Schmutziges Licht - Jürgen Seidler - E-Book

Schmutziges Licht E-Book

Jürgen Seidler

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Weil er ein guter Polizist war, musste Peter Ebuk aus Uganda fliehen. Seit drei Jahren lebt er mit seiner Tochter in einem brandenburgischen Dorf in der Nähe von Rheinsberg und hofft auf Asyl. In seiner Heimat hat der ranghohe Polizist mächtige Männer hinter Gitter gebracht – und das wurde ihm zum Verhängnis. Auf der Flucht wurde seine Frau erschossen. An einem völlig fremden Ort trägt er jetzt allein die Verantwortung für seine Tochter. Die Schuld am Tod seiner Frau lastet weiter schwer auf ihm, als seine dreizehnjährige Tochter Viktoria während des Osterfeuers verschwindet. Bei Jugendlichen in Viktorias Alter komme es nicht selten vor, dass sie sich verspäten, erklärt ihm die örtliche Polizei, doch Ebuk befürchtet das Schlimmste: Ist ihm der ugandische Geheimdienst bis nach Deutschland gefolgt? Haben die Männer, deren schmutzige Geschäfte er aufdeckte, nun seine Tochter entführt? Die brandenburgische Polizei prüft währenddessen eine Verbindung zu dem mysteriösen Verschwinden eines anderen Mädchens fünf Jahre zuvor. Eine andere Spur führt in die rechtsradikale Szene, zu den Bewohnern eines Gutshofs, die sich als »völkische Siedler« bezeichnen …

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Seitenzahl: 640

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Jürgen Seidler

Schmutziges Licht

Roman

Kampa

1

Er möchte seinen Kopf mehrmals gegen die Wand schlagen. Wie der Vogel mit den roten Federn auf dem Kopf, der auf dem alten Baum vor seinem Fenster herumklettert. Der Vogel horcht, dann hackt er seinen Schnabel wieder in die Rinde. Heftig donnert der Kopf gegen den Baum, sein Mundwerkzeug ein scharfes, spitzes Messer. Erstaunlich, wie viele harte Schläge so ein Vogelkopf aushalten kann. Der Schädel eines Menschen, den man immer wieder gegen einen Baum hämmern würde, ist ziemlich schnell blutüberströmt. So ein Menschenkopf auf Holz klingt dumpf, anders als das helle Klopfen des Vogels. Peter Ebuk kennt den trockenen Klang eines Schädels. Er hat schon oft gesehen, wie schnell die Haut aufplatzt und sich das Blut über Augen, Nase und Mund ergießt.

Mit der linken Hand fährt er sich über seinen runden Kopf voller Stoppeln, mit der rechten Hand hält er sein Telefon ans Ohr. Sie geht noch immer nicht ran. Er streicht sich erneut über die kurzen schwarzen Haare, um die Bilder von den Köpfen wegzuwischen. Fünfmal hat er versucht, Viktoria zu erreichen, ihr auf die Mailbox gesprochen, ihr aufgetragen, einkaufen zu gehen, weil morgen Ostern ist und die Geschäfte geschlossen sind. Sie ist ein zuverlässiges Mädchen, aber heute geht sie nicht ran und ruft auch nicht zurück. In eine Alditüte stopft er ein Handtuch und Seife. Vielleicht noch eine frische Unterhose, für hinterher, falls er während des Spiels zu sehr schwitzt. Er muss jetzt los, sonst ist der Bus weg. Seit dem Anruf von Kevin Rettling heute Morgen überkommt ihn immer wieder ein Grinsen, eine Vorfreude, als ob er sich mit einer schönen Frau treffen würde. Seit drei Jahren, seit er mit seiner dreizehnjährigen Tochter Viktoria in diesem Dorf lebt und auf den Asylbescheid wartet, hat ihn kein Anruf so gefreut. »Der Norbert ist von der Leiter gefallen. Stell dir vor! Wie bescheuert, dass gerade ihm das passiert«, erzählte ihm Kevin. Da hat der Trainer, ihr gemeinsamer Chef, vorgeschlagen, ihn zu fragen, den Ebuk, ob er nicht Zeit und Lust hätte mitzuspielen, als linker Verteidiger. Zunächst konnte Ebuk gar nicht antworten, so überrascht war er. Ziemlich kurzfristig und vor Ostern, aber das ist ein wichtiges Spiel, hat Kevin ihm klargemacht. »Du kannst doch Fußball spielen, Ebuk, das könnt ihr Schwarzen doch alle. Oder? Also, das ist deine Chance. Fünfte Kreisliga.« Dann lachte er heftig. Ebuk weiß, wie wichtig für seine Kollegen von der Straßen- und Bauverwaltung der Fußballverein ist. Montags, wenn sie sich zur Arbeitseinteilung treffen, sprechen sie manchmal über das letzte Spiel. Ein paarmal schon stand er an der hölzernen Absperrung neben dem einfachen Rasen, war Zuschauer bei einem ihrer Samstagsspiele. Er hatte sich hingetraut, und sie begrüßten ihn wie einen Fremden, doch jetzt gehört er dazu.

Er wollte nicht Arzt werden wie sein Vater. Seine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn er die Makerere University in Kampala besucht hätte. Doch für ein Studium konnte er nicht lange genug sitzen, als Jugendlicher musste er sich bewegen, rennen. Sein Vater sagte es nicht offen, aber seinen Wunsch, Fußballspieler zu werden, hat er immer verachtet. Fußballspieler wurden Männer aus den armen Vierteln, die sich auf staubigen Plätzen mit einem Ball aus Lumpen durchsetzen konnten. Aber nicht er, der aus einer gebildeten Familie kam, dessen Großvater ein Chief war, dessen Vater bald ein Krankenhaus leiten würde, der eine schöne Mutter hatte, die Fremdsprachen unterrichtete. Aus Trotz hatte er sich zum Militär gemeldet und war dann auf die Polizeischule gegangen. Wenigstens konnte er da Sport machen, er spielte jede Woche Fußball, zusammen mit ein paar Jungs, die, so wie er, den britischen Kolonialsport Kricket verachteten. Auch als er schon Polizeichef war, spielte er immer wieder mal Fußball, nicht als Verteidiger, sondern auf dem rechten Flügel.

Das Trikot von Norbert wird ihm bestimmt passen, vermutlich ist die Hose zu weit. In seiner Zeit als Polizeichef ist er nie wirklich fett geworden, aber seit sie in Deutschland leben, hat er schon etwas zugelegt. Er freut sich darauf, sich wieder sportlich zu betätigen.

Die körperliche Arbeit beim Straßen- und Bauamt ist nicht besonders herausfordernd. Sie füllen Schlaglöcher mit Teer aus, leeren Mülltonnen, transportieren Sitzbänke in Grünanlagen, fahren mit den Kehrmaschinen durch den Ort, nichts wirklich Anstrengendes.

Mit seinen dreiundvierzig Jahren freut er sich über die Frage des deutschen Kollegen, ob er mit ihnen Fußball spielen möchte, wie er sich nur bei seiner Heirat mit Prudence und der Geburt von Viktoria gefreut hat. Sie dulden ihn, den Mann aus Uganda, den einzigen Schwarzen im Ort, weil er immer pünktlich seine Arbeit macht, ohne zu murren, aber vor allem, weil er inzwischen fließend Deutsch spricht. Das verdankt er seiner Tochter Viktoria, die ihm diese Sprache beharrlich eingeimpft hat, bis sich seine Zunge daran gewöhnte. Fast alle kennen sie. Wenn sie miteinander einkaufen gehen, freuen sich die Deutschen, ihn zusammen mit seinem klugen, schönen Mädchen zu sehen. Ganz aufgeregt rief er sie an und sprach ihr voller Freude auf ihr Telefon: Er wird heute Fußball spielen, in einer deutschen Mannschaft. Es ist wirklich sehr eigenartig, dass sie sich nicht meldet. Als Ebuk die Haustür hinter sich abschließt, kriecht ihm ein Schauer über den Rücken. Wie eine kalte Hand, die sich unter sein T-Shirt schiebt und die Wirbelsäule entlangstreicht. Er hört, ob die Stimme, die zu der Hand gehören könnte, etwas zu ihm sagt. Niemand spricht zu ihm, aber der Gedanke ist da: Vielleicht ist ihr etwas passiert, vielleicht ruft sie deswegen nicht an. Sie ist das einzig Wichtige in seinem Leben, das ihm geblieben ist. Es kann gar nicht sein, dass ihr etwas Schlimmes geschehen ist. Sie sind hier, damit sie in Sicherheit ist. Er dreht sich um, will losgehen, aber auf einmal fühlt es sich an, als ob er sich nicht mehr bewegen kann. Er sollte seinen Kopf gegen einen Baum schlagen, gegen die Lähmung. Für einen Moment weiß er nicht, wo er ist, warum es kalt und still ist und der Himmel grau. Was macht er hier? Wer hat ihn in diesem Land ausgesetzt? Er hört wieder das Klopfen des Vogels, sein aggressives Hacken. Er fährt sich erneut mit der linken Hand über den Kopf. Nein, sie ist bei ihrer Freundin Angela, um zu lernen. Das hat sie ihm heute Morgen gesagt, als sie losging. Er läuft los. Spielerisch trabt er zur Bushaltestelle, sein Atem bleibt ruhig. Das wird sein Spiel werden, er lächelt. Yes, Sir! Er wird es den Kartoffeln zeigen. Endlich werden sie verstehen, was sie an ihm haben.

 

Er wird auf gut Glück als linker Verteidiger aufgestellt, niemand hat ihn bisher spielen sehen, keiner weiß, ob er diese Position überhaupt ausfüllen kann. Ihm ist es egal, was er spielt, Hauptsache, er darf dabei sein. Seine Kollegen hat er Lasten anheben sehen, er weiß, wann sie müde werden, was sie gerne essen und trinken. Wie sie als Mannschaft denken und sich bewegen, erfährt er jetzt. Zwei, manchmal drei Männer spielen tatsächlich zusammen, sie passen sich die Bälle zu und laufen in Richtung gegnerisches Tor. Alle anderen stehen herum und schwitzen, so wie während der Arbeit.

Ebuk ist der Fremde und der Gast in dieser Mannschaft. Als Fremder darf er nicht sehr viel besser sein als diejenigen, die ihn eingeladen haben. Es würde sie beschämen. Wenn der Fremde den besseren Wein mitbringt, als ihn der Gastgeber selbst in seinem Regal hat, wenn er charmanter ist als die anderen, wenn die Frauen lieber ihm zuhören als dem Mann im Haus, wenn er klügere Kommentare zum Gang der Welt gibt, wird er vielleicht nicht wieder eingeladen. Der Gast, der bescheiden ist, dem Gastgeber Stichworte gibt, damit dieser in der Unterhaltung glänzen kann, wenn er gleichzeitig mit den anderen Anwesenden über deren Witze lacht, der wird zum Freund. Dieses Wissen versucht Ebuk zu beherzigen, aber es gelingt ihm nicht, denn seine Eitelkeit treibt ihn an. Wenn er den Ball bekommt, verlässt er immer wieder seine Position vor dem eigenen Tor, umspielt mühelos die Gegner und treibt seine Leute mit nach vorn. Zweimal legt er dem Stürmer seiner Mannschaft den Ball direkt vor die Füße, damit er ein Tor erzielen kann. Doch zwei weitere Male schiebt er den Ball selbst in den Kasten. Er muss es einfach machen, es tut gut, alles zu vergessen und nur zu spielen. Die Muskeln, die wissen, was sie zu tun haben, aber schon lange nicht mehr gefordert wurden, machen sich bemerkbar.

Es steht schon in der ersten Halbzeit 4:0 für ihn und seine Männer, als dieser lange dünne Typ mit seinem komischen Schnauzbart erneut auf ihn zurennt, ihn wütend anschnaubt, versucht, an ihm vorbeizudribbeln, aber er ist viel zu langsam für ihn, für Ebuk, den überlegenen Verteidiger, der sich erneut den Ball holt, der alle Angriffe abblockt und nach vorne zieht. Doch das Bein des anderen bleibt stehen und Ebuk fällt hin. Der Dünne lässt sich ebenfalls fallen und verzieht das Gesicht. Der Schiedsrichter, noch auf der anderen Seite des Spielfelds, hat nichts gesehen, aber bläst schrill in seine Pfeife. Dem Mann im schwarzen Trikot, schon etwas älter, tropft der Schweiß von der Stirn, als er zu Ebuk kommt, der wieder aufgestanden ist. Der jammernde Spieler mit dem Schnauzbart bleibt noch liegen. Ebuk beugt sich zu ihm, gibt ihm die Hand, will ihm aufhelfen, aber der Mann am Boden brüllt: »Fass mich bloß nicht an!« Ein heftiger Disput, großes Geschrei setzt ein, dem Ebuk verwirrt zuschaut. Spieler beider Mannschaften umringen den Schiedsrichter. Der Chef, sein Trainer, kommt auf den Platz gerannt, beschwert sich lauthals, Kevin, der Kapitän seiner Mannschaft, bekommt einen roten Kopf. Ebuk sieht in die verzerrten Gesichter seiner Mitspieler, bis die Pfeife ertönt. Der überforderte Schiedsrichter zieht eine Gelbe Karte und hält sie Ebuk vor die Nase. Die andere Mannschaft bekommt einen Freistoß. Der lange Spieler mit dem Schnauzbart nimmt Anlauf und zielt genau auf Ebuk, der in der Mauer vor dem Tor steht. Er dreht sich etwas zur Seite, damit der Ball an ihm vorbeifliegen und ins Tor gehen kann. Er hat den anderen ein Tor geschenkt. Sie jubeln, klopfen dem Torschützen auf die Schulter, weil er es dem gefährlichen Fremden gezeigt, den Schwarzen bezwungen hat.

In der Pause wird Ebuk gelobt, aber der Trainer hat ihn durchschaut und ermahnt ihn, der anderen Mannschaft kein Tor mehr zu schenken. In der zweiten Halbzeit machen sich seine Defizite in der Kondition bemerkbar, und er lässt sich auswechseln. Als er über die Seitenauslinie geht, gibt es Zuschauer, die klatschen, aber andere buhen, weil sie es nicht fair finden, dass ein »Profi« wie Ebuk bei einer Amateurmannschaft mitspielt. Seine Mitspieler aber retten den Torvorsprung bis zum Abpfiff. Er geht nicht mit in die Kneipe, er muss nach seiner Tochter schauen, aber er bedankt sich, eingeladen worden zu sein. Auf der Heimfahrt im Bus schmerzen seine Lunge und die Beine wohltuend. Er nimmt sich vor, sich das nächste Mal als Gast zu verhalten, als Fremder, der seinen angestammten Platz kennt.

Er hat erwartet, dass sie zu Hause ist und er mit ihr über das Spiel und das Geschehen auf dem Feld reden könnte. Aber Viktoria ist nicht da. In dem ehemaligen Urlauberheim sind sie die letzten Flüchtlinge, die hier noch wohnen. Der Specht hämmert nicht mehr nach Insekten. In Ebuk steigt Panik auf.

Wieder tippt er ihre Nummer. Keine Reaktion. Auch die Nummer von Angela Köhler ruft er an. Er spricht mit ihr, auch mit der Mutter. Sie sagen ihm, Viktoria sei irgendwann nachmittags weggegangen, so um zwei Uhr herum. Sie hätten keine Ahnung, wohin sie ist. Angela, die Freundin, klingt gleichgültig, so als ob es ihr egal wäre, was mit Viktoria geschehen ist. Er hört ihr zu, aber kann nicht begreifen, was sie sagt und wie sie es sagt. Er legt auf und ruft nach ein paar Minuten noch mal an, spricht eindringlicher, wird laut. Sie muss doch wissen, wo Viktoria ist. Der Himmel wird trüb, es wird langsam dunkel, er schaut auf die Uhr, er muss den nächsten Bus in die Stadt bekommen, er muss nach Rheinsberg fahren und dort zur Polizei gehen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

Als er im Bus sitzt und auf die vielen Bäume schaut, die an ihm vorbeiziehen, sieht er die Gesichter von Müttern vor sich, die zu ihm, dem ehemaligen Polizisten, kamen und ihm eindringlich erklärten, ihre Tochter sei entführt worden. »Sonst kommt sie immer nach Hause, pünktlich, aber heute nicht«, hatten sie ihm gesagt. »Bestimmt ist sie entführt worden.« Manchmal war er genervt von der arroganten Beharrlichkeit der Väter oder der Mütter, die ihn versuchten anzutreiben, die ihm unterstellten, zu faul oder zu dumm zu sein, um ein Verbrechen zu sehen und aufzuklären. Aber wenn jemand vermisst wird, weiß man als Polizist nicht, ob es sich um ein Verbrechen handelt oder ob das fehlende Kind nur bei einem Verwandten ist, ob das Mädchen bei einem Jungen im Bett eingeschlafen ist oder von einem Onkel vergewaltigt wurde. Auch wenn er die Ängste und Sorgen der Eltern teilte, er konnte nur die Fakten sammeln und versuchen zu verstehen, was das für Menschen waren, die sich um ihre Kinder sorgten. Erst wenn die gesuchte Person wiederauftauchte oder gefunden wurde, wusste man, ob es eine Entführung oder nur ein Versehen war. Das war eigentümlich bei Vermisstenfällen, man wusste erst hinterher Bescheid. Meistens kamen die Verschwundenen wieder zurück, aber eben nicht immer.

In seiner Heimat suchte er nach vermissten Kindern, die entführt oder von ihren Eltern verkauft wurden; er fand sie und brachte diejenigen, die viel Geld mit den Entführungen verdienten, ins Gefängnis. Zur Strafe ist er hier und muss durch den brandenburgischen Wald fahren, der immer schwärzer wird.

 

Die Osterdekoration bei Edeka hat Jana mit ihrem Einkaufswagen innehalten lassen. In dem riesigen grauen Gefährt liegen bereits ein Sixpack Bier und zwei Flaschen Wein, weißer Rioja, den sie gern trinkt und den es nur hier gibt. Sie steht vor den Schokoladenhasen in Goldfolie, vor den bunten Ostereiern aus Marzipan, die Fred so gerne mochte, und den dünnen Schokoladenblättchen. Sie hat, wie in den beiden vergangenen Jahren, ihrem Sohn einen Brief mit einer Postkarte geschickt und einen Hunderteuroschein beigelegt. Doch er kommt auch in diesem Jahr an ihrem Geburtstag nicht zu ihr. Sie nimmt einen der golden glänzenden Hasen in die Hand, der ein braunes Stoffhalsband mit einer Glocke trägt, und stellt ihn wieder zurück. Dann greift sie einen Schokohasen in Klarsichtfolie, der sie nett anlächelt, und legt ihn zu den Flaschen. Sie hält inne, schaut auf ihre Einkäufe, hält sich an der runden, glatten Stange des Einkaufswagens fest. Die schillernde Folie scheint sich zu bewegen. Ihr ist schlecht. Wie immer ist es bei Edeka kalt, viel zu kalt. Festgefroren steht sie da und starrt. Wie ein magischer Gegenstand ruft sie der lächelnde Hase aus Schokolade in eine andere Welt. Sie sieht ihren Sohn als kleinen Jungen in dem Garten hinter dem Haus, in München, wo sie einst lebten, nach den bunten Eiern suchen, die sie tags zuvor zusammen angemalt hatten. Er trägt ein kleines Körbchen mit sich herum, in das er jeden seiner Schätze legt. Jedes Mal entfährt ihm ein kleiner Jauchzer, wenn er wieder etwas gefunden hat. Der Vater von Fred schaut ebenfalls zu, findet aber das Ostereierverstecken und -sammeln reichlich blöd. Er hält seine Kaffeetasse in der Hand und will frühstücken. Warum muss ausgerechnet sie, Jana Kugelmann, die Wissenschaftlerin aus dem Osten, so einen Zirkus veranstalten? Es flattert, ein leises Huschen ist zu hören, als sie eine Elster sieht, die ihre Krallen um die glänzende Folie des Hasen legt, den sie in einem Gebüsch versteckt hat. Fred hört das knisternde Geräusch, muss zusehen, wie der Vogel sich sein Geschenk greift und entschwindet. Er streckt seinen Finger aus, zeigt zu dem Vogel, dreht sich zu ihr um und fängt an zu weinen. »Der hat das gestohlen!«, schreit er, »er hat den Osterhasen gestohlen.« Jana kniet sich hin und umarmt den Kleinen, während sein Vater laut lacht. Der Körper des Jungen wird von Schluchzern erschüttert.

Sie erinnert sich, wie sie dachte, er sollte ein Geschwisterchen haben, damit er teilen lernt. Schon damals wusste sie aber auch, mit dem Mann, der das alles so lustig fand, wollte sie kein Kind mehr haben.

Eine Verkäuferin tippt sie an und fragt, ob es ihr gut geht. Jana schreckt auf, taucht aus ihrer Betäubung auf, schaut in das Gesicht einer blassen jungen Frau mit kleinen grauen Augen, über die sie mit dunklen Strichen Augenbrauen wie Balken gemalt hat, und schüttelt langsam den Kopf. Sie nimmt den Hasen in der durchsichtigen Folie aus dem Wagen und drückt ihn der Edekafrau in die Hand. »Alles gut«, sagt sie. Als sie wieder zurück in das Dorf fährt, wird es langsam dunkel. Nur ein Bus kommt ihr entgegen.

 

Seine langen braunen Haare sind unter einer Baseballkappe verborgen. Seit fünf Jahren hat er sie nicht mehr geschnitten, und noch immer muss er sich an sein Aussehen gewöhnen. Als er noch in Berlin lebte, war alles raspelkurz auf seinem Kopf, er spürte den Wind auf der Haut und an den Ohren. Auch trägt er jetzt einen Bart, der im Winter wärmt und ihn älter macht. Doch zu viele Haare im Gesicht und auf dem Kopf sind ziemlich hinderlich für die Arbeit auf einem Bauernhof, manchmal muss er selbst mit der Schere ran, denn einen Friseur haben sie in ihrem Dorf nicht. Seine Cordhose ist schon etwas abgetragen, sein Flanellhemd verwaschen und kariert, aber es ist bequem. Er hat es hochgekrempelt, seine Arme sind bis zu den Händen mit Tattoos verziert. Sie nennt ihn manchmal »Axtmann«, weil er diesen verwegenen Holzfällern aus ihren alten amerikanischen Filmen ähnlichsieht; Männer, die Bären schießen und Pumas als Freunde haben. Solche Kerle findet sie gut, richtige Männer, nennt Wala sie. Doch er mag diese Vergleiche mit Amerikanern nicht. Er betrachtet sich im Außenspiegel des Transporters und macht ein entschlossenes Gesicht. Sie verändern Deutschland und kehren zu den wahren Wurzeln ihres Volkes zurück. Seit er Wala kennt, macht sein Leben wieder Sinn, er weiß, wo er hingehört und auf wen er sich verlassen kann. Was er macht, macht er für sie, den einzigen Menschen, der wirklich weiß, um was es geht. Mit dieser faszinierenden Frau darf er einmal in der Woche das Bett teilen. Er wird ihr dieses schwarze Mädchen schenken.

Anselm Molder streicht sich mit der Hand über den Bart, eine Geste, die er sich angewöhnt hat, und lehnt sich entspannt an die Autotür des Transporters. Er sieht das Mädchen auf sich zukommen, und als sie vor ihm steht, nickt er ihr leicht zu, lächelt. Sie schaut ihn etwas verwundert an, vermutlich hat sie einen anderen Typen erwartet, nicht so einen Mann mit langen Haaren und Bart. Er spürt, wie aufgeregt sie ist, und blickt auf den Boden, um sie nicht weiter zu verunsichern. Die Sonne scheint zwischen den noch kargen Ästen hindurch und schickt einen Strahl auf den Außenspiegel. Ein seltsames Flirren liegt zwischen ihnen, ein Luftholen vor dem nächsten Schritt.

»Bist du der mit den Papieren?«, fragt sie ihn vorsichtig.

»Ja, das bin ich.« Er hebt den Blick, schaut sie sich an. Sie ist ein hübsches junges Mädchen mit dunkler Hautfarbe.

»Dann mal rein mit dir«, sagt er.

Sie zögert.

»Wir wollen das doch nicht hier auf der Straße erledigen«, bekräftigt er und bedeutet ihr, auf der Beifahrerseite einzusteigen. Sie geht um das Auto herum, steigt ein und setzt sich. Auch er steigt ein, beugt sich etwas über sie und öffnet das Handschuhfach. Sofort steigt ihm der scharfe Geruch des Betäubungsmittels in die Nase, das er auf den Stofflappen gekippt hat. Er nimmt den Lappen und presst ihn dem schwarzen Mädchen auf Nase und Mund. Sie versucht ihn von sich zu schieben, wegzurutschen, aber er ist gleich über ihr und drückt sie auf den Sitz. Er greift in ihr Haar, in das Holzperlen geflochten sind, hält ihren Kopf fest. Die Wirkung tritt schnell ein, er hat nicht gespart mit dem Zeug. Als sie ausgeknockt im Sitz hängt, steigt er aus und geht auf die andere Seite. Er öffnet zunächst die seitliche Schiebetür des Lieferwagens, dann die Beifahrertür, zu dem kleinen Wäldchen hin, zieht das Mädchen raus, lädt sie sich auf die Schulter und trägt sie nach hinten, in den Laderaum. Dort hat er ein paar Wolldecken und Schnüre bereitgelegt. Er findet es sicherer, sie zu fesseln, vielleicht wacht sie ja auf, bevor sie ankommen. Die Lappen mit dem Chloroform legt er ebenfalls nach hinten, zu ätzend ist der Gestank. Er öffnet die Fenster rechts und links und fährt los.

 

Jana hat sich die gefütterte Jeansjacke angezogen, über den schwarzen engen Pullover, dazu die praktische beige Hose, die schon oft gewaschen wurde, und die Schnürstiefel, die sie immer trägt, wenn sie über die Waldwege geht. Sie ist eine derjenigen, die den Leuten hier verständlich gemacht haben, wie gut es ist, an einem der dunkelsten Orte des ganzen Landes zu leben. Wenn der Mond sich hinter der Erde verbirgt, ist die Nacht hier schwarz, nicht grau. Jetzt sind sie stolz darauf, denn das macht sie besonders, sie fühlen sich besser als die Bewohner der anderen Dörfer, reiner, sauberer. Nachts werden nur wenige Straßenlaternen angeschaltet, um die große schwarze Nacht zu bewahren, auf Anweisung von ihr und den anderen Wissenschaftlern. Die Dunkelheit schützt ihren See, der besonders tief und klar ist. Nachts ist er ein schwarzer kalter Block, den Fische mit ihren immer geöffneten Augen durchstreifen, während ihre Mäuler auf und zu klappen. Rings um den See steht der Wald, in dem die Wildschweine die Erde umgraben und sich in der Dunkelheit paaren. Der alte Kasten des Atomkraftwerks rottet vor sich hin, nicht weit davon entfernt stehen noch die Grundmauern des Jagdhauses, das Hitler einem Generalfeldmarschall schenkte, von Ranken überzogen. Dichte, unzugängliche Moorwälder atmen feuchten Nebel aus. Ein Labyrinth aus Nacht hat sich um diesen See und diesen Ort gelegt. Hier verfielen die großen Vorhaben mächtiger Männer, die tiefe Dunkelheit zog sie in ihren tiefen Schlaf.

Als Jana aus dem Wald tritt, sieht sie schon von Weitem das warme gelbe Licht durch die schwarzen Bäume scheinen. Sie haben das jährliche Osterfeuer schon entzündet. Für diese Nacht vor Ostern treffen sich die Bewohner der umliegenden Dörfer auf einer Wiese. Sie weiß, dass ihre Kleidung nach dem Holzfeuer riechen wird, wenn sie wieder zurückkommt, vermutlich würde sie sie waschen müssen. Aber das ist egal, hier, bei den Dorfleuten, muss sie ja nicht schick sein, besser einfach gekleidet. Diesmal ist das Feuer nicht verboten, in den letzten Jahren gab es wegen Corona kein Feuer und keine Gottesdienste. Obwohl es ziemlich trocken ist und schon wieder zu wenig geregnet hat, wollten sie die besondere Nacht vor dem Osterfest dieses Mal auf jeden Fall feiern. Mehrere Dorfgemeinschaften haben sich zusammengetan und die Wiese bestimmt, wo das Osterfeuer gefahrlos abgebrannt werden kann. Ein Feuerwehrwagen steht bereit, und einige Männer und Frauen der freiwilligen Feuerwehr haben ihre Uniformen angezogen. Das Feuer brennt in einer riesigen Eisenschale, die auf drei Füßen steht. Sie wurde von Bewohnern eines Dorfes gebracht, von jungen Leuten, die sich dort neu angesiedelt haben. Eine seltsame Landgemeinschaft, die sich Siedler nennen, angeleitet von einer Frau namens Wala von Anschütz, die vor ein paar Jahren das Gut ihres Großvaters zurückgekauft hat.

Von überall wurde altes Holz aus Scheunen und Kellern geholt, das sich über den Winter angesammelt hat und jetzt neben der Schale liegt. Das Aufschichten des Feuerholzes übernahm der Mann, der sich auskennt, der das immer macht, der weiß, was unten liegen muss und was oben, wie die Luft zwischen den Ästen und Balken strömen soll, um ein gleichmäßiges Abbrennen des Holzes zu ermöglichen. Der jährliche Holzstoß und das Feuer sind sein persönlicher Stolz, seine Kunst, die er pflegt. Er ist wirklich froh, dass er dieses Jahr wieder zeigen darf, wie gut er das kann. Sie haben dem Mann schon am Nachmittag eine große Klappleiter aufgestellt, damit er einen möglichst hohen Turm aus Feuerholz errichten kann. Sie sind auch stolz darauf, wie mächtig ihr Osterfeuer ist. Sie setzen der dunklen Nacht einmal im Jahr ihr eigenes Licht entgegen. Es brennt hoch und heiß, Funken stieben durch die Luft, wie kleine flirrende Leuchtkäfer, die es hier nicht gibt.

Ihre Haut im Gesicht spannt sich, wird heiß. Jana genießt es, die brutale Hitze zu spüren, sie in sich aufzusaugen. Sie sehnt sich nach der Energie, die in sie einströmt, ihr gefällt das Flackern, die Wildheit, die Gefahr, die tausend Grad, die im Inneren des Feuers wüten. Ein paar Jungs rennen mit ihren Würsten und Teigklumpen an krummen Stöcken in die Nähe der Flammen, müssen sich aber gleich wieder zurückziehen. Mütter ermahnen sie, auf die Glut zu warten. Mit andächtiger Stille betrachten die Dorfbewohner den Gott des Feuers, der ihnen seine Macht demonstriert. Die Männer stehen in kleinen Gruppen, mit Bierflaschen in den Händen, sprechen noch weniger als sonst. Es braucht ein paar Flaschen und einige Würste mehr, die auf dem Grill verteilt schmoren, bevor sie laut lachen, sich erzählen, was sie im Fernsehen gesehen haben, wen sie beobachtet haben, wo es schon wieder teurer geworden ist.

Jana fasst sich mit den Händen in das heiße Gesicht, um es zu kühlen, streicht ihre hellen Haare zurück, einzelne Strähnen haben sich gelöst. Sie kennt die Menschen aus ihrem Dorf, die sie grüßen. Sie und die anderen Wissenschaftler, die hier leben und den klaren See erforschen, sind geduldete Einwohner, die seit Jahren kommen und gehen. Jana lebt seit vier Jahren wieder hier, sie wissen, wer sie ist. Sie ist die Schwester von Paul Kugelmann, dem Polizisten, ihrem verschwundenen Bruder. Sie wird in zwei Tagen ihren achtundvierzigsten Geburtstag feiern, der diesmal auf den Ostermontag fällt, vermutlich allein, wie meistens. Das Alter ist ihr egal, ihr Körper hat sich in den letzten Jahren kaum verändert, wie sie findet. Ihre Figur ist, wie sie ist, ihre Brüste sind noch immer fest und schwer, ihre Beine noch immer zu kurz und zu kräftig, wie ihre Arme. Als Schönheit hat sie noch kein Mann bezeichnet, eher als kluge Frau, als charmante Frau, als Frau, die strahlend lächelt. Einer mochte ihre weiche Haut. Keine Komplimente zu ihren Haaren, die schon immer zu dünn und farblos waren. Es gibt schon länger keinen Mann mehr, der ihr zum Geburtstag gratulieren würde. Auch ihr Sohn wird sich nicht melden, es schmerzt und ist anwesend, dieses Gefühl, verlassen worden zu sein.

»Auch ein Bier?«

Walter Glasen stellt sich neben sie, hält ihr eine Flasche vors Gesicht. Sie schaut zu ihm hin, lächelt ein wenig, nickt, nimmt die Flasche, schaut aufs Etikett, sieht den lächelnden Preußenkönig, trinkt.

»Danke«, sagt sie.

Jetzt müsste sie eigentlich etwas zum Feuer sagen, von ihrem Holzklotz aufstehen und sich neben ihn stellen und reden. Aber sie will weder über die letzten Sedimentproben sprechen, noch über die Leute aus dem Dorf, auch nicht über sich oder über ihn. Vermutlich ist er zehn Jahre älter. Walter gehört hierher, schon immer. Soweit sie weiß, ging er nie von hier weg. Er arbeitet schon sein ganzes Leben lang für das Labor, prüft, wie viel Methan sich in den Bodenschichten des Sees verbirgt. Er ist ein guter Taucher, hat man ihr berichtet. Wenn er sich mal freinimmt, fliegt er nach Ägypten, ans Rote Meer, um dort zu tauchen. Vor zwei Jahren ist seine Frau gestorben, an Corona, erzählt man sich, seitdem lebt Walter allein in seinem schönen Häuschen. Es wäre ein Leichtes, sich mit ihm einzulassen. Er würde sie vermutlich so nehmen, wie sie ist, und ihr jedes Jahr zum Geburtstag gratulieren. Mit Blumenstrauß und Kuchen. Nein, keinen Kuchen, er ist kein Mann für Kuchen, eher für eine gute Flasche Wein. Auch an den Sex könnte sie sich gewöhnen, regelmäßig, freundlich, sonntags, wenn sie nicht arbeiten. Warum eigentlich nicht? Besser als gar keinen Sex. Aber die Vorstellung, mit ihm zusammen morgens aufzubrechen und zur Arbeit zu gehen, seine Nähe und seine Aufmerksamkeit zu ertragen, erzeugt so etwas wie Brechreiz in ihr. Sie spürt es im Hals. Das Bier tut gut, es kühlt, eigentlich ist sie viel zu nah am Feuer, sie steht auf, stellt sich neben Walter. Sie stößt mit ihm an, er nickt.

»Da haben sie sich ja richtig Mühe gegeben«, sagt Walter und deutet auf die riesige Eisenschale, in der der Holzhaufen brennt. Sie schaut ihn an, versteht nicht gleich, wen er meint. Um einen der Biertische sitzt die Gruppe, die sich unterscheidet, meistens junge Leute. Die Männer tragen Cordhosen, einige haben lange Haare und Bärte, andere rasierte Köpfe und Tattoos, die Frauen meist Zöpfe und lange Röcke. In deren Mitte thront die Frau, die ein Kopftuch umgebunden hat, unter dem ihre strahlend blonden Haare hervorschauen. Es sieht aus, als ob die jungen Leute sich alle um ihre Mutter versammelt hätten, eine strenge Mutter und folgsame Kinder. Vielleicht sind sie auch einfach nur Schafe.

»Sieht aus wie eine Opferschale«, kommentiert Jana. Walter nickt.

Am Rand des Lichtscheins der um das Feuer versammelten Leute taucht ein dunkelhäutiger Mann auf. Er bleibt in den flackernden Schatten des Feuers stehen, hält sich von den Dorfbewohnern fern. Er schaut intensiv, sucht jeden einzelnen der Anwesenden ab. Er hält sich in der Dunkelheit, auf die hier alle so stolz sind, um sie zu beobachten. Jetzt hat Walter den Mann entdeckt. »Da ist Ebuk«, sagt er zu Jana. Er hebt eine Hand und winkt dem Mann am Rand des Lichtscheins, der ebenfalls eine kleine Bewegung mit der Hand macht. Er nickt Walter zur Begrüßung zu, kommt aber nicht näher. Jana dreht sich zu ihm hin, dem einzigen dunkelhäutigen Mann weit und breit. Da löst er sich aus seiner Dunkelheit. Als Erstes geht er zu einem Tisch, wo einige Männer sitzen, die ihn gut kennen.

Einer steht auf und umarmt Ebuk, lacht, klopft ihm auf die Schulter. »Du hast sie zusammengefaltet«, sagt der Mann. Sie wollen, dass sich Ebuk zu ihnen setzt, »Vier zu eins, Mann, du warst klasse.« Über das Gesicht des schwarzhäutigen Mannes zieht sich für einen Moment ein Strahlen, der Abglanz von etwas Glück, aber gleich ist er wieder ernst. Er fragt, ob einer von ihnen seine Tochter gesehen hat. Ist sie schon aufgetaucht? War sie hier? Keiner hat sie gesehen? Erstaunt blicken ihn die Männer an, mit denen er noch am Nachmittag auf einem holprigen Rasen herumgerannt ist, die ihm zugejubelt haben, als er die Stürmer der anderen gestoppt hat. Wie kann er über die Abwesenheit eines jungen Mädchens so besorgt sein, wo es doch einen Sieg über die andere Mannschaft zu feiern gilt? Das Feuer brennt, es ist heiß. »Ebuk, setz dich zu uns!« Doch er kann nicht, er schaut sich weiter um.

Auch die Frau mit dem Kopftuch sieht ihn, flüstert etwas zu dem Mann neben ihr; die Ärmel seines karierten Flanellhemds sind hochgekrempelt, die langen Haare hat er nach hinten zusammengebunden. Der Blick des Mannes ist wach, aufmerksam, sein Gesicht lächelt, seine Haltung strahlt Selbstsicherheit und Stolz aus. Die Frau legt ihm ihre Hand, an der mehrere goldene Ringe glänzen, auf den Arm mit den dunklen Tattoos.

Walter winkt noch mal zu Ebuk, jetzt kräftiger, und da kommt er zu ihnen ans Feuer. Er spürt, wie die Blicke der Bewohner aus den Dörfern beiläufig auf ihn gerichtet sind. Er ist der Schwarze, den sie kennen, der von ihnen geduldete Exot, der inzwischen ihre Sprache spricht.

»Du kennst Herrn Ebuk aus Uganda?«, erkundigt sich Walter, als er langsam zu ihnen tritt.

»Hallo«, sagt Jana, »wir haben uns schon ein paarmal gesehen. Sie arbeiten für die Gemeinde?« Sie macht eine Geste zu den Männern am Tisch, bei denen er zuerst war.

»Ja, Frau Doktor«, antwortet Ebuk.

»Jana«, sagt sie und streckt ihm die Hand hin. Seine Hand schließt sich um ihre, eine warme Hand, nicht zu fest, nicht zu weich.

»Walter«, schließt dieser sich an, hält Ebuk ebenfalls seine Hand hin.

»Peter Ebuk.« Sein Lächeln ist angespannt.

»Willst du auch ein Bier?«, fragt Walter.

»Nein, Sir, ich suche meine Tochter. Ich dachte, sie ist hier.«

»Die kommt schon noch«, meint Walter. Aber die Spannung bei Ebuk legt sich nicht, er ist besorgt und wachsam. Walter geht los, um ein Bier zu besorgen.

»Wie alt ist sie?«, will Jana wissen. Sie schaut in sein ovales Gesicht, in seine aufmerksamen dunklen Augen, sie sieht seine gerade, lange Nase, die kräftig ist, blickt kurz auf seine vollen, angespannten Lippen.

»Dreizehn«, antwortet Ebuk, »Viktoria ist dreizehn.«

»Sie leben allein mit ihr?«, fragt Jana.

»Ja, sie müsste schon längst zurück sein. Sie kommt nie zu spät. Aber heute ist sie nicht nach Hause gekommen.«

»Waren Sie schon bei der Polizei?«, fragt sie nach. Er nickt.

»Erst wenn sie vierundzwanzig Stunden weg ist, kann sie etwas machen.«

»Sagt wer?«

»Die Frau von der Polizei«, antwortet Ebuk.

»Sandra? Waren Sie in Rheinsberg auf der Wache?«, hakt sie nach.

Ebuk bestätigt, ja, das war er, aber sie haben ihn wieder weggeschickt. Die Polizistin war freundlich, Kinder in dem Alter könnten sich schon mal verspäten, bei einer Freundin bleiben, hatte sie versucht, ihn zu beschwichtigen. Doch nicht Viktoria, sie weiß, er macht sich Sorgen, wenn sie nach der Schule nicht nach Hause kommt oder versäumt, ihn anzurufen, wenn sie länger bei Freunden bleibt. Walter bringt ein Bier und reicht es Ebuk. Er nimmt es, bedankt sich, aber er trinkt nicht. Seine dunkle Haut glänzt im Licht des Feuers, er sieht Jana an. Sein klarer, offener Blick verwirrt sie.

»Haben Sie eine Tochter?«, fragt er sie.

»Nein, einen Sohn«, sagt sie ihm, während sie sich anschauen.

»Ich hab ’ne Tochter«, kommt von Walter, »in Berlin. Die war immer unterwegs. Wenn sie Hunger hatte, kam sie nach Hause.«

Ebuk dreht sich zu Walter, schaut aufmerksam in sein Gesicht, versucht zu verstehen, was der weiße Mann ihm damit sagen will. Walter lächelt Ebuk an, er will ihn beruhigen.

»Hat sie eine beste Freundin?«, möchte Walter wissen.

»Angela«, antwortet Peter Ebuk, »Angela Köhler. Ich habe angerufen. Zweimal. Sie weiß nicht, wo sie steckt. Die Mutter weiß auch nichts.«

Jana würde gerne eine Bemerkung machen. Über die Menschen hier, die eigentlich über alles Bescheid wissen, die sehr neugierig sind, aber behaupten, sie würden nichts wissen, die sich dumm stellen, um den Fragenden zum Sprechen zu provozieren oder um ihn einfach loszuwerden. Aber sie schaut Peter nur an. Sie hat sich vorgenommen, ihn »Pieter« zu nennen, englisch ausgesprochen, nicht »Ebuk«, wie Walter.

»Wenn sie morgen noch nicht da ist, dann gehst du noch mal zur Polizei«, meint Walter jetzt. Was denn sonst, denkt sich Jana. Sie findet es seltsam, wie vertraut Walter mit dem Mann spricht, als ob sie alte Kollegen wären. So eine Kumpelhaftigkeit von Chef zu Angestelltem, von Wissendem zu Unwissendem, von Weiß zu Schwarz oder von Einheimischem zu Fremdem. Peter Ebuk nickt, stellt das Bier auf dem Boden ab, bedankt und verabschiedet sich. Er dreht sich um und geht los. Ein kräftiger Mann, nicht zu groß, sein Körper kompakt, er geht leicht gebeugt, angespannt. Eine Hand geht auf und zu, ballt sich zur Faust und öffnet sich wieder, wie um sich zu lockern. Jana schaut ihm nach, würde gerne all die schlichten Fragen stellen, die ihr durch den Kopf gehen, woher kommen Sie, wie alt sind Sie, sind Sie verheiratet, warum sind Sie hier, wie lange sind Sie schon hier, wie lange wollen Sie noch bleiben, was hat Sie ausgerechnet hierher gebracht, an diesen dunklen Ort.

»Pieter«, ruft sie ihm nach. Sie geht ein paar leichte Schritte hinter ihm her, schnell dreht er sich um, sein Körper gespannt, auf dem Sprung.

»Ich kann Sie … ich kann morgen mit Ihnen mitkommen. Zur Polizei, ich kenn die gut«, erklärt sie ihm. Wieder schaut er sie an, klar und direkt, seine Miene bewegt sich nicht, keine Zustimmung, keine Ablehnung.

»Ich hab ein Auto«, ergänzt sie, wie zur Entschuldigung.

»Um drei, am Institut. Ich werde da sein«, antwortet er. Es klingt hart, wie er das sagt, nicht dankbar, eher wie der Befehl eines Kommandierenden, dann dreht er sich wieder um und verschwindet, lässt sich verschlucken von der Nacht.

 

Der Glanz des Feuers reicht weit, Ebuks Augen stellen sich darauf ein, die Schatten zu sehen, die Tiere zu ahnen, die sich vor den Menschen verstecken. Sein Körper ist angespannt, kräftig. Das Gerenne und der Kampf auf dem Fußballplatz heute Nachmittag haben ihm gutgetan. Er fühlt die kalte Nacht, versucht zu verstehen, wie die Nacht atmet. Sein Großvater hatte ihm beigebracht, keine Angst in der Nacht zu haben, die Dunkelheit zu seinem Verbündeten zu machen. In dem großen Wald neben dem Dorf, in dem der Großvater ein Chief war, sah es nachts anders aus als am Tag. Die tiefen Schatten verwandelten alles. Doch der Chief erklärte ihm, dass die Bäume an ihrem Ort bleiben und auch der Boden sich nicht verändert. Es war nur dunkel. Allerdings hatten die eigentlichen, die tierischen Bewohner des Waldes einen großen Vorteil: Sie hatten die besseren Augen und die besseren Nasen und waren schneller. Nachts lebten andere Geister im Wald, hatte ihm sein Großvater erklärt, doch auch mit denen konnte man sich verständigen. Man musste ihnen einfach sagen, dass man unterwegs war, nach Hause wollte oder in das nächste Dorf, nicht vorhatte, sie zu jagen oder ihr geselliges Beisammensein zu stören. Ebuk hatte den Großvater nach den nächtlichen Tänzern gefragt, den Geistern, die nackt über den dunklen Waldboden schweben. Hatte man das Unglück, ihnen zu begegnen, würde man von ihnen geschlachtet und aufgefressen. Konnte man mit denen auch einfach reden und verhandeln? Auf jeden Fall, versicherte ihm der Großvater. Man konnte immer mit allen reden, er sollte sich niemals davor fürchten, mit jemandem zu sprechen, egal ob groß oder klein, reich oder arm, ob Geist oder Mensch. Ebuk durfte in seinem Leben erfahren, dass das stimmte, aber nicht immer gut ausging. So wie bei seinem Großvater, den nicht die Geister, aber Idi Amins Männer geholt hatten, weil er verdächtigt wurde, mit den jungen Rebellen um Yoweri Museveni zu paktieren, dem noch immer amtierenden und inzwischen zum Autokraten mutierten Präsidenten. Die Leiche des Großvaters wurde nie gefunden, aber als Museveni an die Macht kam, hat man sich der Familie erinnert und Ebuks Vater unterstützt. Sie hätten es gerne gesehen, wenn er Chief geworden wäre, doch er gab die Ehre an einen seiner Brüder weiter. Sein Vater wollte studieren und Arzt werden, nicht für die Regierung und die Politiker arbeiten. Als sein Sohn, Peter Ebuk, sich entschied, zum Militär zu gehen, und später Polizist wurde, hat man ihn gern gefördert, obwohl er nicht aus dem Stamm des Präsidenten kommt wie alle anderen Polizeichefs im Land.

Die Geister, die in diesem Land im Wald leben, kennt Ebuk nicht und will sie auch nicht kennenlernen. Die eigenen Geister, die in vielen Nächten seinen Kopf bevölkern, reichen ihm völlig aus. Manchmal sind es die Stimmen von Schauspielerinnen aus Filmen, die seine Frau Prudence sich angeschaut hat. Diese Vorliebe für seltsame Filme. Sie liebte Science-Fiction-Filme, denn dort im Weltraum wäre für schwarze Menschen die eigentliche Zukunft, behauptete sie. Er stritt sich mit ihr, weil er fand, sie müssten ein besseres Leben in ihrem eigenen Land, auf der Erde schaffen und nicht im Weltall. Es ist ihm klar, Prudence spricht zu ihm und nicht die Pilotin eines Raumschiffs. Aber es scheint ihr Spaß zu machen, sich als Ellen Louise Ripley auszugeben, die sich mit ihrer Tochter unterhält, nachdem ihr Raumschiff Nostromo durch Aliens zerstört wurde.

Weil sie fliehen mussten, konnten Viktoria und er nicht auf Prudences Beerdigung sein, was ihn noch immer schmerzt. Er weiß nicht, ob sie würdig beerdigt wurde und wo genau ihr Grab ist. Viktoria hat ihm seine Unkenntnis vorgehalten, es kam schon mehrmals deswegen zum Streit. Sie sagt es ihm nicht ausdrücklich, aber er spürt es, sie gibt ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter. Hinter ihren Fragen nach dem Grab steht eine andere, viel größere Frage: Warum konntest du nicht verhindern, dass sie erschossen wurde? Warum musste sie sterben und nicht du? Du bist doch der große Polizist, warum ist sie tot? Es fällt ihm schwer, mit ihr darüber zu sprechen, denn er hat keine Antworten für sie.

Der Geist seiner Frau irrt weiter umher, weil er noch keine Ruhe gefunden hat, weil er, ihr Mann, sich schuldig gemacht hat, weil er geflohen ist und ihr Tod noch nicht gesühnt wurde. Seither ist diese Stimme in seinem Kopf. Er fühlt sich genauso verloren wie diese Ripley, die ganz auf sich gestellt gegen furchtbare Monster kämpft. Sie rettet ein Mädchen, aber sie wird selbst zur Mutter neuer Ungeheuer, die in ihrem Bauch heranwachsen. Das ist die Tragik der Kämpfer gegen das Unrecht: Sie schaffen neues Unrecht, das dann möglicherweise noch tragischere Folgen hat.

Ebuk ist ein Mensch, der gelernt hat, sinnvolle, logische Zusammenhänge herzustellen. Er weiß, wie man aus Spuren Schlussfolgerungen zieht und in Gesprächen heraushört, was ein Verdächtiger wirklich zu sagen hat, was hinter der Fassade des Gesprochenen verborgen ist, auch wenn man manchen Aussagen nachhelfen muss, indem man den Kopf eines Verdächtigen gegen einen Baum schlägt. Dong! Er war immer ein guter Polizist. Weil er ein guter Polizist war, musste er fliehen, um sein Leben, aber vor allem um das Leben seiner Tochter zu retten. Er hat sein geliebtes Uganda verlassen und Asyl in Deutschland beantragt.

Manchmal gibt Ripley ihm Anweisungen, sie fordert ihn heraus und ärgert ihn. Sie nennt ihn einen Dummkopf, der alle anderen in Gefahr bringen werde. Er soll sich anstrengen, sich beeilen, sich zusammenreißen, sagt sie dann.

Auch jetzt hört und spricht er in die Dunkelheit neben den Straßenlaternen, die die Straßen in unscharfe Flächen orangefarbenen Lichts tauchen.

»I will find her, I’m still a good cop«, ruft er. Er schaut in die Dunkelheit, die Frau macht ihm Vorwürfe, weil er bis zum nächsten Tag warten will; warum geht er nicht sofort in den Wald und sucht nach Viktoria? Bis er seine Tochter findet, ist sie vielleicht längst tot, sagt sie ihm.

»Shut up!«, schreit er in den Wald. Er ist sich bewusst, dass er wie ein Verrückter wirkt, sollte ihn jemand sehen oder hören, wie er da mit niemandem redet. Manche haben ein kaputtes Knie oder eine schmerzende Narbe, er hört eben manchmal Ellen Ripley, andere sprechen mit der toten Miriam Makeba, mit ihrem Großvater oder einem Baumgeist. So what? Er möchte Prudence dazu bringen, ihm sinnvolle Hinweise zu geben. Anstatt ihm Vorwürfe zu machen, soll sie ihm doch bitte sagen, wie er Viktoria findet. »And? Tell me!«, fordert er sie auf. Er hört, geht einige Schritte in das Waldstück, aber jetzt hat sie nichts mehr zu sagen. »Tell me!«, ruft er erneut. Aber was soll sie ihm schon sagen? Weil Ripley so eine Art Geist ist, kann sie nicht einfach selbst aktiv werden, Ebuk an die Hand nehmen und zu Viktoria führen. So etwas machen Geister nicht, das weiß Ebuk. Sie beschützen Menschen, fordern sie heraus, konfrontieren sie mit ihren Schwächen, aber sie sind keine Götter, sie haben keine eigene Macht. Leider. Es ist ganz allein seine Aufgabe, seine Tochter zu finden, sie zu befreien und etwas aus seinem neuen Leben zu machen, hier, in diesem fremden Land. Weit entfernt fährt ein Auto auf der Landstraße, aus einem geöffneten Fenster dringt die lärmende Kulisse eines Fußballspiels. Doch der Wald ist still. Das ist der große Unterschied zu seiner Heimat, wo es auch nachts nicht ruhig ist, weder im Dorf noch draußen im Wald. Vor allem der Wald ist in der Nacht voller Gezirpe und Knacken, Affen rufen sich etwas zu, durch das Unterholz scharren kleine und größere Tiere, es riecht anders, es ist lebendiger als am Tag. Er geht unter den trüben Straßenlaternen entlang, er muss sich zusammenreißen, an sich halten, immer wieder stehen bleiben, zu Atem kommen, er muss horchen und klar denken. Je besser er Deutsch spricht, um so besser gelingt es ihm, das Denken der Deutschen zu verstehen, die Klarheit und ihre Direktheit nicht als Unfreundlichkeit, sondern als Lebenshaltung zu begreifen. Er geht weiter, sein Körper ist schwerfällig, angespannt.

Die Frau am Feuer hat ihm angeboten, morgen mit ihm zur Polizei zu gehen. Jana. Sie sind sich ein paarmal begegnet, zufällig, als er mit Arbeiten im Dorf beschäftigt war. Einmal reparierte er zusammen mit dem Kollegen Kevin eine Schranke an einer Zufahrt zu einem Waldweg. Anstatt des durchgebrochenen Holzbalkens sollte eine Metallstange angebracht werden. Als sie die schwere Stange von ihrem kleinen Lastwagen abluden, kam die Frau auf ihrem Fahrrad vorbei. Der Kollege gab ihm laufend Anweisungen, wie er die Stange halten soll und wie er sie zu tragen habe. Dabei ging es weniger um die Tätigkeit selbst, als darum, dem Schwarzen Anweisungen zu geben, als diese Frau mit dem Fahrrad vorbeifuhr. Er hatte sich daran gewöhnt, dass die Deutschen ihn als ungeschickt ansahen. Der Deutsche rief immer wieder: »Was machst du denn da!«, und: »So doch nicht!« Die Frau stoppte, stieg vom Fahrrad ab, schaute ihnen zu und kam näher. Sie fragte, ob sie vielleicht helfen könne, wobei sie die Stirn runzelte und lächelte, es war vermutlich als Witz gemeint. Da lachte der Kollege und sagte: »Tag, Frau Doktor, wir schaffen das.« Sie nickte, blickte den Mann eindringlich an, wie um ihn zu ermahnen, drehte sich um, zwinkerte Ebuk unmerklich zu und fuhr wieder weiter. Es war, als ob sie ihm zu verstehen geben wollte, der andere ist der Dumme und nicht er. Als sie weg war, befand der Kollege, dass die »Frau Doktor« eine »Gute« sei. Merkwürdig. Eine Frau, die in seinem alten Dorf Zeugin einer solchen Szene geworden wäre, hätte sie deutlicher kommentiert oder gelacht, wäre stehen geblieben, um sich auszuruhen und Fragen zu ihrer Tätigkeit zu stellen. Am Abend hätte das ganze Dorf über die unfähigen zwei Männer gesprochen, die mit einer »langen Stange« nicht zurechtgekommen sind. Es wären zweideutige Witze gemacht worden, zu denen die Frauen und Männer laut gelacht und sich abgeklatscht hätten. Ihm fehlte das laute, herzliche Lachen seiner Leute. Bestimmt hätten die Älteren die Weisheit der Väter zitiert wie: »Schnelles Laufen ist keine Garantie, ans Ziel zu kommen« oder: »Wer auf den Baum klettern will, fängt unten an, nicht oben.« Viktoria lachte ihn oft aus, wenn er ihr mit diesen Sprüchen kam, sie wollte sie nicht hören, nicht an ihre Heimat erinnert werden. Sie lebte jetzt in Deutschland und wollte sich möglichst wenig von den anderen unterscheiden. Allerdings gab es da diesen wichtigen Unterschied: Ihre Haut war dunkel, nicht weiß oder rosa. Er spürt es, er weiß, etwas ist passiert. Es muss ein Unfall sein, vielleicht liegt sie irgendwo im Wald und kann sich nicht selbst helfen. Er muss sie finden, er zittert. Selbst als ihm seine Leute geflüstert hatten, dass er noch höchstens einen Tag hätte, bevor es aus mit ihm wäre, bevor die Schweine ihn erschießen würden, vermutlich von einem Motorrad aus, wusste er, was zu tun war, dass er sich, seine Frau und sein Kind so schnell wie möglich außer Landes bringen musste. Er hat es geschafft, er und Viktoria haben überlebt, aber Prudence ist tot. Doch jetzt ist er hilflos, läuft durch ein dunkles Land mit einem dunklen See in einer dunklen Nacht, in der ein riesiger Haufen Holz in einer Opferschale brennt. An einem Baum hält er an, stützt sich ab, berührt die Rinde mit der Hand. Da ist sie wieder, diese schmerzliche Kälte im Rücken. Vielleicht hat ihr Verschwinden ja nur mit ihm zu tun? Man hat sie ihm weggenommen, um sich an ihm zu rächen. Er zuckt von dem Baum weg, als ob der unter Strom steht. Die Männer, die er verhaften ließ, deren schmutzige, blutige Geschäfte er aufdeckte, sie sind ihm nach Deutschland gefolgt und haben sich seine Tochter gegriffen. Der Geist des Mannes, den er erschossen hat, als er fliehen wollte, sucht ihn und möchte ihn zur Rechenschaft ziehen. Ohne seine Ermittlungen würde Prudence noch leben. Dabei war sie es, die ihm davon erzählte. Nachbarinnen hatten ihr berichtet, was mit den Kindern geschah. »Jetzt kannst du mal zeigen, ob du ein guter Polizist bist oder auch nur ein fetter Bonze, der sich schmieren lässt, säuft und irgendwelche Mädchen fickt«, hatte sie ihn angeschrien. Und er wollte ihr beweisen, wie anders er ist. Er verfolgte diese Verbrecher, er brachte sie zur Strecke, er erschoss dieses Schwein. Sie sollte ihn wieder achten, ihn wieder lieben. Er hörte mit dem Saufen auf und mit den Mädchen. Er hätte auch Prudences Mörder finden, sie festnehmen und vor Gericht bringen müssen. Es war Feigheit, das Land zu verlassen. Am Verschwinden von Viktoria ist nur er allein schuld.

Was für ein Unsinn, weist er sich gleich selbst zurecht. Ihn verfolgen keine Geister; nicht nach Deutschland. Und schon gar nicht diese Männer. Sie würden niemals solche Mühen auf sich nehmen, niemals so viel Geld ausgeben, um ihn aufzutreiben. Er lebt in Deutschland, in Sicherheit. »Wir müssen bei den Fakten bleiben«, hatte er seinen Männern immer wieder eingeschärft. Auch er muss bei den Fakten bleiben und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. So geht Ebuk weiter, öffnet seine kleine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss, schaut ins Zimmer seiner Tochter, das leer ist und verlassen. Ob er noch einmal die Freundin von Viktoria anrufen soll? Aber für Deutschland ist es zu spät, da darf man um diese Uhrzeit nicht mehr anrufen, ohne den Groll der Leute auf sich zu ziehen.

Vielleicht sollte er Jonathan anrufen, seinen alten Freund in Jinja, der jetzt District Police Commander geworden ist. Aber was sollte er ihn fragen? Sag mal, wie geht es dir auf meinem alten Posten, hast du schon zugenommen? Bist du fett, wie alle Polizeichefs? Ich bin hier in Deutschland, meine Tochter ist nicht nach Hause gekommen. Weißt du, ob irgendjemand Leute auf mich angesetzt hat? Er setzt sich auf das Bett von Viktoria, das noch genauso aussieht wie heute Morgen, als sie es verlassen hat. Sie schüttelt weder das Kissen noch die Decke auf, wie sie es zu Hause machen musste, um die Flöhe oder nächtliches Ungeziefer aus der Wäsche zu vertreiben. Aber das gibt es hier in Deutschland ja alles nicht, keine Skorpione, keine Flöhe; in den Sommermonaten kamen Stechmücken, die schlug man tot, es juckte, aber man bekam keine Malaria. Sie hatte sich ein großes Poster von Kayne West aufgehängt. Sie hat ihm die Augen ausgekratzt, weil er zu einem Trump-Unterstützer geworden war. Seine Musik mochte sie immer noch. Ihr hatte einmal gefallen, dass er mit seiner Ex-Frau Kim Kardashian Uganda besuchte, um dem Präsidenten ein Paar seiner Turnschuhe zu schenken. Warum sie das Plakat nicht abhängte, wusste sie vermutlich selbst nicht. Er nimmt ihre Lehrbücher für Deutsch in die Hand. Wie schnell sie die Sprache gelernt und wie sehr sie ihn immer wieder herausgefordert hat, Deutsch zu lernen. Sie fragte ihn Vokabeln ab, hörte mit ihm die Sprachkurse. Was für ein tolles, kluges Mädchen seine Viktoria ist. Warum ist sie nicht hier und tippt auf ihrem Smartphone herum? Er geht an ihren kleinen Kleiderschrank, in dem ein Teil der Wäsche geordnet und gestapelt ist, aber Hosen und Pullis verstreut auf dem Boden des Schranks liegen. Vielleicht wird sie einmal so ordentlich, wie ihre Mutter es war. Sie sieht Prudence so sehr ähnlich, hat ihre leuchtenden Augen. Auf ihrem Schreibtisch hat sie neben den Schulbüchern ein kleines gerahmtes Foto ihrer lachenden Mutter aufgestellt. Es ist das einzige Foto, das sie von ihr mitgenommen hat. Er geht in das andere Zimmer, wo er schläft, auf dem Sofa, das immer aufgeklappt ist; daneben gibt es ein Fernsehgerät, einen Schrank. In der Küche stehen ein einfacher Tisch und vier Stühle. Er macht den Kühlschrank auf, nimmt sich eine Flasche Bier, öffnet die Flasche und trinkt. Ob sie jemals aus dieser armseligen kleinen Wohnung wieder herauskommen? Die Gemeinde hatte ihnen diese Ferienwohnung im Erdgeschoss zugewiesen, und er war dankbar dafür. Aber wie viel ärmer ist ihr Leben hier. Er hat keinen Fahrer mehr, kein großes Haus, keinen Garten, selten Sonne; es ist meistens kalt und feucht. Aber er und Viktoria leben noch. Nur noch sie beide. Eines Tages würde auch der alte, korrupte Präsident Museveni weg sein. Der verrückte Rapper Bobby Wine hat auch die letzte Präsidentschaftswahl verloren. Irgendwann werden Bobby und seine Leute mit den roten Mützen gewinnen, dann wird das Land sich verändern. Aber vermutlich bringen sie Bobby vorher um oder schlagen ihn zusammen, sperren ihn ein, foltern ihn, so wie sie es während des letzten Wahlkampfs mehrfach gemacht haben. Die Wahlen wurden erneut gefälscht und manipuliert. Es nützt nichts, sich falsche Hoffnungen zu machen, sagt er sich, sie leben jetzt hier. Seit drei Jahren. Wenn sein Asylantrag durchgeht, könnte er vielleicht auch in Deutschland etwas Sinnvolles machen. Er würde sehr gerne von der deutschen Polizei lernen, wieder als Polizist arbeiten. Doch das ist zu egoistisch gedacht, mahnt er sich. Seine Aufgabe ist es, für Viktoria zu sorgen, sich um ihre Ausbildung zu kümmern. Wenn sie in Deutschland studieren kann, wird sie ein gutes Leben haben, ein eigenes Leben. Er wird schon zurechtkommen.

 

Er ruft seine Mutter an.

»Osiibyotya nnyabo – wie war dein Tag, Madam?«, fragt er in Soga, der Sprache ihres Volkes, der Busoga. Er nennt sie immer Madam, so wie ein hochstehender Mann als »Sir« angesprochen wird. Es ist ein kleines Spiel mit seinen Eltern, damit zeigt er ihnen seine Wertschätzung. Sein Vater, obwohl er ein Krankenhaus geleitet hat, wollte nicht »Sir« genannt werden, weil das einen kolonialen Beiklang hat, den er nicht mochte. Seine Mutter lacht, als er sich meldet. Sie lebt als Witwe und pensionierte Lehrerin seit ein paar Jahren allein in einem kleinen Apartmenthaus am Rande von Kampala. Wenn man auf die Terrasse tritt, kam man den Viktoriasee und die Insel Bulinguge sehen. Aber sie geht nie auf die Terrasse, es steht dort nur Gerümpel herum. Sie weiß, wie der See aussieht, warum sollte sie ihn sich immer wieder ansehen? Nachts kommen die Mücken, da bleibt sie in der Wohnung, schaltet die Aircondition an und setzt sich nicht der Gefahr aus, Malaria zu bekommen. Sie berichtet, wie sie heute zum Einkaufen in der Stadt war, weil sie ein paar Sachen besorgen musste, Medikamente, Stoffe, außerdem hat sie eine Freundin in einem Musungu-Café getroffen – so nennt sie ein schickes Café mit Klimaanlage, in dem es Kuchen und guten Kaffee gibt, ein Ort, wo sich auch die Musungus gerne treffen, die Weißen, die in Kampala leben. »Es war wie immer furchtbar«, berichtet sie, und er weiß, sie meint den Verkehr. Es dauert ziemlich lange, mit dem Auto ins Zentrum von Kampala zu kommen, weil Dauerstau auf der Ggangu Road herrscht. Es gibt im Prinzip nur zwei Fahrstreifen, rechts und links der Fahrbahn liegt der nicht asphaltierte Teil, den die Fußgänger, die Radfahrer und die Boda-Bodas, die Mopedtaxis, nutzen, wenn auf der Straße kein Platz mehr für sie ist. Ebuk stellt sich vor, wie seine elegante Mutter im Fonds eines Taxis sitzt, denn sie fährt nie allein nach Central Kampala, und über den Stau und den Verkehr stöhnt und schimpft. Aber auf einem Boda-Boda, das wesentlich schneller vorwärtskommt, fährt sie nicht mehr. Es ist nervenaufreibend und gefährlich. Inzwischen gibt es auch Motorradtaxis, auf denen die Fahrer selbst Helme tragen und einen zweiten Helm für die Gäste bereithalten. Diese Helme sehen aber oft schmutzig aus, man weiß nicht, wer den Helm zuletzt aufhatte und welche Sorte Läuse der Fahrgast mit sich herumgetragen hat. Es gibt, was das Tragen von Helmen auf Boda-Bodas betrifft, immer zwei Sorten Kundschaft. Die einen steigen nur dann auf ein Motorradtaxi, wenn der Fahrer selbst einen Helm trägt, weil er damit zeigt, dass ihm sein eigenes Leben etwas wert ist. Die andere Gruppe Fahrgäste glaubt, dass diejenigen ohne Helm weniger wie Geistesgestörte rasen würden, weil sie mehr auf sich und ihre Fahrgäste aufpassen würden. Siebzig Prozent der Unfallopfer, die in Kampala in ein Krankenhaus eingeliefert werden, stammen von Boda-Boda-Unfällen, meist sind es Frauen, die vom Sitz rutschen, weil sie sich nicht am Fahrer festhalten wollen oder quer sitzen, weil ihr Rock zu eng ist. Ein fremder Helm kommt für die Frauen, die ein Boda-Boda nutzen, nicht infrage, denn die aufwändige Frisur könnte beschädigt oder die Perücke verschoben werden. Boda-Boda-Fahrer sind eine Art eigenes Volk in Uganda, stolze junge Männer, die es geschafft haben, sich aus ärmlichsten Verhältnissen zu befreien, sich ein Motorrad zu kaufen oder abzubezahlen, denn meistens gehört es ihnen nicht selbst. Die Bezeichnung »Boda-Boda« stammt von dem in den sechziger Jahren entstandenen Begriff »Border to Border«, als Schmuggler das einen Kilometer breite, zwischen Uganda und Kenia gelegene Niemandsland mit ihren indischen Mopeds passierten.

Seine Mutter erkundigt sich, wie es dem Mädchen geht, Viktoria, ob sie gut lernt und in die Kirche geht. Ebuk kichert, in die Kirche geht hier niemand, nur alte Leute; dass Viktoria seit heute Nachmittag verschwunden ist, traut er sich nicht seiner Mutter zu sagen. Sie schläft schon, sagt er ihr. Es ist für sie sowieso unbegreiflich, wie ihr Sohn und seine Enkelin in dem Land der Weißen leben können. Sie nimmt an, dass es ihnen dort materiell gut geht, weil Deutschland ja ein gelobtes Land ist. Dass er einfachste Arbeiten ausführen muss, in einem kleinen Dorf, in einer kleinen Wohnung lebt, um seinen Aufenthaltsstatus als Asylbewerber nicht zu gefährden, ist für sie unbegreiflich. Ihr Sohn, der es zu einem der wichtigsten Polizeichefs des Landes gebracht hatte, mit vielen bunten Kordeln an seiner Uniform, der, so glaubt sie noch immer von ihm, niemals fett in seinem Büro saß und sich Freundinnen hielt. Aber sein Fehler war, nicht zum Volk des Präsidenten zu gehören, den Ankole oder den Hima, aus dem alle wichtigen Polizisten rekrutiert werden. Er war der einzige Busoga unter den ranghohen Polizisten. Seine Mutter spricht voller Achtung von Deutschland, das lange von einer starken Frau regiert wurde, ein Land, das ohne fremde Hilfe die Coronakrise bewältigt hat und immer noch reich ist. Im Gegensatz zu Uganda, dessen Felder von Heuschrecken kahl gefressen wurden und in dem immer mehr Menschen an dieser seltsamen Lungenkrankheit starben.

»Die Heiler haben wieder Hochkonjunktur, es ist schrecklich«, erzählt sie. »Und sie machen nichts dagegen. Nichts.«

»Mit wem hast du gesprochen?«

»Na, mit Frau Muloki, die ich im Café getroffen habe. Ihre Tochter studiert in New York. Sie hat sich übrigens nach dir erkundigt. Ich soll dich schön grüßen.«

»Muloki? Hat sie dich angerufen und um ein Treffen gebeten?«

»Ja, wir telefonieren immer mal wieder, jetzt haben wir uns mal getroffen, das ist doch netter.«

Bei dem Namen gehen alle Alarmglocken bei ihm an. Muloki, die Frau eines Obersts im Geheimdienst, einem der treuesten Gefolgsmänner des Präsidentensohns, des Geheimdienstchefs, ein schmieriger, korrupter Typ, der immer freundlich zu ihm war, ihn aber, wie er erfahren musste, bekämpfte hatte.

»Hast du ihr gesagt, wo ich bin?«

»Aber alle wissen doch, dass du in Deutschland bist. Das muss ich ihr nicht sagen.«

»Ich meine den Ort.«

»Ha, wie soll ich ihr einen Ort sagen, den noch nicht einmal ich kenne? Mein Sohn. Ich weiß nicht, wo du bist, und ich vermisse dich.«

»Ich dich auch. Ich danke dir, ich muss …«, er kann nicht weiter mit ihr sprechen, es ist zu schmerzlich, vor allem, weil sich sein Verdacht zu bestätigen scheint.

»Deine Tochter soll gut lernen. Nur ein gebildetes Mädchen ist ein gutes Mädchen. Sie soll sich einen reichen Musungu suchen und zurückkommen. Hörst du!«

»Ja, Mama, ich richte es ihr aus.«

Was wollen sie von ihm, wie kann er ihnen hier in Deutschland gefährlich werden, was wollen sie von seiner Tochter? Hat der ugandische Geheimdienst seine Männer nach Deutschland geschickt, um ihn zu finden? Die meisten von ihnen sind Dilettanten, aber ein paar von ihnen sind in England ausgebildet worden, beim MI6, dem befreundeten britischen Geheimdienst, der durch diese »Entwicklungszusammenarbeit« immer genau weiß, was sich politisch in Uganda tut. Aber lange halten es die gut ausgebildeten Männer und die wenigen Frauen, die nach London geschickt werden und wieder zurückkommen, nicht in Uganda aus. Sie lassen sich in Auslandsvertretungen versetzen oder bewerben sich beim CIA, gehen in die USA oder klopfen bei den Chinesen an, die gut ausgebildete schwarze Polizisten ebenfalls brauchen können. Ebuk hat einige der schlimmsten »Heiler« hinter Gitter gebracht. Sie hatten Kinder entführt,