Schmerzen und Verhalten - Dr. Patrick Blättler-Monnier - E-Book

Schmerzen und Verhalten E-Book

Dr. Patrick Blättler-Monnier

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Beschreibung

Hunde sind stille Leider: Bis sie Schmerzen für uns sichtbar in Lahmheit oder Schmerzlauten äußern, sind sie schon unerträglich geworden! Und da Signale für leichteren oder chronischen Schmerz so subtil sein können, werden sie häufig übersehen – mit dem Ergebnis, dass Verhaltensauffälligkeiten wie Angst oder Aggression, aber auch Hibbeligkeit oder Apathie nicht damit in Verbindung gebracht werden. Selbst Veterinäre finden die Entzündungs- und Schmerzherde bei oberflächlicher klinischer Routineuntersuchung meist nicht und übergeben die Hunde als "medizinisch gesund" an den Verhaltenstrainer zurück. Hier beginnt nun ein Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gibt, solange die eigentliche Ursache – der Schmerz – nicht erkannt und behoben wird. Diesem wichtigen Thema widmen sich die erfahrene Hundetrainerin Katrien Lismont und der auf Schmerztherapie und Orthopädie spezialisierte Tierarzt Dr. Patrick Blättler-Monnier, die auch im richtigen Leben immer wieder an hündischen Patienten zusammenarbeiten, in diesem einzigartigen Buch. Lernen Sie verstehen, wie Schmerz entsteht und was er mit dem Körper macht, wie Sie erste Warnsignale für Schmerzen sehen lernen und umgekehrt, bei welchen Verhaltensauffälligkeiten Sie an Schmerzursachen denken sollten. Mit einem Extra-Kapitel zum Zusammenhang von gesunder Welpenentwicklung und Schmerzgeschehen bzw. -prophylaxe.

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© 2023 KYNOS VERLAG Dr. Dieter Fleig GmbH

Konrad-Zuse-Straße 3 • D-54552 Nerdlen/Daun

Telefon: 06592 957389-0

www.kynos-verlag.de

eBook (epub) Ausgabe der Printversion 2024 (2. Auflage)

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-95464-322-6

eBook (epub)-ISBN: 978-3-95464-320-2

Bildnachweis:

Blättler-Monnier, Dr. Patrick:

S. 12, 13, 15, 70, 89, 106, 107, 108, 123, 160, 161, 162, 193, 210 oben

Daguati, Melanie:

S. 24, 39 oben, 204

Lismont, Katrien:

S. 6, 9, 21, 28, 33, 36, 39 unten, 40, 42, 44, 47, 49, 50, 51, 53, 54, 61, 62, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 138, 140, 142, 143, 144, 165, 166, 167, 168, 169, 171, 175, 199, 200, 202, 205, 207, 209

Mpaltsidis, Daphne:

S. 210 unten

Titelfoto:

DoraZett-adobe.stock.com, kintarapong-adobe.stock.com

Alle Grafiken:

Kynos Verlag nach Vorlagen von Dr. Blättler-Monnier

(außer: S. 50: Katrien Lismont,

S. 75: Dr. Blättler-Monnier, SciePro-stock.adobe.com)

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Ein Wort zuvor

1. Ganzheitliche Verhaltensanalyse

Eine eingehende Analyse

Was ist Verhalten und wozu dient es?

Die Rolle des Schmerzfaktors im Verhaltensmuster

Wohlbefinden statt Schmerzen

Wirksam therapieren statt experimentieren

Fallgeschichte Mika

2. Die Hürden für den Verhaltenstrainer

Hunde zeigen Schmerzen anders, als wir es erwarten

Trainer sind keine Mediziner oder Therapeuten

Der Hund wird bereits medizinisch und therapeutisch begleitet

Der Hund ist jung oder neu

Der Hund hat einen Job oder ist Sportler

Hürden ohne Gültigkeit

3. Warum kommt ein Hund ins Verhaltenstraining?

Allgemein belastendes Verhalten

„Symptomverhalten“

„Satellitverhalten“

Stilles Verhalten, nicht bestehendes Verhalten

Die DOGood FeelGOOD Matrix in der Schmerzthematik

Fallgeschichte Tayo

4. Schmerzen – die medizinische Sicht

Schmerztypen und Terminologie

Somatischer Schmerz

Viszeraler Schmerz

Akuter Schmerz

Chronischer Schmerz

Chronifizierter Schmerz

Allodynie

Belastungsschmerz

Bewegungsschmerz

Neuralgie

Neuropathischer Schmerz

Arthroseschmerz

Schmerzgedächtnis

Schmerzen, Verhalten, Krankheit – holistisch betrachtet

Die Anamnese als Grundlage

Nozizeption: Die Wahrnehmung von Schmerzen – Alarmzeichen und falsche

5. Schmerzen und ihre Folgen

Das Skelettsystem

Das Gewicht

Herz-Kreislauf-Sauerstoffhaushalt

Hormonsystem

Thermoregulation

Leistungsabfall und Schwäche

6. Die verschiedenen Schmerzprozesse beim Hund

Psychosozialer Stress und Schmerz

Somatisierung

Die Verhalten-Schmerz-Spirale

Das Reiz-Reaktionsprinzip

Das Reiz-Reaktionsprinzip aus orthopädischer Sicht

Das holistische Krankheits- und Schmerzmodell – Das Lawinen-Modell

Praxisfälle im Zusammenhang mit dem Krankheitsmodell

Fallgeschichte Dushana

Zentralisation des Schmerzes: Kopfschmerzen beim Hund

Migräne beim Hund

Spannungskopfschmerzen (Halswirbelsäule)

Clusterschmerzen

Posttraumatische Kopfschmerzen (Schädel-Hirn-Trauma)

Fallgeschichte Kyrill

Fallgeschichte Mawa

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Posttraumatische Bewegungs- und Belastungsstörung (PTBBS) inkl. Kopfschmerzen nach Blättler-Monnier

Die posttraumatische Bewegungs- und Belastungsstörung beim Welpen

Fallgeschichte Romy: Die posttraumatische Bewegungs- und Belastungsstörung (PTBBS)

Zusammenfassung der posttraumatischen Belastungsstörungen

7. Schmerzzeichen

Aussehen und körperliche Reaktionen

Das Fell und Fellmuster

Die Körperhaltung

Gesicht und Kopf

Zeichen aus dem vegetativen Nervensystem

Asymmetrien

Das Gangbild

Generelle Verhaltensprobleme und andere Anzeichen, bei denen man unbedingt Schmerzen abklären lassen soll

Aggression

Leinenreaktivität

Allgemein ängstliches oder unsicheres Verhalten

Bedingte Trainierbarkeit

Mangelhafte Ansprechbarkeit

Gute Tage, schlechte Tage

Dr. Jekyll & Mr. Hyde

Geringe Belastbarkeit

Berührungsempfindlichkeit

Multiple Gesundheitsprobleme

8. Die Diagnostik

Multimodalität in der Diagnostik und Therapie

Die funktionelle orthopädische Untersuchung

Schmerzmittel richtig einsetzen

Gabapentin beim Hund mit Arthrose

Substitution von Schilddrüsenhormonen im Zusammenhang mit dem Krankheits- und Schmerzmodell

Fallgeschichte Aska

9. Verhalten aus der Sicht des Verhaltenstrainings

Symptomatisches Verhalten

Rastloses, schnelles, hektisches Verhalten

Distanzsuchendes Verhalten – Berührungsempfindlichkeiten

Hitzige Beißvorfälle

Impulsives Verhalten, keine Selbstkontrolle

Repetitive Handlungen

„Stilles“ Verhalten

Lecken, Kratzen, Beißen, Schütteln

Lautäußerungen

Satellitverhalten

Probleme beim Autofahren

Trennungsprobleme und „Klammern

Geräuschempfindlichkeit oder -ängste

Ressourcenaggression

Übermäßiges Jagdverhalten

Übermäßiges Sexualverhalten bei Rüden

Die „kleineren Zeichen“

10. Die multimodale Schmerztherapie beim Hund

Prophylaxe und Therapie beim Welpen – Je früher, desto besser

Frühdiagnostik Hüftgelenksdysplasie beim Welpen und Junghund

Fallgeschichte Frieda

Prophylaxe und Therapie beim wachsenden Hund

Ernährungskontrolle – der Zusammenhang zwischen Gewicht und HD

Regelmäßige Kontrolle von Skelettsystem und Ernährung beim Spezialisten für Orthopädie

Die orthopädische manuelle Therapie der Biomechanik

Therapie mit PRP eines Kreuzbandrisses

Therapie mit ACS (orthokin oder IRAP)

Therapie mit Polyacrylamid bei Hüft- und Ellenbogenarthrosen

Líbrela – der Heilsbringer bei der Arthrose beim Hund?

Zusammenfassung der Therapiemöglichkeiten

11. Training, Beschäftigung, Selbsthilfe

Was können Sie selbst tun?

Was hilft wahrscheinlich nicht?

Generalisieren – in kleinen Schritten

Beschäftigungsmöglichkeiten für Kopf und Körper

Schlusswort

Über die Autoren

Videos

Zu den einzelnen Videos gelangen Sie direkt über die QR-Codes im Text.

Alternativ können Sie diesen Link eingeben:

https://www.hundebuchshop.com/nextshopcms/Videolinks-Schmerzen-und-Verhalten.htm

Einleitung

von Katrien Lismont

Schmerz ist einer der häufigsten Antreiber von kompliziertem und belastendem Hundeverhalten. Das konnte ich in meiner fast zwanzigjährigen Erfahrung im Verhaltenstraining beobachten. Ich musste im Laufe der Zeit einen Weg finden, diesen so wichtigen und beherrschenden Aspekt zu bearbeiten, denn ohne Behandlung oder Linderung gab es in vielen Fällen nur wenig oder gar keinen Fortschritt. Leider ist Schmerz auch der Faktor, der am meisten verkannt und missverstanden ist. Es ist keine einfache Angelegenheit, mit Hundehaltern über die Schmerzen ihres Hundes zu sprechen. Vor allem nicht, wenn man nicht die erste Anlaufstelle für die Verhaltensprobleme des Hundes ist und vorher noch niemand darauf hingewiesen hat, dass das Verhalten dieses Hundes schwer trainierbar ist, weil die Ursache nicht beseitigt wurde. Auch und gerade dann, wenn der Hund womöglich bereits vollständig und / oder von mehreren und unterschiedlichen Therapeuten untersucht wurde und alle Diagnosen ohne Befund waren, hat man als Verhaltenstrainer einen schweren Stand, wenn man es als dringend erachtet, diesen Hund noch einmal medizinisch begutachten zu lassen. Oftmals fehlt in der Allgemeinpraxis die Zeit für eine eingehende Untersuchung inklusive Gangbild, Palpation und Anamnese, und leider ist es noch oft so, dass, wenn der Hund nicht hinkt oder jammert, nicht auf Schmerzen geschlossen wird.

Persönlich denke ich, dass niemand absichtlich seinem Hund und dem Patienten medizinische Sorgen vorenthält, aber sicher ist, dass durch die fast unendliche Individualität der Konstellation von Mensch und Hund eine Vielzahl an Gründen dafür bestehen, dies nicht als Priorität zu betrachten und das Heil im Training zu suchen.

Warum ist das Thema so heikel?

Es kann die eigene Angst vor der medizinischen Welt sein, fehlende Erfahrung mit Schmerzen, eine langwierige und emotional belastende und kostspielige Historie mit einem vorhergehenden älteren Haustier oder gar einem sehr kranken Menschen im familialen Umfeld. Es kann die Angst vor den Kosten sein, die Angst vor einer schweren Diagnose, die fehlende Zeit, sich darum zu kümmern oder schlicht und ergreifend der fehlende Glaube daran, dass Hunde ihre Schmerzen so dermaßen anders zeigen, als wir das von uns und unseren Mitmenschen kennen. Hunde sind in der Lage, massive Schmerzen zu ertragen, ohne die Funktion einzustellen, sie fangen jedoch an, sich anders zu verhalten. Deshalb ist es so unverständlich, dass das Wesen, mit dem wir unter einem Dach leben, schmerzgeplagt sein kann. Es ist ganz oft auch ein Gefühl von Versagen, als bester Freund nicht wahrgenommen zu haben, dass das Tier im Stillen leidet. Aber Hunde sind nun mal Meister im Verbergen von Schmerzen.

Darum und aus noch vielen anderen Gründen mehr ist es nicht direkt ein einfaches Thema, über das wir dieses Buch erschaffen. Selbstverständlich ist das Ziel des Buchs, dass mehr Hundeprofis für dieses Thema sensibilisiert werden. Hier werden Sie erfahren, wie viele unterschiedliche Verhaltensweisen auf Schmerzen hinweisen können – Verhaltensweisen, die typisch für die sogenannten reaktiven, hyperaktiven, gestressten oder auch komplett entspannt erscheinenden Hunde sein können. Viele dieser Hunde bringen sich selbst durch ihr Verhalten in die Probleme, und das ergibt wiederum Konsequenzen: neue und leider manchmal härtere Trainingsmethoden, gar kein Training mehr oder gar sehr viel Training. Besonders dann, wenn der Hund sehr aktiv ist, werden Möglichkeiten gesucht, ihn mehr auszupowern, meistens körperlich. Dadurch wird gerade der Körper wieder übermäßig belastet, wodurch der Hund noch mehr ventilierendes Verhalten zeigt. Die Spirale ist manchmal endlos und kann viel Kummer hervorbringen, bei Mensch und Hund. Konsequenzen folgen auf Konsequenzen.

Es ist meine persönliche Erfahrung, dass es keine gute Idee ist, sich nur auf Training am störenden Verhalten zu konzentrieren. Denn das Training gestaltet sich so zäh und schwer, dass die schmerzbetroffenen Hunde irgendwann entweder abhaken oder dagegenhalten. Das bedeutet: das Verhalten wird womöglich belastender, obwohl man sehr viel Zeit und Aufwand in das Training davon gesteckt hat. Es kann fatal werden: entweder für einen anderen Hund, für eine Person oder für den aggressiven Hund selbst. Auf dem Weg dahin sind viele emotionale Momente und Gedanken der Verzweiflung und Ermüdung gewesen, häufige Trainerwechsel, häufige Therapeutenwechsel, eine wachsende Bereitschaft zu übergriffigen oder rangordnungsbetonten Lösungen, kurzum ein großer emotionaler, zeitlicher und finanzieller Aufwand mit wenig positivem Resultat und viel Überforderung. Auf der anderen Seite wird nicht selten durch das schonende und stressreduzierende Vorgehen der Alltag (ich nenne es auch das Universum) des Hundes und sein menschliches Umfeld so klein und eingeschränkt, dass sowohl Mensch wie Hund zu kurz kommen, körperlich, emotional und mental. In seltenen Fällen wird auch über eine endgültige Lösung nachgedacht, sei es, dass man sich vom Hund trennt oder ihn erlösen lässt.

Gerade, wenn man von Training spricht: allein der Gedanke, das schwierige Hundeverhalten resultiert aus Schmerzen, lässt einen zusammenzucken, wenn man sieht, wie oft auf schmerzzufügende und einschüchternde Trainingsmethoden zurückgegriffen wird, weil es der Hund sonst nicht versteht. Und genau so ist es: der Hund verhält sich „daneben“, weil er im Moment keine andere Möglichkeit hat.

Schorsch und Carolin sind nach längerem Training, das keinen sichtbaren Erfolg brachte, dem Schmerz auf dem Grund gegangen. Das war der Wendepunkt.

Viele tolle Träume vom Leben mit Hund lassen sich verhaltensbedingt nicht erfüllen und das bedeutet viele Enttäuschungen, Frustrierungen und Unzufriedenheit… mit dem Hund. Der Hund wird zur Last, zum Problempaket. Er muss doch nur funktionieren. Und es wird weitergesucht: eben neue und andere Trainingsmethoden, Blutbilder müssen her (was ja nicht falsch ist), Hormone werden hoch und runter beeinflusst und oft genug wird zu Psychopharmaka gegriffen. Das Resultat: es hilft alles ein bisschen. Aber wirklich nur teilweise. Der Hund wird zu einem wandernden Experiment, jede neue Maßnahme schafft ein bisschen Hoffnung, aber auf Dauer war es doch kein Durchbruch. Der kürzeste, der wohltuendste Weg, nämlich den Hund auf Schmerzen prüfen zu lassen und ihn davon zu befreien, wird nicht oder selten genommen. Manchmal wird dieser schon gewählt und strandet leider bei einer ungenauen Diagnose oder einer ineffizienten Behandlung. Das konnte es also auch nicht gewesen sein.

Man gewöhnt sich als Trainerin daran, diesen Werdegang zu erfahren und nicht emotional zu werden, und ich denke, mein Co-Autor wird als Tiermediziner die gleichen Erfahrungen machen.

Aber derjenige, um den es hier in diesem Buch geht, dürfen wir nicht vergessen. Wie geht es dem Hund? Was kann er dafür? Wir können wir ihm schnell und effektiv und vor allem nachhaltig helfen?

Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, sowohl als Mediziner, Therapeut, Hundetrainer oder sonstiger Hundeprofi und natürlich auch als Hundehalter ein Auge zu entwickeln für die Schmerzsignale und die -zustände Ihres Tieres. Diese sind nämlich vielfältig und setzen sich zusammen aus einer Mosaik von Haltungen und Schonhaltungen im Liegen, Sitzen und Schlafen und von Gangbildern, die zeigen, dass bestimmte Körperteile nicht belastet oder überbelastet werden, von äußerlichen Merkmalen, Fellmustern und von Verhaltensweisen. Wenn der Hund lahmt oder aufschreit, ist der Schmerz bereits untragbar, bis dahin toleriert er ihn im Stillen. Ebenfalls deutet subtiles bis deutliches Meideverhalten und auch großes heftiges und störendes Verhalten selbstverständlich auch auf die Existenz von Schmerzen oder Angst vor Schmerzen hin. Was Sie sehen können und was Sie nicht sehen, aber dennoch beobachten können, das möchten wir Ihnen zeigen.

Das Buch soll ebenfalls mehrere Möglichkeiten aufzeigen, wie Sie vorgehen und was Sie veranlassen und auch selbst zu Hause machen können. Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Deswegen ist es ein Segen, dass Dr. Patrick Blättler-Monnier sich bereit erklärt hat, dieses Buch mitzuschreiben.

Wichtig ist: die Schmerzdiagnose ist ein wichtiger und unabdingbarer Schritt, aber sie ist nur der Beginn der Reise. Je eher sie beginnt, desto besser für die Entwicklung des Verhaltens. Je länger der Hund sein ventilierendes Verhalten nutzen musste, desto tiefer prägt es sich und desto häufiger und genereller wird er darauf zurückgreifen.

Es geschieht so viel Schönes, wenn der Hundehalter nachvollziehen kann, dass das Verhalten seines Hundes aufgrund einer Schmerzthematik entwickelt wurde. Die Frustration, der Zorn, der Unmut und die Ungeduld schwinden wie Schnee vor der Sonne, wenn der schmerzbefreite Hund wie ein Zauberlehrling auf das positive und selbstwirksame Training reagiert, denn jetzt kann sein Hirn für anderes als für eine der vier F’s eingesetzt werden. (Fight, Flight, Freeze, Fiddle, übersetzt: Aggression, Flucht / Angst, Einfrieren / keine Bewegung oder Herumkaspern). Jetzt kann der Hund er selbst sein, ohne Angst und Einschränkungen.

Eine weitere gute Nachricht: Manche, ja viele Schmerzzustände sind mit Schmerzmanagement recht gut zu beseitigen oder zu bewältigen. Andere Schmerzen werden einen immer begleiten, aber sind beeinflussbar. Der Ansatz ist unterschiedlich und dafür gibt es einerseits Spezialisten und Therapeuten, andererseits ist es die Aufgabe des Hundehalters, permanent ein Auge darauf zu halten und einzugreifen, wenn es notwendig wird.

Mit diesem Buch wollten wir jedem, der mit Hunden lebt und zu tun hat, die Angst nehmen, sich mit dem Thema Schmerzen auseinanderzusetzen. Wir schreiben tatsächlich das Jahr 2023 und wir haben glücklicherweise so viele gute multidisziplinäre Möglichkeiten zur Hand. Sicherlich ist der Weg hiermit nicht zu Ende und das Thema nicht ausgeschöpft, denn kein Fall ist wie ein anderer. Dennoch denke ich, dass für die Hundeszene die Zeit richtig ist, diesbezüglich einen passenden Impuls herauszutragen, sodass dieses Thema irgendwann im Hundeverhaltenstraining nicht mehr wegzudenken ist. Das ist mein Traum.

Katrien Lismont

Ein Wort zuvor

Von Dr. Patrick Blättler-Monnier

Um diese einleitenden Worte meiner Co-Autorin zu untermalen und zu betonen, einerseits wie sehr der Hund ein stiller Leider ist, wie komplex und doch subtil die Zeichen sein können und andererseits, dass je nach Schmerzprozess Reaktionen im Verhalten stattfinden können, sei es einerseits über die Aggression, andererseits Angstverhalten oder drittens Leistungsabfall oder andere, so möchte ich dies anschaulich im folgenden Videobeispiel aufzeigen:

Fall Kyano

In dieser Videosequenz sehen Sie einen 15 Monate alten Rottweiler, der seit gut 8 -12 Wochen einen Leistungsabfall zeigt, weniger aktiv zum Teil ein Meideverhalten zeigt, allgemein weniger freudig ist und vor allem weniger auf Spielaufforderungen eingehen kann.

In der Bewegung sehen Sie von hinten, dass die rechte Beckengliedmaße etwas instabil erscheint, es ist eine Art Wegknicken zu erkennen, Aber auch eine kreisförmige Bewegung der rechten Beckengliedmaße, man sieht eine ganz leichte Hangbeinlahmheit. Der ganze Prozess in dieser Bewegung ist wirklich sehr milde. In der Vorhand läuft der Hund relativ gleichmäßig, er „schubt“ auch zum Teil aus der Vorhand, das bedeutet, er macht zum Teil eine gezogene Bewegung, ein sogenannten Pull-Move. Alles in allem läuft dieser Hund aber verhältnismäßig gleichmäßig. Für den nicht geübten Betrachter fällt die Problematik kaum auf. Vielen Hundeprofis und -behandlern sind diese Bewegungsmuster auch nicht auffällig oder erkennbar. Auf der nächsten Seite sehen Sie dann die Röntgenbilder der Hüfte. Und zwar gestreckt, gebogen – eine Distraktionstechnik, die die Lockerheit des Hüftgelenks aufzeigt sowie ein DAR, eine Projektion für das Dach des Hüftgelenks. Wenn Sie nun diese ansehen, werden Sie wahrscheinlich sehr erstaunt sein, dass der rechte Oberschenkel nicht mehr in der Hüftpfanne artikuliert, d. h. nicht mehr fest in ihr drinsitzt. Dass der Hund mit diesem radiologischen Befunden so gut läuft, liegt einerseits daran, dass er effektiv ein stiller Leider ist, also kaum seine Schmerzen zu Tage bringt, andererseits verfügt der Rottweiler über relativ eine starke Beckenmuskulatur, die dies zu einem Teil kompensieren kann. Es ist aber nachvollziehbar, dass das klinische Verhalten des Hundes und der radiologische Befund ganz klar kausal in einem Zusammenhang zu sehen sind.

Röntgenbilder der Hüfte des Rottweilers aus dem Videobeispiel

Es würde nicht erstaunen, wenn anhand dieser Symptome und dieser radiologischen Befunde der Hund auch ein anderes Verhalten zeigen würde, etwa ein aggressives Verhalten oder ein Schutzverhalten. Für viele Hunde ist Angriff die beste Verteidigung. Dieser Hund hat eine massive Beeinträchtigung seiner skelettalen Funktion. Dass er mit seiner genetischen Disposition keine aggressiven Zeichen zeigt, ist sehr erstaunlich und ist somit ein Zeichen für seine Ausgeglichenheit. Das zeigt aber auch, dass der Hund eine angemessene Sozialisierung, Prägung und Konditionierung beim Züchter und beim Hundehalter erfahren hat.

Diese Schmerz- oder Bewegungssequenzen aus dem Video mit dem Rottweiler sind auch beim Hund generell zu beobachten. Diese treten nach dem Aufstehen auf, sind meistens aber sehr schnell wieder weg. Darum ist auch für den Hundebesitzer nicht immer einfach zu erkennen, ob das jetzt einfach nur die Folge einer Fehl- oder Überbelastung ist oder effektiv wirklich ein Problem, eine Entzündung, orthopädische Erkrankung oder einfach nur einen Schmerzprozess darstellt. Andererseits können Schmerzen sich auch klinisch manifestieren, was sich durch einen reduzierten Appetit und eine gestörte Nahrungsaufnahme äußern kann. Weitere Symptome sind die Beeinträchtigung der allgemeinen Lebensqualität und Vitalität, vermehrtes Trinken aufgrund von entzündlichen Prozessen, die mit Hitzeentwicklung einhergehen und in diesem Kontext das Aufsuchen von kühlen Plätzen zum Liegen. Das kennen wir auch aus der Humanmedizin. Andererseits ist es auch möglich, dass die Schmerzen sich in der Atmung widerspiegeln, man beobachtet ein Husten oder Räuspern, vor allem bei Veränderungen in der Halswirbelsäule.

Der dritte Punkt, das Verhalten, wurde bereits in der Einleitung meiner Co-Autorin geschildert und ist auch für mich als Tiermediziner häufig ein deutlicher Anreiz für die Suche nach den physischen Ursachen der Schmerzzeichen.

Diese vier Reaktionen, vorher als die vier F’s beschrieben, sind vom Mandelkern gesteuert und als Hauptmuster bei Schmerzen beim Hund zu sehen. Dabei sieht es für die meisten Hundehalter wie normales „aktives“ oder „nervöses“ Verhalten aus.

Den vierten Aspekt, die Hibbeligkeit, konnte ich in meiner Studie über das Wachstum der Welpen feststellen, die wir von 2019 – 2022 durchgeführt haben. Die meisten Hunde, die eine Hüftgelenkdysplasie am Ende dieser Studie bei der offiziellen Auswertung der Radiologie aufwiesen, waren auch im Wachstum eher sehr aktive bis hyperaktive und rastlose Hunde, die zum Teil für den Besitzer schwierig zu führen waren.

Genau dieser Zusammenhang zwischen Schmerz und Verhaltensauffälligkeiten ist der zentrale Punkt in diesem Buch. Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat aufgezeigt, dass beim Mensch Veränderungen, Schläge und traumatische Ereignisse, die den Kopf betreffen, bedeutende Beeinträchtigungen verursachen können. Die Symptome können sehr vielfältig sein, wie Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Drehschwindel, um nur einige zu erwähnen, wie dies zum Beispiel bei einem Auffahrunfall, beim Joggen oder auch beim Sport passieren kann. Wenn die Wirbelsäule oder der Kopf auch nur leicht traumatisiert werden, hat dies Auswirkungen auf das Hirn, es entstehen Entzündungen, Schwellungen und Schmerzen beim Hirnstamm oder im Gehirn (ZNS).

Diese Entzündungs- und Schmerzprozesse und Schwellungen haben Auswirkungen auf die Funktion von Hirnstamm und Mittelhirn, aber auch die Großhirnrinde. Symptome können eine veränderte Bewegung sein, Sehstörungen mit verschwommenen Bildern und Sehvisus (Sehstärke), aber auch die Regulation von Neurokinen im Mittelhirn sowie Thalamusbereich sind zu beobachten. Diese Neurokine sind im Zusammenhang mit Entzündungen und Schmerzen und dessen Regulation zu verstehen. Die Folgen der Hirnerschütterung können somit auch auf das Verhalten des Menschen Einfluss nehmen, vor allem dann, wenn die Hirnerschütterung nicht erkannt wird und die Therapie auch nicht adäquat ausfällt. Die Folgen beim Menschen sind dann Depressionen und andere emotionale Beeinträchtigungen.

Wer Dio so rennen sieht, würde gerade in Anbetracht seiner Rasse nicht unbedingt darauf kommen, dass er erhebliche Schmerzen im Rücken hat.

Beim Welpen oder Junghund kann dies bereits eine Störung im Wachstum bedeuten. Dies werden wir Ihnen im Abschnitt zur Schilddrüse ab S. 156 näherbringen.

Dieses Thema – Einflüsse durch stumpfe Traumata auf Skelett und Kopf – berücksichtigen wir bei meinem Präventions- und Prophylaxe Programm LupoMove® Puppy, die Prävention und Prophylaxe des Welpen im Wachstum, weil dort ganz klar sämtliche Wachstumsfugen im Kopf noch offen sind und somit der Schutz bei Überschlägen oder Bodychecks im Spiel und Toben nur bedingt erfolgen kann.

Dies bedeutet weiter, dass die Problematik der Zusammenhänge zwischen Schmerz und Verhaltenssituationen bereits beim Welpen beginnen kann. Dieser Aspekt hat auch dann einen großen Zusammenhang mit der Prägung und der Konditionierung des Welpen, generell mit seiner Lernfähigkeit oder mit der intellektuellen Fähigkeit.

Zusammenfassend ist es wichtig zu erkennen, dass das Thema Schmerzen und Verhaltensveränderungen ein sehr komplexes ist. Wir müssen, um es seriös und professionell darzustellen, den Terminus technicus verwenden. Dadurch können einzelne Abschnitte schwieriger zu verstehen sein. Ich werde mich dennoch bemühen, diese Abschnitte so praktisch wie möglich zu erklären und mit Fallbeispielen aus der Praxis zu ergänzen, damit sie besser verständlich sind.

Dr. Patrick Blättler-Monnier

Fall Pepe

Pepe ist ein Hund mit gravierenden Problemen im Rücken und außerdem mit Kopfschmerzen. Er kommt so gut wie nicht mehr von der Leine wegen seiner mangelhaften Ansprechbarkeit draußen. Ein Rennflash ist nicht abnormal, aber für Pepe sicherlich schon erleichternd. Pepe würde nicht aufhören, wenn wir ihn nicht an die Leine nehmen würden.

1. Ganzheitliche Verhaltensanalyse

Eine eingehende Analyse

Wir starten in dieses Buch mit einem Kapitel über Verhaltensanalyse, da das Verhalten von all denen, die mit Hunden zusammenleben oder sie professionell begleiten, quasi an der Oberfläche wahrzunehmen ist.

Für die Verhaltensanalyse nutze ich einen Fragebogen, den ich aufgrund meiner Erfahrungen und Erlebnisse mit Hunden zusammengestellt habe und der gut zwölf Seiten lang ist. Ich vermute, dass die Kunden oftmals tief durchatmen müssen, wenn sie ihn anschauen, aber es war noch nie ein Problem, einen gut und authentisch ausgefüllten Fragenbogen zurückzuerhalten. Für viele Hundehalter und ihre Familie ist das der erste achtsame Moment, sich auf das Abenteuer mit mir vorzubereiten. Für das anschließende Gespräch, das ich zunehmend aufgrund der Stressfreiheit für alle Beteiligte per Zoom als Videokonferenz durchführe, brauche ich in der Regel mindestens anderthalb Stunden, jedoch meistens mehr als zwei Stunden. Vor diesem Gespräch studiere ich die Antworten im Fragebogen, damit ich während des Gesprächs nichts übersehe. Die Randnotizen führen sehr häufig dazu, dass sich die Punkte im weiteren Gespräch verbinden lassen. Nach diesem Gespräch habe ich aufgrund der Verhaltensbeschreibungen und -themen einen ziemlich guten Einblick. Dennoch ist es wichtig, immer wieder mit frischem Blick und ohne Voreingenommenheit ins praktische Training zu starten, denn die Wahrnehmungen der Hundehalter und meine eigenen sind nicht immer die gleichen. Von der ersten Lektüre des Fragebogens bis zum praktischen Training betrachte ich meine Arbeit als regelrechte Detektivarbeit und es ist meine Aufgabe, das, was ich lese und das, was ich am Hund beobachte, auf einen Nenner zu bringen. So bekommt unser Verhaltenspatient Hund die allerbesten Chancen.

Was ist Verhalten und wozu dient es?

Verhalten ist das Instrument eines Lebewesens in seiner Ganzheit, mit dem es auf die Geschehnisse und Reize in der Umwelt reagiert. Verhalten entsteht nie aus dem Nichts, sondern es gibt immer ein bestimmtes Muster, nach dem das Ereignen von Verhalten abläuft.

Verhalten zu verstehen ist nicht kompliziert, wenn man die Basisprinzipien berücksichtigt, und zwar immer, egal ob das Verhalten auffällig, weniger auffällig oder gar nicht auffällig ist. Manche Verhaltensweisen werden von uns noch nicht mal wahrgenommen, weil sie eher wie Zufall aussehen. Dennoch: Hunde machen nichts ohne Grund. Jedes Verhalten hat einen Sinn für sie, auch wenn wir den Sinn von manchen absurd scheinenden Aktivitäten nicht begreifen. Manchmal ist es vielleicht nicht sein erstes Mittel der Wahl, weil er eingeschränkte Möglichkeiten hat (Schmerzen, Leine, Enge), aber für ihn selbst hat es immer eine Funktion. So oft höre ich: „wir möchten, dass unser Hund lernt, andere Hunde zu ignorieren“. Da muss ich immer sehr vorsichtig eine Illusion löschen: Hunde ignorieren nicht, was in ihrem Umfeld passiert. Fühlen sie sich wohl und sicher, dann werden sie auf manche Reize kaum reagieren, obwohl man mit einem geübten Auge dennoch kleinere Reaktionen beobachten kann. Aber größere Reize wie andere Hunde oder donnernde Fahrzeuge können sie einfach nicht nicht beachten. Da geht es um das eigene Wohlbefinden, um die eigene Sicherheit über die Möglichkeiten, wie diese Begegnung für sie ausgehen wird. Wann ignorieren wir als Mensch auftauchende Reize in unserem Umfeld? Wenn sie für uns sehr gewohnt und harmlos sind, wenn wir in Gedanken versunken sind oder gerade aufs Handy schauen. Stimmt, oder?

Verhalten dient dazu, unsere Situation, unsere Befindlichkeiten zu beeinflussen. Wie Dr. Susan Friedman sagt: „Wir haben Augen, um zu sehen, Ohren, um zu hören und Beine, um zu laufen.“ Unser Verhalten dient uns als Betriebssystem, als ein Mittel, um unsere Umwelt mit eigenen Handlungen zu beeinflussen. Es gibt zwei mögliche Bestrebungen: entweder um erwünschte Ergebnisse zu erzielen oder um unangenehme Reize zu vermeiden. Es geht an erster Stelle ums Überleben, und wenn das gesichert ist, ums Gedeihen. Um zu verstehen, warum ein Hund etwas macht, sollte man die Einflüsse beobachten, die vor dem Verhalten vorhanden sind und ebenfalls auch alle Einflüsse, die durch das Verhalten verursacht werden. Wir sprechen respektive über die Antezedenzien und über die Konsequenzen.

Das bedeutet, beim Verhalten geht es immer um ein Bestreben, für sich einen besseren oder den bestmöglichen Zustand zu erreichen.

Vor dem Verhalten kommt der Antezedent und nach dem Verhalten kommt die Konsequenz dieses Verhaltens. Der Antezedent bestimmt, ob das Verhalten diesmal auftreten wird und die Konsequenz bestimmt, ob das Verhalten bei der nächsten Wiederholung dieses Antezedenten auftreten wird.

Die Rolle des Schmerzfaktors im Verhaltensmuster

Schmerz ist ein unangenehmer sensorischer Reiz, der den Hund davor warnt, dass seine Unversehrtheit gefährdet ist. Diese Wahrnehmung tritt Veränderungen in der Funktion und in den Abläufen seines Organismus los und beeinflusst ebenfalls das Verhalten. Diese Veränderungen haben die Aufgabe, den Schaden abzuwenden oder zu reduzieren, auch für künftige Vorkommnisse. Außerdem wird eine Erholung von dem Schaden angestrebt. Wenn der Schmerz akut auftritt, hat das Schmerzgefühl unmittelbar die Funktion, das Weiterleben zu sichern. Das nennt man eine adaptive oder angemessene Schmerzfunktion. Sie klingt wieder ab, wenn der Schmerzmoment vorbei ist. So dient der Schmerzreiz, der auftritt, wenn man eine heiße Herdplatte berührt, dazu, dass wir unsere Hand von der Herdplatte entfernen, damit der Schaden nicht größer wird.

Wenn der Schmerzreiz hingegen in Dauer oder Intensität unangemessen und nicht funktionabel ist und wenn die physiologische und Verhaltensveränderungen nicht wirken, dann sind dies maladaptive Schmerzreaktionen. Sie gehen mit chronischen oder lang andauernden Schmerzen einher. Der Körper kann die Schmerzreize nicht mehr abfangen und regulieren. Eine der primären Reaktionen des Organismus auf den chronischen Schmerzreiz ist die Angst. Der Körper möchte gegen diese Schmerzen und die Wiederholung davon geschützt werden. Hier geht es nicht mehr um das Überleben, sondern um das Abwehren, denn das Tier fühlt sich dauerhaft bedroht und kann die Aufmerksamkeit von den Schmerzen nicht mehr abwenden. Die Achtsamkeit für Gefahren wird geschärft, wodurch der Hund defensiver wird, und er wird jegliche Aktion einstellen oder vermeiden, die den Schmerzreiz auslösen könnte. Irgendwann beherrscht der stetige Schmerz das gesamte Verhalten. Er geht nicht mehr weg. Ich erkläre meinen Hundehaltern gern, dass das Nervensystem des Hundes dann permanent auf Überlebensmodus geschaltet ist.

Der Prozess verläuft schleichend, sodass wir als Mensch diese Veränderungen nicht unbedingt wahrnehmen, denn sie geschehen in kleinen und manchmal unauffälligen Etappen. Der Hund stellt eventuell erst einmal die eine oder andere Aktion ein, zum Beispiel das Spielen, das Liegen auf dem Rücken, das Springen aufs Sofa, er legt sich auf einer Distanz hin statt neben uns. Er geht die Treppen nicht mehr hoch oder runter, wenn es nicht ganz dringend oder wichtig ist, er schläft ab und zu nicht durch in der Nacht. Es ist sehr einfach zu sehen, dass wir das als Mensch wahrnehmen können unter dem Motto: „Nun ja, er ist nun kein Junghund mehr“, oder „Er mag lieber den kalten Boden“, oder „Er wird langsam erwachsen und braucht kein Spiel mehr“. Also ja. Auch in den eigenen vier Wänden geschehen eine Menge an Verhaltensveränderungen, aber sie sind tückisch und schleichend. Auch das Gangbild mag etwas abweichen, oder der Hund setzt sich nicht symmetrisch hin. Es geschieht einfach und wir hinterfragen es nicht, zumindest nicht immer sofort. Denn tatsächlich wird der Hund älter, aber auch ältere gesunde Hunde haben Freude am Spiel oder wollen aufs Sofa oder möchten lieber in der Nähe ihrer Menschen liegen. Irgendwann jedoch kann er die Geschehnisse des Alltags und seinen Schmerzzustand nicht mehr unauffällig unter einen Hut bekommen. Dann wird das Verhalten lauter und deutlicher, die Bewegungen dabei ausgeprägter und die Reaktionen kommen schneller und heftiger. Erst, wenn das Verhalten für seine Menschen belastend wird, wird er in der Verhaltenspraxis vorgestellt.

Es gibt auch tatsächlich Hunde, die dabei still und unauffällig bleiben. Das sind die, die „damit zurechtkommen und schon älter, aber zufrieden scheinen“. Sie sind wahrlich am meisten zu bedauern, denn sehr häufig halten sie durch, bis nichts mehr geht und jede Hilfe zu spät ist, weil die degenerativen Prozesse nicht mehr auszuhalten sind. Tatsächlich ist es so, dass chronische Schmerzen so viele Veränderungen in der Physiologie verursachen, dass die Hunde etwas „benebelt“ oder dement erscheinen. Das sind Eindrücke, die über die ganze Dramatik der Schmerzen hinwegtäuschen können.

Wie bei uns Menschen entsteht Schmerz nicht nur im Alter. Auch Welpen und junge Hunde können von Schmerzen geplagt sein.

Diese Hündin kam ins Training, weil sie unberechenbar auf andere Hunde reagierte. Niemand fiel auf, dass sie sich ständig hinsetzte und hinlegte, statt stehen zu bleiben und wie schief sie saß.

Eine weitere Eigenheit von chronischen Schmerzen ist das Phänomen der Allodynie. Dies bedeutet, dass das Nervensystem so dereguliert ist, dass eine Hypersensitivität entstehen kann. Dann fängt der Hund an, Reize, die eigentlich keine Schmerzen verursachen können, als Schmerzauslöser wahrzunehmen und zu fürchten. So gibt es viele Hunde, die große Probleme haben, wenn sie berührt werden, das geht vom Meideverhalten und fliehen bis zum Beißvorfall. Oder andere, die sich die Pfoten nicht putzen lassen können, mit dem Geschirr nicht normal laufen können und das Geschirr nicht angelegt haben wollen. Hunde, die auf Kälte und Wärme, Regentropfen, Schotter oder kitzliges Gras stark reagieren und dies als Schmerzgefühl wahrnehmen. Reize, die eigentlich keinen Schmerz verursachen können, werden vom Hund als schmerzhaft empfunden. Diese Hunde werden gern „Sensibelchen“ oder „Mimöschen“ genannt. Schauen Sie genauer hin: Gibt es weitere Anzeichen?

Und genau an diesem Punkt kreuzt sich das Schmerzthema mit reaktivem Verhalten. Wir wissen auf Dauer nicht, wie empfindlich die Hunde geworden sind, wie schmerzbelastet sie sind und wie wenig sie noch hinzunehmen können. Ist es die Spannung der Leine, das Anheben des Kopfes oder der Rute oder die Anspannung des gesamten Körpers, die den Hund letztendlich ausrasten lassen? Oder tickt er aus, weil er den Schmerz meiden will oder nicht weiß, wie er diese Situation mit seinem Körper bewältigen kann?

Es gibt viele Fragen, die unbeantwortet bleiben und es wird nicht besser, wenn man zuwartet, es verwächst sich nicht und es verschwindet auch nicht mit dem Alter. Es ist keine „Phase“.

Der erste Schritt ist die Diagnose und das Feststellen des Schmerzes. Und dann geht die Reise erst los. Bedenken Sie: Hunde leben in der Regel zwischen zehn und sechzehn Jahren, gern auch länger. Wenn sie ein Jahr mit Schmerzen leben, ist das etwa so, als würden wir sieben Jahre lang unbehandelt bleiben. Wenn sie drei Monate auf Hilfe warten, kommt dies ungefähr mit einer Leidenszeit von knapp zwei Jahren eines Menschenlebens überein. Sicherlich kann man auch hier anfangen, die Sache mit der Lebensdauer im Vergleich zum Menschenjahren genau auseinander zu dividieren. Das dient der Sache nicht, denn jeder Tag zählt. Ich habe persönlich aufgrund einer Borreliose ungefähr sechs Wochen unerträgliche Schmerzen ohne Aussicht auf Hilfe gehabt, denn kein herkömmliches Schmerzmittel konnte mir helfen. In der Praxis für Orthopädie bekam ich einen Termin in sechs Monaten. Das hat bei mir ein Gefühl von schierer Verzweiflung ausgelöst. In der Zeit habe ich sehr viel über unsere Hunde nachgedacht und mir einiges vorgenommen (Es hat sich zum Glück mithilfe einer netten Kundin anders lösen lassen).

Sie sollten also versuchen, das störende Verhalten Ihres Hundes fortan in einem anderen Licht zu sehen. Das Ausschließen, Beseitigen oder Reduzieren von Schmerzen ist der kürzeste Weg in der Verhaltensveränderung.

Wohlbefinden statt Schmerzen

Selbstverständlich können Schmerzen und Unwohlbefinden durch mehr Faktoren im Körper verursacht werden als nur durch muskuloskelettale Probleme.

Es gibt überdurchschnittlich viele Hunde, die von einer gestörten und schlecht funktionierenden Verdauung geplagt werden. Durchfälle, Magenkrämpfe, Blähungen sind erhebliche Störfaktoren. Diese Hunde werden entweder draußen oder drinnen Durchfall haben, eine unschöne Luft verursachen oder sich drinnen wie draußen, tags wie nachts, auf den Fliesen oder gern auch auf dem Teppich erbrechen müssen. Das fällt jedem Hundehalter auf, das möchte man schnell abstellen. Das Thema der Ernährung und Verhalten ist ein Buch für sich wert, aber wer sich bei einer geprüften Ernährungsberaterin Hilfe holt, wird schnell eine Besserung feststellen können. Je nachdem, was der Hund vorher als Futter bekam, kann das von der ersten guten Mahlzeit besser werden. Oftmals sind es nur Tage, bis Sie viele Verbesserungen beobachten können: weniger erregtes Verhalten, mehr Appetit, keine Durchfälle, weniger Trinken, kleinere Kotmengen, weniger Mund- und Körpergeruch, glänzendes Fell, strahlende Augen und Muskeln, die sich abzeichnen. Wer möchte das nicht?

Allergiker sind ebenfalls schwer belastet, vor allem, wenn sie viele Hautprobleme und Juckreiz haben. Es gibt in unserer heutigen Zeit so viele gute Lösungen für diese Probleme, dass man sie schnellstmöglich angehen sollte. Allergiker kratzen sich Tag wie Nacht. Auch dies stört und auch dies wird zeitnah beim Tierarzt angesprochen.

Alles in allem muss man aber sagen, dass Schmerzen im Bewegungsapparat am häufigsten in der Hundepopulation verbreitet sind, aber für unseren Blick am wenigsten auffällig sind. Warum das so ist, wird uns Dr. Blättler im Laufe des Buches erklären. Deshalb werden wir in diesem Buch weiterhin vor allem hierauf unser hauptsächliches Augenmerk richten.