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Für Krankenschwester Lila stürzt der Himmel ein. Ihr drittes Kind kommt tot zur Welt, ihr Ehemann verlässt sie, weil seine Freundin ein Kind erwartet. Lila zieht mit ihren beiden kleinen Töchtern von Hamburg zurück nach Bayern in ihr Heimatdorf. Die Begegnung mit dem Gemeindearzt bringt eine Überraschung: Es ist Doktor Martin Stern, jener Mann, den Lila mit einem peinlichen Vorfall aus ihrer Ausbildungszeit im Krankenhaus verbindet. Trotzdem nimmt sie den Job als seine Assistentin an. Es kommt zu hitzigen Wortgefechten, die Lila jedoch aus ihrer Trauer reißen. Martin hat Lasten aus seiner Vergangenheit aufzuarbeiten und gibt sich Lila gegenüber grob und unsensibel. Lila entwickelt, abseits von ihrem dominanten Ehemann und den kalten Schwiegereltern unerwartete Stärke. Bald empfindet sie mehr für Martin und sie kommen sich näher. Aber ist Martin der Richtige um Lila bei ihrer Trauer zu helfen?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Von Lotte R. Wöss
Lotte R. Wöss
Schmetterlinge im Himmel
Roman
Impressum
Auflage: 2
Copyright © Oktober 2020 by Lotte R. Wöss
Email: [email protected]
www.lottewoess.com
Covergestaltung:
Birgit Gürtler / BG-COVER-DESIGN
Lektorat und Korrektorat:
Angelika Wöss, MA
Alle Rechte vorbehalten – Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen, Orte, Handlungen und andere Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie oder wurden fiktiv genutzt. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die in diesem Buch erwähnten Markennamen und Warenzeichen sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
6
Und die Erde steht still7
Trümmerhaufen17
Zerbrochene Brücken21
Ein neuer Weg27
Ankunft in der Vergangenheit35
Fieber40
Bettruhe49
Hund und Katze54
Unwillkommene Erinnerungen59
Am Anfang steht das Wollen62
Ein neuer Weg ist oft versteckt68
Zwei Schritte vor, einer zurück72
Schlaflos und mehr74
Alles neu77
Martins Verlust83
Bewährungsprobe86
Die andere Seite92
Ein Seelsorger in Sorge94
Abendliches Picknick98
Ein Antrag103
Die Abmachung108
Der erste Schritt der Verführung114
Mit allen Sinnen116
Gibt es Schuld?120
Romantik im Regen122
Überraschungen126
Kein Zurück133
Ein Notfall138
Zwei Schmetterlinge für Martin144
Müll von gestern150
Rückblicke153
November159
Einmal Berlin und retour164
Ein verführerisches Angebot170
Ein Schock177
Einsicht180
Böse Überraschung am Heiligen Abend184
Ein wahres Wort193
Ein Anfang195
Schmetterlinge im Himmel198
WORTE AM SCHLUSS200
Buchempfehlungen:201
Zwei Seelen für immer203
0.0.1204
204
204
Und die Erde steht still
Lass ein Wunder geschehen! Atme! Öffne die Augen! Nur ein einziges Mal. Blödsinn! Du willst, dass sie lebt, länger als einen kurzen Moment. …
Im Kleinformat war alles vorhanden. Federleicht lag das Bündel in Lilas Armen. Der Knoten im Hals wuchs ins Unendliche.
Du darfst nicht weinen! Später.
Sie wollte ihre Tochter klar sehen, ohne Tränen. Denn die Zeit zerrann unerbittlich. Jedes Blinzeln kostete sie eine Zehntelsekunde mit ihrem Kind.
Schau dir das Gesichtchen genau an, du siehst sie nie wieder!
Die weiße, durchsichtig scheinende Haut gab ihr ein engelhaftes, ätherisches Aussehen.
Vielleicht schläft sie nur? Bitte wach auf!
Lila hob das Tuch, in welches das Baby eingewickelt war, streichelte über den Bauch und legte den Zeigefinger unter die schlaffen Händchen. Die Finger waren vollzählig und würden trotzdem niemals zugreifen.
Warum?
Lilas Kopf dröhnte. Ihre Arme verkrampften sich.
Keine Tränen!
Sie kämpfte dagegen an, bis das Bild vor ihr zerbarst.
Durchhalten! Gleich nimmt man sie dir weg …
Sie war allein. Ihr Mann Patrick war hinausgegangen, er wollte diese kurze Zeit mit ihrem totgeborenen Kind nicht teilen.
Er hat sie abgelehnt.
Im Mutterleib verstorben, ehe sie leben durfte. Im Zeitraffer wirbelten die letzten Monate durch Lilas Gedanken. Der positive Schwangerschaftstest, die Hoffnung ihres Mannes, dass diesmal der ersehnte Sohn käme. Die erste Ultraschalluntersuchung, und Patricks Enttäuschung, dass die dritte Tochter in ihr heranwuchs. An diesem Tag war ihre Ehe zu einer leeren Hülle geworden.
Mach dir nichts vor. Es hat schon vorher Krisen gegeben.
Stimmen vor der Türe.
Nein.
Klacken der Türklinke, Schritte, eine Person in weißem Arbeitsgewand. »Frau Dirkenreith, ich muss ihr Engelchen jetzt mitnehmen.« Sanft versuchte die Schwester, ihr das leblose Kind abzunehmen.
Es ist zu früh!
Lila drückte das Baby an sich. In Sekunden war ihre Sicht durch einen dichten Tränenschleier getrübt. Engelchen! Wie konnte nur jemand auf so einen Ausdruck kommen? Lila wollte kein »Engelchen«, sie wollte ein warmes, lebendiges Kind. Ein wenig Geduld und sie würde vielleicht doch noch atmen!
Jeder ist fähig zu atmen, man muss nicht einmal denken und tut es trotzdem.
Niemand durfte ihr Marie wegnehmen.
Die Zeit ist zu kurz, bitte, mehr Zeit!
Sie war nicht imstande gewesen, sich alles einzuprägen.
Es gibt keine Wunder!
Maries Brustkorb sollte sich heben und senken, ihr Herz schlagen und ihre Augen sich öffnen.
»Lila, die Schwester muss es jetzt mitnehmen«, hörte sie Patrick dumpf durch das Tosen in ihren Ohren, mit ungeduldig scharfem Unterton sprechen. Er war offenbar mit der Krankenschwester hereingekommen. Es fehlte jegliche Wärme, Lila fror.
Verdammt, sie ist kein »ES«.
»Sie heißt Marie«, flüsterte sie erstickt. »Marie, Marie, Marie …« wiederholte sie ein paar Mal wie ein Mantra. Der Schwester gelang es endlich, ihr das Bündel mit sanftem Nachdruck aus den Armen zu winden. Lilas mühsam aufrechterhaltene Stärke schrumpfte zu einem heftigen Schluchzen zusammen.
Warum trifft es ausgerechnet Marie?
»Möchten Sie eine Beerdigung?«, erkundigte sich die Krankenschwester, bereits auf dem Weg zur Tür, während sie das weiße Tuch über das Gesicht des Babys zog. Lila spürte deutlich, wie Patrick zögerte.
»Ist das so üblich?«, kam es unschlüssig von ihm. »Ich meine, ohne Taufe ...«
Das darf nicht wahr sein!
Lila sprang auf. »Ich will ein Grab für sie. Willst du sie etwa zum Krankenhausmüll geben? Sie ist unsere Tochter,« ihre Stimme überschlug sich. Patrick umarmte sie plötzlich und zog sie zum Bett zurück. Die Krankenschwester verließ rasch den Raum.
»Beruhige dich.« Patrick drückte Lila fest an sich. Erschöpft ließ sie sich in seine Umarmung fallen. »Ich werde ihr ein Grab besorgen«, fuhr er fort.
»Ich will eine Beerdigung«, flüsterte sie erstickt. »Ich muss von ihr Abschied nehmen können, und einen Ort haben, wo …«
Was eigentlich? Ihre Seele ist doch schon fort!
Patrick hörte nicht auf ihre gestammelten Worte. Er wirkte abwesend. »Wir werden sie beerdigen«, meinte er sanft, als wolle er ein Kind beschwichtigen. »Aber ich muss mit dir reden.« Patricks eigenartige Stimmung riss Lila aus ihrer Verzweiflung über Maries Tod. Das Rauschen in ihren Ohren versiegte langsam.
»Ist etwas mit den Kindern?« Ihre zwei Töchter waren bei ihrer Freundin untergebracht.
»Sie sind noch bei Regine. Soweit ich weiß, ist alles in Ordnung.« Er rückte von ihr ab und Lila bemühte sich, sein Gesicht zu fixieren, sah es durch die Tränen jedoch nur verschwommen. »Es geht um uns, Lila. Ich habe bis zu … na ja, bis heute gewartet, denn ich wollte dich vor der Geburt nicht aufregen. Das hier war schließlich nicht vorauszusehen.«
»Das hier« nennt er Maries Tod?
Lila versteifte sich. Sie schlüpfte aus seinen Armen und rutschte auf dem Bett um einen möglichst großen Abstand von ihm zu schaffen. Patrick sprach unbeirrt weiter, ohne sie anzusehen. »Du weißt doch, dass ich mir einen Sohn gewünscht habe. Offenbar können wir miteinander nur Mädchen haben, das wäre schon das dritte gewesen.«
Das dritte Mädchen ist tot. Möchte er sofort ein neues Baby zeugen?
Lilas Gedanken fuhren Achterbahn. »Ich will noch nicht …«
Vielleicht nie mehr!
»Nein, nicht du …« Patricks Stimme erstarb und er musste schlucken.
Urplötzlich war es totenstill.
Du hast doch schon lange vermutet, dass er eine andere hat.
Sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Lila starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Kurzfristig bekam sie keine Luft, ehe Übelkeit sie flutwellenartig überschwemmte.
Hast du gehofft, die Entfremdung der letzten Monate wäre nur eine Episode?
Patrick legte die Hände auf ihre Schultern. »Hör mir zu, Lila. Ich habe mich damals auf der Intensivstation in dich verliebt. Du warst mein Anker in dieser schweren Zeit! Ich wollte dich als Mutter meiner Kinder. Und ich habe mir gewünscht, dass wir einen Sohn bekommen, der unsere Situation hätte retten können, aber dann war es wieder nur ein Mädchen.«
Was gab es denn zu retten?
Lila starrte ihn an: »Welche Situation …?«, brachte sie heraus. »Marie ist tot …«, ihr versagte die Stimme.
Patrick ließ ihr keine Zeit, die Gedanken zu ordnen. »Na ja, wir wussten doch schon länger, dass du ein drittes Mädchen bekommst. Es gibt Paare, die nur Töchter kriegen. Das ist manchmal so, muss wohl mit den Genen zu tun haben,« seine Stimme vibrierte, er strich durch die blonden Haare und fuhr hektisch mit der Zunge über seine Lippen, »aber mit einer anderen Frau,« er zog, die Hände von ihren Schultern und senkte den Kopf. »Lila, nimm das nicht persönlich, aber ich habe mit Vicky …« Er brach ab und wartete, bis die Information durchsickerte.
Nicht persönlich?
Vicky war die Tochter eines einflussreichen Geschäftspartners von Patricks Vater und außerdem seine Exfreundin.
Offenbar ist das »Ex« Geschichte.
Lila erstarrte bis ins Innerste, unfähig zu sprechen. Vor kurzer Zeit war Lila ihr totes Baby weggenommen worden und sie vermisste schmerzlich einen Menschen, der mit ihr trauerte.
So fühlt sich das an. Wie ein Messer durch den ganzen Körper.
Patrick senkte den Kopf. »Ich weiß, es ist jetzt nicht unbedingt der günstigste Zeitpunkt. Aber dass das Kind nicht gelebt hat, vereinfacht die Sache, nicht wahr?«
Fragt sich, wen er damit meint.
Zorn pumpte die nötige Portion Adrenalin in Lilas Körper und ihr gelang es, zu antworten. »Die Sache? Die Tatsache, dass du mich betrogen hast? Uns verlässt? Besser eine Frau mit zwei Kindern zu den Akten zu legen, als eine mit drei? Bedeuten dir Sophie und Anna nichts?«
»Natürlich«, versicherte ihr Patrick hastig. »Aber es sind Mädchen und ich brauche …«
»... einen Sohn um jeden Preis? Das habe ich begriffen. Wann ist das bei dir zur Obsession geworden? Wer sagt denn, dass diese Vicky erfolgreich sein wird? Wie viele Chancen hat sie? Ebenfalls drei?«
»Ich weiß es bereits.«
Oh.
Lilas Glieder fühlten sich taub an. Patrick senkte den Kopf. »Vicky ist schwanger und auf dem Ultraschallbild sieht man das, was unsere Kinder nicht hatten.«
Man erkennt schon das Geschlecht?
Vicky musste mindestens im vierten Monat sein, damit dies ersichtlich war. »Du hast nicht lange gewartet, ehe du mit einer anderen,« sie konnte nicht weitersprechen.
Patrick seufzte. »Es tut mir leid, Lila! Ich hätte unseren Sohn lieber mit dir bekommen.«
Soll das jetzt ein Trost sein?
Er stand auf und drehte Lila den Rücken zu. »Die Ultraschalluntersuchung hat alles meine Hoffnungen zerstört. Es war nicht beabsichtigt, aber an diesem Tag habe ich Vicky wiedergetroffen und – na ja, es ist passiert. Dass sie gleich schwanger wurde, ist «, er brach kurz ab, wandte sich wieder um, hielt jedoch die Augen gesenkt. »Ein Wink des Schicksals. Ich möchte einen Sohn und nun … Es ist wie ein Gottesurteil!«
Er soll verschwinden! Du willst nichts mehr hören.
»Heute habe ich es erfahren! Vicky erwartet einen Sohn, meinen Sohn. Das ist wie ein Geschenk, gerade an diesem Tag!«
Er ist am Todestag seiner Tochter glücklich darüber, dass er einen Sohn mit einer anderen Frau bekommt. Das ist … unbeschreiblich!
Wie konnte er von einem »Geschenk« sprechen? Für Lila war heute die Welt zusammengebrochen.
Hau endlich ab.
»Mir ist schlecht.« Lila schleppte sich ins Bad. Sie fühlte sich schwach von der Geburt und Patricks gnadenlose Eröffnung hatte ihr Übriges getan. Im Badezimmer musste sie heftig würgen. Schließlich sank sie neben die Toilette und begann zu weinen. Patrick kam zögernd herein und versuchte ihr aufzuhelfen. »Brauchst du ein Glas Wasser? Es tut mir weh, dich so zu sehen.«
Das ist zu viel!
»Es tut dir weh?«, kreischte sie ihn an. »Du freust dich am Todestag von Marie? Ich habe mich auf unsere Tochter gefreut, ich habe sie geliebt und du bist froh über ihren Tod! Hauptsache du bekommst bald deinen ersehnten Sohn!« Sie lachte hysterisch. »Geh und komm am besten nie wieder!« Lila war durch ihr Schreien hochrot geworden und bekam kaum noch Luft, weil sie während ihres Ausbruchs vergessen hatte, zu atmen. Patrick zögerte wenige Sekunden, ehe er aus dem Zimmer floh.
Feigling!
Sie hörte die Türe klappen.
Schlafen und nie mehr aufwachen!
Lila verlor jegliches Zeitgefühl. Ihr fehlte die Antriebskraft, vom Boden aufzustehen. Von Weinkrämpfen geschüttelt hatte sie sich zu einem Ball zusammengerollt. Eine Krankenschwester fand sie zehn Minuten später.
»Frau Dirkenreith!« Sie half ihr hoch und führte Lila zum Bett zurück. »Ich werde Ihnen eine Tasse heißen Tee bringen, damit Sie schlafen können.« Die Stimme der Schwester klang mitfühlend und sanft. Lila wünschte sie zum Teufel, auch wenn es ungerecht war. Niemand wusste besser als sie, dass der Alltag für Pflegekräfte im Krankenhaus alles andere als ein Erholungsurlaub war. Und es gab hundert Schicksale, die erschütternder als ihres waren.
Obwohl dir im Moment keines einfällt.
Lila ließ sich in die Kissen sinken. Doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr stumm die Tränen über die Wangen liefen.
Dein Baby ist tot. Es ist endgültig!
»Frau Dirkenreith denken Sie an Ihre Kinder, die zu Hause auf Sie warten. Die beiden werden Ihnen Kraft geben.«
Lila wollte allein sein und sich nochmals in Gedanken Maries Gesichtchen in Erinnerung rufen.
Endgültig vorbei!
»Ich habe nicht einmal ein Bild von ihr.« Lila schluchzte auf. »Ich kann sie nicht im Gedächtnis behalten.«
»Wir haben ein Foto von Ihrem Baby gemacht. Sie bekommen einen Abzug.«
Das Klicken der Türe ließ Lilas Tränenfluss jäh stoppen, Kälte breitete sich in ihr aus.
Du willst einschlafen und beim Aufwachen feststellen, dass alles in Ordnung ist.
Jemand betrat das Zimmer.
»Frau Dirkenreith?« Eine männliche Stimme, Lila bewegte sich nicht. »Ich bin Bruder Gerold, der Krankenhausseelsorger.«
Was kann der schon ausrichten?
Sie drehte widerwillig den Kopf und sah einen Mann mittleren Alters vor sich stehen. Er trug eine braune Mönchskutte, hatte zerzauste blonde Haare und tiefblaue Augen.
+ Er soll verschwinden!
»Ich bin nicht katholisch.«
»Das spielt keine Rolle.« Der Seelsorger holte einen Stuhl und ließ sich darauf nieder. Tatsächlich war er förmlich gerannt, als er den Familiennamen der jungen Frau vernommen hatte. Dirkenreith – noch immer empfand er Schmerz und Trauer. Dies könnte das Zeichen sein, auf das er so lange gewartet hatte.
»Ich möchte keinen Rosenkranz beten oder mit Weihwasser übergossen werden.« Lila wischte über ihre Augen.
»Ich habe beides nicht im Angebot.«
Er kapiert es nicht.
»Mein Kind ist tot. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Der Pater behielt seinen beruhigenden Tonfall bei. »Das werde ich nicht tun. Niemand sollte in dieser Situation sich selbst überlassen sein.«
Er hat doch keine Ahnung!
»Ich schon!« Ihre Stimme kippte. »Oder können Sie mir mein Baby zurückgeben?«
»Wenn ich Menschen lebendig machen könnte, dann würde ich es tun. Diese Fähigkeit hatte nur Jesus …«
»Ich will keine Bibelstunde!«, wehrte Lila ab. »Ich weiß, Sie werden mir einreden wollen, dass meine Tochter im Himmel ist. Ein Engel. Dass ihr ein elendes Leben auf der Welt erspart geblieben ist, aber …« Sie unterbrach sich, als der Mann den Kopf schüttelte. »Nein? Wollten Sie etwas anderes erzählen?«
»Zu meinem Bedauern kann keinen Trost anbieten, der Ihnen im Moment hilft.« Die sanfte Stimme drang durch ihre Haut. Und schmerzte. Dabei tat ohnehin schon alles weh.
Der fromme Klosterbruder soll gehen.
Er vermochte ihr nicht zu helfen. Niemand konnte die vergangenen Stunden ungeschehen machen. Schon gar nicht ein Rosenkranz-Fetischist.
Warum trauert Patrick nicht mit?
Patrick war erleichtert, dass er künftig kein drittes unnützes weibliches Geschöpf großziehen musste. Lila fror. Sie spürte eine sanfte Berührung ihrer Hände, der unerwünschte Seelsorger fuhr darüber. »Kann ich jemanden für Sie anrufen? Ihren Mann vielleicht?«
Den schon gar nicht!
»Mann? Ich habe keinen Mann mehr!« Hysterisches Gelächter schüttelte sie, welches in einem Hustenanfall endete, an dem sie fast erstickte. Gerold sprang auf und half ihr, sich aufzurichten. Der Pater schien zu überlegen. Vermutlich würde er gleich nach der Schwester läuten! Stattdessen schlang er plötzlich die Arme um sie. Ihre Weinkrämpfe wurden stärker und schüttelten ihren Körper durch. Die Tränen sickerten in seine Kutte, aber er hielt sie weiterhin fest gedrückt.
Eine Ewigkeit verging, ehe die Krämpfe nachließen. Lila löste sich von ihm. Er reichte ihr ein Taschentuch vom Nachttisch und sie putzte sich die Nase.
Was tut er noch da?
Und dann sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Patrick, mein Ehemann, er ist froh, dass Marie tot ist. Er wollte einen Sohn und seine Geliebte erwartet schon einen.«
Gerold zuckte zusammen, wirkte betroffen. Schweigend zog er sie nochmals in seine Arme und sie kroch förmlich in ihn hinein.
Lila hatte nicht gewusst, wie ausgehungert sie nach Wärme und Zuspruch war, auch wenn diese von einem wildfremden Menschen kamen. Stockend fuhr sie fort. »Von dem Tag an, als im Ultraschallbild das Geschlecht ersichtlich war, hat Patrick sich von mir entfernt. Ich wollte es nicht wahrhaben. Er hat heute erfahren, dass seine Geliebte mit seinem Sohn schwanger ist. Und er ist glücklich darüber. Wie kann er das sein, obwohl Marie tot ist?« Sie begann erneut zu schluchzen, Gerold hielt sie in seiner warmen Umarmung.
»Zum Teufel mit diesem Mann!«, sagte er schließlich heftig.
Lila musste lachen. »Dürfen Sie als Mönch jemanden zum Teufel wünschen?«
»Nein, eigentlich nicht. Verraten Sie mich nicht meinem irdischen Chef, der himmlische, hat Verständnis dafür.«
Er ist ein ganz und gar untypischer Pater.
»Frau Dirkenreith, ich weiß, dass Sie momentan vor einem Scherbenhaufen stehen. Aber Sie sind stärker, als Sie glauben mögen. Jedes Ende ist gleichzeitig ein Anfang. Ihr Mann weiß nicht, was er an Ihnen und seinen Töchtern verliert, wenn er Sie gehen lässt. Sie sind reif dafür, sich von einem Partner, der so ein Idiot ist, zu lösen.«
Er spricht von Trennung. Daran hast du noch gar nicht gedacht.
Seine Worte kamen bei ihr teilweise an. Sie löste sich verlegen aus der Umarmung und nahm zum ersten Mal ihre Umgebung wieder wahr. Sophie und Anna warteten auf sie, es gab einen Grund für sie, weiterzuleben.
Ich muss für die beiden stark sein.
Bruder Gerold erkannte offenbar an ihrer Miene, dass die Krise überstanden war. Er holte eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche, sie war leicht zerknittert. »Ich möchte, dass Sie mich anrufen, wenn Sie reden wollen. Tag und Nacht.«
Der Einzige, den du hier haben wolltest, hat dich verlassen.
Sie nahm die Karte an sich, ihre Augen waren bereits wieder tränenblind. »Danke«, quälte sie sich, zu sagen.
Ich werde nicht anrufen. Was soll ich mit einem katholischen Priester?
»Auf Wiedersehen, Frau Dirkenreith. Ich würde gerne Kontakt zu Ihnen halten.« Sie nickte, bereits wieder mit Tränen kämpfend. Gerold zögerte kurz, doch dann verließ er sie. Lila blickte ihm nach, bis sich die Türe hinter ihm schloss, ehe sie die Karte auf das Nachtkästchen legte.
Das Gespräch hat dir wirklich gutgetan.
Dankbar ließ sie sich ins vorübergehende Vergessen fallen.
Gerold verließ Lila Dirkenreiths Zimmer und lehnte sich für ein paar Minuten aufatmend an die Wand. Er hatte gewusst, dass das Kapitel Dirkenreith noch nicht abgeschlossen war. Die Wunde schmerzte so heftig, als wäre es gestern passiert. Sieben Jahre, neun Wochen und drei Tage – er zählte schon viel zu lange. Und er sah den Mann deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen: mit dem leicht zerzausten Haar, dem etwas schelmischen Lächeln und seinem Tatendrang. Auch er hätte einen Sohn zeugen sollen.
Trümmerhaufen
Die kommenden zwei Tage verbrachte Lila in einer Traumwelt. Sie saß in einem Kokon und verkroch sich darin. Es gelang ihr, eine Illusion zu schaffen, in der das Baby noch in ihrem Bauch strampelte. Ihr Körper funktionierte irgendwie und hielt die äußere Fassade aufrecht, innerlich komplett erstarrt. Sie widmete sich Sophie und Anna, erzählte ihnen, dass Marie im Himmel wäre, spielte mit ihnen, las ihnen vor und kochte Mahlzeiten. Lila erlebte alles mit, hatte aber das Gefühl, neben sich zu stehen, umhüllt von einem dicken Schleier. Patrick ging ihr aus dem Weg, kam spät heim und verschwand möglichst früh. Da es Wochenende war, vermutete ihn Lila bei seiner Geliebten.
Die mit seinem Sohn schwanger ist.
Am Montagabend stand er schließlich plötzlich vor Lila. Sie hatte die Kinder zu Bett gebracht und schloss die Türe zum Kinderzimmer. »Wir beide müssen in Ruhe reden.«
Was meint er mit »Ruhe«? So wie »Ewige Ruhe«?
Lila biss sich auf die Lippen.
Ich will nicht hören, dass ihm Maries Tod gleichgültig ist.
»Setzen wir uns.« Patrick gab sich sichtlich Mühe, freundlich zu sein. Er goss zwei Gläser Branntwein ein, stellte eines vor Lila hin und leerte das andere in einem Zug. »Du möchtest eine Beerdigung und ein Grab für das Kind«, begann er.
Du … das bedeutet, er will es nicht. Das Kind, als ob es irgendeines gewesen wäre ...
Lila zuckte zusammen. »Sie heißt Marie.« Niemals würde sie nur an »das Kind« denken.
»Ja, natürlich.« Patrick schenkte nach und setzte sich Lila gegenüber. »Ich organisiere eine kurze Bestattungsfeier im Familienkreis und ein Grab. Für dich.«
Der Mann, der dir gegenübersitzt, kann nicht derselbe sein, den du geheiratet hast.
»Du sprichst von deiner Tochter.« Ihre Stimme erstickte.
»Sie hat nie gelebt, weißt du?« Patricks Worte klangen schroff.
Nie gelebt?
Lila hätte ihm am liebsten den Inhalt des Glases ins Gesicht geschüttet. »Sie hat acht Monate in meinen Bauch gestrampelt, ihr Herz hat geschlagen und ich habe sie gespürt …« Ihr Panzer zersprang und sie begann zu weinen. Patrick trat zu ihr und umschlang sie von hinten.
»Schon gut, Lila! Ich weiß, dass das für dich schwer ist. Für mich war sie nicht real wie für dich. Bitte versteh mich.«
Und sie war nur ein Mädchen!
Mit Gewalt befreite sich Lila und stellte ihr Glas mit Schwung auf dem Wohnzimmertisch ab. Dann trat sie ans Fenster und blickte in den von weißem Frost überzogenen Garten. Tränen liefen lautlos über ihre Wangen.
Alles ist tot. Marie wird nicht erwachen …
Patrick schüttete den Branntwein förmlich in sich hinein, wie sie im spiegelnden Fensterglas erkennen konnte. »Sie bekommt ein Grab, versprochen. Aber wir beide müssen über uns sprechen.«
Es gibt kein »uns« mehr.
Sie drehte sich um. Patrick sah sie nicht an, als er weitersprach. »Das Haus ist groß. Ich möchte, dass du mit den Mädchen hier wohnen bleibst. Vicky kann in die zwei ungenutzten Räume im oberen Stock ziehen. Das Gästezimmer und …«, er zögerte. »… das andere.«
Maries Zimmer. Sie braucht es schließlich nicht.
Lila schaute ihn entgeistert an. »Du erwartest, dass ich hier zusammen mit deiner Neuen …«
Nie im Leben!
Patrick verzog das Gesicht. »Ich versuche, das Ganze, so gut es geht, zu managen und euch beiden gerecht zu werden.«
Lilas Bedürfnis zu brüllen und um sich zu schlagen wuchs. Sie setzte sich wieder hin und ballte die Fäuste. Minutenlang herrschte Schweigen.
»Das wäre für Sophie und Anna die ideale Lösung. Sie sind meine Kinder. Und dich will ich auch nicht verlieren …!«
Auch? Für ihn ist Maries Tod kein Verlust!
Hatte Patrick ernsthaft vorgeschlagen, künftig in einer Art Dreiecksbeziehung zu leben? Sein nächster Satz schuf Gewissheit. »Wir bilden eine Patchwork-Familie …«
Er spinnt komplett!
»Ich habe es nicht geplant, weißt du!« Patricks Stimme klang sanft, als spräche er zu einer Verrückten, die etwas Vernünftiges nicht begreifen will. »Aber Vicky ist mit meinem Sohn schwanger! Es ist wie ein glücklicher Fingerzeig von oben. Wenn du weniger emotional denkst, wirst du das einsehen.«
Das ist das zweite Mal. Das erste Mal war schon zu viel!
Lila weigerte sich, länger zuzuhören. Gerne wäre sie an einen Ort geflohen, an dem es keine toten Kinder und untreuen Ehemänner gab.
Warum sitzt du noch hier?
»Soll ich dir Absolution erteilen? Das kann ich nicht. Es tut weh, Patrick. Mein Baby ist tot und du lässt mich im Stich.«
Patrick sah sie verständnislos an. »Es ist auch für mich schwer!«
Tatsächlich?
Rasch fuhr er fort, verhaspelte sich fast. »Du befasst dich nicht einmal mit der Sache! Versuch es zumindest und es kann funktionieren, Lila. Wir zusammen - eine große Familie! Anna und Sophie könnten mit ihrem Bruder aufwachsen!«
Er ist ernsthaft überzeugt davon.
Lila hatte das Gefühl, dass die Welt um sie herum in Millionen Splitter zerfiel. Eine Liebe. Eine Traumhochzeit. Kurzes, viel zu kurzes Glück.
Es ist zu Ende. Du musst hier weg.
»Ich werde mit den Mädchen ausziehen.« Es kam wie ein Hauch. Dennoch war sie stolz auf sich, die Kraft aufzubringen, eine solche Entscheidung zu treffen.
»Du reagierst dramatisch! Wo willst du hin? Du hast den Luxus genossen, streite es nicht ab. Möchtest du wieder im Krankenhaus arbeiten? Als einfache Schwester?« Patrick lachte. Wie konnte er jetzt lachen? Sie auch noch auslachen?
Was spricht dagegen?
Lila rieb sich über die Stirn, Kopfschmerzen kündigten sich an. »Ich möchte meine Zukunft nicht mit dir besprechen!«
Patrick erhob sich. »Am besten du gehst schlafen. Du bist immer noch emotional ein bisschen daneben.«
Vielleicht weil es erst drei Tage her ist, dass du dein totes Kind im Arm gehalten hast? Ist das keine Rechtfertigung für ›ein bisschen daneben‹?
Lila öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Patrick winkte ab. »Ich verstehe dich, Lila. Du brauchst Zeit. Ich arrangiere die Beerdigung in den kommenden Tagen. Überstürze nichts! Versuch auch meine Seite zu begreifen! Ich verdiene schon lange einen Posten im leitenden Bereich. Vater hat mir versprochen, dass ich ihn bekomme, sobald ich ihm einen männlichen Erben bringe.« Damit verließ er das Zimmer.
Eine Beförderung für einen Sohn?
Lila sah ihm schockiert nach. Gabriel Dirkenreith hatte über seinen Sohn verfügt, ihn manipuliert und ihm keinerlei Kompetenzen in der Firma überlassen wollen. Aber ein Managerposten als Preis für einen Enkel?
Das geht entschieden zu weit!
Wie konnte Patrick nur annehmen, dass sie mit seiner Geliebten unter einem Dach wohnen wollte? Die Ungeheuerlichkeit ließ sie vor Zorn vibrieren, zumindest blieben ihre Augen trocken.
Patrick weiß nicht, dass seine Ignoranz dir Kraft gibt.
Energisch stand sie auf. Sie würde sich einem neuen Leben stellen und ihre Zeit nicht dem Luxus der Trauer überlassen.
Und dann traf sie ihre Entscheidung.