Waldsterben - Franz Kreuzer - E-Book

Waldsterben E-Book

Franz Kreuzer

4,4

Beschreibung

Der in München erfolgreiche Niederbayer Valentin Steinberg zieht zurück in seine Heimat, um in einer Glasfabrik eine interessante Aufgabe zu übernehmen. Doch der vermeintliche Traumjob ist härter als geahnt und als Steinberg eine Leiche in einem Wolfsgehege entdeckt, entwickelt sich die Rückkehr in den Bayerischen Wald endgültig zum Albtraum. Von Schulfreunden, die heute ein naturnahes Künstlerleben führen, erfährt er, dass der Tote ein bekannter Gegner des Nationalparks war. Weitere Nachforschungen führen ihn zu den geheimnisvollen Schrazelgängen und weit in die Vergangenheit …

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Franz Kreuzer

Waldsterben

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2012

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © time. / photocase.com

Druck: Bercker Graphischer Betrieb GmbH & Co. KG, Kevelaer

Printed in Germany

ISBN

Kapitel 1

Der grelle, blauweiße Strahl der Stirnlampe tanzte im Takt seines Laufs auf dem geschotterten Weg. Links und rechts davon ragten Fichten in die Höhe, die um diese Stunde kaum Dämmerlicht durchließen. Er war froh, diesmal die Lampe mitgenommen zu haben, sonst hätte er den Anstieg in dieser Geschwindigkeit nicht geschafft.

Gezimmert aus mächtigen Douglasienstämmen war der Turm immer wieder schemenhaft zwischen den Bäumen zu erkennen. Nur noch ein paar hundert Meter und dann hätte er sein Ziel erreicht. Er hoffte, das hohe Lauftempo durchzuhalten, allerdings würde ein Sturz viel besser zu diesem Tag passen.

In den letzten Wochen hatte er einiges an Training hinter sich gebracht. Sein Atem ging rhythmisch mit dem Lauf und bei jedem Ausatmen entstand eine kleine weiße Wolke, die sofort zerstob, als er durch sie hindurchlief.

Der hölzerne Turm schälte sich mit jedem Schritt mehr aus der Dunkelheit und hin und wieder wurde sein Sockel bereits von der Stirnlampe kurz angeleuchtet. Manchmal sah er den hohen Metallzaun aufblitzen, der sich unmittelbar hinter dem Turm befand. An seiner drei Meter hohen Krone war er zusätzlich durch einen Elektrozaun verstärkt.

Valentin versuchte, sich auf das letzte Stück zu konzentrieren. Nach jedem dritten Schritt durch die Nase einatmen und dann beim vierten Schritt durch den Mund ausatmen. So hatte er es sich beigebracht. Er zählte in Gedanken mit. Eins, zwei, drei – einatmen – und vier – ausatmen. Möglichst gleichmäßig. Er wusste, dass er den Turm hinauf seinen Rhythmus nicht halten konnte. Dann würde er im Mund den Geschmack von Blut wahrnehmen und seine Oberschenkel würden zu brennen beginnen. Allein Konzentration würde ihn nach oben zum Scheitelpunkt seiner abendlichen Tour bringen.

Die letzten zehn Meter zur Treppe waren übersät von Wurzeln und Steinen und mehr als einmal blieb er daran hängen. Doch er schaffte es jedes Mal, einen Sturz zu vermeiden. Als er die erste Stufe der Treppe erreichte, kam Euphorie in ihm auf und er nahm in vollem Tempo die hölzernen Stufen. Jetzt bloß nicht abrutschen, waren seine Gedanken, immerhin hatte es den ganzen Tag genieselt. Nach den ersten beiden Runden um die Mitte des Turms war seine Energie verbraucht und wie befürchtet, hatte er es nicht geschafft, seinen Atemrhythmus auf die Treppe umzustellen. Nun war es nur noch pure Quälerei.

Als er die 15-Metergrenze erreicht hatte, meinte er, zusammenbrechen zu müssen. Der einzige Grund, es nicht zu tun, bestand darin, dass er an nichts anderes mehr dachte als an sein Ziel – die Plattform an der Spitze. Er hatte das Gefühl, nur noch Blut im Mund zu haben. Es war ekelhaft und gleichzeitig irgendwie überwältigend. Er spürte, dass er lebte. Eine weitere Runde um den Turmmittelpunkt und dann war es vorbei. An der allerletzten Holzstufe wäre er beinahe ausgerutscht, mit einem schnellen Zwischenschritt stellte er sein Gleichgewicht wieder her.

Gebückt und die Hände auf seine Oberschenkel gestützt stand Valentin auf der Plattform. Er atmete tief ein und aus und langsam kam das bewusste Denken in seinen Kopf zurück.

Die Plattform war von einem Zeltdach aus massigen Balken gegen Regen und Schnee geschützt und wurde von einem hölzernen Geländer umschlossen. Es bot sich geradezu für Dehnübungen nach der Anstrengung an. Mit langsamen Schritten ging Valentin zum Geländer und drückte immer noch stark schnaubend einen Fuß in Kniehöhe dagegen. Er beugte sich einige Male nach vorn und wiederholte dies mit dem anderen Bein. Sein Puls und der Atem beruhigten sich zusehends, was ihn mit Stolz erfüllte. Vor einigen Wochen wäre dies nicht so schnell erfolgt.

Er lehnte sich an die Brüstung und blickte in die Tiefe. Eigentlich wurde ihm in solch einer Höhe immer mulmig, doch es war bereits zu dunkel, um Höhenangst in ihm auszulösen. Die kleine Lichtung, die sich an den Turm anschloss, wurde vom Sternenlicht erhellt. Es war freilich immer noch so dunkel, dass Valentin lediglich einige größere Felsbrocken, ein paar zerrupfte Büsche und natürlich die allgegenwärtigen Bäume erkennen konnte.

Seine Stirnlampe schnitt einen scharf begrenzten Strahl in die Finsternis, als er von der Brüstung direkt zum Boden blickte. Ein Augenpaar glitzerte ihn von unten weiß strahlend entgegen. Als er den Kopf zur Seite drehte, erblickte er weitere Augen, die sich ihm zuwandten. Allerdings lenkte das Licht die Aufmerksamkeit der Kreaturen am Fuß des Turms nicht lange ab. Sie konzentrierten sich schnell wieder auf das Geschehen, das unmittelbar neben ihnen stattfand. Das war ihnen wohl wichtiger als das merkwürdige Licht aus dem Himmel. Die Tiere knurrten angriffslustig in Richtung eines besonders starken Artgenossen, welcher mit wilder Gewalt an etwas Großem zerrte. Die anderen standen in einigen Metern Abstand und schauten gierig hinüber, während das erste Tier sie mit aggressiven Lauten am Näherkommen abhielt.

Valentin war froh, dass er sich auf dieser Seite des Zauns befand. Die Wildnis und das Rudel Wölfe auf der anderen Seite war mit Sicherheit etwas, dem niemand gern begegnete. Er schwenkte die Lampe hin und her, um einen besseren Eindruck der gesamten Szene zu bekommen, die er als völlig unwirklich empfand.

Offensichtlich war das Rudel vor Kurzem gefüttert worden, schlussfolgerte Valentin. Es verwunderte ihn, warum man dies erst so spät am Abend tat, da alle Besucher schon weg waren. Die hätten sicherlich Interesse an so einer Vorstellung gehabt. Andererseits war es nicht gerade ein schöner Anblick, wenn sich eine Horde Raubtiere um ein großes Stück Fleisch balgt. Vermutlich konnte man so einen Anblick den Natur liebenden Touristen nicht zumuten.

Ein erneut lautes Knurren und ein darauf folgendes Aufheulen ließen ihn genauer nachsehen. Anscheinend hatte das Alphatier einem zu gierigen anderen Tier eine Abreibung verpasst. Es war hier wie in der Firma: Zuerst kommt der Boss, dann das gemeine Volk. Valentin schmunzelte innerlich und schaute den Chefwolf an.

»Scheiße«, entfuhr es Valentin. Der Wolf hatte mit seinen Reißzähnen den Arm eines Menschen gepackt und zerrte mit aller Gewalt daran.

Valentin versuchte, mit der Lampe die ganze Szene zu beleuchten. Reglos lag da ein menschlicher Körper, die Kleidung von den Wölfen an vielen Stellen zerrissen. Das Gesicht war gottlob dem Boden zugewandt, doch im Umkreis von einigen Metern waren dunkle Stellen zu erkennen. Wahrscheinlich Blut. Valentin starrte hinunter zu dem Toten, der erbarmungslos Stück für Stück aufgefressen wurde.

Valentins Atem ging flach und vor Schreck verharrte er im Augenblick seiner grausamen Entdeckung völlig bewegungslos. Als er sich etwas von dem Schock erholt hatte, versuchte er mit zittrigen Händen, den Schieber am Reißverschluss seiner Gürteltasche zu greifen. Er brauchte einige Versuche, bis er die Lasche zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten und den Beutel öffnen konnte. Er holte sein Handy hervor und hoffte inständig, dass in dieser abgelegenen Gegend eine Netzverbindung vorhanden war. Sonst müsste er den ganzen Weg zurück bis zum geparkten Auto laufen, eventuell bekäme er unterwegs Empfang. Im schlimmsten Falle würde er noch einige Kilometer mit dem Auto fahren müssen, bis eine Verbindung hergestellt wurde.

Auf dem Display wurden Valentin neben dem Antennensymbol zwei Kästchen angezeigt. Er begriff, dass seine Horrorvorstellung nicht eintrat, und tippte die 112 auf der Tastatur. Bisher hatte er diese Nummer nie gewählt und er wünschte sich flehentlich, jemand nehme am anderen Ende der Leitung ab.

»Notrufleitstelle«, meldete sich eine Männerstimme bereits nach einigen Sekunden.

»Ich bin hier in Ludwigsthal auf dem Turm und da ist ein Toter bei den Wölfen in der Umzäunung«, unterbrach Valentin voller Hektik die ruhige Stimme am anderen Ende.

»Jetzt sagen Sie bitte mal Ihren Namen und erzählen mir, was los ist«, erklärte der Mann betont langsam. »Sind Sie verletzt oder sind Sie Augenzeuge?«

»Mir fehlt nichts und ich heiße Steinberg«, beantwortete Valentin ungeduldig die Frage. »Sie müssen schnell jemanden schicken. Da liegt einer im Wolfsgehege und die Viecher fallen über ihn her. Das ist wirklich so – glauben Sie mir.«

»Ich sende sofort Polizei und Rettungswagen zu Ihnen. Dafür brauchen die schon einige Minuten. Das ist ganz schön abgelegen. Sie sind also in Ludwigsthal beim Wolfsgehege?«

»Das sagte ich doch schon«, schnauzte Valentin. »Die Wölfe fressen ihn«, schrie er in sein Telefon.

»Nur die Ruhe. Wenn er tot ist, dann macht es ihm nichts mehr aus.« Die Stimme war bedächtig und Valentin war sich nicht sicher, ob er wirklich völlig ernst genommen wurde. »Ich habe gerade Ihr Telefon kreuzgepeilt und es dauert nicht mehr lange, bis Hilfe da ist.«

»Was soll ich denn jetzt tun? Ich kann doch da nicht bloß zuschauen, ohne etwas zu unternehmen?«

Eine kurze Pause entstand und Valentin wollte gerade wieder sprechen, als die ruhige Altstimme erneut aus dem Telefon klang: »Ich war selbst schon ein paar Mal dort, wo Sie jetzt sind. Gehen Sie doch ganz nahe an den Zaun und schreien laut oder schlagen mit einem Knüppel dagegen. Sie müssen richtigen Lärm veranstalten. Wölfe sind eigentlich ziemlich scheu. Auch die im Gehege. Probieren Sie doch mal, ob Sie sie vertreiben können. Liegt der Tote eigentlich weit weg vom Zaun?«

»Nein, er liegt unmittelbar am Zaun«, entgegnete Valentin und fuhr fort. »Ich bin oben auf dem Turm. Warten Sie, ich gehe nach unten. Bleiben Sie bloß dran.«

Valentin rannte zum Treppenabgang der Plattform und ging mit schnellen Schritten hinunter. In der einen Hand hielt er das Telefon fest umfasst und mit der anderen glitt er am Handlauf entlang. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, dass er die Treppe runterfiel oder ihm das Handy entglitt. Seine Beine zitterten immer noch stark und er achtete trotz der schnellen Schritte sorgfältig auf jede Stufe. Nicht wie sonst, wenn er beim Laufen zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend hinunterjagte.

Nach einigen Runden im Turm war er dem Waldboden bis auf ein paar Meter näher gekommen. Mit Blick zum Zaun fing er an zu brüllen: »Haut ab, ihr Viecher! Weg mit euch!«

Sein Brüllen lenkte zwar die Aufmerksamkeit des Rudels ab, doch nur kurzzeitig. Kaum waren die Rufe verhallt, wandten sich die Tiere wieder dem Alphatier zu, das seine Beute weiterhin mit aggressiven Lauten verteidigte. Es war Valentin klar, dass er mit Schreien wahrscheinlich nichts bewirken würde. An lautes Rufen waren die Tiere vermutlich wegen der Touristen sogar gewöhnt.

Als er das Ende der Treppe erreichte und wieder den verwurzelten Waldboden unter den Füßen hatte, rannte er an den Zaun und brüllte wieder auf die Tiere ein. Er hämmerte mit Händen und Füßen mit aller Gewalt gegen den Metallzaun. Der erzeugte Lärm war ohrenbetäubend und zeigte langsam seine Wirkung. Das Alphamännchen, das vorher nur seine Artgenossen ankeifte, wandte sich plötzlich ihm zu. Es stieß ein Knurren aus. Vermutlich dachte es, dass mit Valentin ein weiterer Konkurrent eingetroffen war, der ihm sein Futter streitig machen wollte.

Valentin drehte sich um und blickte suchend in den Wald. Vielleicht war da irgendwo ein Ast, mit dem er mehr Lärm erzeugen konnte als mit den bloßen Händen. Es lagen zwar einige Holzstöcke herum, aber die meisten waren eher dünn und recht kurz. Also unbrauchbar, um fest gegen den Zaun zu schlagen. Er lief ein paar Meter in den Wald hinein und schnappte sich einen Ast, etwa zwei Daumen dick und einen guten Meter lang. Ideal für den gesuchten Zweck. Mit einigen wenigen Schritten war er wieder am Zaun und diesmal stelle sich der gewünschte Erfolg ein. Er drosch gegen das Metall und schrie so laut er konnte. Das Rudel wich einige Meter zurück und sogar das Alphatier ließ von seiner Beute ab. Starr glotzte es Valentin an, der sich nicht sicher war, ob die Wirkung anhalten würde.

Er brauchte noch etwas anderes. Vielleicht einen langen dünnen Stock, mit dem er durch die Maschen des Zaunes den Wolf erreichen konnte, falls dieser sich dem Toten erneut näherte. Möglich, dass ihm ein paar Schläge auf den Pelz mehr beeindruckten als bloßer Lärm. Er dachte an das Telefon und hielt es an sein Ohr.

»Die lauten Geräusche halten sie ab, ich weiß allerdings nicht, ob dies von Dauer ist. Haben Sie eine bessere Idee?« Er erhielt keine Antwort, hörte überhaupt nichts. Ein rascher Blick auf das Display zeigte ihm warum. Neben dem Antennensymbol war kein einziges Kästchen sichtbar. Verdammt, hier unten hatte er keinen Empfang mehr. Oben auf dem Turm war er über den meisten Baumwipfeln und das genügte für eine stabile Verbindung. Am Boden schwächte das ganze Grünzeug wohl die Funkwellen ab. Er steckte das Telefon in sein Wimmerl zurück. Nun hatte er beide Hände frei.

Was sollte er tun? Wieder rauf auf den Turm und noch mal anrufen? Die Frage war, ob der Mann aus der Ferne eine bessere Idee hatte als er. Er überlegte fieberhaft. Wie konnte er die Wölfe auf Abstand halten. Einen längeren Ast ausprobieren? Aber als er nach hinten in den Wald spähte, konnte er nichts Geeignetes finden.

Eine Idee hatte er noch. Da lagen Steine. Er prügelte wieder an den Zaun und bückte sich schnell nach ihnen. Nachdem er einige in Händen hielt, wandte er sich um und lief auf die Treppe des Turms zu. Er musste an Höhe gewinnen, damit er traf. Einfach die Steine in einem Bogen über den Zaun zu werfen, würde sicherlich zu keinem Erfolg führen. Nach nur einer Runde im Turm befand er sich hoch genug über dem Zaun. Ein guter Werfer war er nie gewesen, aber es war ja keine große Entfernung, die es zu überbrücken galt. Die ersten beiden Steine gingen daneben, der dritte traf das Tier direkt am Körper. Es heulte laut auf und lief einige wenige Schritte zurück, bevor es sich wieder seiner Beute zuwandte. Die nächsten Steine gingen allesamt vorbei, jedoch hatten die Treffer offensichtlich eine abschreckende Wirkung, sodass die Wölfe nunmehr Abstand hielten.

Valentin rannte wieder vom Turm und suchte nach weiteren Steinen. Sie mussten die richtige Größe haben. Zu kleine würden keine Wirkung bei den Wölfen zeigen und die größeren konnte er nicht weit genug werfen. Gehetzt lief er an der Turmbasis hin und her und klaubte jeden Stein auf, der gut in die Hand passte.

Im Licht seiner Stirnlampe blitzte etwas auf und als er genauer hinsah, erkannte er ein arg zertrümmertes Handy. Das war wohl jemandem runtergefallen, aber es eignete sich gut als weiteres Wurfgeschoss. Er stopfte es zu den Steinen in seine Hosentasche. Hauptsache er konnte die Tiere zurücktreiben, bis die Polizei eintraf, dachte er. Dann rannte er wieder die Treppe hinauf und machte sich bereit, die Wölfe wegzudrängen. Doch die hatten inzwischen gelernt, dass jemand aufgetaucht war, der ebenfalls Ansprüche anmeldete. Sie standen abwartend in einiger Entfernung und sahen lauernd zu ihm herauf. Er zerrte die Steine und das kaputte Handy aus seinen Taschen und legte sie nebeneinander griffbereit auf das breite Geländer. Der Nächste, der sich näher herantraute, bekäme etwas auf die Nase, dachte er und blickte angespannt zu den Tieren. Konzentriert bewegte er die Lampe hin und her, sodass er trotz des schlechten Lichts einen Überblick über die ganze Szene hatte. Es reichte, um sicherzustellen, dass die Tiere den Toten in Ruhe ließen.

Kapitel 2

Zwei Monate zuvor.

Es war ein Sonntagnachmittag im September und es herrschte die typische diesige Hochnebellage, die sich im Herbst oft um München einstellte. Valentin fuhr auf der A92 von München in Richtung Deggendorf und war mit sich und der Welt zufrieden. Soeben hatte er die Ausfahrt zum Münchner Flughafen und das Schild, das die Geschwindigkeitsbegrenzung aufhob, hinter sich gelassen. Er beschleunigte auf über 200 und fuhr beinahe entspannt auf der zweispurigen Autobahn in Richtung Osten.

Diese Tageszeit war ideal für die Reise, überlegte er. Der Fernverkehr hatte noch nicht begonnen und die ganzen Sonntagsausflügler waren entweder schon am Ziel oder saßen noch bei Kaffee und Kuchen zu Hause. Das würde er sich merken, da er so in Zukunft eine Menge Zeit sparen konnte.

Er war stolz auf sein neues Auto. Ein schwarzer Geländewagen mit einem Stern auf der Motorhaube und schön breiten Reifen. Perfekt für die Straße, aber im Falle des Falls auch für tief verschneite Fahrbahnen gut geeignet. Er besaß drei echte Differenzialsperren und nicht etwa den elektronischen Ersatz, der nur für Gespräche unter Großstädtern etwas taugte. Seit nunmehr zwei Wochen hatte er den Wagen und bislang hatte er es nicht geschafft, ihn eine längere Strecke zu fahren. Bei der Übergabe empfahl man ihm dringend, es die ersten tausend Kilometer ruhiger angehen zu lassen. Die hatte er zwar noch nicht ganz erreicht, doch er glaubte nicht, dass dies für so ein Fahrzeug ein Problem darstellte.

Die nächsten hundert Kilometer würden bei der Verkehrslage ein Genuss werden und in höchstens einer halben Stunde heruntergefahren sein. Am Kernkraftwerk Ohu vorbei, dann Landshut, von den Einheimischen in Anlehnung an das Nummernschild oft liebevoll in amerikanischer Aussprache L. A. genannt, anschließend Dingolfing mit dem sich schier endlos an der Straße dahinziehenden BMW-Werk. Valentin wusste aus eigener Erfahrung, dass die Strecke München–Dingolfing gerne von Angestellten des weiß-blauen Automobilherstellers für inoffizielle Testfahrten genutzt wurde. Früher war er oftmals bereits aus großer Entfernung mit Lichthupe von der linken Spur verscheucht worden. Beim anschließenden Überholmanöver hatte er stets das Gefühl gehabt, auf der rechten Spur zu stehen und nicht mit 130 Kilometer pro Stunde dahinzufahren. Diesmal konnte er mithalten. Erst bei 250 wurde sein Motor abgeregelt und Valentin erwartete, dass dies auch bei den anderen der Fall sein würde.

Wallersdorf war erreicht, der Ort an dem über viele Jahre die Autobahn in Richtung München zu Ende gewesen war und die zeitaufwendige Tour über die Landstraße begann. Ein Mobilfunksendemast kennzeichnete diesen Punkt, an dessen Bedeutung sich ohnehin nur noch Menschen über einem bestimmten Alter erinnerten. Als Valentin die lang gezogene Linkskurve hinter sich gebracht hatte und sich die Straße einige Kilometer schnurgerade hinzog, konnte er in der Ferne bereits schemenhaft die ersten Hügel des Bayerischen Waldes erkennen. Sie schimmerten bläulich am Horizont und ihn beschlich ein klein wenig das Gefühl von Heimat.

Diese Hügel und bewaldeten Berge waren von Westen her gesehen über eine weite Strecke hinweg die ersten Erhebungen. Die vom Atlantik über Süddeutschland ziehenden Wolken konnten nicht anders, als über sie hinwegzufliegen. Dabei gewannen die Wolken an Höhe und stiegen in die oberen Luftschichten auf. Der niedrige Luftdruck dort oben führte dazu, dass die Feuchtigkeit der Wolken kondensierte und als Regen in Richtung Erde fiel. Valentin wusste den Vortrag seines Physiklehrers aus den Zeiten am Zwiesler Gymnasium beinahe auswendig. Beim Anblick der Berge kamen solche Erinnerungen wieder auf. Er mochte zwar weder den Lehrer noch das Fach, doch diese Darstellung hatte sich bei ihm ins Gehirn gebrannt. Heutzutage würde man vermutlich sagen, im Bayerischen Wald gäbe es ausreichend Niederschläge. Damals war es für ihn und seine Mitschüler nur die wetterkundliche Bestätigung, dass es drei Viertel des Jahres entweder regnete oder schneite. In Zeiten der globalen Erwärmung und den angekündigten großen Dürren könnte dies eine echte Gewinnergegend werden, sinnierte er. Ein weiterer Grund für die Korrektheit seiner Entscheidung.

Die Brücke über die Donau unmittelbar vor Deggendorf war bald erreicht und im anschließenden Tunnel nahm er die erste Abfahrt. Kaum aus dem Tunnel stand er an der großen Kreuzung, die rechts in Richtung Deggendorfer Stadtplatz führte, links auf der Bundesstraße in den Wald und geradeaus zur Ruselbergstrecke. Wie jedes Mal, wenn er hier entlangkam, war die Ampel kurz vorher rot geworden. Er spielte genervt an der Musikanlage herum, um die scheußliche Sonntagnachmittagskonservenmusik loszuwerden, und wählte auf dem MP3-Player die von ihm zusammengestellte Wiedergabeliste ›Skifahrmusik‹ aus. Das könnte jetzt ganz gut passen, dachte er, selbst wenn es noch keinen Schnee hatte.

Die Ampel schaltete auf Grün und er fuhr geradeaus über die Kreuzung. Da maulte das Navi auch schon los und forderte vehement von ihm umzukehren und auf die Bundesstraße zurückzufahren. Ab hier bräuchte er es wirklich nicht mehr, fand Valentin und schaltete es ab. Dann drehte er den Regler der Musikanlage auf, um den Song ›Es lebe der Sport‹ aus zwölf Lautsprechern so richtig auf sich wirken zu lassen.

Seine Vorfreude steigerte sich. In wenigen Kilometern hatte er das Ruselkraftwerk erreicht und von da an ging es knapp 500 Höhenmeter bergan. Hoffentlich hatte er kein Tscheche mit so einer total untermotorisierten Kiste vor sich. Obwohl das ab jetzt kein Problem mehr wäre. Mit dem Drehmoment des V8-Triebwerks müsste er beim Überholen wahrscheinlich nicht mal runterschalten.

Als er den Beginn der Bergstrecke erreicht hatte, war vor ihm wider erwarten kein Fahrzeug auf der Straße und er fuhr, ohne zu schalten, in die Steigung hinein. Nur bei den beiden Kehren auf mittlerer Höhe betätigte er kurz vorher die Schaltung, um besser aus der Kurve herauszubeschleunigen. Valentin genoss es. In der Mitte der langen Gerade reduzierte er das Gas, da ihm bei der Geschwindigkeit ein bisschen mulmig wurde.

Die letzte Herausforderung, bevor er die Kuppe des Passes erreicht hatte, war die Wegmacherkurve. Bereits weit vor der 180-Grad-Kruve, die direkt in der Steigung des Hangs lag, war die Geschwindigkeit auf Tempo 60 reduziert. Euphorisch durch Musik und die bisherige Bergfahrt ging Valentin sie mit weit über 80 an. Er hatte nicht einmal die erste Hälfte der Kehre hinter sich, als ihm schlagartig bewusst wurde, dass seine Geschwindigkeit deutlich zu hoch war.

Sein Geländewagen, der ansonsten wie auf Schienen fuhr, begann mit quietschenden Reifen aus der Spur auszubrechen. Die ganze ausgeklügelte Fahrwerkselektronik war machtlos, als die zwei Tonnen Blech, Holz und Kunststoff in den Zug der Zentrifugalkraft gerieten. Er verlor immer weiter die Spur und rutschte auf die andere Fahrbahnseite. Sein Glück war, dass diese just in dem Augenblick frei war und so konnte er in der breit ausgebauten Kurve bis an den gegenüberliegenden Fahrbahnrand driften.

Als er mit zitternden Armen sein Auto wieder unter Kontrolle gebracht und auf die richtige Seite gelenkt hatte, war es mit seiner Euphorie vorbei. Das flaue Gefühl im Bauch würde ihn noch eine Weile verfolgen und ihm wurde so langsam klar, dass er gerade ziemlich viel Glück gehabt hatte. Er nahm sich fest vor, sich nicht erneut durch eine Hochstimmung in dermaßen riskante Situationen zu bringen. Im Grunde genommen war er kein abergläubischer Mensch, doch in diesem Fall klopfte er dreimal auf das Holzdekor seines Armaturenbretts und wünschte sich ganz fest, dies möge kein böses Omen für die Zukunft sein.

Er durchfuhr die Wolkenschicht, die ihn seit München verfolgte und die Sonne erleuchtete die ersten verfärbten Laubbäume. Vor ihm lag ein strahlend blauer Herbsthimmel, der die Hügel des Waldes sanft ausleuchtete. Noch ein Vorteil dieser Gegend, erkannte er, es gab so gut wie nie Nebel.

Zwiesel lag in einem weiten Talkessel, ringsum eingefasst von bewaldeten Hügeln. Von der Kreisstadt Regen aus dem Fichtenwald kommend fuhr Valentin an einem Haus mit Holzfassade und vielen Solarzellen auf dem Dach vorbei. Der Beschilderung nach gehörte es zum Nationalpark und sollte wohl für die Touristen eine Art erste Anlaufstelle zur Orientierung sein. Er nahm die nächste Abfahrt der Umgehungsstraße und musste grinsen, da diese recht großspurig mit ›Zwiesel Süd‹ ausgeschildert war. Kaum hatte er den Abfahrtskreisel hinter sich gebracht, sah er die ersten hohen Kamine aus Backstein einer der Glasfabriken. Valentin konnte sich gut erinnern, wie früher oft braune Rauchschwaden aus den kirchturmhohen Schornsteinen quollen. Das waren die Tage, als das Glas mit Kohle oder Öl geschmolzen wurde. Diese Zeiten waren allerdings schon lange vorbei und das heute verwendete Erdgas verbrannte ohne sichtbare Abgase.

Als er das Ortsschild passierte, blickte er kurz auf die Uhr und überschlug im Kopf die Fahrzeit. Sie betrug knapp unter eineinhalb Stunden, für diese Strecke eine ausgezeichnete Zeit. Somit könnte er sogar ab und zu unter der Woche heimfahren. Jetzt noch zweimal abbiegen und dann war er beim Hotel Zur alten Mühle. Er würde schnell seine Sachen auf das Zimmer bringen und gleich danach durch den Ort bummeln.

Kapitel 3

Das Hotel machte auf ihn einen recht guten Eindruck. Es besaß ein Hallenbad mit Saunabereich und sogar einen Fitnessraum. Er zweifelte allerdings stark daran, dass er diesen nutzen würde. Das Restaurant wurde wohl auch von den Einheimischen stark frequentiert und war eine richtige niederbayerische Gastwirtschaft. Da wäre er auf jeden Fall unter Leuten. Er hatte schon befürchtet, abends allein in einem kahlen Speisesaal zu sitzen und mikrowellengewärmte Mahlzeiten vorgesetzt zu bekommen.

Valentin schlenderte die dunkle Holztreppe vom ersten Stock, in dem er sein Quartier für die nächste Zeit aufgeschlagen hatte, zur Rezeption hinab. Diese war in einer Ecke des Eingangsbereichs platziert und passte farblich zur Treppe. Lediglich der Bildschirm des Rechners spendete Licht und lies die davor sitzende junge Frau im Dirndl ein bisschen unheimlich erscheinen. Sie sprach ihn jedoch freundlich und mit deutlich niederbayerisch gefärbtem Tonfall an.

»Kann ich Ihnen helfen, Herr Steinberg?«

»Ich glaube nicht. Ich wollte mir heute mal die Stadt anschauen«, antwortete Valentin in reinem Hochdeutsch.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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