aus den Augen.

»Da war noch eine andere Dame. Ich habe nur einen kurzen Blick auf sie erhascht und ihr keine weitere Beachtung geschenkt, weil ich mich mit Rose und Sir Geoffrey unterhalten habe. Rose wird bei meiner Tochter eine Stelle als Kindermädchen antreten«, erklärte sie. »In ein paar Wochen werde ich zum ersten Mal Großmutter.«

»Ich gratuliere Ihnen, Lady Clifton«, lächelte Stockworth, bevor er wieder ernst wurde. »Haben Sie eine Ahnung, wer die Dame gewesen sein könnte? Hat sie sich irgendjemandem vorgestellt?«

»Bedauerlicherweise nein.« Sie schaute ihn verwundert an. »Ich habe wirklich nicht weiter auf sie geachtet. Und der Sinn und Zweck eines Maskenballs ist es doch wohl auch, unerkannt zu bleiben, nicht wahr?«, fügte sie nüchtern hinzu.

»Wie sieht es mit Ihnen aus, Sir Geoffrey? Haben Sie eine Ahnung, wer die Dame gewesen sein könnte?«

»Nicht die geringste.« Er schüttelte den Kopf und warf Lady Clifton einen erstaunten Blick zu. »Offen gestanden erinnere ich mich nicht einmal, sie gesehen zu haben.«

»Was ist mit Ihnen, Rose?«

»Ich kann mich auch nicht erinnern, die Dame gesehen zu haben.«

»Das wundert mich nicht. Sie und Sir Geoffrey standen mit dem Rücken zu ihr, Rose«, erklärte Lady Clifton. »Und ich erinnere mich nur, dass sie ein hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid mit dazu passender Maske getragen hat. Ihr Haar war blond, glaube ich, aber sicher bin ich mir nicht. Als Sir William dann zusammengebrochen ist, war sie verschwunden.«

»Ist die mysteriöse Dame vielleicht doch noch von jemand anderem gesehen worden?«, wollte der Inspektor wissen und blickte hoffnungsvoll in die Runde.

»Sie ist jedenfalls nicht durch die Eingangstür gekommen, Basil. Ich habe schließlich die Gäste begrüßt, und sie wäre mir ganz sicher aufgefallen«, meinte Fleur und sah den Inspektor vielsagend an. »Sie muss durch den Dienstboteneingang gekommen sein.«

»Dann könnte ihr Dotty doch dort in die Quere gekommen sein, und sie hat …«, entfuhr es Charlotte, bevor sie die Worte zurückhalten konnte.

»Ein neues Gesicht?« Der Inspektor richtete seine Aufmerksamkeit auf sie.

»Ich …« Sie errötete unter seinem Blick.

»Das ist unsere neue Hauslehrerin, Basil«, stellte Fleur sie vor. »Sie ist Florence’ Nichte und hat ihre Stelle eingenommen.« Trauer verdüsterte ihre Züge. »Florence ist vor ein paar Tagen in den frühen Morgenstunden verstorben. Die Lungenentzündung war zu weit fortgeschritten.«

»Das tut mir sehr leid zu hören.« Er wirkte ehrlich betroffen. »Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Ich habe Ihre Tante«, an dieser Stelle zog er bedeutungsvoll die Augenbrauen nach oben, »sehr gemocht.«

Charlotte starrte ihn einen Augenblick an und schluckte. Stockworths dunkle Augen bohrten sich in ihre, und sie suchte verzweifelt nach ihrer Stimme. Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie Lucy grinsen sehen, und auch Lady Cliftons Mundwinkel zuckten.

»Basil, wenn du vorerst keine Fragen mehr an Lady Clifton und Sir Geoffrey hast …«, hob Fleur an, und der Inspektor nickte sogleich.

»Natürlich. Ich danke Ihnen beiden, dass Sie geblieben sind. Sollten sich noch Fragen ergeben, werde ich Sie in den nächsten Tagen aufsuchen.« Er wandte sich an Lady Clifton. »Wenn Ihnen doch noch etwas bezüglich der mysteriösen Dame einfällt, Lady Clifton, dann lassen Sie mir bitte eine Nachricht zukommen.«