Wenn jeder Blick nur Liebe ist - Lotte R. Wöss - E-Book
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Wenn jeder Blick nur Liebe ist E-Book

Lotte R. Wöss

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Beschreibung

»Liebe ist eine Illusion, ein kurzlebiger Trugschluss, der dich irgendwann auf den nackten, kalten Boden der Tatsachen wirft.« Lena wird von ihrem Freund Vincent eiskalt abserviert. Für ihn war ihre Beziehung bloß eine Affäre, doch für sie war sie so viel mehr. Umso schlimmer findet Lena sein plötzliches Verhalten: Er blockiert ihre Nummer, hat die E-Mail-Adresse gewechselt und lässt sich von seiner Sekretärin verleugnen. Lena startet einen letzten Versuch und schreibt Vincent einen Brief. Doch auch auf diesen reagiert er nicht. An diesem Punkt gibt sie auf, ihm hinterherzulaufen, obwohl sie ihm dringend noch etwas sagen müsste. Auf einer Vernissage 15 Monate später steht Vincent plötzlich in Begleitung einer bildhübschen Frau vor ihr. Lena nimmt all ihren Mut zusammen und spricht Vincent an. Dieser lässt sie mit einem arroganten Kommentar abblitzen. Als Lena dann auch noch erfährt, dass es sich bei der Frau um seine Verlobte handelt, schwört sie, Vincent niemals ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie ahnen beide nicht, dass dieses unvorhergesehene Treffen ihre Leben für immer auf den Kopf stellen wird. Im ersten Teil der Reihe hat Vincent die Schuld daran, dass es Emil, seinem Cousin, sehr schlecht geht. Gerade dieser Aspekt war es, der die Autorin dazu bewog, eine Fortsetzung zu ihrem gefeierten Liebesroman »Wenn jedes Wort nur Liebe ist« zu schreiben. In diesem Buch erfährt ihr, dass jede Münze zwei Seiten hat und das Verhalten eines Menschen nicht immer die innere Einstellung widerspiegeln muss. Beide Teile können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Ein paar Worte zum Schluss
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LOTTE R. WÖSS

Wenn jeder Blick nur Liebe ist

Über das Buch:

 

Lena wird von ihrem Freund Vincent eiskalt abserviert. Für ihn war ihre Beziehung bloß eine Affäre, doch für sie war sie so viel mehr. Umso schlimmer findet Lena sein plötzliches Verhalten: Er blockiert ihre Nummer, hat die E-Mail-Adresse gewechselt und lässt sich von seiner Sekretärin verleugnen. Lena startet einen letzten Versuch und schreibt Vincent einen Brief. Doch auch auf diesen reagiert er nicht. An diesem Punkt gibt sie auf, ihm hinterherzulaufen, obwohl sie ihm dringend noch etwas sagen müsste.

 

Auf einer Vernissage 15 Monate später steht Vincent plötzlich in Begleitung einer bildhübschen Frau vor ihr. Lena nimmt all ihren Mut zusammen und spricht Vincent an. Dieser lässt sie mit einem arroganten Kommentar abblitzen. Als Lena dann auch noch erfährt, dass es sich bei der Frau um seine Verlobte handelt, schwört sie, Vincent niemals ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie ahnen beide nicht, dass dieses unvorhergesehene Treffen ihre Leben für immer auf den Kopf stellen wird.

 

Im ersten Teil der Reihe hat Vincent die Schuld daran, dass es Emil, seinem Cousin, sehr schlecht geht. Gerade dieser Aspekt war es, der die Autorin dazu bewog, eine Fortsetzung zu ihrem gefeierten Liebesroman »Wenn jedes Wort nur Liebe ist« zu schreiben. In diesem Buch erfährt ihr, dass jede Münze zwei Seiten hat und das Verhalten eines Menschen nicht immer die innere Einstellung widerspiegeln muss.

 

Beide Teile können unabhängig voneinander gelesen werden.

Über die Autorin:

 

 

 

Lotte R. Wöss, geboren 1959 in Graz, absolvierte nach der Matura die Ausbildung zur Diplom-Krankenschwester.

Schon als Kind schrieb und dichtete sie, es folgten Artikel und Gedichte für kleine Zeitungen, doch erst im reiferen Alter fand sie zurück zu ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, und veröffentlichte ihren Debütroman »Schmetterlinge im Himmel« als Selfpublisherin. Mittlerweile hat sie zahlreiche Liebesromane, Krimis und auch Kurzgeschichten veröffentlicht, sowohl als Selfpublisherin als auch in Verlagen.

Ihr bevorzugtes Genre bleiben aber Liebesgeschichten mit Tiefgang. Die Entwicklung, die ein Mensch machen kann, die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten und einen Reifeprozess durchzumachen – das ist für Wöss Thema Nummer eins.

 

 

Lotte R. Wöss

 

Wenn jeder Blick nur Liebe ist

 

 

 

 

 

 

Liebesroman

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Mai 2022 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Dr. Alexandra Sept

https://stift-und-papier.webnode.com/

Korrektorat: Peter Wolf

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 93813872 und freepik.com

Lena

 

»Liebe ist eine Illusion, ein kurzlebiger Trugschluss, der dich irgendwann auf den nackten, kalten Boden der Tatsachen wirft. Es wird ein Glücksgefühl vorgetäuscht, das wie eine Seifenblase platzt. Nein, ich glaube nicht an die Liebe. Das, was wir hatten, waren kurzfristige gemeinsame Lustmomente, mehr nicht.«

 

Vincent war hier!

Ein Dolch fuhr mitten durch Lenas Körper. Zumindest fühlte es sich so an. Ihre Wangen begannen zu glühen, und das hatte nichts mit der Hitze des schwülen Julitages zu tun.

Fünfzehn Monate waren vergangen. Weshalb tat die Begegnung mit ihrem Ex immer noch so weh?

Wäre sie doch zu Hause geblieben!

Warum hatte sie sich bloß überreden lassen, hierherzukommen?

Lena müsse mal raus, hatte Paul betont.

Ihr Freund hatte sie förmlich dazu gedrängt, ihren Bruder und dessen Freundin zu begleiten. Fast beleidigt hatte er reagiert und hatte ihr vorgeworfen, sie würde ihm das Babysitten nicht zutrauen.

Tatsächlich hatten die Kinder geschlafen, als sie um acht Uhr das Haus verließ und sie hatte somit keine Ausrede mehr. Fast hatte sie sich schließlich doch ein bisschen gefreut. Und die Ausstellung der Malerin Karin von Stein schien vielversprechend zu sein.

Nun bereute Lena ihre Entscheidung. Aber hätte sie mit Vincents Anwesenheit rechnen müssen?

Ja, flüsterte es in ihr, schließlich hatte sie gewusst, dass die Künstlerin die Schwester von Vincents Verlobter war.

Hatte sich ihr Unterbewusstsein die Begegnung gewünscht?

Zwischen den zahlreichen Besuchern, die an Stehtischen Sekt tranken und intellektuelle Gespräche über Kunst führten, stach er deutlich hervor.

Aber vermutlich wäre ihr Vincent überall aufgefallen.

Im perfekt sitzenden grauen Anzug, hellem Hemd und passender Krawatte bot er das Bild des erfolgreichen Geschäftsmannes, der er ja auch war.

Hitze stieg in ihr auf, jedes Mal, wenn sie in seine Richtung blickte. Der Anblick war so vertraut. Er hatte sich nicht verändert.

Seine dunklen Haare waren modisch geschnitten und sie registrierte die widerspenstige Locke, die ihm immer noch in die Stirn fiel. Auch der gewisse Zug um den Mund war ihr gut bekannt, leicht amüsiert und selbstbewusst.

Hätten ihm nicht ein paar Haare ausfallen können? Eine Zahnlücke? Falten?

Ihr Herz schlug, nein hämmerte, als wollte es zum Hals heraus.

Kurz hatte sie das Gefühl, umzufallen. Es war das erste Mal seit diesem schrecklichen Tag, dass sie ihn wiedersah und ihr wurde übel. Doch nicht nur das.

Ihre Knie waren wie Pudding.

»Ich muss zur Toilette«, flüsterte sie Joe zu.

»Zu spät, während der Eröffnung sind die Toiletten geschlossen.« Er grinste über den vermeintlichen Witz, doch Lena hatte nun keinen Sinn für seine Späße.

»Es geht gleich los.« Celina sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.

Tatsächlich begann genau in diesem Augenblick die Musik zu spielen, ein Duo mit Gitarre und Keyboard.

Ob Vincent sie auch schon gesehen hatte?

Sie musste weg.

»Ich beeile mich.« Rasch drehte sie sich um und hastete davon.

Leider waren die Toiletten auf der anderen Seite des imposanten Raums. Und sie hatte nicht bedacht, dass sie, während sie sich durch die dicht gedrängte Menge kämpfte, erst recht Aufmerksamkeit auf sich zog.

Mit gesenktem Kopf erreichte sie endlich die rettende Tür, öffnete sie und hastete hindurch. Erleichtert atmete sie aus, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Wie sollte sie hier wieder herauskommen?

Sie hätte nicht gedacht, dass es so wehtun würde, ihn wiederzusehen.

Der Mistkerl sah aus wie immer. Vermutlich hatte er keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet, nachdem er ihr Herz zerrissen und in den Boden gestampft hatte.

Sollte sie es ihm jetzt und heute sagen, wie sehr er sie verletzt hatte? In ihrem Kopf entstand das Bild, wie sie zum Mikrofon trat und mit spitzem Finger auf ihn zeigte.

 

»Ich möchte nur kurz unterbrechen. Sehen Sie diesen Mann hier? Er hat mich schwanger sitzen gelassen, jeden Kontakt verweigert und sich stattdessen mit einer anderen Frau verlobt. Diese Dame ist übrigens auch hier, sie sitzt dort drüben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch einen schönen Abend.«

 

Nein.

Das war keine Option.

Und wollte sie überhaupt, dass Vincent es wusste? Davon erfuhr, dass er Vater geworden war?

Nein. Die Chance hatte er vertan.

Wut stieg in ihr hoch, wenn sie daran dachte, dass er sämtliche Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, abgewürgt hatte. Seine E-Mail-Adresse hatte er gelöscht, ihre Nummer auf seinem Handy blockiert, in der Firma hatte er sich verleugnen lassen. Zum Schluss hatte sie ihm auch noch einen Brief geschrieben! Mit aller Kraft schlug sie mit der Faust gegen eine der Toilettentüren.

»Besetzt«, ertönte es von innen.

Entsetzt trat sie zum Waschbecken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand hier war. O Gott, wie peinlich!

Da hörte sie auch schon, wie die Tür entsperrt wurde.

 

Eine ältere Dame trat zu ihr an den Waschtisch. »Kind, Sie sind ja ganz blass.«

»Es tut mir leid«, Lena warf einen Blick auf die Tür. »Ich habe nicht daran gedacht, dass jemand drin sein könnte.«

Die Frau zupfte am Rock ihres mauvefarbenen Kostüms, stellte ihre Handtasche auf dem Waschbecken ab und hielt ihre Hände unter den Wasserhahn, musste allerdings ein wenig warten, bevor das Wasser floss. »Ich hasse diese neumodischen Apparaturen.« Ein schelmischer Blick traf Lena. »Es ist immer eine Spielerei, ehe man sich waschen kann.« Sie griff zu einem der Papierhandtücher. »Was hat Sie denn so wütend gemacht?« Nun warf sie das Papier in den Eimer und drehte sich ganz zu Lena. »Oder sollte ich besser fragen, wer?«

»Mein Ex«, hörte Lena sich zu ihrem Entsetzen sagen. Wieso erzählte sie das einer wildfremden Frau? »Er ist da draußen, mit seiner Verlobten, vermute ich mal.« Sie hatte Natascha von Stein noch nicht gesehen.

»Und darum lassen Sie sich so einfach vertreiben?« Die Dame drehte sich wieder zum Spiegel und zog eine Haarnadel aus ihrer perfekt aufgesteckten Frisur. »Gehen Sie hinaus und zeigen Sie ihm, dass Sie längst über ihn hinweg sind.«

Die gute Frau hatte ja so recht.

Im Prinzip zumindest.

Die Sache hatte jedoch einen Haken.

Lena lehnte sich an die Holzwand, die die Toiletten vom Vorraum trennten. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Sie sollte es können. Es war mehr als ein Jahr vergangen, genauer gesagt war es fünfzehn Monate her, dass er sie brutal aus seinem Leben verbannt hatte.

Es sollte nicht mehr so wehtun, verdammt.

Die Fremde steckte gekonnt ihre Frisur wieder fest und Lena spürte erneut ihren forschenden Blick auf sich. »Wollen Sie Ihr Leben lang vor ihm flüchten? Sie sehen mir nicht wie eine Frau aus, die unangenehmen Situationen aus dem Weg geht. Welchen Grund hätten Sie, sich zu verstecken? Eine Beziehung ist in die Brüche gegangen, das passiert. Aber deswegen sollten Sie sich nicht Ihre Freiheiten begrenzen lassen.«

Lena straffte sich. Die Dame hatte recht. »Also gut.«

Energisch ging sie zur Tür, griff nach dem Türgriff, doch dann zögerte sie.

»Nur zu«, erklang es von hinten. »Am besten gehen Sie schnurstracks zu ihm hin. Dann haben Sie das Überraschungsmoment auf Ihrer Seite. Grüßen Sie freundlich, fragen Sie ihn, wie es ihm geht, und flechten Sie beiläufig ein, dass Sie einen neuen Partner haben.« Sie griff in ihre Handtasche und holte einen kirschroten Lippenstift heraus. »Ob es stimmt oder nicht, ist egal. Nur geben Sie sich keine Blöße.«

Kurz stieg Ärger in ihr auf. Weshalb gaben die Menschen so gern ungebetene Ratschläge? Sie wollte ihre alte Wunde nicht wieder zum Bluten bringen.

»Es wird ihm egal sein.«

»Vielleicht. Aber es stärkt Ihr Ego.« Gekonnt malte sie ihre Lippen an. Neidvoll musste Lena erkennen, dass die Dame etwas davon verstand, sich herauszuputzen. Auch ihre Kleidung zeugte von Geschmack. Und Reichtum. Sie wirkte auf eine gewisse Weise zeitlos elegant und strahlte eine Würde aus, die man sich nicht erwerben konnte, sondern die ihr in die Wiege gelegt worden war.

Wenn sie bloß ein Quäntchen davon hätte!

»Alles Gute, mein Kind.«

 

Irgendwie gestärkt mischte sich Lena wieder unter die Gäste. Die Fremde hatte recht gehabt, es wäre besser, Vincent zuerst anzusprechen. Dann wäre die erste Begegnung vorbei und sie könnte zur Tagesordnung übergehen.

Und sie wollte nicht feige davonlaufen. Er hatte sich charakterlos verhalten und sollte vor Scham im Boden versinken, nicht sie.

Hatte er den Brief gelesen und die Tatsache, dass sie schwanger gewesen war, einfach ignoriert?

Am besten war es, Lena konfrontierte ihn damit, dann hätte sie Klarheit. Ein Blick in seine Augen würde ihr genügen.

Sie sollte einen Skandal heraufbeschwören, das hätte er verdient.

Wo war er überhaupt?

»Da bist du ja endlich!« Joe trat neben sie. »Du hast die Rede der Künstlerin versäumt, kurz und humorvoll.«

»Ich war auf der Toilette, mir wurde ein wenig schwindlig.«

»Oje, sollen wir nach Hause?« Joe war sofort besorgt.

»Nein.« Sie streckte sich, um besser sehen zu können. Wo war der Kerl? War er schon gegangen? Das durfte nicht sein.

»Celina hat hier so viele Bekannte, dass ich mir fast überflüssig vorkomme. Vielleicht sollte ich auch auf Kunst umsatteln, und mir was einfallen lassen, um aufzufallen. Der eine hat sich einen Bleistift ans Ohrläppchen gehängt, leider sehe ich ihn momentan nicht mehr. Aber sieh mal, die da drüben, ist das ihr Unterkleid? Soll ich sie fragen, ob sie das Schlafzimmer sucht?«

Trotz ihrer Anspannung kicherte Lena nun. Ihr Bruder war unverbesserlich. Sie sah sich weiter im Raum um.

»Suchst du jemanden?« Offenbar war sie zu auffällig gewesen.

»Vincent ist hier.« Warum hatte sie das jetzt gesagt?

Joe runzelte die Stirn. »Wo?« Dann sah er Lena ins Gesicht. »Du wolltest abhauen, oder?«

»Stimmt, das war mein erster Impuls.« Es hatte keinen Sinn, das zu leugnen. Ihr Bruder kannte sie zu gut.

»Aber jetzt nicht mehr?«

»Jemand auf der Toilette hat mich überzeugt – ah, da ist sie ja.« Sie nickte mit dem Kopf und beobachte, wie sich ihre Toilettenbekanntschaft durch die Menge kämpfte. Selbst das tat sie mit Noblesse. Da sie hauptsächlich auf die eleganten Bewegungen geachtet hatte, war ihr entgangen, wohin der Weg der Dame geführt hatte. Jetzt bemerkte sie mit Erschrecken, dass die nette Frau sich direkt neben die Künstlerin stellte. Sie unterhielten sich vertraulich.

»Hi, sorry, ich habe mich ein wenig verplaudert.« Celina kam zurück, der Wirbelwind, der seit ein paar Monaten das Leben ihres Bruders bereicherte.

»Wer ist die Dame, die nun bei Karin ist?«, platzte sie heraus.

»Das ist Henriette von Stein, Karins Mutter«, sagte Celina und gab Joe ein Küsschen auf die Wange.

Ach du liebes bisschen! Karins Mutter! In diesem Fall auch die Mutter von Natascha von Stein. Sie hatte erst auf der Fahrt hierher erfahren, dass die beiden Schwestern waren.

Zum Glück wusste Henriette von Stein nicht, dass es die Ex ihres zukünftigen Schwiegersohnes war, der sie Ratschläge gegeben hatte.

»Wollen wir einen Rundgang starten? Ich kenne Karins Bilder bereits und kann euch eine perfekte Führung bieten«, ertönte Celina von hinten.

»Ich mache alles, wenn du nicht mehr mit dem Häuptling dort flirtest.« Joe klang enthusiastisch.

Celina knuffte ihn in die Seite. »Das ist Boris, der ist schwul. Also, auf geht’s.«

 

Lena interessierte momentan nichts weniger als die Bilder. Aber natürlich heuchelte sie Begeisterung. Karin von Stein konnte offenbar wirklich malen und mit dem entscheidenden Schubs des reichen Herrn Papa würde sie es sicher noch weit bringen.

Am Ende wollten Joe und Celina sich etwas zu trinken holen.

»Ich schau mich noch ein wenig allein um.« Lena ließ ihren Blick über die Gruppen wandern. Wo war Vincent bloß?

Celina sah sie fragend an.

»Sie sucht jemanden«, unterstützte Joe sie. Nicht ganz uneigennützig, vermutlich wollte er Vincent, der sich damals immer davor gedrückt hatte, ihre Familie kennenzulernen, nun in Augenschein nehmen.

»Eine alte Schulfreundin«, fiel Lena ihm ins Wort und signalisierte Joe mit einem Kopfschütteln, dass er schweigen sollte.

Leider war sie sich ziemlich sicher, dass Joe diese Nachricht nicht für sich behalten konnte. So sehr sie ihren Bruder schätzte, eines konnte er nicht: ein Geheimnis für längere Zeit bewahren. Dazu redete er zu gern.

Der plötzlich gewaltige Drang, Vincent zu finden, erstaunte sie selbst.

Davonlaufen war keine Option mehr. Hatte er den Brief gelesen und sich trotzdem nicht gemeldet? Das bezweifelte sie.

In diesem Fall war er bis heute ahnungslos geblieben. Hätte er nicht das Recht, es zu erfahren?

Ein Teil in ihr drängte sie dazu, es ihm zu sagen.

Doch der weitaus größere Part flüsterte ihr zu, dass er sich das Recht durch seine Ignoranz verspielt hätte.

 

Lena hasste es, wie sehr er sie immer noch und einfach nur durch seine Anwesenheit aus der Fassung bringen konnte.

Würde er sie grüßen? Würde er freundlich sein oder nur höflich? Keins von beidem? Hatte ihm ihre Beziehung überhaupt etwas bedeutet?

Wo konnte er sein? So groß war die Galerie auch nicht, aber es gab einige Nebenräume, Nischen und Ecken. Lena bemühte sich um einen langsamen Gang, wobei sie pflichtschuldigst die Bilder betrachtete.

Überall standen oder gingen die Menschen in Grüppchen, alle in festlicher Abendgarderobe, die teuer aussah. Die Frauen waren gestylt von der Frisur bis zu den lackierten Zehennägeln, die aus mancher Gucci-Sandale hervorlugten.

Lena hatte ein selbstgenähtes Cocktailkleid an, das sie nach einem Schnitt ihrer Freundin Nadine genäht hatte, die eine Modeschule besucht hatte. Ihre Schuhe hatte sie im Ausverkauf erstanden, die Ballerinas von Dolce & Gabbana und ihre Handtasche von Michael Kors hatten auch bereits ein paar Jahre auf dem Buckel. Trotzdem unterschied sie sich zumindest äußerlich nicht von den herausgeputzten Damen hier.

Und überhaupt, was zählte, war nicht die Verpackung, sondern das Innere.

Auf in den Kampf!

Lena hatte mit niemandem jemals über die Gründe der Trennung gesprochen, nicht einmal mit Joe, der lediglich wusste, dass Vincent sie bitter gekränkt hatte. Ihr Bruder hatte schnell seine Schlüsse gezogen, dass sie Vincent mit einer anderen Frau erwischt hätte. Sie hatte das nie korrigiert.

Die Wahrheit, diese schreckliche Demütigung, saß immer noch zu tief.

Natürlich hatte Joe auch mitbekommen, dass sie vergeblich versucht hatte, Vincent von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Die Erinnerung ließen Schmerz und Wut erneut auflodern, aus schwelender Glut wurde eine Flamme.

Nicht gut. In diesem Zustand tat sie oft Unüberlegtes.

Da sah sie ihn.

Weshalb musste er immer noch so gut aussehen?

Ihre Knie wurden wieder weich und sämtliche ihrer Pläne lösten sich mit einem Plopp in Luft auf. Ihre Selbstsicherheit schmolz dahin und ihre Füße rüsteten sich bereits zum Davonrennen. Dass sie erstarrt stehen blieb und ihn anstarrte, als wäre er der Leibhaftige, stand jedoch im Gegensatz zu ihren Fluchtgedanken.

Vincent sprach gerade mit einer schlanken Frau, die einem Kunstkatalog entsprungen schien. Ihre langen dunkelblonden Haare waren zu einer eleganten Rolle aufgesteckt, das goldfarbene Kleid schmiegte sich an ihren Körper und die Sandalen aus feinstem Veloursleder umschlossen schmale Füße mit perfekt manikürten Zehennägeln. Das alles nahm Lena in Sekundenschnelle auf, ebenso wie die Tatsache, dass die beiden unglaublich vertraut miteinander wirkten.

Es musste seine Verlobte sein.

Lena beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Vincent auf das Bild vor ihnen deutete, vermutlich unterhielten sich die beiden gerade über die Kunst von Karin.

Nun entwickelten ihre Beine wirklich ein Eigenleben. Schritt für Schritt, wie ein Roboter, bewegte sie sich in die Richtung von Vincent und seiner Verlobten. Schließlich blieb sie vor dem Nachbarbild stehen und suchte Deckung hinter einem wohlbeleibten Herrn. Sie hatte das Gefühl, dass in ihr drin ein Kessel Wasser brodelte. In diesem Zustand konnte sie ihn keineswegs ansprechen, sie brächte kein Wort heraus.

Oder sie würde ihn anschreien und das wollte sie hier vor den Leuten auch nicht.

»Diesen Pinselstrich macht ihr niemand nach«, hörte sie hinter sich. »Die Farbkomposition kann sich wirklich sehen lassen.« Die näselnde Stimme dröhnte unangenehm in ihren Ohren. Automatisch drehte sie sich um und sah sich einem grauhaarigen Mann gegenüber, der mindestens einen halben Kopf kleiner war als sie.

Offenbar hatte er mit ihr gesprochen, denn sie waren die Einzigen vor dem Bild.

»Was ist Ihre Meinung?« Er sprach sie nun direkt an und sein Mausgesicht wirkte, als ob er gleich zuschnappen wollte.

»Es gefällt mir.« Schuldbewusst konzentrierte sie sich nun auf das Bild, das sie kaum bewusst angesehen hatte.

Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken hinauf und gleich darauf folgte eine Hitzewelle.

Sie spürte Vincents Blick auf sich und hob den Kopf. Der Herr, der sie vorhin noch verdeckt hatte, war weitergegangen und sekundenlang existierten nur sie und Vincent.

Was dachte er?

Weshalb gelang es ihm, so ruhig auszusehen, während sie, obwohl sie auf die Begegnung vorbereitet war, komplett aus der Fassung gebracht wurde? Der Wirbelsturm in ihr wurde stärker, in ihren Ohren dröhnte es. Eine schreckliche Sekunde lang hatte sie das Gefühl, nach hinten zu kippen.

Der Kunstkenner neben ihr sprach weiter, deutete mit den Händen und wollte ihr offenbar die Einzelheiten des Bildes näherbringen, doch er hätte Chinesisch reden können. Keines seiner Worte kam bei ihr an.

Vincent schien ebenfalls versteinert, bis ihn die Frau neben ihm am Ärmel zupfte. »Vincent?«

Er drehte sich zu seiner Partnerin und der Bann war gebrochen.

Lena gab sich einen Ruck. Was hatte die Dame auf der Toilette gesagt?

Sie sollte sich nicht unterkriegen lassen. Vincent sollte glauben, dass sie glücklich war. Auch ohne ihn.

Energisch überbrückte sie die kurze Distanz mit fünf Schritten. »Hallo, Vincent! Das ist aber eine Überraschung.«

Er wandte sich ihr sofort zu, seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten. War es Schock oder Ärger, dass sie ihn ansprach? Oder vielleicht sogar ein kleines bisschen Freude?

Träum weiter, Lena, schalt sie sich innerlich.

»Lena. Lange nicht gesehen.« Seine Stimme brachte immer noch alle Saiten in ihr zum Klingen. Sie sah ihm direkt in die Augen und registrierte, dass er mit Gleichgültigkeit reagierte.

Enttäuschung rann zäh wie Pech an ihr hinab. Was hatte sie erwartet?

Verflixt, sie sollte schon lange drüber hinweg sein.

»Ich hätte nicht gerechnet, dich hier zu treffen.« Seiner Stimme hörte sie keinerlei Emotionen an.

Was wollte er mit diesem Satz ausdrücken? Dass er Lena keinen Kunstverstand zutraute oder dass sie es wagte, in seine Nähe zu kommen? Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Vincent drehte sich zu der gestylten Frau neben ihm. »Das ist Natascha von Stein, meine Verlobte.«

Lena hasste sie sofort. An der Adligen war kein Makel zu entdecken. Ebenmäßig geformtes Gesicht, glatte Haut, blaue Augen und eine schlanke Figur, die durch ihr teuer wirkendes Kleid noch betont wurde. Und natürlich perfekte Zähne, während sie immer mit ihrem leicht schiefen Eckzahn gehadert hatte.

Weshalb bekamen manche Menschen alles und so viele nichts?

Vincents nächste Bemerkung schürte ihre Wut noch mehr. »Natascha, das ist Lena, eine frühere Bekannte.«

Frühere Bekannte? Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, damit sie ihm nicht sofort eine Ohrfeige verpasste.

Die Dame nickte ihr huldvoll zu. Man musste nicht besonders intelligent sein, um zu durchschauen, was hinter der ›Bekannten‹ steckte. Dennoch würde Natascha von Stein als ›Dame von Welt‹ hier wohl keine Szene machen, da war sich Lena sicher. Und richtig, Vincents Verlobte drehte ihr Gesicht demonstrativ von ihr weg und beugte sich zu ihrem Zukünftigen. »Vincent, Schatz, wir müssen noch mit den von Mandelslohs reden. Sie stehen gerade allein da drüben.«

Vincent folgte ihrem Blick. Lena musste schlucken. Im Geiste sah sie sich der kühlen Blondine die Hand reichen. »Grüß Gott, freut mich. Ich bin Lena, die Ex. Und Sie müssen wissen, dass Vincent Vater ist.«

Doch sie blieb stumm. Feigling.

Sollte Vincent den Brief gelesen haben und es war ihm egal?

Die Frage brannte in ihrer Seele, doch ihre Zunge klebte unfähig am Gaumen.

Vincent ließ sich mitziehen, folgte seiner mondänen Verlobten wie ein Lamm, ohne Lena einen weiteren Blick zu schenken, ohne sich zu verabschieden. Sie sah den beiden nach, eine Leere breitete sich in ihr aus, die in jeden Winkel ihres Körpers kroch.

Was hatte sie sich erhofft? Dass Vincent seine Meinung geändert hätte? Dass er sie zurückwollte?

Es war fast lächerlich, wie er seiner Verlobten nachdackelte.

War er so ein Weichei geworden?

Er war es nicht wert.

Warum war dann ihr Hals so eng?

Aus.

Chance verpasst.

Das war’s. Wenn sie Vincent nicht einmal eine Runde Small Talk wert war, dann würde er auch nichts erfahren. Sollte er sich doch zum Teufel scheren, samt seiner perfekten Wunschfrau.

Beim Umdrehen stieß sie fast mit dem Mausgesicht von vorhin zusammen. »Entschuldigung.«

»Wenn Sie möchten, können Sie mich weiter begleiten und ich erkläre Ihnen gerne etwas über die Bilder.«

»Sie kennen sich aus?«

»Das will ich meinen. Ich bin Professor Hering von der Kunstakademie. Karin von Stein hat damals einige Kurse bei mir belegt.«

Die Ablenkung war willkommen. Von Joe und Celina war nichts zu sehen, vermutlich hatte sie Kollegen ihrer Kunstgruppe getroffen. Die Aussicht, dass sie allein herumstand, reizte sie nicht sonderlich.

Lena willigte ein und musste zugeben, dass der Professor es verstand, die Bilder anschaulich zu interpretieren. Bald schlossen sich mehr Personen an und dank amüsanter Anekdoten wurde die Stimmung locker.

So war es für Lena total unerwartet, als sich plötzlich Vincent vor ihr aufbaute.

»Was tust du hier?« Seine Stimme klang so streng, als hätte ein Vater seine Tochter beim verbotenen Ausgang erwischt.

Hallo?

Was fiel ihm eigentlich ein?

»Ich wusste nicht, dass du ein Privileg auf diese Veranstaltung hast. Kümmere dich nicht um mich und geh wieder zu deiner Verlobten und kriech ihr …« Erschrocken brach sie ab und sah sich um. Zum Glück war die Gruppe weitergegangen und scharte sich bereits vor das nächste Bild. Rasch eilte sie ihnen nach, für sie war das Gespräch beendet.

Doch Vincent folgte ihr. »Lena, bist du wegen Leon hier? Wolltest du über mich triumphieren?«

»Was meinst du damit?«

»Dass Leon von der Schule geflogen ist.«

Vincent

 

Vincent hatte es geahnt. Es war weg. Nils Holgersson, das neue Buch, das ihm Onkel Ludwig geschenkt hatte, lag nicht mehr in seinem Versteck, obwohl er sich solche Mühe gegeben hatte. Aber während er im Kindergarten war, hatte seine Mutter offenbar sein Zimmer durchsucht.

In seinem Bauch rumorte es. Warum tat sie das immer?

Sie saß in der Küche mit einer Zigarette in der Hand und las eine dieser bunten Zeitschriften.

»Mama, wo ist mein Buch?«

»Es ist ungesund, in deinem Alter so viel zu lesen.«

»Bitte Mama, es ist von Onkel Ludwig.« Er flehte bereits und hoffte, dass sie dieses Mal nachgeben würde.

Dabei wusste er es doch besser.

»Vincent, du bist erst fünf Jahre alt. Es dauert noch eineinhalb Jahre, bis du eingeschult wirst. Falls deine Lehrerin dann merkt, dass du schon lesen kannst, fliegst du von der Schule. Du wirst ab jetzt nichts mehr lesen und wenn ich deine Augen verbinden muss.«

Rote Schleier tanzten vor seinem Gesicht. »Gib mir mein Buch zurück. Du hast kein Recht, es mir zu nehmen«, brüllte er los. »Onkel Ludwig hat es mir geschenkt und ich will wissen, wie es weitergeht.«

Seine Mutter sah nicht einmal auf. »Schrei nicht so, es wird dir nichts nützen.«

Da stürzte er sich auf sie und trommelte mit den Fäusten auf sie ein. »Gib mir mein Buch.« Er schluchzte, schrie, strampelte.

Aber was konnte ein Fünfjähriger schon ausrichten?

Seine Mutter packte ihn und trug ihn in sein kleines Zimmerchen zurück, warf ihn aufs Bett. »Da bleibst du jetzt bis morgen und tobst dich aus. Warum kannst du nicht normal sein? Immer diese Schreianfälle, wegen nichts. Deinetwegen ist dein Papa fort und ich kann mich allein mit dir herumplagen.«

»Bitte, Mama, sperr mich nicht ein.« Sein Zimmer war winzig, gerade mal das Bett hatte Platz und eine Kiste mit Spielsachen. Darin waren auch zwei Bilderbücher. Aber die kannte er auswendig.

Es half nichts, die Tür fiel zu, der Schlüssel knirschte im Schloss.

Seine Tränen trockneten.

Womit sollte er sich nun beschäftigen?

 

 

 

Zwölf Stunden zuvor

 

Simone, Vincents Sekretärin hatte ihm wie immer eine Tasse Kaffee hingestellt, schwarz und ohne Zucker, ehe sie ihn seiner Arbeit überlassen hatte. Mit der gewohnten Routine zappte sich Vincent durch die E-Mails. Erstarrt blieb er bei einer hängen.

Das konnte doch nicht wahr sein! Leon Büchner durfte im nächsten Schuljahr nicht mehr an die Friedrich-Fröbel-Schule zurück. Der hochintelligente Junge, für den er sich extra weit aus dem Fenster gelehnt hatte, um ihn dahin zu vermitteln.

Auf einmal war alles wieder deutlich vor seinen Augen.

Sein Eingreifen, den Jungen auf das Internat für Hochbegabte zu schicken hatte zum Bruch mit der Frau geführt, mit der er … nein, er wollte dieses Buch nicht mehr öffnen. Es war abgeschlossen.

Die Trennung wäre ohnehin unvermeidlich gewesen.

Doch es war bereits zu spät.

Lang unterdrückte Erinnerungen kämpften sich nun mit Gewalt an die Oberfläche, überschwemmten ihn und nahmen ihm die Luft.

Nein! Er hatte sich so bemüht, das ›Vernünftige‹ zu tun.

Wie ferngesteuert stand der junge Unternehmer auf und trat ans Fenster, sein Blick war auf die belebte Straße vier Stockwerke unter ihm gerichtet. Doch er sah nichts, war blind für alles. Minutenlang blieb er starr, dann drehte er sich um und ging zum Schreibtisch zurück.

Ohne lang zu überlegen, beugte er sich vor, zog die unterste Schublade auf, schob die Papiere zur Seite und kramte sich tief nach unten, bis zum Boden, wo er die letzten beiden Erinnerungsstücke an die schönste Zeit seines Lebens aufbewahrte.

Ein Foto, mit einem leichten Knick darin. Es zeigte ihn und eine dunkelblonde Frau mit zarten Gesichtszügen.

Lena.

Es war bei ihrem gemeinsamen Urlaub auf Korsika aufgenommen worden und ihrer beider unbeschwerte Fröhlichkeit strahlte förmlich aus dem Bild heraus. Damals war er tatsächlich glücklich gewesen.

Ein Kloß saß ihm im Hals, als er die zweite Erinnerung in der Hand hielt: einen ungeöffneten Brief. Er hatte es nicht gewagt, ihn zu öffnen. Vermutlich hatte sie ihm noch ein letztes Mal ihre Liebe geschworen, nachdem er zuvor sämtliche Telefongespräche verweigert und seine E-Mail-Adresse auf Eis gelegt hatte. Er wollte keinen Kontakt mehr, sonst wäre er schwach geworden.

Die Art und Weise, wie er sie aus seinem Leben verbannt hatte, war grausam und brutal gewesen, das war ihm bewusst. Er selbst hatte Wochen gebraucht, um sich von der Trennung zu erholen.

Aber hatte er eine Wahl gehabt?

Vincent musste seine Pflicht tun, die Verlobung mit Natascha war die logische Konsequenz gewesen.

Er hielt das Bild in seinen Fingern und erlaubte sich kurz ein paar Erinnerungen. Lena und er, Hand in Hand wie sie über den Strand liefen. Sie war es, die ihn zog, bis sie mit den Füßen das Wasser berührten, den Kies, sie platschten hinein, schließlich ihr Aufschrei, weil rundum Quallen waren.

Seine Mundwinkel schoben sich nach oben, wie von selbst.

Mein Gott hatten sie gelacht damals. Wann war er jemals wieder so unbeschwert gewesen?

Er war versucht, den Brief zu öffnen. Es war schließlich über ein Jahr her.

Bestimmt hatte sie ihn längst vergessen.

Der Umschlag zwischen seinen Fingern schien fast lebendig zu werden, der Brieföffner war direkt in Griffweite.

Vor seinen Augen sah er deutlich ihr Gesicht, den letzten Blick von ihr, diesen Gesichtsausdruck, traurig, niedergeschlagen und unglücklich – da war nichts mehr übrig gewesen von der unbeschwerten lebenslustigen Lena. Dieser abschließende Eindruck hatte sich wie ein Messer in sein Herz gebohrt.

Nein.

Energisch steckte er Brief und Bild in die Schublade zurück. Mit den Fingern schob er die Papiere darüber wieder zu einem scheinbar undurchdringlichen Haufen zusammen. Es war zwar nicht anzunehmen, dass Natascha jemals an seinen Schreibtisch kam, aber man wusste ja nie.

Wäre sie eifersüchtig, wenn sie wüsste, dass in seinem Herzen eine ganz bestimmte Person immer noch Raum einnahm? Er konnte es sich nicht vorstellen, Natascha war stets beherrscht und ruhig. Gefühle waren nicht ihre Welt. Selbst wenn sie eifersüchtig wäre, würde er es nicht mitbekommen. Ihre Verlobung beruhte auf taktisch vernünftigen Überlegungen, die Bestand haben würden und nicht auf romantisch verklärten Emotionen. Allein der Gedanke, sie könnte im Meer herumalbern, war lächerlich. Natascha tat alles mit Bedacht und traf immer Vorsorge. Sie wäre niemals ins Wasser gestiegen, ohne sich bereits vorher suchend umzusehen, ob eventuell Quallen oder Seeigel ihr Badevergnügen stören könnten.

Auch der Sex schien eine erlernte Übung für sie zu sein, taktisch, ihm die größtmögliche Befriedigung zu verschaffen und selbst dabei unberührt zu bleiben.

Mit Lena war es jedes Mal ein Vulkanausbruch gewesen.

Mit aller Gewalt schob er seine Gedanken zur Seite und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

Er sollte sich auf das anstehende Meeting konzentrieren. Aber zuvor wollte er noch abklären, weshalb Leon die Schule verlassen musste. Genau so, wie Lena es prophezeit hatte.

 

Vincent hatte den Tag mit konzentrierter Arbeit verbracht, nur in der Sache Leon hatte er nicht die gewünschten Informationen erhalten können. Helmut Hartmann, der Direktor der Friedrich-Fröbel-Schule, sowie die verantwortlichen Lehrer waren auf einer Konferenz und nicht erreichbar. Auch Professor Hartwig Kühne, der Leiter von KIMI, jener Organisation, die hochintelligente Kinder unterstützte und an entsprechende Schulen vermittelte, war auf Urlaub. Er würde sich also gedulden müssen.

 

Kurz vor Feierabend sah noch sein Cousin Emil vorbei. Ihnen gehörte Sternbergs Edelmöbel gemeinsam, er absolvierte den geschäftlichen Teil, Emil hingegen war der kreative Kopf. Durch Emils innovative Designs hatte die Firma einen Höhenflug hingelegt, dass sie mit der Produktion kaum nachkamen. Daher hatten sie die Fusion mit einer Möbelkette erwogen.

»Wie geht es Clea?« Vincent mochte Emils Frau, die maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass er und Emil sich nun näher standen.

»Es kann jeden Tag so weit sein, sie fühlt sich wie unsere Mülltonne und würde am liebsten gerollt werden.« Emil lachte.

Vincent beneidete seinen Cousin um seine Familie. Um Clea, die bedingungslos zu ihm stand, und um das Baby, das bald das Licht der Welt erblicken würde.

»Ich wollte dir meine Mappe vorbeibringen.« Emil legte die neuen Entwürfe auf seinen Tisch. Vincent sah sofort hinein.

»Wahnsinn, der Bücherschrank ist der Hit.«

»Ja.« Stolz klang aus Emils Stimme. »So fällt der Barschrank nicht auf, lediglich der eingeklappte Bartisch, da muss ich ein zweites Mal ran, es gefällt mir noch nicht ganz.«

Vincent fand es bereits jetzt gelungen und er würde sich hüten, Emil in seine Entwürfe hineinzupfuschen.

»Wie sieht es aus mit Modern Worlds?« Emils Stimme klang ruhig, doch Vincent wusste, dass ihm die Fusion mit der Möbelkette nicht geheuer war. Sein Cousin hatte ihm mehrfach zu verstehen gegeben, dass Sternbergs Edelmöbel ein Familienbetrieb sein sollte und sie sich nicht ohne Not einen unberechenbaren Partner ins Boot holen sollten.

»In den nächsten Wochen gibt’s ein Meeting. Ich muss erst alle Fakten zusammentragen.«

»Hm.«

»Du bist nicht überzeugt?«

Emil zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe zu wenig davon, ob es uns was bringt oder nicht. Im Prinzip bin ich mit der Ist-Situation mehr als zufrieden.«

 

Das Gespräch zirkelte noch in Vincents Kopf, als er an der Seite seiner bildschönen Verlobten mitten unter illustren Gästen auf der Vernissage ihrer Schwester stand.

»Hast du überhaupt zugehört?« Natascha sah aus wie ein Model, perfekt gestylt, blonde Hochsteckfrisur und Etuikleid. Kein Mensch hätte vermutet, dass sie eine der führenden Wissenschaftlerinnen zum Thema Klimaschutz war und ein bedeutendes internationales Projekt leitete.

Vincent zuckte zusammen und sah schuldbewusst auf. »Tut mir leid, meine Gedanken sind momentan durcheinander …«

»Du musst lernen, abzuschalten.« Nataschas Parfüm drang unangenehm in seine Nase, als sie den Kopf schüttelte. Schon längst hatte er ihr einmal sagen wollen, dass er diesen süßlichen Duft verabscheute. »Wenn ich immer meine Arbeit mitnehmen würde, dann wäre ich bald nicht mehr fit für die Strapazen, die mein beruflicher Alltag mit sich bringt.«

Er hasste ihre belehrende Stimme. »Also, was hast du gesagt?«

Es war irgendwas über Karin. Natascha hatte nicht verborgen, dass sie die Zeichnungen ihrer Schwester dilettantisch fand. »Sie mag ganz gut vor sich hinkritzeln, aber für große Kunstwerke reicht es nicht« war ihr Urteil nach Karins erster Ausstellung gewesen.

»Dass ich Karins Bilder ganz nett finde.« Das ›nett‹ klang herablassend aus ihrem Mund. »Vielleicht ein wenig trivial. Sie wird nicht unbedingt in die Weltgeschichte eingehen, aber eventuell tauchen doch Käufer auf.« Sie zog ihn weiter. »Und bitte sei nett zu Karin, sie hat sich wirklich bemüht. Mein Vater hat einiges in die Vernissage gesteckt, ich hoffe für sie, dass sie wenigstens ein paar Bilder verkaufen wird.« Den letzten Teil flüsterte sie an seinem Ohr, denn Karin eilte bereits auf sie zu, in einem lose flatternden Kleid, ihre langen braunen Haare mit einem Schal verziert, der kunstvoll in ihren Zopf eingearbeitet war. Von ihren Ohren hingen spiralförmige Kreolen.

»Hallo, ihr beiden! Schön, dass ihr da seid.«

Natascha, die einen halben Kopf größer war, beugte sich zu ihr und hauchte ihrer Schwester links und rechts zwei Luftküsschen auf die Wangen. Vincent gab ihr die Hand.

»Ist es nicht toll geworden?« Karin unterstrich ihre Worte mit einer Geste, als wollte sie den Raum umarmen.

»So viel Geld, wie Papa hineingesteckt hat, sollte es das auch sein.« Nataschas Bemerkung erschien Vincent unpassend, doch Karin ging darüber hinweg.

»Ich bin bereits mächtig aufgeregt, hoffentlich verhasple ich mich nicht bei der Begrüßungsrede.« Sie hob den Kopf. »Holt euch schon mal ein Glas Champagner, ich sehe da eine Kommilitonin von mir.« Sie eilte Richtung Tür und Vincent beobachtete, wie sie auf halbem Weg einer dunkelhäutigen jungen Frau um den Hals fiel.

»Das ist Celine oder Celina.« Natascha kräuselte kurz ihre Nase. »So ist die Kunstwelt, bunt und unberechenbar.«

Vincent konnte die Bemerkung nicht einschätzen. War seine Verlobte eine Rassistin? Das wäre ihm doch zuvor aufgefallen. Im Rahmen ihrer Projekte arbeitete sie oft mit Menschen sämtlicher Nationalitäten zusammen. Ehe er sie fragen konnte, was sie damit gemeint hatte, bauten sich schon Nataschas Eltern vor ihnen auf. Baron Karl von Stein war ein ausgesprochen begüterter Mann, der Eleganz und Noblesse ausstrahlte. Vincent hatte ihn noch nie die Contenance verlieren sehen, er blieb immer höflich. Allerdings fehlte ihm auch eine gewisse Herzlichkeit, die seine Frau umso mehr versprühte.

»Vincent, wie schön, dass wir dich endlich wieder zu Gesicht bekommen.« Sie hob ihr Glas, wollte offenbar mit ihm anstoßen, doch er hatte noch keines erhalten. »Wann kommt ihr beide zum Essen zu uns? Das letzte Mal ist bereits Wochen her.«

Mit einer Fingerbewegung lotste Karl eine der herumeilenden Kellnerinnen zu sich und schließlich erhielten auch Natascha und Vincent gefüllte Gläser.

»Nur vierzehn Tage, Mama.« Natascha sah zu Vincent. »Lass mich überlegen, die Woche habe ich zu viele Termine. Was meinst du, können wir es uns nächsten Samstag einrichten?«

»Das passt.« Vincent seufzte innerlich. Ein Essen bei den von Steins war stets eine förmliche Angelegenheit, zu der man sich passend zu kleiden hatte. Meist wurden noch zusätzlich Bekannte, Geschäftspartner oder Freunde eingeladen, denn Herr von Stein ließ keine Gelegenheit aus, geschäftliche Notwendigkeiten auch in der Freizeit zu behandeln.

»Habt ihr ein Datum fixiert?« Henriette von Steins Gesichtsausdruck war erwartungsvoll. »Nun, da die Verlobung offiziell ist, brenne ich darauf, mit den Hochzeitsvorbereitungen zu beginnen.«

»Wie wäre es mit Oktober?«, schlug Karl von Stein vor. In Vincents Ohren summte es.

»Das klingt doch empfehlenswert«, hörte er Natascha sprechen, mit dieser kühlen unbeteiligten Stimme, als sprächen sie übers Wetter. »Oktober, das würde sich mit meinem Zeitplan vereinbaren lassen. Was denkst du, Schatz?«

Vincent hatte auf einmal einen Stein im Magen. Er räusperte sich. »Oktober ist gut«, hörte er sich sagen.

War es das?

Gut.

Aber nicht brillant oder großartig, exzellent, wundervoll. Einfach nur gut. Das musste genügen.

»Auf unser gescheites Mädchen.« In Karl von Steins Stimme konnte man den Stolz heraushören, als sie die Gläser klingen ließen. »Und natürlich unsere Kleine! Was für eine gelungene Ausstellung.«

»Es sind ein paar schöne Malereien dabei.« Nataschas Tonfall klang erneut herablassend, auf einmal störte sich Vincent daran. Möglicherweise waren die Bilder keine Van Goghs oder Picassos, aber Vincent respektierte die Mühe und Arbeit, die dahintersteckte. Außerdem waren sie bunt und strahlten Lebensfreude aus, vermutlich waren sie Natascha deswegen ein Dorn im Auge.

Ihr Leben verlief nach strengen Richtlinien, sie hatte einen Diätplan, einen Zeitplan, einen Sportplan – Regeln einzuhalten, schien ihre einzige Option ans Leben.

Weshalb dachte er auf einmal so negativ über sie? Er hätte Lenas Bild heute nicht anschauen dürfen. Schließlich hatte er Natascha mit Bedacht und Logik ausgewählt. Sie sollte seine Frau werden, seine Partnerin, Gefährtin und Mutter seiner Kinder.

Er legte spontan den Arm um sie und drehte sie in Richtung eines der Ölbilder. »Mir gefallen einige ihrer Werke, sie wirken auf mich aufheiternd. Sieh mal da drüben, dieses kleine Café am Meer, da möchte ich mich am liebsten hineinsetzen.«

Natascha war seinem Blick gefolgt. »Es ist … nett.« Sie schüttelte seine Hand zwar nicht ab, aber es war, als würde er eine Statue umarmen. »Nur ist die Welt leider anders. Karin malt hübsche Bildchen, jedoch fehlen mir die Tiefe, die Symbolkraft und die Interpretationsmöglichkeiten.«

»Bitte entschuldigt mich einen Moment.« Henriette gab ihrem Mann ihr Glas und schlängelte sich zwischen den Menschen an den Stehtischen hindurch.

»Da drüben ist noch ein Tisch, der ist näher beim Rednerpult.« Mit diesen Worten lotste Karl von Stein sie einige Schritte weiter nach vorn.

»Es sind bereits fünf Minuten über der Zeit.« Natascha verzog missbilligend das Gesicht. »Typisch Karin, sie kann nie pünktlich sein.«

Ein Gong ertönte und Musik begann zu spielen.

»Zwei außergewöhnlich talentierte Schüler der Musikschule.« Befriedigung klang aus Karls Worten. »Ich bin froh, dass ich die beiden engagieren konnte.«

Vincent wusste, dass sein Schwiegervater gerne junge Künstler förderte, als Vorstandsmitglied von KIMI betonte er immer wieder, dass auch künstlerische Talente einer Unterstützung bedurften.

Danach trat erwartungsvolle Stille ein. Karin richtete sich das Mikrofon.

»Meine Lieben!« Karin öffnete ihre Arme bei den Worten, als wollte sie alle umarmen. »Ich freue mich, dass ihr heute gekommen seid. Wahrscheinlich hört man mir an, dass ich aufgeregt bin, es ist meine erste große Ausstellung und ich bin wirklich neugierig, ob euch meine Werke gefallen …«

»Meine Güte, sie hätte mich ihre Rede schreiben lassen sollen«, flüsterte Natascha neben ihm. »Ist das peinlich, wie privat sie mit den Leuten spricht. Eine Anbiederung sondergleichen.«

Vincent fand Karins Rede humorvoll. Es war schließlich keine offizielle Eröffnung eines wissenschaftlichen Kongresses. Außerdem war sie die Künstlerin und hatte jedes Recht, der Veranstaltung ihre persönliche Note zu geben. Es wurde mehrmals gelacht und bei einer besonders guten Pointe gab es Zwischenapplaus, sogar Natascha musste die Miene verziehen.

»Wenn Sie irgendwelche Fragen zu einem der Bilder haben oder auch zu meiner Art zu arbeiten, bitte sprechen Sie mich an. Und sonst wünsche ich Ihnen viel Spaß.«

Alle klatschten und der Pulk löste sich langsam auf, der Geräuschpegel stieg und grüppchenweise scharte man sich um die Bilder.

»Dann machen wir mal unseren obligatorischen Rundgang.« Natascha nippte noch einmal an ihrem Glas, ehe sie es abstellte. »Und du Papa?«

»Ich warte auf deine Mutter.« Karl sah sich um. »Wo sie so lange bleibt? Es ist gar nicht ihre Art, die Rede zu versäumen.«

»Bestimmt hat sie von woanders aus zugehört und wollte sich nur nicht durch den Pulk hier durchkämpfen«, sagte Vincent.

Zu zweit begannen sie den Rundgang und Vincent wunderte sich einmal mehr über die Vielseitigkeit seiner baldigen Schwägerin. Landschaftsbilder wechselten mit Farbkompositionen ab. Karin war im Experimentierstadium und arbeitete mit verschiedenen Techniken. Daher waren nicht alle Bilder gelungen. Aber was war gelungen? Ob es gefiel oder nicht, lag immer im Auge des jeweiligen Betrachters. Natascha konnte sich offenbar mit keinem der Kunstwerke anfreunden, ihr Gesichtsausdruck blieb steinern. Ein Gemälde sprach Vincent besonders an, es zeigte ein unbekleidetes Mädchen, das auf einem Felsen saß und auf das Meer blickte. Es erinnerte ihn an … nein, weshalb dachte er bloß heute dauernd an Lena? Er drehte sich abrupt um und wollte zum nächsten Bild gehen. Das durfte doch nicht wahr sein! Da stand sie.

Lena.

Es war, als hätten seine Gedanken sie herbeigelockt.

War das Schicksal? Ein Zeichen? Dass er sie ausgerechnet heute traf?

Alles in ihm erstarrte und sekundenlang fraßen sich ihre Blicke ineinander.

In ihm entstand ein prickelndes Gefühl, das sich in seinem Körper ausbreitete und übermächtig wurde. Eine Lebendigkeit, die er schon ewig nicht mehr gespürt hatte.

Doch viel zu schnell kam ihm die unschöne Trennung in den Sinn.

Und ihre Nachrichten, die er alle ignoriert hatte. Er hatte es sich nicht leisten können, sie zu lesen, denn er wäre schwach geworden. Die Zeit mit ihr war ein Diamant in seinem Herzen, glitzernd, schön, wertvoll und schmerzhaft hart.

Offenbar war er immer noch nicht immun gegen diese Frau.

Nun kam sie näher. Verdammt, was wollte sie von ihm?

»Hallo, Vincent! Das ist aber eine Überraschung.«

»Lena. Lange nicht gesehen.« Er gab seiner Stimme einen möglichst lässigen, unbeteiligten Klang. »Ich hätte nicht gerechnet, dich hier zu sehen.« Hastig drehte er sich zu Natascha. »Das ist Natascha, meine Verlobte.« Dann sah er wieder zu Lena und sein Herz schlug einen Salto. Es fiel ihm besonders schwer, den nächsten Satz herauszubringen. »Natascha, das ist Lena, eine frühere Bekannte.« Mit Vehemenz bemühte er sich, das Wort ›Bekannte‹ beiläufig, ja fast beleidigend klingen zu lassen.

Mit Erfolg.

Daran, wie sich Lenas Augen zu Schlitzen verzogen, erkannte er, dass sie verletzt und zornig war.

Zu Recht.

Natascha hatte für Lena nur ein kurzes Nicken übrig, offenbar interessierte sie gar nicht, wer das war. »Vincent, Schatz, wir müssen noch mit von Mandelslohs reden. Sie stehen gerade allein da drüben.«

Sie zog ihn fort von Lena und Vincent schämte sich auf einmal. Was war das für ein Benehmen?

Nur, wie konnte er Nataschas hochnäsige Art verurteilen, wenn seine Manieren um kein Haar besser gewesen waren?

»Musste das sein?«, fuhr er Natascha ungehalten an, als sie außer Hörweite waren.

»Vincent, ich weiß, dass du Partnerinnen für sexuelle Aktivitäten vor mir hattest und nach deiner Potenz zu schließen, warst du gewiss ausgesprochen rege. Ich dulde jedoch nicht, dass du mir deine ehemaligen Geliebten vorstellst.« Hätte ihre Stimme einen erregten Tonfall angezeigt, wären sie nicht halb so verletzend gewesen. Stattdessen klirrte sie frostig kalt und das Wort ›Potenz‹ klang wie eine Geschlechtskrankheit.

»Lena war meine Freundin, nicht meine Geliebte.« Weshalb war ihm diese Korrektur wichtig?

»Meinetwegen. Ich will das gar nicht hören.« Natascha winkte bereits einem älteren Ehepaar, für sie war das Thema ganz offensichtlich beendet.

Nicht für Vincent.

»Wir hätten zumindest ein paar Worte mit ihr wechseln und uns wenigstens verabschieden können«, zischte er mit zusammengepressten Zähnen. Die Art und Weise, wie sie Lena stehengelassen hatten, stieß ihm nun sauer auf.

Und noch mehr die Tatsache, dass er nicht unschuldig daran war.

»Warum sollte ich?« Nataschas Stimme blieb gleichbleibend kühl. »Du kannst doch nicht wirklich erwarten, dass ich mich mit einer deiner Ehemaligen anfreunde? Außerdem gehört sie nicht zu unseren Kreisen, daher sehe ich keine Notwendigkeit, mich mit ihr abzugeben. Du weißt, wie sehr ich Small Talk und Geplauder mit Leuten hasse, deren IQ knapp über dem der Geißeltierchen liegt.«

»Nun, dann werde ich jetzt zurückgehen und dir das leidige Gespräch abnehmen.« Es klang in seinen eigenen Ohren trotzig und Nataschas herabgezogene Mundwinkel bestätigten seine Einschätzung. »Bitte, wenn du dich kindisch verhalten willst. Tu, was du nicht lassen kannst.«

Er drehte sich um und ging den Weg zurück.

Suchend sah er sich um. Ob Lena schon gegangen war?

Nein, da stand sie, mitten in einer Gruppe und unterhielt sich mit einem grauhaarigen kleinen Mann. Alle schienen sich bestens zu unterhalten.

Entschlossen trat er zu ihr, aus seinem Mund kamen jedoch andere Worte, als vorbereitet. »Was tust du hier?« Es klang in seinen eigenen Ohren scharf.

Ihre Augen verengten sich. »Ich wusste nicht, dass du ein Privileg auf diese Veranstaltung hast.« Ihr Fauchen erinnerte an eine zornige Katze. »Kümmere dich nicht um mich und geh wieder zu deiner Verlobten und kriech ihr …« damit wandte sie sich ab und folgte der Gruppe, die bereits zum nächsten Bild gegangen waren.

»Lena, bist du wegen Leon hier? Wolltest du über mich triumphieren?«

»Was meinst du damit?« Sie drehte sich schwungvoll um und ihre weitaufgerissenen Augen überzeugten ihn. Lena wusste es nicht.

»Dass Leon von der Schule geflogen ist.«

Sie starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen. »Leon ist … ich hatte keine Ahnung. Warum?«

»Ich weiß auch nichts Genaues.« Er richtete seinen Krawattenknoten und bereute, das Thema angeschnitten zu haben, denn sie log nicht, das erkannte er sofort. »Warum bist du dann hier?« Es kam schärfer heraus, als er wollte.

Verdammt, diese Frau brachte sein Gleichgewicht durcheinander!

»Bestimmt nicht, um mich mit dir zu unterhalten.«

Er prallte zurück. »Du hast mich angesprochen.«

»Ja.« Sie strich sich eine Locke aus der Stirn. Bilder erschienen vor seinem Auge, als er seine Finger in das dichte Haar hineingegraben hatte.

Nicht gut. Vincent spürte, wie er hart wurde.

»Da dachte ich noch, wir könnten uns wie zivilisierte Menschen benehmen.

---ENDE DER LESEPROBE---