Schneegestöber - Franz Kreuzer - E-Book

Schneegestöber E-Book

Franz Kreuzer

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Beschreibung

In der oberschwäbischen Provinz will der Berufsschullehrer und Lebenskünstler Daniel Bönle die Fasnetszeit trotz Schulunterricht entspannt genießen. Er besucht mit seiner Klasse ein nahegelegenes Kloster, doch ein Schneesturm zwingt ihn und die Jugendlichen zur Übernachtung bei den Nonnen. Der nächste Morgen hält eine tödliche Überraschung im klösterlichen Gottesdienst bereit … Im Züricher „Jahrhundertschnee“-Chaos wird eine alte Frau erstochen. Verdächtige gibt es zuhauf, und Beat Streiff muss in völlig unterschiedliche Richtungen ermitteln. Exkommissar Reintaler freut sich in „Alpengrollen“ auf einen erholsamen Skiurlaub, doch ein Anschlag auf die Hahnenkammrennstrecke durchkreuzt seine Pläne. Hatten etwa Terroristen ihre Hand im Spiel? Auch beim Arber-Skirennen zur „Schneekalt“-Rauhnacht stören Sabotageakte und Schneemassen Valentin Steinberg beim Entspannen. Bei seinen Nachforschungen begegnet er sage und schreibe echten Sagengestalten … Schließlich ist da noch Berufsschullehrer Bönle, der in „Nonnenfürzle“ mit seiner Klasse ein Kloster besucht. Ein Schneesturm zwingt ihn zur unfreiwilligen Übernachtung - und der nächste Morgen hält pünktlich zum Gottesdienst eine tödliche Überraschung für ihn bereit.

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Isabel Morf * Franz Kreuzer * Michael Boenke * Michael Gerwien

Schneegestöber

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung der Fotos von: © aremac / photocase.de (Jahrhundertschnee); © Autor Franz Kreuzer (Schneekalt); © Autor Michael Boenke (Nonnenfürzle); @ FrozenDaiquiri / photocase.com (Alpengrollen)

Zusammenführung: Simone Hölsch

ISBN 978-3-7349-9390-9

Inhalt

Isabel Morf

Jahrhundertschnee

Franz Kreuzer

Schneekalt

Michael Boenke

Nonnenfürzle

Michael Gerwien

Alpengrollen

Isabel Morf: Jahrhundertschnee

Der erste Tag: Die tote Frau

Hätte er es sehen müssen? Es war dunkel draußen, die Glasscheibe der Haustür widerspiegelte das Treppenhaus, seine eigene Gestalt, die hinunterkam. Zudem war er etwas verschlafen und mit seinen Gedanken doch schon halb bei der Arbeit. Während er die Tür aufmachte, warf er einen flüchtigen Blick auf das Anschlagbrett rechts davon, auf dem die Hausverwaltung eine Überholung der Waschmaschine ankündigte – und dann fuhr er zusammen, weil kalter Schneestaub ihm ins Gesicht fiel. Dann prallte sein Kopf gegen die Wand vor ihm. Ein erschrockener Laut entfuhr ihm. Er trat einen halben Schritt zurück und starrte ungläubig. Dann berührte er die Wand. Schnee. Dicht vor der Haustür erhob sich eine Mauer aus Schnee. Bis zuoberst. Er trat mit dem Fuß nach ihr, boxte hinein. Das war keine dünne Schicht, sondern dick und solide. Er eilte eine Etage höher, öffnete das Treppenhausfenster und spähte durch die Gitterstäbe. Der Schnee reichte bis hier. Es mussten fast drei Meter sein. Die Bäume am Straßenrand boten einen grotesken Anblick. Aus sehr kurzen Stämmen erhoben sich die kahlen Kronen. Wo normalerweise die Straße und das Trottoir waren, war nichts als eine Schneefläche, die ganze Straße hinauf und hinunter, so weit er sehen konnte. Keine Fußabdrücke. Keine Menschen. Kein Geräusch. Lajos Varga schloss das Fenster und ging langsam hinauf. Er wischte sich den Schnee von der Stirn.

Er hörte das Öffnen und Schließen einer Tür, eilige Schritte. Seine Nachbarin Janine Bianchera kam ihm entgegen. Sie arbeitete als Kellnerin in einem Café und hatte heute offenbar Frühschicht. Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie können nicht zur Arbeit gehen, Frau Bianchera«, sagte er.

Sie hörte nur halb zu. »Guten Morgen, Herr Varga, ich bin in Eile.« Schon war sie an ihm vorbei. Er folgte ihr. »Sie können nicht hinaus«, sagte er eindringlich. Oder spinne ich?, fuhr es ihm durch den Kopf. Das kann doch eigentlich gar nicht sein, so viel Schnee, in Zürich. Aber da hatte sie es schon selbst gemerkt. Sie schrie auf. »Was ist denn das?«

»Schnee«, sagte er hilflos. »Schnee bis übers Erdgeschoss hinaus.«

Sie starrte ihn an. »Wie ist das denn möglich? Gestern Nachmittag war es ein Meter. Das ist ja schon viel, aber das hätte man doch räumen können. Salzen, Kies streuen, irgendetwas. Ich sollte doch das Café aufmachen. Rubina muss in einer Stunde zur Schule.«

»Wahrscheinlich kommen heute Morgen keine Gäste ins Café«, sagte Lajos, »und die Schulen sind wohl auch geschlossen. Das Beste ist, wir gehen zurück und hören Radio.«

»Aber das geht doch nicht«, stotterte die Frau. »Irgendwer muss kommen. Die Armee, die Polizei, das Grenzwachtkorps.«

»Oder die Amerikaner«, kommentierte Lajos Varga sarkastisch und ging hinauf.

Luca Oertle tappte in die Küche. Er war schlecht gelaunt wie immer am Dienstagmorgen, wenn er schon vor acht an der Uni sein musste. Er schaltete die Kaffeemaschine ein, holte aus dem Kühlschrank ein Joghurt und machte das Radio an. Ein bisschen gute Musik würde ihn wecken. Schon war das Stück zu Ende. Nachrichten. »Ausnahmezustand in Zürich und in Teilen des Mittellandes«, hörte er, »außergewöhnlich heftiger Schneefall, zwei bis drei Meter Schnee«. Am stärksten hatte es den Kanton Zürich getroffen, aber auch Teile des Aargaus und von Zug. Was? Luca riss das Fenster auf. Wahnsinn. Auch ihm bot sich die schweigende kalte Schneelandschaft dar wie eine halbe Stunde zuvor Lajos Varga. »… Jahrhundertschnee. Das öffentliche Leben vollständig zum Erliegen gekommen«, hörte er die Radiostimme hinter sich. »Verkehr, Schulen, Geschäfte, Restaurants, Firmen – alles geschlossen.« Die Uni wohl auch, ging es Luca durch den Kopf. »Schneeräumung bis auf weiteres nicht möglich. Die Bevölkerung wird dringend gebeten, ihre Häuser nicht zu verlassen.«

Puh. Luca setzte sich an den Küchentisch und löffelte mechanisch sein Joghurt. Er war ein gut aussehender Mann von Ende zwanzig. Sein Gesicht war leicht gebräunt, dunkle Locken fielen ihm ins Gesicht. Er wusste, dass er attraktiv war, aber im Moment dachte er nicht an sich. Er merkte nicht einmal, dass er ein Aprikosen- statt eines Haselnussjoghurts erwischt hatte. Nochmals ins Bett? Nein, jetzt war er wach. Zeitung holen? Quatsch, Zeitung gab es wohl heute nicht. Er hörte leise Schritte, die Tür ging auf, Aline tappte herein, in ihren graugrünen Morgenmantel gehüllt. Scheußliches Ding, dachte Luca. Aber leider passte er zu Aline. Sie war blass, ihre Haare ungekämmt, neben der Nase hatte sie einen roten Pickel. Eigentlich musste sie einem leidtun, aber häufig fühlte sich Luca nur genervt von ihr.

Er stellte sich vor sie hin. »Jetzt ist es passiert«, rief er dramatisch, »jetzt bist du die Gefangene der Bristen-straße. Für dich gibt es kein Entkommen mehr!«

Sie fuhr zusammen, der Schrecken auf ihrem Gesicht war echt. »Was ist los?«, rief sie.

Er fühlte sich bereits gelangweilt. »Schau aus dem Fenster«, gab er kurz zurück, holte vom Regal eine Tasse und nahm sich einen Kaffee.

Aline schloss das Fenster. »Und wir sind wirklich eingeschlossen?«, fragte sie. »Wir können nicht hinaus?«

»Wirklich und wahrhaftig eingeschlossen«, bestätigte Luca boshaft. »Auf Gedeih und Verderb dem Winter ausgeliefert.«

Aline lief hinaus. »Carsten«, hörte er sie rufen.

Er verdrehte die Augen. Aline war Carstens jüngere Schwester, die vor Kurzem in München ihr Abitur gemacht hatte. Seit zehn Tagen schon war sie bei ihnen auf Besuch, schlief im Wohnzimmer, hockte mager und deprimiert und krankhaft schüchtern in der Küche, versuchte gleichsam, gar nicht da zu sein und nahm gerade dadurch sehr viel Raum ein. Seraina war nett zu ihr. Sie übte wohl schon für die Zukunft, in der sie in irgendeinem Bündner Bergdorf eine Hausarztpraxis führen würde und verknorzte Dorforiginale zu verarzten hätte, dachte Luca. Er hatte jedenfalls keine Lust, Sozialarbeiter zu spielen. Im Lokalradio lief eine Sonderberichterstattung zum Wetter. »Ausnahmezustand kann mehrere Tage andauern«, hörte Luca. Die Schneeräumungsdienste seien heillos überfordert, weil weite Teile des Mittellandes vollkommen zugeschneit seien. Ein Armee-Einsatz werde erwogen. Nur, dachte Luca spöttisch, dass die Soldaten wohl auch nicht aus ihren Wohnungen ausrücken konnten. Eine CVP-Politikerin wies darauf hin, dass der Mensch eben nicht alles im Griff hatte, dass man sich jetzt bewähren müsse. Offenbar war das ein Telefoninterview mit mehreren Zürcher Politikern. Jetzt meldete sich ein Grüner, der den Atomausstieg und die Klimaveränderung ins Feld führte. Unterbrochen wurde er von einem SVP-Mann, der höhnisch sagte, was Klimaveränderung? Dann müsste es ja warm sein. Es habe immer schon Wetterextreme gegeben. Siebzehnhundertsowieso habe es im Juli geschneit. Der Moderator wandte sich an eine FDP-Frau, die erklärte, man müsse jetzt vernünftig bleiben und die paar Tage halt aushalten. Mehrere Tage? Luca riss den Schrank auf, in dem die Lebensmittel aufbewahrt wurden. Immerhin. Einige Pakete Spaghetti und Risottoreis. Pelati und andere Konserven. Zwei Kilo Brot. Im Kühlschrank drei volle Milchpackungen, eine Reihe von Joghurts, zwei Plastiktüten mit Chicorée und ein Kilogramm Karotten. Im unteren Fach ein großes Stück Käse, mindestens ein Pfund, und einige Würstchen. In der Obstschale auf dem Tisch ein Berg Orangen und Äpfel. Hatte also gestern jemand einen Großeinkauf gemacht. Na, er wars nicht gewesen. Vermutlich Seraina. Die WG-Mama. Nein, da tat er ihr Unrecht. Seraina war in Ordnung. Sie sah gut aus mit ihren rotblonden Locken und sie hatte so einen gewissen Berglercharme. Ganz zu Anfang hatte Luca abgecheckt, ob er bei ihr landen könnte. Nix zu machen. Sie hatte ihn bloß ausgelacht, aber fröhlich, nicht herablassend. Einige Tage würden sie also überleben können. Und sonst gabs ja noch die Nachbarn.

Raffaela Zweifel stand im Bad, in einen seidenen lila Morgenmantel gehüllt und tuschte sich die Wimpern. Sie betrachtete sich verdrossen im Spiegel. »Ich sehe furchtbar aus«, murmelte sie.

»Unsinn.« Fridolin Heer, der hinter sie getreten war, küsste sie auf den Nacken. »Du siehst super aus, wie immer. Vielleicht ein bisschen unausgeschlafen. Dabei bist du doch gestern früh zu Bett gegangen.«

»Ich fühle mich, als ob ich gestern Abend zu viel getrunken hätte«, sagte sie, »schwerer Kopf, verklebte Augen.«

»Schlaf doch noch ein bisschen«, riet er.

»Unsinn, ich muss zur Arbeit.«

Fridolin schüttelte bedächtig den Kopf. »Musst du heute nicht. Ebenso wenig wie ich – und alle anderen Bewohner dieser Stadt und über die Stadt hinaus.«

»Soviel ich weiß, haben wir heute weder den 1. Mai noch den 1. August.«

»Du hast noch nicht Radio gehört, meine Schöne. Drei Meter Schnee. Schau es dir an.«

»Was? Das ist doch nicht möglich. Immer deine Witze!« Raffaela eilte zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus. »Wahnsinn!«

Sie griff nach dem Telefon und rief in ihrer Firma an. Nur der Beantworter meldete sich. Dann versuchte sie es bei einer Arbeitskollegin, die im Stadtviertel Wollishofen, auf der anderen Seite der Stadt, wohnte. Dort war die Situation genau gleich. Mindestens zweieinhalb Meter Schnee. Keine Chance hinauszukommen.

Ich trinke eine Tasse Tee, und dann lege ich mich nochmals hin, beschloss Raffaela. Ich habe wirklich nicht gut geschlafen. Fridolin küsste ihre Schulter. »Gute Idee«, murmelte er.

Auch Janine Bianchera hatte weder im Café, in dem sie arbeitete, noch an Rubinas Schule jemanden erreicht. Rubina kaute am letzten Bissen Butterbrot. »Da hätte ich ja gar nicht aufstehen müssen«, brummelte sie missmutig. Rubina war, dachte die Mutter, entschieden ein Nachtmensch. Wie wohl die allermeisten Dreizehnjährigen.

»Da du nun schon mal wach und auf bist, mach das Beste draus«, riet Janine. »Klemm dich hinter die Französischwörter. Du warst noch gar nicht sattelfest, als ich dich gestern abgefragt habe. Und für die Prüfung in Geschichte, die ihr übermorgen schreibt, könntest du auch lernen.«

Rubina verdrehte die Augen. »Okay«, murmelte sie seufzend und zog ab. Janine verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen, dass sie ihr Frühstücksgeschirr noch abräumen könnte. Das würde doch nur Streit geben. Es würde wohl heute ohnehin irgendwann Streit geben, wenn sie beide den ganzen Tag zusammen in der Wohnung waren, aber es musste ja nicht unbedingt schon am frühen Morgen sein. Rubina. Janine liebte ihre Tochter, aber einfach hatten sie es nie gehabt miteinander. Als kleines Mädchen hatte Rubina sehr an ihrem Vater gehangen. Es hatte ihr sehr zu schaffen gemacht, als Janine und Mario sich getrennt hatten, und Marios Tod, als Rubina acht gewesen war, war für das Mädchen ein schrecklicher Schlag und für die Beziehung zwischen Mutter und Tochter eine harte Belastungsprobe gewesen. Rubina hatte lange gebraucht, um einigermaßen über den Verlust ihres Vaters hinwegzukommen und wieder ein bisschen Lebensfreude zu finden. Und ich konnte ihr dabei nicht helfen, dessen war sich Janine bewusst. Sie hatte aufgehört, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Sie hatten dann zwei recht friedliche, gute Jahre miteinander verlebt, aber seit Rubina langsam in die Pubertät kam, wurde es wieder schwieriger. Als Janine ihr kürzlich nicht erlaubt hatte, den ganzen Samstagnachmittag zusammen mit Freundinnen in Kaufhäusern an der Bahnhofstrasse zu vertrödeln, hatte Rubina plötzlich aufgestampft – tatsächlich, aufgestampft – und gerufen: »Papa würde es mir erlauben!«

Es war besser, gar nicht mehr an diese Szene zu denken. Janine war so wütend geworden, dass sie dem Mädchen am liebsten eine heruntergehauen hätte. Sie konnte sich gerade noch davor zurückhalten zu schreien: »Dann geh doch zu deinem Papa!« So weit darf es nie kommen, dass ich mich vergesse, schwor sie sich. Sie gestand sich ein, dass Rubinas unbeherrschter Ausruf sie eifersüchtig gemacht hatte. Eifersüchtig auf einen Toten. Sie schämte sich. Aber Rubina und sie waren so verschieden, sie hatten nie die enge, vertraute Beziehung gehabt, die Janine sich gewünscht hatte. Ihre Tochter sah ihr schon äußerlich gar nicht ähnlich. Sie war nach Mario geraten mit ihrer gebräunten Haut, den dunklen Augen, den schwarzen Haaren und dem rundlichen Gesicht. Eine Italienerin. Sie hatte nach dem Tod ihres Vaters ihr Italienisch nicht vergessen, hatte sich in der Schule mit einem italienischen Mädchen angefreundet, sich auf Geburtstag und Weihnachten italienische Kinderbücher, DVD und Hörbücher gewünscht. Sie konnte die Sprache ihres Vaters fließend. Wenn sie zusammen Ferien in Italien verbrachten, merkte Janine, dass die Kleine sich ihr überlegen fühlte, wenn sie in Restaurants oder Läden ihr klägliches Italienisch hervorkramte und die kleine Tochter ihr über den Mund fuhr, schnell und perlend erklärte, was die Mama hatte sagen wollen und ihr dann die Antwort etwas gönnerhaft übersetzte.

Schluss jetzt, befahl sich Janine. Wenn ich schon mal unter der Woche frei habe, kann ich mir den Kühlschrank vornehmen, nötig hat er es. Sie schaltete das Radio ein und begann, den Kühlschrank auszuräumen. Sie lenkte ihre Gedanken auf das Wetter. Die Prognosen stimmten sie nicht zuversichtlich. Es schneite weiter, es würde weiterschneien, ein Ende war offenbar nicht abzusehen. Einen Moment lang hatte sie Angst. Es könnte eine Naturkatastrophe werden. Wenn die Heizungen ausfielen, könnte es gefährlich werden, sie könnten erfrieren. Nein, sagte sie sich, so schlimm wird es nicht werden. Wir sind immer noch mitten in der Zivilisation, in der Schweiz, in der Stadt Zürich. Sie öffnete den Schrank mit den Lebensmittelvorräten. Doch, einige Tage würde es reichen. Teigwaren, Reis, Gemüsekonserven, Knäckebrot. In der Gefrierschublade lagerten Fleisch, eine Packung Fischfilets und Eis. Und vorgestern hatte sie zwei Kilo Orangen und ein großes Stück Kürbis gekauft.

Patrick Freuler blinzelte verschlafen. Der Wecker sagte ihm in grün leuchtenden Zahlen, dass es Viertel nach acht war. Warum war es dann noch stockdunkel? Er setzte sich abrupt auf. Warum war es überhaupt stockdunkel? Zumindest den Schein der Straßenlaterne hätte er doch wahrnehmen müssen. Über Nacht erblindet war er nicht, sonst hätte er die Uhrzeit auf dem Wecker nicht gesehen. Was war denn da los? Er ging hinaus in die Küche. Auch dort: stockfinster. Ebenso im Wohnzimmer und im Büro. Patrick schlüpfte in den Morgenmantel und ging ins Treppenhaus. Ein paar Stufen hinunter, die Tür aufgerissen – ihm bot sich der gleiche Anblick wie Lajos Varga anderthalb Stunden vorher. »Verdammt«, rief er verblüfft aus. Er eilte hinauf in den ersten Stock, schaute dort durchs Treppenhausfenster. »Zugeschneit«, murmelte er, den Kopf schüttelnd, »komplett zugeschneit. In Zürich.« Langsam ging er wieder hinunter in seine Wohnung. Er machte das Radio an, duschte, zog sich an, schaltete die Kaffeemaschine ein. »Mehrere Tage«, hörte er aus der Nachrichtensendung. Ich werde verhungern, dachte er. Er brauchte seine Vorräte gar nicht zu checken, es gab keine. In der Brotbüchse fand er ein vertrocknetes Croissant von gestern, das er lustlos aß. Ich muss mich bei der WG anhängen, dachte er, oder bei Valerie. Das ist ja kein Leben, tagelang so im Finsteren. Seine Nachbarin vom gleichen Stock kam ihm in den Sinn. Der wird’s auch nicht besser gehen. Zumindest kann sie für diese Übeltat nicht jemandem vom Haus die Schuld geben, überlegte er ein bisschen boshaft und grinste. Vermutlich schlief sie noch. Patrick fuhr sich durchs Haar. Er trug seinen hellbraunen Schopf kurz geschnitten und es war ihm anzusehen, dass er in zehn Jahren vermutlich schon fast eine Glatze haben würde. Aber das kümmerte ihn nicht. Er hielt sich ohnehin nicht für besonders gut aussehend mit seinem breiten Gesicht und der etwas zu groß geratenen Nase.

Beat Streiff schlug die Augen auf. Er gähnte und streckte sich. Valerie kam ins Schlafzimmer. »Na?«, fragte sie.

»Ich glaube, es geht mir besser«, sagte er.

Sie kam zum Bett, küsste ihn auf die Stirn und schob ihm den Fiebermesser unter den Arm. »Mal schauen, wie deine Temperatur ist. Wie hast du denn geschlafen?«

»Jedenfalls habe ich geschlafen«, meinte er.

»Du warst viel ruhiger als die Nächte zuvor«, bestätigte sie. »Noch vorletzte Nacht hast du dich nur herumgewälzt.«

»Wird auch Zeit«, brummte er. »Macht keinen Spaß, so eine blöde Grippe.«

Beat Streiff war selten krank. Er war Kommissar bei der Stadtpolizei Zürich, zuständig für schwere Verbrechen wie Tötungsdelikte. Er war ständig auf Achse, nicht selten auch nachts oder am Wochenende. Aber in diesem Februar hatte es ihn doch erwischt. Ausgerechnet an einem Freitagabend, als er früh Schluss machte, um einen gemütlichen Abend bei Valerie zu verbringen, hatte er sich unversehens miserabel gefühlt, innert kürzester Zeit Halsschmerzen und recht hohes Fieber gehabt. Valerie hatte ihn ins Bett gepackt und ihm Tee gekocht, den er, zu kaputt, um sich zu sträuben, brav getrunken hatte.

Das Fieberthermometer piepste. Valerie griff danach: »Nur 37,1«, verkündete sie, »fast normal.«

»Ja dann«, Beat setzte sich auf, »wird’s Zeit, mich wieder mal im Büro zu zeigen.« Er stand auf, schwankte leicht und musste sich gleich wieder setzen.

»Oh, offenbar noch nicht ganz wiederhergestellt«, brummte er. »Mir ist gleich schwindlig geworden.«

»Ja, eben«, protestierte Valerie energisch, »du bist noch viel zu schwach, um arbeiten zu gehen. Mindestens noch zwei Tage bleibst du hier. Wenn es dir wirklich besser geht, machen wir heute Nachmittag einen kleinen Spaziergang, eine Viertelstunde, nicht mehr.«

Beat erhob sich nochmals, diesmal vorsichtiger. »Wenigstens duschen will ich«, sagte er, »und danach einen Kaffee trinken. Mit diesem Kräuterteezeugs ist jetzt Schluss.«

Es klingelte. »Wer kann denn das sein, so früh?«, fragte sich Valerie. Sie ging zur Tür. Draußen stand ihre Nachbarin, die alte Frau Meyer.

»Haben Sie es schon gesehen?«, fragte sie ängstlich.

»Was denn?«, fragte Valerie zurück.

»Den Schnee«, sagte Frau Meyer.

»Ich weiß schon, dass es Schnee hat«, erwiderte Valerie etwas unsicher. Was wollte die Frau nur? Es hatte ja schon seit zwei Wochen ordentlich Schnee in der Stadt.

»Nein, ich meine, wie viel Schnee es jetzt hat«, versuchte die alte Frau zu erklären. Valerie ging zum Fenster. Frau Meyer folgte ihr und deutete nach unten. »Das ganze Erdgeschoss ist zugeschneit«, sagte sie. »Wir können nicht aus dem Haus. Sie haben es im Radio gesagt.«

Hm. Tatsächlich, stellte Valerie fest, als sie sich aus dem Fenster lehnte. Verrückt. So viel Schnee gab es doch sonst nur in den Bergen. Irgendwie spannend.

»Ich hätte doch heute einen Arzttermin«, sagte Frau Meyer aufgeregt, »ich habe angerufen, aber niemand meldete sich.«

»Ihr Arzt ist vermutlich auch zu Hause und kann nicht hinaus«, meinte Valerie, »machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Es bleibt uns allen wohl nichts anderes übrig, als daheim zu bleiben. Für mich kein Problem, da ich eh eine Woche Ferien genommen habe. Im Februar kaufen die Leute keine Fahrräder.« Valerie führte das Fahrradgeschäft FahrGut bei der Schmiede Wiedikon.

Frau Meyer nickte.

»Haben Sie alles, was Sie brauchen?«, fragte Valerie. »Genügend zu essen, zu trinken und so weiter?«

»Ja, ich habe alles. Es ist nur ein bisschen unheimlich.« Die Frau schaute sie mit großen Augen an.

»Nein, nein«, beschwichtigte Valerie, »gefährlich ist das sicher nicht. Wir müssen einfach abwarten, bis die Schneeräumungswagen wieder durchkommen. Wenn was ist, kommen Sie ruhig.«

Die alte Frau ging zur Tür. Die Badezimmertür ging auf und Beat Streiff erschien, in ein großes Handtuch gewickelt. Er brummte einen Gruß und verschwand im Schlafzimmer.

»Ach, Ihr Freund ist da!« Frau Meyer schien das zu beruhigen. »Dann ist wenigstens ein Polizist im Haus.« Valerie wusste nicht so recht, was ein Polizist zur Wetterberuhigung beitragen könnte, aber sie sagte nichts.

»Sie ging zu Beat ins Schlafzimmer. Er war daran, sich anzuziehen. »Bad news«, erklärte sie, »kein Spaziergang heute Nachmittag.« Er schaute sie fragend an.

»Jahrhundertschnee.«

»Was?«

»Schau aus dem Fenster!«

»Wow!« Ein erschrockener Laut entfuhr ihm. »Das gibt’s doch nicht, das ist ja verrückt. Aber das war nicht das ganze Wochenende so?«

»Nein. Aber es hat halt stetig vor sich hingeschneit. Du hast das gar nicht bemerkt, weil du die meiste Zeit ziemlich weggetreten warst. Gestern war es ein Meter, und die große Menge kam in den letzten zwölf, vierzehn Stunden. Jetzt ist es so viel, dass keine Räumungsfahrzeuge mehr ausrücken können.«

Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich muss im Büro anrufen.«

»Viel wirst du dort nicht erreichen. Vielleicht sollte ich mal bei den anderen Nachbarn klingeln gehen«, überlegte sie. »Schauen, ob alle okay sind und genügend Vorräte für ein paar Tage haben.«

»Die Frau im Erdgeschoss sicher«, grinste Beat.

Ja, Renate Ingold, eine ältere Frau, hatte bestimmt Essensvorräte. Sie war eine unzugängliche Person, deren Kontakte mit den Hausbewohnern sich in Reklamationen erschöpften. Aber sie musste eine begnadete Köchin sein. Zweimal pro Tag stiegen aus ihrer Wohnung die verführerischsten Essensdüfte im Treppenhaus hoch. Sie hatte niemals Besuch zum Essen, sie kochte und aß ganz für sich allein.

Eine Stunde später waren fast alle Hausbewohner im Treppenhaus versammelt, vor der Wohnung der Wohngemeinschaft. Patrick Freuler und Raffaela Zweifel und Fridolin Heer waren diejenigen, die am wenigsten für Notzeiten vorgesorgt hatten. »Du kannst in diesen Tagen bei uns essen« bot Seraina Patrick an, während Csilla Varga das Paar vom zweiten Stock zum Mittagessen einlud.

»Heute Abend könnten wir alle bei uns essen«, schlug Seraina vor, »wir haben massenhaft Spaghetti und Fertigsaucen, und Reibkäse ist auch mehr als genug im Kühlschrank. – Aber wo sind denn unsere älteren Ladys?«, fragte sie.

»Frau Meyer ist okay«, meldete Valerie, »ein bisschen ängstlich, aber versorgt mit allem, was sie braucht. Und sehr beruhigt über die Anwesenheit eines Polizisten im Haus.«

Luca murmelte spöttisch etwas von »Freund und Helfer«.

»Aber was ist mit Frau Ingold?«, erkundigte sich Csilla Varga. Sie schnupperte. »Um diese Zeit müsste man doch schon langsam ihr Mittagessen riechen. Sie kocht ja häufig Gerichte, die sie endlos lange schmoren lässt.«

Valerie und sie gingen ins Erdgeschoss hinunter und klingelten. Nichts war zu hören. Sie klingelten nochmals. Nichts. »Ob sie weg ist?«, fragte Valerie.

»Nein«, sagte Csilla, »wir haben gestern Abend ihren Fernseher gehört. Sie geht ja abends kaum weg.«

Valerie klopfte. Nichts. »Frau Ingold«, rief sie. Die beiden Frauen schauten sich an. Dann drückte Valerie die Türfalle hinunter. Die Wohnungstür ging auf.

»Sie schließt doch immer ab«, murmelte Csilla ratlos.

»Frau Ingold«, rief Valerie nochmals, dann betraten sie die Wohnung.

Csilla verdrehte die Augen. »Peinlich«, flüsterte sie, »wahrscheinlich schläft sie heute länger.« Sie warfen einen Blick in die leere, aufgeräumte Küche, dann ins Wohnzimmer mit seiner behäbigen Polstergruppe, dem großen Fernsehapparat und der dunklen Wohnwand. Auch im Esszimmer war niemand. Sechs Stühle standen um den runden Esstisch, an der Wand stand ein riesiger Geschirrschrank. Und das alles für eine einzige Person, ging es Valerie durch den Kopf.

»Wir müssen im Schlafzimmer nachschauen« sagte sie zu Csilla, »vielleicht ist sie krank.« Csilla nickte und folgte ihr. Leise öffnete Valerie die Schlafzimmertür. »Frau Ingold«, rief sie leise. Dann hielt sie erschrocken den Atem an. Rasch ging sie zum Bett der alten Frau. Sie lag darin, ihre Augen waren geöffnet und auch ihr Mund stand leicht offen. Aber sie sah nichts und sie würde nie mehr etwas sagen. Renate Ingold war tot. Csilla entfuhr ein entsetzter Laut. Valerie schlug die Bettdecke etwas zurück und sie sahen Blut auf der Höhe ihrer Brust.

»Sie ist tot«, flüsterte Csilla. »Hatte sie einen Herzinfarkt?«

»Nein«, sagte Valerie, »das war kein natürlicher Tod. Ich hole Beat.«

Im Flur hing ein Schlüsselbrett, von dem Valerie einen Hausschlüssel nahm, mit dem sie die Wohnung abschloss. »Wie schrecklich«, brach es aus Csilla Varga heraus, »was ist denn da passiert?«

»Ich glaube, sie ist erstochen worden«, murmelte Valerie.

»Die Kinder«, rief Csilla Varga in Panik, »sie dürfen es nicht erfahren!«

»Ruhig, Frau Varga«, Valerie reagierte automatisch. Noch ließ sie keine Gefühle an sich heran, keinen Schrecken, keine Angst. »Gehen Sie in Ihre Wohnung, bleiben Sie bei Ihren Kindern. Beat Streiff wird sich das ansehen.« Csilla eilte davon, Valerie rief Beat und Seraina Loretz.

»Ich kann den Todeszeitpunkt nicht genau bestimmen«, sagte die Medizinstudentin. Sie strich eine Locke, die ihr ins Gesicht fiel, zurück. »Das ist nicht so einfach wie im Fernsehkrimi.« Streiff nickte.

»Irgendwann nachts«, fuhr Seraina fort«, »ihre Körpertemperatur beträgt noch sechsundzwanzig Grad, die Leichenstarre ist eingetreten. Ihr Tod kann vielleicht zehn, zwölf Stunden her sein. Vielleicht mehr, vielleicht auch weniger.«

Es war kühl im Schlafzimmer. Renate Ingold hatte die Heizung auf Stufe 1 eingestellt gehabt, und Streiff hatte sie ganz zurückgedreht. »Ist sie im Schlaf getötet worden?«, fragte er.

Loretz zuckte die Schultern. »Kann sein. Jedenfalls erkenne ich keine Anzeichen von Gegenwehr. Ich glaube nicht, dass sie gekämpft hat. Es hat wohl auch niemand Schreie gehört. Sonst hätten die Varga oder Patrick sicher etwas gesagt.«

Streiff ging langsam durch die Wohnung. Alle Fenster waren geschlossen, ebenso die Türe, die auf einen kleinen Gartensitzplatz führte. Nur die Wohnungstür war nicht abgeschlossen gewesen. Es war eine typische Wohnung einer alten Frau, die früher zu zweit oder mit Familie gelebt hatte und die allein zurückgeblieben war, in einer zu großen Wohnung, die sie nicht für ihre jetzigen Bedürfnisse umgestaltet hatte. Ein Zimmer schien völlig unbenutzt zu sein. Vielleicht war es einmal ein Gästezimmer gewesen, in geselligeren Zeiten. Vielleicht waren Nichten und Neffen zu Besuch gekommen, fröhliche Kinder, die sich ins große Bett gekuschelt hatten. Streiff konnte es sich zwar schlecht vorstellen, aber wer weiß? Auch dieses Zimmer war ungeheizt. Es wirkte ganz unpersönlich, keine Bilder an den Wänden, keine Familienfotos auf der Kommode. Fast wie ein billiges altmodisches, fensterloses Hotelzimmer. Streiff lehnte sich an den Türrahmen. Die Glühbirne unter dem düster geblümten Stoffschirm warf ein ungemütliches Licht in den Raum.

In dieser Wohnung war letzte Nacht ein Mensch erstochen worden. Eine alte, alleinlebende Frau. Eine Situation, die ich kenne, dachte Streiff. Die ich hundertmal erlebt habe. Und doch ist diesmal alles ganz anders. Kein Staatsanwalt. Kein Polizeiarzt. Keine Sanität. Keine Spurensicherung. Bloß ich. Plötzlich erinnerte er sich an den neunjährigen Beat. Er war wohl aufgeweckt und lebhaft gewesen, aber auch ein Bücherwurm. In seiner Familie hatte es keinen Fernseher gegeben, bis er dreizehn gewesen war. Nicht weil seine Eltern irgendwie alternativ gewesen wären, sie waren schlicht altmodisch: Man musste nicht immer gleich alles haben. Fernsehen ist nichts für Kinder, es macht sie dumm. Er hatte im Radio die »Kinderstunde« gehört, oft draußen gespielt und viel gelesen. Vor Weihnachten hatte er jeweils die Kataloge der Kinderbuchverlage durchgeblättert und Kreuzchen gemacht. Natürlich hatte er nie alle Bücher bekommen, die er angekreuzt hatte. Aber es gab ja noch die Dorf- und die Schulbibliothek, die für Nachschub sorgten. Besonders hatte er Krimis geliebt, zum Beispiel die lange Serie der »Fünf-Freunde-Bücher«. »Fünf Freunde auf der Felseninsel«, »Fünf Freunde jagen die Entführer«, »Fünf Freunde auf geheimnisvollen Spuren«. Beat lächelte. Der neunjährige Beat hatte Detektiv werden wollen, nichts anderes. Dabei hatte er nicht an die Polizei gedacht, nein, ein Detektiv war einer, der allein arbeitete. Der ein Béret trug, Pfeife rauchte. Den Leuten Fragen stellte, deren Hintersinn sie nicht begriffen, sodass sie sich verrieten. Bis Beat Streiff gegen Ende zwanzig dann tatsächlich bei der Kriminalpolizei gelandet war, hatte es einige Umwege gegeben. Ein abgebrochenes Jurastudium. Einige Jahre als Judolehrer. Auch wenn er seine Arbeit manchmal als mühsam empfand, gelegentlich sogar als langweilig, war er doch mit Herzblut Polizist und hatte seine Berufswahl nie bereut. Eine Beziehung war daran kaputtgegangen, aber das war so lange her, dass Beat kein Bedauern mehr empfand. Die Arbeit bei der Kriminalpolizei hatte kaum Ähnlichkeit mit den Detektivträumen des Neun- oder Zehnjährigen gehabt. Aber in diesem Moment fühlte er sich plötzlich darauf zurückgeworfen. Einer, der allein arbeitet. Es konnte sein, dass sie alle mehrere Tage in diesem Haus eingeschlossen sein würden. Sechzehn Personen, darunter drei Kinder. Sechzehn Personen, die wussten, dass in der Wohnung im Parterre rechts eine tote Frau lag. Ein Mordopfer. Einige würden sich fürchten, die Situation als bedrohlich, als unheimlich empfinden. Wie würden sie reagieren, was würde der Tod von Frau Ingold auslösen? War der Täter ein Hausbewohner? Er musste sich das Haus ansehen. Natürlich löste man nicht als Einmannbetrieb einen Mordfall. Aber er würde jetzt sicher nicht tagelang herumsitzen und nichts tun, bis die Verstärkung anrollen konnte.

Streiff löschte das Licht und trat in den Flur hinaus. Dort stand Seraina Loretz, etwas unsicher. »Ich bräuchte Hilfe«, sagte sie, »um die Leiche, nun ja, ein bisschen zurechtzumachen. Ich dachte, ich könnte Frau Bianchera fragen. Ist das okay?«

Streiff nickte. »Tun Sie das.« Er schaute auf die Uhr. »Sagen Sie den Hausbewohnern, dass wir uns alle um zwei Uhr treffen«, er brach ab. »Wo denn? Wir sind im Ganzen sechzehn Personen.«

»Bei uns«, schlug Seraina vor. »Wir haben einen großen Tisch, weil wir oft Besuch haben. Vielleicht könnten andere noch ein paar Stühle mitbringen. Oder bei Patrick. Er hat einen riesigen Arbeitstisch – aber fast keine Stühle.«

Streiff bat die junge Frau, sich darum zu kümmern. Er schaute sich das Haus an. Ging in den Keller. Natürlich war er auch schon unten gewesen. Er hatte ja Valerie beim Umzug geholfen, als sie vor zwei Jahren ihre alte Wohnung verlassen musste, weil das Haus abgerissen wurde. Und er hatte auch schon ab und zu eine Flasche Wein aus ihrem Kellerabteil geholt. Jetzt sah er sich genauer um. Jede Wohnung hatte ein kleines Kellerabteil, dann gab es noch Waschküche und Heizungsraum. Zwei der Abteile waren praktisch leer; jenes von Renate Ingold, weil sie eine ordentliche Person gewesen war, und jenes von Patrick Freuler, weil er vor Kurzem mit fast nichts eingezogen war. Andere, beispielsweise das Abteil der Wohngemeinschaft und jenes von Mutter und Tochter Bianchera, waren komplett vollgestellt mit Schachteln, alten Haushaltgegenständen, Reisetaschen, Skiern. Hier könnte man gut irgendwo eine Waffe verstecken, dachte Streiff. Hier müssten Profis ans Werk. Er stieg die Treppe langsam wieder hoch. Im obersten Stock, zwischen den Wohnungstüren von Ursula Meyer und Valerie Gut, war noch eine kleine Tür. Streiff drückte die Falle, aber die Tür ging nicht auf. Valerie schaute hinaus. »Ach, das ist nichts. Irgendein winziges Estrichräumchen, das von niemandem benutzt wird. Abgeschlossen.« Es war Viertel nach eins. Valerie hatte eine Kartoffelsuppe gekocht. »Komm, du musst doch noch etwas essen vor diesem Treffen«, drängte sie. »Und wie fühlst du dich überhaupt? Immer noch fieberfrei?«

Er schaute sie erstaunt an. »Fieberfrei?« Er hatte vollkommen vergessen, dass er gestern noch mit Grippe im Bett gelegen hatte. Wenn er am Arbeiten war, konnte er private Befindlichkeiten völlig beiseiteschieben. »Ja, ich nehme gern etwas Suppe. Aber zuerst will ich noch telefonieren.«

Er ging ins Wohnzimmer und rief den Detektivposten Aussersihl an, wo er sein Büro hatte. Zita Elmer, seine Kollegin und engste Mitarbeiterin, hob ab. Schlecht gelaunt. Sie hatte Nachtdienst gehabt und quasi zusehen können, wie sie gnadenlos eingeschneit wurde. Sie war müde und verärgert, weil sie nicht nach Hause konnte und nicht abgelöst wurde. Streiff orientierte sie kurz über die Situation an der Bristenstraße. Er gab ihr die Namen aller Hausbewohner durch, mit der Bitte nachzuschauen, ob sie in irgendeiner Polizeidatenbank registriert waren. »Okay, mach ich«, brummte Elmer. Streiff hörte, dass sie bereits etwas zufriedener gestimmt war. So war Elmer, nicht gerade ein Ausbund an Charme, aber eine gescheite, zuverlässige, hart arbeitende Polizistin, der es am liebsten war, wenn etwas lief.

»Dein Sohn ist gut versorgt?«, fragte Streiff.

»Ja, Linus ist bei ihm, er kann ja auch nicht zur Arbeit.«

Leo war vier Jahre alt, ein stämmiger, lebhafter kleiner Junge, der ganz nach der Mutter geriet. Er würde einen Tag mit dem Papa wahrscheinlich genießen, denn Zitas Mann Linus, ebenfalls Polizist, kannte sich auch im Haushalt, in der Küche und in Sachen Spielzeug aus. Um Zita und Familie musste man sich also keine Sorgen machen.

Er öffnete sein Laptop und ging auf eine Seite, die ihm Auskunft über die Wetterentwicklung der letzten Nacht gab. Bis um elf Uhr hatte Lajos Varga noch den Fernseher von Renate Ingold gehört. Anschließend war sie wohl zu Bett gegangen und eingeschlafen. Um diese Zeit aber war es schon nicht mehr möglich gewesen, das Haus durch die Haustür zu betreten oder zu verlassen. Im Keller war niemand versteckt, und auch in den Wohnungen war es nicht möglich, dass sich ein Fremder über Stunden verstecken konnte. Ergo – Streiff ging in die Küche.

Er schöpfte sich von Valeries köstlicher Kartoffelsuppe. Sie war eine spontane Köchin, probierte gern dieses und jenes aus, und es geriet ihr leider nicht immer. Aber ihre Kartoffelsuppe mit geröstetem Mehl, wenig Käse und viel Muskatnuss war ein sicherer Wert.

»Was hast du nun vor?«, fragte sie eifrig. »Wirst du den Mord aufklären?«

Er lächelte. »Du meinst, so wie Hercule Poirot es getan hätte?«

Sie wurde ein wenig verlegen und deutete ein Schulterzucken an. »Kannst du doch sicher«, ermutigte sie ihn. Dann wurde sie ernst: »Glaubst du auch, dass es ein Hausbewohner gewesen sein muss? Ich meine, es konnte doch niemand reinkommen oder rausgehen?«

Er seufzte. »Wie wir der Presse gegenüber immer sagen: Wir stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen, sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung – du kennst das ja.«

»Was wirst du den Nachbarn sagen?«

»Ich werde sie einfach informieren und ankündigen, dass ich sie alle besuchen werde, um ein wenig mit ihnen zu reden.«

»Und dann stellst du ihnen so raffinierte Fragen, dass sie sich in Widersprüche verwickeln und am Schluss jemand sagt, er habe es nicht mehr ausgehalten, wie die Ingold immer wegen der Waschküche reklamiert habe.«

»Das ist eine wichtige Frage«, warf Beat ein, »das Motiv.«

»Sie war eine dumme und bösartige alte Frau«, fuhr Valerie auf. Aber plötzlich verzog sich ihr Gesicht. »Es tut mir leid«, murmelte sie und schluchzte ein bisschen. »Es ist schrecklich, dass sie umgebracht worden ist.« Ihr Mann legte den Arm um sie. Valerie und er hatten vor einem Jahr geheiratet, aber sie hatten es nicht an die große Glocke gehängt, und sie waren auch nicht zusammengezogen.

»So wird es jetzt auch den anderen ergehen«, tröstete er. »Sie sind aufgewühlt, zornig, trotzig, aber auch erschrocken und entsetzt und vielleicht ein wenig traurig. Das ist normal. Ein solches Ereignis wühlt die Menschen, die involviert sind, auf, auch wenn sie mit dem Opfer vielleicht gar nicht viel zu tun hatten oder es nicht leiden konnten.«

Valerie aß auch noch ein paar Löffel Suppe, bevor sie die Teller in den Geschirrspüler räumten und in den zweiten Stock hinuntergingen.

Alle waren schon da. Auch die Kinder. Csilla Varga, die Ungarin, hatte sich mit Timea und Géza neben der Küchentür platziert. Géza, der erst seit einem halben Jahr zur Schule ging, hatte am Morgen geweint, als er erfahren hatte, dass er zu Hause bleiben musste. Er ging leidenschaftlich gern in die Schule und liebte es sogar, Hausaufgaben zu machen. Timea, die Viertklässlerin, war schon etwas abgebrühter. »Reg dich nicht auf«, hatte sie zum kleinen Bruder gesagt, »du gehst dann noch lange genug in die Schule.« Csilla war erst dagegen gewesen, die Kinder an diese Versammlung mitzubringen. »Geh du allein, Lajos«, hatte sie ihren Mann beschworen, »ich bleibe mit den Kindern in der Wohnung. Sie vertragen das nicht, wir müssen sie beschützen.« Aber Lajos hatte seine Frau davon überzeugt, dass die beiden nur noch mehr leiden würden, wenn sie nichts wissen durften. »Dass Frau Ingold tot ist, haben sie mitbekommen«, sagte er. »Wenn wir alle Informationen vor ihnen zurückhalten, werden sie sich etwas zusammenfantasieren, sich ängstigen.« Csilla hatte, nur halb überzeugt, eingewilligt. Nun hatte sie den siebenjährigen Géza auf dem Schoß, Timea eng neben sich. Die Zehnjährige warf scheue Blicke auf die andere Seite des Tisches, wo Rubina saß. Sie bewunderte die Ältere, wäre gern ihre Freundin gewesen. Aber Rubina ließ sich selten dazu herab, mit ihr zu spielen. Meist behandelte sie sie mit freundlicher Herablassung. Sie glaubt, ich sei noch ein kleines Kind, dachte Timea missmutig, aber das ist gar nicht wahr. Ich weiß über vieles Bescheid, viel mehr als Géza. Warum lässt mich Rubina nicht ihre Schminksachen ausprobieren? Ich möchte auch einmal hellblaue Augenlider haben. Und rosa Fingernägel.

Streiff lehnte am Küchenbuffet und ließ seine Augen über die Gesellschaft schweifen. Die alte Frau Meyer saß auf der Stuhlkante. Ihre Augen hatte sie weit aufgerissen, sie starrte Streiff hilfesuchend an. Seraina Loretz stellte ihr eine Tasse Tee hin, für die sie sich mit einem Nicken bedankte. Fridolin Heer und Raffaela Zweifel saßen nebeneinander. Er hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Die junge Frau wirkte nervös, unruhig, während er gelassen, die Beine ausgestreckt, sich im Küchenstuhl fläzte. Fast zu lässig, ging es Streiff durch den Kopf. Janine Bianchera saß neben Csilla Varga. Sie warf Blicke zu ihrer Tochter, die sich demonstrativ auf der anderen Seite des Tisches platziert hatte. Lajos Varga stand hinter seiner Frau. Sie lehnte ihren Kopf an seinen Oberkörper. Die beiden jungen Männer der WG, Luca Oertle und der Deutsche, Carsten Behrend, saßen auf dem Fensterbrett. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. In die Türöffnung hatte Aline Behrend einen alten Sessel geschoben, auf dem sie hockte, die Beine hochgezogen. Die strähnigen Haare fielen ihr ins Gesicht. Patrick Freuler saß neben Ursula Meyer. Er wirkte ruhig, abwartend, trank in kleinen Schlucken Kaffee.

»Sie wissen, was geschehen ist«, begann Streiff. Er führte kurz die Fakten aus, die sich natürlich schon herumgesprochen hatten. Die Leute reagierten unterschiedlich. Raffaela Zweifel vermied seinen Blick, während ihr Freund ihm ins Gesicht sah. Lajos Varga blickte auf seine Familie hinunter und strich seiner Tochter übers Haar. Carsten Behrend wirkte bedrückt, während Luca Oertle ab und zu ein schiefes Grinsen nicht unterdrückte.

»Sie sind auch insofern in einer schwierigen Situation«, fuhr Streiff fort, »als wetterbedingt die Polizei keine Möglichkeit hat, hierher zu kommen.« Janine Bianchera gab einen erschrockenen, Oertle einen spöttischen Laut von sich. »Und das kann noch einige Tage so bleiben«, sagte Streiff ungerührt. »Ein Ende des starken und stetigen Schneefalls ist noch nicht abzusehen. Wir müssen irgendwie mit der Situation klarkommen. Ich möchte Sie bitten, nicht in Panik zu verfallen, sich nicht dagegen aufzulehnen, denn das würde nichts ändern.«

»Wie soll man das aushalten?« Der Schrei kam von Aline, die sich bis dahin regungslos in ihren Sessel gekauert hatte. »Ich will nach Hause! Carsten, hilf mir!«

Der junge Student war sofort bei seiner Schwester. »Beruhig dich, Aline, hier kann dir nichts geschehen. Wir brauchen einfach einige Tage Geduld.«

»Und wenn noch jemand umgebracht wird? Ich könnte umgebracht werden!«

So viel zum Thema »Keine Panik«, dachte Streiff. Aber das war im Grunde genommen normal und zu erwarten gewesen, dass mindestens jemand die Nerven verlor. »Darf ich bei dir schlafen, Carsten?« Jetzt weinte die junge Frau.

»Klar«, murmelte der ältere Bruder, »hör auf, dir Sorgen zu machen, Aline.«

Aber Aline war immer noch in Aufruhr. »Und wer ist es überhaupt gewesen? Niemand kann hineinkommen. Es muss einer von uns gewesen sein.« Sie schluchzte auf.

Es war in der großen Küche ganz still geworden. Jetzt war es ausgesprochen. Einer von uns. Natürlich hatte es diejenige Person ausgesprochen, die am hilflosesten war, die am wenigsten dazu beitragen konnte, die Lage im Griff zu behalten. Valerie starrte Beat an.

Streiff räusperte sich. »Es haben noch keinerlei Ermittlungen stattgefunden«, sagte er. »Wir wissen über den Täter und seine allfälligen Möglichkeiten, ins Haus einzudringen und es wieder zu verlassen, gar nichts. Sie haben insofern recht, als es nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Bewohner des Hauses die Tat verübt hat.«

»Mama, hat ein böser Mann Frau Ingold auf den Kopf gehauen?«, erkundigte sich Géza. Er war groß für sein Alter und trug stolz einen blonden Bürstenschnitt.

»Ich weiß nicht, sei still, mein Kleiner«, murmelte Csilla Varga.

»Braucht sie ein Pflaster, oder muss man nähen?«, fragte der Junge weiter. Nähen, er war ganz stolz, dass er auf die Idee gekommen war. Er hatte im letzten Sommer beim Fussballspielen sein Kinn aufgeschlagen, und der Doktor hatte das nähen müssen.

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Frau Ingold ist gestorben«, erklärte sie leise. »Weißt du, wie Nagymama letztes Jahr.«

»Oh«, Géza war beeindruckt. »Gehen wir sie besuchen?«

»Sei still«, zischte Timea.

Rubina sah mitleidig zu ihnen hinüber. Plötzlich stiegen Tränen in ihr hoch. Papa, dachte sie, Papa. Sie stand auf, drängte sich Richtung Tür, das Schluchzen war schon da, bevor sie ganz weg war. Die Wohnungstür fiel hinter ihr ins Schloss. Janine erhob sich halb, blickte ihrer Tochter unsicher nach, setzte sich wieder.

Streiff beschloss, dass es fürs Erste genügte. Er kündigte an, dass er der Reihe nach mit ihnen allen einzeln reden würde und fragte nach, wie es um die Essensvorräte bestellt war. Außer Patrick Freuler, der sich der Wohngemeinschaft anschließen konnte, und dem Paar Zweifel/Heer, das reihum bei den Vargas, bei Frau Meyer, den Biancheras und Valerie und ihm essen würde, waren alle ausreichend mit Lebensmitteln versorgt.

»Über was wollen Sie denn mit uns reden?«, fragte Ursula Meyer mit kleiner Stimme.

»Darüber, wie gut Sie Frau Ingold gekannt haben, wie Sie sich mit ihr verstanden haben, ob Ihnen gestern Abend irgendetwas aufgefallen ist; ob Sie etwas gehört oder gesehen haben. Solche Dinge.« Streiff zuckte die Schultern. Die Versammlung löste sich auf.

Zurück in der Wohnung, bat Csilla Varga Timea, nicht mit Géza zu streiten. »Schau, er ist klein, er kann es noch nicht richtig begreifen. Aber du bist doch die Große.«

Nun ja, die Große war man auch, wenn es darum ging, der Mama zu helfen und Géza zu klein war dafür. Aber jetzt hörte Timea es gern. »Ihr könntet doch ein »Eile mit Weile« spielen«, schlug die Mutter vor.

»Zu zweit?«, zweifelte Timea.

»Frag doch noch Rubina. Oder Aline, das Mädchen in der WG.«

»Ach, die weint ja bloß.«

»Eben, ihr würde es gut tun, sich ein bisschen abzulenken.«

Timea wiegte skeptisch den Kopf, ging dann aber doch hinaus. Einige Minuten später kam sie zurück, tatsächlich in Begleitung von Rubina und Aline. Rubina tat ein bisschen gönnerhaft. Csilla erriet, dass sie sich schämte, weil sie vorhin die Nerven verloren hatte. Aline jedoch freute sich ein wenig. Sie wirkte jünger als ihre neunzehn Jahre, fast kindlich. Csilla versicherte ihr, wie froh sie sei, dass sie sich mit den Kindern abgab. Alle vier verschwanden im Kinderzimmer, und bald hörte man ein friedliches Gemurmel.

Dann saßen Csilla und Lajos miteinander im Wohnzimmer. Nun, da sich die Frau nicht mehr zusammennehmen musste wegen der Kinder, wirkte ihr Gesicht fahl und in sich zusammengefallen. Auch Lajos sah bedrückt aus.

»Wie wird es herauskommen?«, fragte Csilla verzweifelt. »Wir sind Ausländer, auch wenn wir schon über zehn Jahre hier leben. Wir können die Sprache, wir arbeiten, verdienen unser Geld, wir haben Freunde hier, unsere Kinder sind hier verwurzelt, wir haben die C-Bewilligung, und doch sind wir Ausländer. Man wird uns verdächtigen.«

Lajos hätte seine Frau gern getröstet, ihr Mut zugesprochen. Aber hatte sie nicht recht? Ausländer sein. Das ging, solange das Leben in geordneten Bahnen verlief, solange man nicht auffiel, die Kinder keinen Mist bauten, man nicht arbeitslos wurde. Man vermied es, über Ungarn zu sprechen, über die Jobbik-Partei, über die Armut, über die Bürgerwehren, die durch Roma-Quartiere marschierten. Man redete nur zu Hause, am Familientisch Ungarisch. Schon in der Migros sprachen Csilla und er Deutsch miteinander. Jetzt waren sie in die nächste Nähe eines Mordes geraten. Ja, dachte Lajos mutlos, man wird uns verdächtigen. Wir können nichts dagegen tun. Eine Einbürgerung können wir vergessen.

Die Polizei wird sich bei der Hausverwaltung erkundigen, dachte Csilla, und die wird sagen, dass Frau Ingold sich mehrmals über uns beklagt hat, die Kinder machten zu viel Lärm. Aber es sind doch Kinder, sie spielen halt, ich kann sie doch nicht auf einem Stuhl festbinden. Sie hat auch behauptet, dass ich die Waschküche nicht sauber putze. Aber das stimmt nicht.

Aus dem Kinderzimmer drang Lärm, empörte Rufe von Géza. Csilla eilte hinüber.

»Ich will nicht«, schrie Géza.

»Géza, du hast dreimal die Sechs gewürfelt, das heißt, alle deine Figuren müssen heim und nochmals von vorn beginnen«, erklärte Timea, und dann, mit Ungeduld in der Stimme: »Das weißt du doch. Sonst bist du zu klein zum Mitspielen.« Sie schaute den kleinen Bruder wütend an.

»Kinder, streitet nicht«, bat Csilla, »Géza ist halt noch klein.«

Rubina zuckte spöttisch die Schultern.

Timea beharrte: »Er muss sich an die Spielregeln halten.«

Aline machte einen Vorschlag zur Güte. »Kommt, wir geben ihm einen kleinen Bonus. Er hat zum ersten Mal dreimal die Sechs gewürfelt, das übersehen wir jetzt. Aber beim zweiten Mal gilt dann die Regel, wie bei uns auch.«

»Von mir aus okay«, nickte Rubina.

»Okay«, wiederholte der Kleine besänftigt. »Du bist nett«, sagte er zu Aline, »viel netter als die da«, mit einem Blick auf seine Schwester.

Aline lächelte. »Deine Schwester ist doch ganz prima«, sagte sie.

Csilla war erstaunt. Bisher hatte sie Aline nur gekannt als verhuschtes, scheues Mädchen, das das Treppenhaus hinauf- oder hinuntergeeilt war, kaum gegrüßt hatte. Und vorhin, an der Versammlung, hatte sie völlig verzweifelt und erschöpft gewirkt. Jetzt aber war sie plötzlich ruhig, geduldig, liebevoll. In der steckt wohl mehr, als wir angenommen hatten, dachte sie.

Timea gab nach, und die vier spielten weiter.

Csilla ging zurück zu Lajos. »Meinst du wirklich«, hob sie an, »ich meine, der Polizist hat das doch angetönt, dass jemand von den Hausbewohnern die alte Frau getötet hat?«

»Ich kann es mir nicht anders vorstellen«, gab er zu. »Niemand konnte ins Haus kommen. Die Balkontüren waren sicher alle zu.«

»Aber wer«, flüsterte Csilla, »und warum?«

»Wir sollten uns nicht den Kopf darüber zerbrechen«, wehrte ihr Mann ab, »wir können es nicht wissen, und es ist auch nicht unsere Aufgabe, es herauszufinden.«

»Ich frage mich, ob wir in Gefahr sind«, fuhr Csilla leise fort, »ist da ein Verrückter im Haus, der weitermorden wird? Und wir können nicht weg, wir können die Kinder nicht in Sicherheit bringen.«

»Bestimmt nicht, wir sind zusammen, wir halten die Wohnungstür verschlossen. Und es ist ein Kriminalpolizist im Haus. Der Mörder wird es nicht wagen, noch jemanden umzubringen.«

»Heute Abend essen Frau Zweifel und Herr Heer bei uns. Ich habe kein gutes Gefühl dabei.«

»Unsinn. Die beiden haben offenbar keine Lebensmittelvorräte, weil sie oft auswärts essen, aber sie sind harmlos. Hab keine Angst, ich bin ja auch noch da. Was wirst du kochen, etwas schönes Ungarisches?«

»Besser nicht, lieber etwas ganz Gewöhnliches, also etwas, was die Schweizer kochen. Vielleicht Rösti mit Salat und Käse. Ein Pfund Schinken ist auch noch da.«

Janine Bianchera folgte Seraina Loretz in die Wohnung von Renate Ingold. Sie war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie hatte ein mulmiges Gefühl, nein, eigentlich hatte sie Angst. Sie hatte schon tote Menschen gesehen, ihre Großmutter, einen Onkel, ihre Mutter. Aber sie waren schon zurechtgemacht gewesen, in ein weißes Hemd gekleidet, die Hände auf der Bettdecke zusammengelegt, die Augen geschlossen. Sie hatten friedlich und sehr distanziert ausgesehen. Würdig. Jetzt würde sie sich um eine tote Frau kümmern müssen, die so dalag, wie der Mörder sie hatte liegen lassen, nachdem er ihr ein Messer ins Herz gestochen, es wieder herausgezogen und sich davongemacht hatte. Was würde sie tun müssen? Hatte die alte Frau nach ihrem Tod vielleicht noch ihre Blase oder ihren Darm entleert? Sie schauderte. Die junge Studentin, die voranging, schien keine Probleme damit zu haben. Janine schämte sich, aber sie blieb im Türrahmen zum Schlafzimmer stehen. »Ich«, murmelte sie und brach ab.

»Ja?«, fragte Seraina zurück.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte Janine, »ich bin das nicht gewohnt.«

»Können Sie kein Blut sehen?«, fragte Seraina.

»Nein. Ich habe ja schließlich ein Kind, es ist nur – «

»Der Tod«, sagte Seraina. »Ist es Ihnen unheimlich?«

Janine nickte.

»Sie sagen es mir, wenn es nicht mehr geht. Ich mache es schon. Sie können mir einfach helfen.« Sie ging zum Bett der alten Frau und schlug die Decke zurück. Janine folgte ihr langsam. Da waren auf Brusthöhe Blutflecken auf dem Nachthemd. Und, ja, es stank. Aber das schien Seraina nichts auszumachen. Sie stand neben dem Bett, hatte die Hände zusammengelegt und schaute auf die Frau nieder. Ob sie ein Gebet spricht?, mutmasste Janine. Die junge Frau drückte der alten behutsam die Augen zu.

»Holen Sie mir ein Becken mit heißem Wasser, einen Lappen und ein Handtuch. Und suchen Sie, wo es frische Bettwäsche hat.«

Janine eilte in die Küche. Sie öffnete Schränke und Schubladen, zunehmend verwirrt und hilflos. Erst als sie einen Blick auf den kleinen Küchenbalkon warf, wurde sie fündig. Sie füllte das Plastikbecken mit Wasser, nahm aus einer Schublade einen verwaschenen Frotteelappen und ein Küchentuch und brachte alles ins Schlafzimmer. Die Studentin hatte die Frau bereits ausgezogen. Nackt lag sie da, ein alter Körper, faltige Haut, Fettpolster, schwere Brüste. Hässlich, dachte sie. Alte Frauen sind hässlich. Auch ich werde einmal alt sein, schoss es ihr durch den Kopf. Bin ich es schon? Es hat bereits angefangen. Orangenhaut an den Schenkeln. Einige Kilo zu viel an Hüften und Bauch. Unsinn, dachte sie dann. Darum geht es jetzt nicht. »Ich gehe Bettwäsche suchen«, murmelte sie und verließ das Schlafzimmer. Im Nebenzimmer lehnte sie sich an die Wand und versuchte, tief zu atmen. Seraina rief nach mehr Wasser. Janine reagierte. Sie füllte einen Eimer, der ebenfalls auf dem Balkon stand, brachte ihn Seraina und nahm das Becken, das sie in die Toilette entleerte und frisch füllte. »Gibt es irgendwo Mülltüten?« – »Gleich«, Janine fand eine Rolle, die hinter den Herd geklemmt war. Seraina hatte die tote Frau gewaschen und die schmutzige Bettwäsche abgezogen. Sie wies auf den Schlafzimmerschrank. »Ich brauche ein frisches Nachthemd.« Janine schaute nach und brachte ein hellgelbes langes Hemd, das mit kleinen Blumen bedruckt war. »Oder ist das vielleicht unpassend?«, fragte sie unsicher. »Nein, ist gut so.« Im gleichen Schrank gab es auch Bettwäsche. »Ich helfe Ihnen beim Beziehen«, anerbot sich Janine tapfer. Seraina nickte. Sie rollte den Leichnam zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite, sodass es Janine gelang, das Bettlaken auf die Matratze zu legen. Während sie die Bettdecke bezog, streifte Seraina Renate Ingold das frische Nachthemd über. Sie hatte einen schweren Körper, aber Seraina wusste offensichtlich, wie sie die Frau bewegen musste. Dann stopfte die Studentin die schmutzige Bettwäsche in die Mülltüte. »Die stellen wir ins Bad«, beschloss sie, »das muss alles untersucht werden.« Janine holte eine Plastiktüte für das blutbefleckte Nachthemd und legte sie ebenfalls ins Bad. Seraina vergewisserte sich, dass der Heizkörper auf null gestellt war. Sie schaute die Frau an. Ihr Gesicht war zusammengefallen und bleich, ihre Hände knochig und klein. »Nun können wir nur hoffen, dass sie nicht noch tagelang da liegenbleiben muss«, murmelte sie. Das kann ihr ja jetzt egal sein, dachte Janine Bianchera. Eigentlich wollte sie gar nichts sagen, aber dann entfuhr es ihr doch. »Glauben Sie, sie ist jetzt noch irgendwo, ich meine, die Seele?« Es war ihr peinlich. Aber diese junge Frau strahlte so eine Ruhe und Kompetenz aus, die, wie ihr schien, nicht nur von Hörsälen herrühren konnte. Seraina schaute sie an: »Ich bin katholisch aufgewachsen, und ein bisschen davon ist in mir hängen geblieben. Ja, ich denke, sie ist irgendwo. Auch wenn dieser Ort – falls man es überhaupt Ort nennen kann – vermutlich nicht genauso aussieht, wie sich die christliche Kirche das Paradies vorstellt.« Oder die Hölle, ging es Janine durch den Kopf. Sie wollte von dem heiklen Thema ablenken. »Lernen Sie das an der Universität, die Toten zu waschen und anzukleiden?«- »Ich habe vor Studienbeginn ein halbes Jahr als Schwesternhilfe im Spital Ilanz gearbeitet«, erwiderte Seraina. »Dort haben wir das machen müssen.«

»Und jetzt? Wie geht es weiter?«, fragte Janine unsicher.

Seraina zuckte die Schultern. »Sobald die Straßen wieder befahrbar sind, wird sie abgeholt und in die Rechtsmedizin gebracht werden. Vielleicht finden sich an ihrem Körper oder an der Wäsche irgendwelche Spuren des Täters.«

»Das kann noch tagelang dauern«, fuhr Janine auf, die Radiomeldungen noch im Ohr.

»Deshalb ist die Heizung ausgeschaltet. Und wir werden natürlich die Türe abschließen. Da darf jetzt niemand rein, außer vielleicht Streiff. Aber der kann allein nur Vorarbeit leisten. Heute werden Kriminalfälle nicht mehr von einer Person im Alleingang gelöst.«

»Dann werden wir weiß Gott wie lange im selben Haus mit einer Toten eingesperrt bleiben!« Janine war entsetzt.

»Na und?« Die Medizinstudentin hatte keine Lust, Care Team zu spielen. »Der Tod ist etwas ganz Normales.«

»Aber ein Mord nicht!«

»Nein, ein Mord nicht.«

»Ein Mörder auch nicht! Und dieser Mörder läuft in unserem Haus frei herum.«

»Ja«, sagte Seraina nachdenklich. »Wahrscheinlich. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als durchzuhalten.«

Janine sah sich um. »Sollten nicht Angehörige von Frau Ingold benachrichtigt werden?«

»Falls sie überhaupt welche hat«, meinte Seraina. »Besuch hatte sie jedenfalls nie.«

»Vielleicht gibt es irgendwo ein Adressbuch?« Janine ging ins Wohnzimmer, wo das Telefon auf einem Tischchen stand.

»Nein«, wehrte Seraina ab, »das soll wenn schon Streiff machen. Das geht uns nichts an.«

»Gewaschen und angekleidet haben wir sie ja auch.«

»Ja, das ist, weil ich das Arztähnlichste bin, was es in diesem Haus gibt«, erklärte Seraina etwas ungeduldig. Bei sich dachte sie: Jetzt, wo sie ihre Neugier stillen könnte, ist sie plötzlich ganz tapfer und tatkräftig. Sie mochte Janine Bianchera nicht besonders. Die Frau wirkte immer distanziert, oft etwas missmutig. Manchmal hörte man, wie sie sich mit ihrer Tochter stritt. An ihr war nichts Herzliches, nichts Warmes, fand Seraina. Ab und zu, nicht sehr oft, holte ein Mann sie abends ab oder brachte sie nach Hause. Das waren immer Männer, mit denen Seraina nicht einmal einen Kaffee hätte trinken mögen. Nein, lieber keinen als zum Beispiel jenen fünfzigjährigen Dicken mit dem rötlichen Gesicht und den graublonden Haarsträhnen über der Glatze. Der war Seraina aufgefallen, weil er im Treppenhaus zu laut geredet und gelacht hatte. Zufällig hatte sie spätabends mitbekommen, wie er Janine zurückgebracht hatte. Er hatte mit raufgehen wollen, aber Janine hatte abgewehrt. Er war dann türenknallend wieder im Auto verschwunden und weggefahren und nie mehr aufgetaucht. Lieber keinen als so einen. Seraina war seit einigen Monaten single. Nicht, dass sie einsam war. In der WG fühlte sie sich wohl, sie hatte Freundinnen und Freunde, mit denen sie ausging, an der Uni lernte sie mit Studienkollegen zusammen. Trotzdem hätte sie nichts gegen eine neue Beziehung gehabt. Und es gab ja auch einen Mann, der ihr gefallen hätte. Aber das hatte sie bis jetzt streng für sich behalten. Patrick vom Parterre. Sie hatte ihn von Anfang an sympathisch gefunden, sich ab und zu im Treppenhaus mit ihm unterhalten, und es kam auch vor, dass er abends bei ihnen aß. Er war auch Single, das wusste sie. Schwul war er nicht. Er mochte sie, aber ob sie ihm auch gefiel? Sie war unsicher und hatte bis jetzt keinen Vorstoß gewagt. Seraina war nicht schüchtern, aber ein bisschen vorsichtig und auch nüchtern. An kurzfristigen Affären lag ihr nichts. Sie wusste, was sie wollte. Nach Abschluss der Ausbildung würde sie nach Vals zurückkehren und die Praxis von Doktor Candinas übernehmen. Natürlich wollte sie einen Mann, aber der musste dort hinpassen. Patrick war Architekt, und Architekten brauchte es auch in den Bergen. Aber ob das zu seinen Zukunftsplänen passte? Sie schob die fruchtlosen Gedanken beiseite. Janine stand neben ihr und warf ihr einen unsicheren Blick zu. Plötzlich tat sie Seraina ein wenig leid. Die Frau hatte es nicht einfach. Alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter, Kellnerin in einem Café, wo es wahrscheinlich nicht gerade Trinkgeld regnete. War doch verständlich, dass sie gern einen Mann gehabt hätte. Sie fasste sie leicht am Arm. »Kommen Sie, gehen wir wieder hinauf.« Janine folgte ihr dankbar. Sie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu der jungen Studentin. Fühlte sich ihr auf eine Art überlegen: Was wusste denn diese Zweiundzwanzigjährige schon vom Leben? Auf der anderen Seite beneidete sie sie ein wenig. Die ging an die Uni, würde Ärztin werden, angesehen sein, gut verdienen – während sie, Janine, Kellnerin war und einen guten Teil ihrer Lebensträume schon begraben hatte. Nicht einmal als Mutter war sie erfolgreich. Und die Chance auf ein zweites Kind war in ihrem Alter, mit zweiundvierzig, vorbei. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte Seraina, und Janine war selbst überrascht, dass sie dieser Satz rührte. »Ich bin Janine«, sagte sie, »wir könnten uns doch du sagen.« – »Gern«, Seraina lächelte. »Seraina. Wenn diese Situation etwas Gutes hat, dann wohl das, dass man sich ein bisschen besser kennenlernt.« Janine verschwand in die Wohnung und Seraina stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hoch.

Streiff saß im Wohnzimmer von Ursula Meyer der alten Frau gegenüber. Sie hatte Tee gemacht, den Streiff nicht mochte, aber er nahm höflich ein paar Schlucke. Er hatte das Gespräch langsam angehen lassen, hatte sie gefragt, wie lange sie schon hier wohnte, dreiunddreißig Jahre, wie es ihr gefiel, sie fühlte sich wohl in ihrer Wohnung, wie lange sie verwitwet war, elf Jahre, ob es ihr schwerfiel, allein zu leben, oh nein, gar nicht. Da ist etwas, dachte Streiff, was sie mir nicht sagen will.

»Verstehen Sie sich gut mit den Nachbarn?«, fuhr er fort.

»Frau Gut ist sehr nett«, nickte Frau Meyer, »die Familie Varga ebenfalls, auch wenn sie Ausländer sind, und der junge Herr Freuler hat mir schon zweimal die Einkaufstasche hinaufgetragen.«

»Frau Bianchera?«, fragte Streiff nach.

Winziges Schulterzucken. »Die habe ich nicht oft gesehen. Sie arbeitet ja den ganzen Tag. Ihre Tochter lackiert sich schon die Fingernägel.« Das fand offensichtlich nicht die Billigung der achtundsiebzigjährigen Ursula Meyer.

»Dann das Paar vom zweiten Stock, die sind, glaube ich, nicht verheiratet. Na ja, so ist es halt heutzutage. Es ist ganz normal, dass die jungen Leute zusammenziehen. Ein paar Jahre später trennen sie sich und gehen eigene Wege.«

»Früher war das anders«, merkte Streiff sanft an.

Die alte Frau sah plötzlich traurig aus. »Ja. Man gehörte zusammen. Auch wenn man nicht glücklich war. Glück ist nicht das Wichtigste.«

Streiff fragte sich, ob sie damit sich selbst meinte. Aber seine nächste Frage ging in eine andere Richtung. »Wie verstanden Sie sich mit Renate Ingold?«

Ursula Meyer wurde rot. »Ist das wichtig? Wir hatten keinen Kontakt.«

»Warum denn nicht? Sie lebten doch beide seit vielen Jahren in diesem Haus.«

Die alte Frau rutschte auf ihrem Sessel herum, sie atmete heftig. »Das muss ich nicht sagen, das ist privat.«

»Entschuldigen Sie«, bat Streiff sanft, »wenn ich Sie gekränkt habe. Aber es ist wichtig für mich, möglichst viel zu wissen.«

»Es gibt nichts zu wissen«, sagte Frau Meyer trotzig.

»Hatten Sie einen Grund, ihren Tod zu wünschen?«

Diese Frage ging an die Grenze, das wusste Streiff. Dennoch überraschte und erschreckte ihn ihre Reaktion. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann, bitterlich zu weinen. »Gehen Sie«, rief sie, es war kaum zu verstehen durch ihr Schluchzen hindurch, »gehen Sie.«

Streiff stand auf und ging hinaus, nebenan in Valeries Wohnung. »Geh zu Frau Meyer«, bat er sie, »es geht ihr nicht gut.« Valerie verschwand, ohne zu fragen.

Die Küche war leer. Seraina, Carsten und Luca hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen, Aline war bei den Nachbarn. Seraina saß an ihrem Pult, ein dickes Buch vor sich. Aber statt zu lesen, starrte sie aus dem Fenster ins Schneegestöber. Die Flocken fielen noch immer unablässig, dicht und langsam. Bei ihr zu Hause in Vals gab es auch jeden Winter meterhohen Schnee, aber man war darauf eingerichtet, die wenigen Straßen konnten geräumt werden, das Postauto nach Ilanz fuhr immer. Hier in der Stadt brauchte es gerade mal zwei Tage, um alles zusammenbrechen zu lassen, den Verkehr, die Versorgung mit Gütern, das soziale Leben, einfach alles. Wenn bloß die Heizung nicht versagte und die Stromzufuhr weiterhin funktionierte. Wir würden erfrieren, dachte sie. Man kann nicht eine ganze Stadt evakuieren. Das würde in Vals niemals passieren. Ihre Eltern hatten einen ansehnlichen Holzvorrat in einem ans Haus angebauten Schuppen, und in der Küche stand neben dem Elektroherd noch der alte Holzherd, den man anfeuern konnte. Seraina sah nicht einmal bis zum Nachbarhaus hinüber. In den Schneefall hatte sich nun noch Nebel gesenkt. Wo sind wir überhaupt?, dachte sie. Ist da noch eine Stadt um uns herum? Gibt es nur noch uns, sie zählte, siebzehn Menschen, einer davon tot, und einer ein Mörder? Aber wer, und warum?

Carsten lag auf seinem Bett, in den neuesten Roman von Richard Ford vertieft. Kanada