Schmerz in kleinen Dosen - Charlotte Fritsch - E-Book

Schmerz in kleinen Dosen E-Book

Charlotte Fritsch

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Beschreibung

Magda hat gerade ihr Abi gemacht und keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Am besten erstmal ein Praktikum ... Sie zieht in eine andere Stadt, um an einer Schule für verhaltensoriginelle Kinder zu arbeiten. Doch die Erlebnisse überfordern sie zunehmend.Die 19-jährige Anna ist voll auf dem Selbstzerstörungstrip: Alkohol, Selbstverletzung und schnelle Nummern mit Männern – entgegen ihrer sexuellen Orientierung – bringen ihre Therapeutin zur Verzweiflung. Wie hilft man jemandem, dem alles egal ist?!Die bipolare Lena hingegen ist eine Musterstudentin und Musterpatientin. Sie ist beliebt, erfolgreich, nimmt brav ihre Medikamente und rutscht trotzdem von einer Depression in die nächste. Nicht zuletzt, weil ihre traumatische Vergangenheit sie immer wieder einholt.Charlotte Fritsch, preisdotierte Autorin und Förderpädagogin für verhaltensoriginelle und psychisch kranke Kinder, erzählt undogmatisch die Geschichte von drei jungen Frauen, die nicht mit ihrem Leben klarkommen – und dann doch einen Ausweg finden.

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periplaneta

CHARLOTTE FRITSCH: „Schmerz in kleinen Dosen“ – Roman1. Auflage, Januar 2023, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2023 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Der Roman ist zwar biographisch inspiriert, die Handlung sowie alle handelnden und erwähnten Personen sind aber frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat & Coverdesign: Marion A. Müller Cover-Fotografien: Nguyen Chieu & Sarah Dao (unsplash.com)Autorinnen-Foto: Satz & Layout: Thomas Manegold (manegold.de)

print ISBN: 978-3-95996-257-5epub ISBN: 978-3-95996-258-2

Charlotte Fritsch

Schmerz inkleinen Dosen

Roman

periplaneta

Lena: Medikamente

Das Blut tropft von ihren Händen, könnte ein hysterischer Nachbar denken, der durchs Fenster stalkt.

Lena schaut raus. Kein Nachbar. Sie läuft auf und ab in ihrem kleinen Bad. Taucht ihre Hände noch einmal in die Farbe. Drückt sie an die Wand. Drückt sich an die Wand. Verschmiert die Farbe, mit ganzem Körpereinsatz. Ihr Körper ist rot. Blut könnte es sein. Ist es aber nicht.

Sie läuft auf und ab. Rote Fußspuren auf dem Boden. Bewegungslosigkeit, wünscht sie sich. Sie kann seit Tagen nicht stehen. Nicht schlafen. Nicht aufhören zu reden. Wirr. Egal ob jemand da ist oder nicht.

Sie steckt sich eine Kippe in den Mund. Beim Griff in die Hosentasche streift sie nur ihre nackte Haut. Sie ist nackt. Stimmt, ja.

Die Wohnung rennt hektisch um sie herum. Die Kippe im Mund wippt mit ihren Bewegungen. Leere Zigarettenschachteln fliegen durch die Luft, Zettel zerreißen, der Inhalt von Hosen und Taschen rollt über den Boden. Ihr Laptop schreit Musik und Lena schwitzt. Das Zimmer ist kalt. Ihre haselnussbraunen langen Haare hängen ihr farbverklebt ins Gesicht. Immer wieder streicht sie sie nach hinten.

Endlich findet sie ein Feuerzeug unter angeschimmelten Tellern. Die Kippe, immer noch in ihrem Mund, brennt nun. Lena zieht, ascht auf den Boden. Sie will rauchen, sucht nach einer Zigarette, merkt nicht, dass da schon eine ist, in ihrer Hand. Lena reißt das Fenster auf. Sie will sich ausziehen, doch sie ist ja schon nackt.

Lena muss raus. Kippen kaufen. Sich in Ordnung rauchen. Münzen sammeln sich in ihrer Hand. Die Geldkarte zieht sich aus ihrem Portemonnaie, Lena zieht einen Mantel an. Rennt die Treppe runter. Rennt sie wieder hoch. Wieder runter. Hoch. Runter. Tür auf. Frische Luft. Schnee an ihren nackten Füßen. Winter. Es ist ja Winter.

Lena erreicht den Zigarettenautomaten neben der Kneipe, die schon zu ist.

Ein Betrunkener sitzt davor, redet mit einem, den nur er sieht. Er murmelt immer wieder: „Jetzt werde ich völlig verrückt“, fixiert die rote Lena: nackt, nur mit einem Mantel bekleidet, bei Minusgraden. Er ist sichtlich unsicher, ob sie wirklich da ist oder nur in seinem Kopf. „Siehst du das auch?“, fragt er den, den nur er sieht.

Lena grinst, springt auf und ab vorm Zigarettenautomaten, wirft Geld rein, drückt Tasten, geht zum Vordach der Kneipe, bricht sich einen Eiszapfen ab und lutscht daran.

„Jetzt werde ich völlig verrückt“, murmelt der Betrunkene. „Jetzt werde ich völlig verrückt.“

Auch Lenas Kopf signalisiert ihr, dass sie nun völlig verrückt wird, ihr Mund spricht diese Worte in Dauerschleife, als sie nach Hause läuft, die Treppen hoch, runter, hoch und runter und wieder hoch rennt, die Wände ihrer Wohnung an ihr vorbei­rasen – als sie singend ihre Hände in Farbe taucht, Farbe wirft, von Farbe beworfen wird, um wieder festzustellen, dass sie jetzt völlig verrückt wird. Oder ist?

Lena zündet sich eine Zigarette an. Dreht hüpfend Kreise um die Bushaltestelle. Leute gucken komisch. Inzwischen ist es hell.

„Es ist unverantwortlich, bei diesem Wetter ohne Hose rauszugehen“, erklärt eine Oma lautstark ihrem Enkelkind. „Da holt man sich den Tod.“ Ihr Blick folgt Lena wie einer lästigen Wespe. „Und voll mit roter Farbe. Erwachsene sollten Vorbilder sein“, zischt sie. Als Lena sich eine zweite Kippe anzündet und abwechselnd an der in der linken und an der in der rechten Hand zieht, schiebt die Oma ihr Enkelkind weg, um es nun auch über die Gefährlichkeit des Zigarettenkonsums aufzuklären.

Das alles nimmt Lena wie unter Wasser wahr und trotzdem viel zu klar. Sie schnippst ihre Kippen in den Schnee und steigt in den Bus. Lacht laut. Weiß nicht warum, doch sie lacht. Leute starren. Leute tuscheln. Leute schütteln den Kopf. Leute filmen Lena mit ihren Smartphones. Lena lacht. Sie steckt sich eine Kippe in den Mund, zückt ihr Feuerzeug. Der Busfahrer schreit, Lena zuckt zusammen, weiß nicht, wohin mit der Kippe und sich. Der Bus hält, Lena stürmt raus, rennt und rennt. Immer schneller rennt sie und weiß schon längst nicht mehr warum. Wo wollte sie hin? Wo ist sie eigentlich?

Lena bleibt stehen. Leute drehen sich um sie herum, oder dreht sie sich? Warum dreht sich immer alles im Kreis? Lena hustet, setzt sich in den Schnee. Der Schnee tut gut, an ihren nackten Beinen. Ihre Beine sind nackt?

Es ist doch Winter, es ist doch Winter, da darf man doch nicht, da darf man doch nicht mit nackten Beinen raus, denkt Lena panisch. Als sie merkt, dass sie unter dem Mantel immerhin ein von Zigarettenglut durchlöchertes, bekleckertes Schlaf-T-Shirt an hat, lacht sie wieder los. Völlig verstört versucht sie, aus dem Müllhaufen in ihrem Kopf irgendetwas Brauchbares herauszuzerren.

„Wo wollte ich hin? Wo wollte ich hin? Wo wollte ich hin?“, murmelt Lena immer schneller, drückt sich Schnee ins Gesicht, springt auf und rennt los. Vorbei an all den Hindernis-Menschen, die sich ihr in den Weg stellen, glotzen und schimpfen.

Endlich ist Lena da, schiebt sich in das sterile Haus und lässt die Tür hinter sich zuknallen. Sie steht in einem Raum, von allen Seiten Blicke, mitleidig-neugierig, fasziniert-verwirrt. Was wollte sie hier?

Eine Frau kommt auf Lena zu. „Kommen Sie“, sagt sie und schiebt Lena sanft in ein kleines Zimmer. „Sie haben keine Hose an“, stellt die Frau dort fest.

Lena sieht an sich runter. „Ich habe keine Hose an, keine Hose an. Warum habe ich keine Hose an? Es ist doch Winter, da muss man doch …“, rattert sie und schaut nervös von Wand zu Wand.

Die Frau notiert sich etwas. „Kann ich Sie kurz hier allein lassen?“

Lena reagiert nicht, drückt sich vors Fenster und malt Kreise in die beschlagene Scheibe.

Die Frau verlässt hastig das Zimmer, wenig später kommt eine andere Frau herein. Lena zuckt zusammen.

„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagt die andere Frau.

Lena murmelt etwas vor sich hin.

Die Frau streicht sich durch die glänzenden schwarzen Haare. „Ich habe eine Lösung für Ihr Hosenproblem“, sagt sie lächelnd und hält Lena eine Jogginghose hin.

Lena läuft ans andere Ende des Zimmers und wieder zurück.

„Das ist zwar nur mein Sportzeug, aber besser als nichts, oder?“

Lena zieht der Frau die Jogginghose aus der Hand, schlüpft aus ihren gepunkteten Hausschuhen, in die Hose und dann aus dem Raum.

Die Frau folgt ihr. „Wo wollen Sie hin?“

„Raus, bewegen, ich muss mich bewegen, bewegen, sonst werde ich verrückt …“

„Gut. Dann sollten wir ein bisschen spazieren gehen.“

Die Frau zieht ihren eleganten, hellgrauen Mantel fest zu, Lena wirft ihren in den Schnee.

„Meinen Sie nicht, dass Sie den noch brauchen?“

Statt zu antworten macht Lena einen Schneeengel.

„Sie sind ja ganz schön aktiv heute, oder?“

„Ganz schön aktiv bin ich, ganz schön schnell alles, muss immer laufen, immer reden, kann nicht ruhig sein, ganz schön aktiv, ja.“

„Wie lange sind Sie denn schon so … aktiv?“

„Keine Ahnung, Tage, Nächte, Nächte, Tage, ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht, wann war gestern, ist heute gestern oder morgen schon?“ Lena bleibt erschrocken stehen. „Meine Prüfung. Ich muss lernen, ich muss sofort nach Hause und lernen.“

„Wann schreiben Sie denn Ihre Prüfung?“

„Warten Sie, da muss ich in meinen –“ Lena durchsucht verzweifelt die Hosentaschen der fremden Jogginghose. „Mein Terminplaner ist weg, wie soll ich denn da wissen, wann meine Prüfung ist?“ Sie setzt sich auf den Boden, wirft sich Schnee ins Gesicht. „Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr“, lacht sie.

„Das glaube ich Ihnen … Erst die Depression und jetzt das … Da wäre ich auch am Ende“, sagt die Frau mit den dezent geschminkten Lippen eher zu sich selbst als zu Lena. „Wissen Sie, die Prüfung ist jetzt nicht so wichtig. Wichtig ist, dass Sie ein wenig zur Ruhe kommen.“

„Richtig reimt sich auf wichtig und wichtig reimt sich auf nichtig und Ruhe auf Truhe und Schuhe. Wo sind meine Schuhe? Ich muss schnell nach Hause und lernen.“ Lena springt auf.

Die Frau legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Beruhigen Sie sich. Sie können Ihre Prüfung nachholen, wenn es Ihnen wieder besser geht. Wir schreiben Sie krank und Sie –“

„Wie soll ich denn nur ruhig sitzen bei der Prüfung? Da muss man doch ruhig sitzen. Ich kann ja nicht mal ruhig stehen. Was ist nur los mit mir? Was ist nur los?“

Die Frau schweigt einen Moment. „Ich fürchte, dass Sie das neue Antidepressivum nicht so gut vertragen … Da sind wohl ein paar Botenstoffe zu viel ausgeschüttet worden und deshalb sind Sie jetzt so … na ja … durcheinander“, erklärt sie behutsam und seufzt verlegen.

„Ein paar Botenstoffe zu viel, natürlich. Das neue Medikament, natürlich. Zu viele Botenstoffe. Viel zu viele Botenstoffe, natürlich, zu viele, viel zu viele –“

„Ich werde in der Praxis mit Ihrem Arzt sprechen. Ihre Medikation muss dringend geändert werden, damit Sie sich erholen können.“ Lenas Therapeutin lächelt betroffen. „Kommen Sie, wir gehen erstmal zurück in die Praxis. Die Schwestern geben Ihnen etwas zur Beruhigung und dann überlegen wir zwei, wie Sie die nächsten Tage am besten überstehen können.“

Anna: Wodka Ahoi

Anna wacht auf, weil da irgendwas zwischen ihren Beinen ist. Sie blinzelt. Ein Männerkopf?! Fuck, was ist hier eigentlich los? Und warum stinkt es hier so nach …? – Anna sieht sich hilflos in ihrem neuen Zimmer um. Knoblauch-Wodka-Ahoi-Kotze vor ihrem Bett. Na geil. Und warum ist sie nackt? Und dieser Typ?

„Fuck“, flüstert sie.

„Hey, du bist ja wach.“

„Hm.“

Eine Männerzunge verschwindet wieder zwischen ihren Beinen. „Ist es gut so?“

„Was?“, fragt Anna verwirrt und der Typ schaut sie mit seinen braunen Hundeaugen breit grinsend an. Anna wuschelt sich durch ihre kurzen roten Haare und wischt sich übers Gesicht. „Wo sind meine Bettbezüge?“

„Die hab ich heut Nacht direkt in die Waschmaschine gesteckt. Hast alles vollgekotzt.“

„Oh“, sagt Anna.

„Dein Gesicht hab ich dir auch gewaschen.“

„Na dann.“ Anna kratzt sich am Kopf. Wenn sie sich nur an irgendwas erinnern könnte. „Und meine Klamotten?“

„Die hab ich auch in die Waschmaschine gesteckt.“

„Ach so.“

„Wollte nicht, dass du in lauter Kotze aufwachst.“

„Ah ja.“ Anna räuspert sich. „Haben wir?“

„Nein“, sagt der Typ. „Ich hab mich nur zu dir gelegt. Damit es dir nicht kalt wird.“ Er lächelt verschämt. „Ehrlich gesagt krieg ich keinen hoch. Nebenwirkung vom Antidepressivum.“

Also keine Pille danach. Danke.

„Aber ich hab dich doch auch ganz gut verwöhnt, hm?“, kichert er. „Soll ich weitermachen?“

„Nee, nee. Ich brauch erst mal Wasser.“

„Zu Befehl.“ Der magere Typ springt auf und geht in die Küche.

Anna flucht leise vor sich hin. Wickelt sich fest in ihre Decke ein. Der Typ kommt wieder, reicht ihr das Wasser. Anna trinkt. Deutet auf einen der überquellenden Umzugskartons. „Kannst du mir mal bitte die Jogginghose da geben? Und ein T-Shirt?“, fragt sie den Typ und starrt dabei aufs Bett.

„Willst du dich wirklich schon anziehen? Ich dachte eigentlich, dass wir –“

„Ich stinke, mir ist schlecht und ich muss pissen, also gib mir bitte meine Sachen, damit ich ins Bad gehen kann.“

Der Typ zuckt mit den Schultern und wirft ihr die Klamotten zu.

Anna flüchtet unter die Dusche. Die Waschmaschine brummt. Anna würde am liebsten reinsteigen und sich ebenfalls kräftig durchschütteln lassen. Es war echt nicht ihre beste Idee, so einen Irren mit in ihre neue WG zu schleppen.

Kennengelernt haben sie sich beim Rauchen in Campingstühlen. Vor der Klapse. Anna hat nicht nein gesagt, als er angeboten hat, ihr beim Umzug zu helfen.

Er hat Kisten geschleppt und wie es der Zufall so wollte, war in ihrer neuen WG gerade eine Garagenparty – da konnte sie ihn ja schlecht wegschicken. Also haben sie getrunken. Viel getrunken. Dann geknutscht. Dann Lichter aus. Dann seekrank. Dann wach und nackt und Typ.

Besagter Typ kniet auf Annas Boden, die fettigen Haare hängen ihm ins Gesicht, als sie aus dem Bad zurückkommt. Er schrubbt mit einem Schwamm auf ihrem grauen Teppich rum, um die letzten Spuren ihrer Kotze zu beseitigen.

„Das kann ich doch auch selber machen“, sagt Anna genervt.

„Bin schon fertig.“ Der Typ schmeißt den Schwamm in einen Eimer und geht aus dem Zimmer. Mit der frischgewaschenen Wäsche im Arm kommt er zurück. „Wo soll ich sie aufhängen?“

„Leg sie einfach auf den Tisch“, – und hör endlich auf, so nett zu mir zu sein!

Der Typ legt die Sachen brav ab und steht ratlos da. „Und knutschen?“

Anna zündet sich eine Zigarette an. „Lieber nicht. Sonst verpasst du noch den nächsten Zug.“

„Bist du den Typ losgeworden?“, fragt Hugo, Annas neuer Mitbewohner, als sie sich auf einen der bunt zusammengewürfelten, verschlissenen Stühle zu ihm an den kleinen runden Küchentisch setzt. Er schiebt seine Nerd-Brille zurecht und zieht geräuschvoll den Rauch seiner Zigarette ein.

„Ja.“

„Hab gar nicht mitbekommen, dass der hier gepennt hat. Eigentlich sollte der nur schnell seine Sachen aus deinem Zimmer holen und dann verschwinden, nachdem ich dich ins Bett gebracht hab.“

„Hat er wohl nicht verstanden.“

„Ist was passiert?“

„Weiß nicht, kann mich an nichts erinnern.“ Anna zündet sich eine Zigarette an. „Bin davon wach geworden, dass er mich geleckt hat, ehrlich gesagt.“

„Wie bitte? So ein Schwein!“

Anna schweigt.

Hugo drückt seine Zigarette aus und zündet sich eine neue an. „Das kann echt nicht wahr sein. Den kannst du anzeigen, ey.“

„Ach Quatsch. Der wusste nicht, was er tut. Haken dran“, murmelt Anna.

„Du konntest gestern nicht mal mehr allein laufen, so besoffen warst du. Ich hab dich mit Klamotten ins Bett gelegt.“

„Na die hatte ich heute früh jedenfalls nicht mehr an. Und er war auch nackt.“

„Wer weiß, was der mit dir gemacht hat … Ich hätte den nicht allein zu dir in die Wohnung lassen sollen“, sagt Hugo betreten.

„Konntest du ja nicht wissen.“

„Soll ich mit dir zur Polizei gehen?“

„Nein.“ Anna trinkt einen großen Schluck Kaffee aus der geblümten Tasse. „Ich meine, ich hab ja auch mit ihm rumgeknutscht, davor. Das weiß ich noch. Dann Kopf aus.“

„Ja, ihr habt geknutscht. Und zu viel getrunken. Deshalb hab ich dich auch hochgebracht“, Hugo guckt ernst, „Aber das gibt dem Arsch doch nicht das Recht, alles mit dir zu machen.“

„Selbst schuld.“ Anna verschränkt die Arme.

„Nein. Bist du nicht.“ Hugo reicht Anna eine Zigarette.

Anna zündet sie zitternd an. „Doch. Ich hätte ihn einfach nicht küssen dürfen.“

„So ein Quatsch. Er hätte das nicht machen dürfen und basta.“ Hugo trinkt einen Schluck Kaffee. „Vor allem stehst du ja auf Frauen. Das macht das Ganze irgendwie noch ekliger.“

„Ja. Wobei, meinem besoffenen Ich ist das irgendwie egal.“

„Also bist du bi? Als ich neunzehn war, also so alt wie du, war ich auch nicht wählerisch.“

Anna wischt an ihren Augen rum. „Keine Ahnung. Ich verlieb mich in Frauen und schlafe mit Kerlen … Ist einfacher. Keine Gefühle, kein Stress. Nur für die Kerle ist das immer gleich Liebe auf den ersten Fick, das nervt. Egal. Ist noch Kaffee da?“

„Klar, nimm dir.“

„Was machst du heute noch?“, fragt Anna, um endlich das Thema zu wechseln.

„Ich hab noch ein Date“, sagt Hugo stolz. Seine strahlend grünen Augen funkeln verschmitzt.

„Wie heißt er?“, fragt Anna grinsend.

„Keine Ahnung. Im Internet heißt er Bienerich Maja.“

Anna prustet los und spuckt dabei fast ihren Kaffee auf den Tisch. „Was für ein beschissener Name!“

Die Wohnung wird aufgeschlossen. Keuchend kommt die dritte Mitbewohnerin rein und stellt sich in die Küchentür. „Puh, hier steht ja ganz schön der Rauch. Könnt ihr das Fenster aufmachen? Das wäre supi.“ Sie sieht sich angewidert um. „Ich wollte demnächst kochen. Wann räumt ihr hier auf?“

„Und, wie war dein Wochenende?“, fragt Hugo genervt und zündet sich eine Kippe an.

Die Dritte winkt ab. „Frag nicht.“ Sie hüstelt. „Na gut, ich gehe jetzt mal duschen. In der Zeit könnt ihr das Chaos ja beseitigen“, sagt sie und verschwindet.

Hugo und Anna ziehen synchron die Augenbrauen nach oben.

„What the fuck?“, flüstert Hugo. „Na mit der werden wir ja noch Spaß haben … Wohnt hier seit einer Woche und denkt, sie ist der Chef, ey.“

Anna lacht und fängt an, leere Bierflaschen in eine Tüte zu stopfen.

Aus dem Bad ruft es: „Ich will ja nicht nerven, aber es wäre supi, wenn ihr das Wasser vor der Wanne wegwischen könntet, nach dem Duschen.“

„Was hab ich mir da nur ins Haus geholt?“, murmelt Hugo und schließt kopfschüttelnd die Tür.

Magda: Nach-Abi-Krise

Magda trägt Umzugskartons. Magda spricht nicht und trägt Umzugskartons.

Dann sitzt Magda auf dem Boden in einer leeren Wohnung, nippt an ihrem Tee und verbrennt sich die Zunge. Magda schweigt. Alle schweigen, sitzen da und warten und sehen sich nicht an.

Abschiede sind scheiße, denkt Magda und nippt Tee. Bald bin ich ganz allein.

Mia, Magdas beste Freundin, springt auf. „Noch jemand Tee?“

Magda schüttelt abwesend den Kopf. Die anderen drei Helfer murmeln etwas. Magda hört nicht hin. Sie schließt die Augen, möchte, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie möchte nicht allein sein.

Es klingelt. Magda zuckt zusammen. Ihr Herz pumpt. Ihr wird schlecht. Sie will nicht heulen, doch das interessiert ihre Augen irgendwie nicht. Das ist er also – der Moment, in dem auch ihre letzte Freundin die Stadt verlässt. Ihre beste Freundin.

Unbeholfen steht Magda auf der Straße, beide Hände in den Hosentaschen ihrer Jeans, die Schultern nach oben gezogen, den Blick gesenkt unter der Kapuze ihres Hoodies. Mias Mutter begrüßt sie. Magda nickt ihr zu. Dann geht es schnell. Mia geht zu Magda. Magda schaut sie an. Auch sie hat Tränen in den Augen. Die Freundinnen umarmen sich. „Bis bald“, schluchzt Magda. Dann umarmen sie sich noch einmal. Magda will nicht loslassen, doch sie muss.

Eine Autotür knallt zu. Dann noch eine. Der Motor geht an, das Auto fährt los. Magda steht da und winkt, eine Hand aus dem Fenster winkt zurück.

Mia wird nun ihr neues Leben beginnen, in London. Weit weg von hier. Weit weg von ihr.

„Ich könnte jetzt einen Schnaps vertragen“, sagt einer der Helfer. „Kommst du mit?“

Magda zuckt mit den Schultern, wischt an ihren Augen herum und folgt den anderen. Sie kennt sie nicht gut, mag sie auch nicht besonders. Aber wenigstens sind sie noch da.

Die vier setzen sich in einen Biergarten, zeigen ihre Ausweise, um zu beweisen, dass sie alle achtzehn sind und bestellen Tequila Gold. Es ist mittwochs fünfzehn Uhr. Na und? Schule haben sie ja nicht mehr. Sie haben jetzt ihr Abitur. Sie haben jetzt erwachsen zu sein. Sie lecken Zimt von ihren Handgelenken, trinken Tequila und beißen in Orangenscheiben, nur, um irgendwas zu tun.

Sie sitzen zusammen und saufen, um zu vergessen, dass sie zurückgelassen wurden. Dass ihre Freunde der Reihe nach verschwinden, während sie ziellos nach Hause wanken.

Das Leben nach dem Abi – eine nicht enden wollende Party. Yeah. Freiheit. Yeah. Tun und lassen können, was man will. Yeah.

Wenn man nur wüsste, was man will, denkt Magda und trinkt. Sie sitzt zuhause vorm Fernseher, statt Shisha rauchend im Park. Liegt nachts im Bett, statt in zugeschissenen Ruinen rumzustöbern, im Brunnen zu baden oder dem Sonnenaufgang entgegenzulaufen. Starrt ihre Gitarre an, statt mit ihrer Band auf der Bühne zu rocken. Denn die gibt es auch nicht mehr. Alle sind weg. Alles ist weg, was ihr etwas bedeutet hat. Magda war noch nie so einsam wie jetzt.

Lena: Das nächste Auto

Lena steht vor der Treppe und heult. Ich schaffe das nicht, denkt sie sich, ich schaffe das nicht.