Schneller als das Auge - Ray Bradbury - E-Book

Schneller als das Auge E-Book

Ray Bradbury

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Beschreibung

Geheimnisvolle, magische Geschichten aus dem Reich der Einsamkeit und der Angst, der Unschuld und der Leidenschaft, des Hasses und der Sehnsucht, aus praller Mittagshitze und mondfinstrer Nacht. Zuviel oder zuwenig Liebe als Möglichkeit der Selbsterkenntnis, der Selbstkorrektur oder einer paradoxen Form von Glück.

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Seitenzahl: 332

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Ray Bradbury

Schneller als das Auge

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser

Diogenes

{5}Für Donn Albright, meinen Golden Retriever, in Liebe

{11}Schneller als das Auge

Der Mann, der wie mein Zwillingsbruder aussah, begegnete mir bei einer Zaubervorführung.

Meine Frau und ich saßen in einer Samstagabendvorstellung, es war Sommer, warm, das Publikum aufgelöst vor Hitze und Ausgelassenheit. Ringsum sah ich verheiratete und unverheiratete Paare erst entzückt, dann beunruhigt von der komischen Oper ihres Lebens, die auf der Bühne als gigantisches Symbol dargeboten wurde.

Eine Frau wurde in zwei Hälf‌ten zersägt. Wie die Ehemänner im Publikum lächelten!

Eine Frau verschwand aus einem Schrankkoffer. Ein bärtiger Magier weinte verzweifelt um sie. Da tauchte sie oben im zweiten Rang wieder auf, winkte mit weißgepuderter Hand, unendlich schön, unerreichbar, weit weg.

Wie die Ehefrauen ihr Katzengrinsen grinsten!

»Schau sie dir an!«, sagte ich zu meiner Frau.

Eine Frau schwebte mitten in der Luft … eine Göttin, geboren in den Köpfen aller Männer aus deren eigener, wahrer Liebe. Lasst nicht zu, dass ihre zierlichen Füße den Boden berühren! Haltet sie fest auf ihrem unsichtbaren Sockel! Aufgepasst! Gott, ich will nicht wissen, wie das gemacht wird! Ah, seht, wie sie schwebt, und träumt!

Und wer war der Mann, der mit Tellern, Kugeln, Sternen {12}und Fackeln jonglierte, der Reifen um die Ellbogen kreiseln ließ, der auf seiner Nase eine blaue Feder balancierte, und das alles auch noch gleichzeitig? Wer anders, sagte ich mir, als der pendelnde Ehemann, Liebhaber, Arbeiter, der eilige Mittagsgast, der mit Stunden, Benzedrin, Nembutal, Kontoauszügen und Haushaltsgeld jongliert?

Offensichtlich war keiner von uns hierhergekommen, um die Welt draußen zu fliehen, sondern eher, um sie in leichter verdaulichen Formen, heller, reiner, rascher, gefälliger, wieder zugeworfen zu bekommen; ein Schauspiel, ebenso ermutigend wie melancholisch.

Hat nicht jeder schon einmal eine Frau verschwinden sehen?

Dort, auf der schwarzen plüschigen Bühne, verschwanden Frauen, rätselhafte Wesen aus Talk und Rosenblüten. Cremefarbene Alabasterstatuen, Skulpturen aus Sommerlilien und frischem Regen zerrannen zu Träumen, und die Träume wurden zu blinden Spiegeln, noch als der Zauberer gierig nach ihnen griff.

Aus Schrankkoffern und ineinandergeschachtelten Kisten, aus ausgeworfenen Fischernetzen verschwanden die Frauen, zersprangen wie Porzellan, wenn der Zauberkünstler seine Pistole abfeuerte.

Das muss etwas Symbolisches sein, dachte ich. Warum zielen Zauberer mit Pistolen auf entzückende Assistentinnen? Dahinter steckt bestimmt ein geheimer Pakt mit dem männlichen Unbewussten.

»Was?«, fragte meine Frau.

»Eh?«

»Du hast etwas gebrummelt.«

{13}»Entschuldigung.« Ich sah im Programm nach. »Oh! Als Nächstes kommt Miss Quick! Die einzige Taschendiebin der Welt!«

»Das kann nicht sein«, sagte meine Frau ruhig.

Ich schaute sie an, weil ich nicht sicher war, ob sie scherzte. Im Dunkeln schien ihr Mund undeutlich zu lächeln, aber wie sie lächelte, blieb mir verborgen.

Die Kapelle summte wie ein heiterer Bienenschwarm.

Der Vorhang ging auf.

Vor uns – kein lauter Tusch, keine schwungvolle Geste mit dem Umhang, keine Verbeugung, sondern lediglich ein herablassendes Neigen des Kopfes und ein fast unmerkliches Hochziehen der linken Augenbraue – stand Miss Quick.

Ich glaubte, es handle sich um eine Hundenummer, als sie mit den Fingern schnipste.

»Freiwillige. Nur Männer!«

»Setz dich hin.« Meine Frau zerrte an mir.

Ich hatte mich erhoben.

Im Saal wurde es unruhig. Die Männer waren aufgesprungen wie eine Meute lautlos bellender Hunde und stapf‌ten (oder rannten sie?) auf ein Schnipsen von Miss Quicks unmanikürten Fingern nach vorn.

Miss Quick war, daran bestand kein Zweifel, dieselbe Frau, die den ganzen Abend über verschwunden war.

Sparprogramm, dachte ich; alle haben Doppelrollen. Die gefällt mir nicht.

»Was?«, fragte meine Frau.

»Denke ich schon wieder laut?«

Aber wirklich, Miss Quick brachte mich auf die Palme. {14}Sie sah aus, als sei sie in ihre Garderobe gegangen, habe ein zerknittertes Tweedkostüm – eine Nummer zu groß, voller Gras- und Bratenflecken – übergeworfen, danach ihr Haar zerwühlt und ihren Lippenstift verschmiert und sei gerade dabei gewesen, durch den Bühnenausgang hinauszugehen, als ihr jemand zurief: »Dein Auf‌tritt!«

So stand sie nun hier, in ihren zweckmäßigen Schuhen, mit glänzender Nase, ruhelosen Händen, aber unbewegtem Gesicht, und wollte die Sache hinter sich bringen …

Die Füße fest und entschlossen in den Boden gerammt, die Hände tief vergraben in den ausgebeulten Taschen ihres Tweedkostüms, wartete sie mit ausdruckslosem Mund darauf, dass die tumben Freiwilligen auf die Bühne hechelten.

Mit ein paar Klapsen ließ sie die buntgemischte Meute antreten, reihte sie auf in militärischer Formation.

Das Publikum wartete.

»Das wär’s! Die Nummer ist vorbei! Zurück auf Ihre Plätze!«

Schnipp!, machten ihre schmucklosen Finger.

Die Männer waren entgeistert, blickten einander einfältig an und verdrückten sich. Sie ließ sie die halbe Treppe hinunter ins Dunkel stolpern, dann gähnte sie.

»Haben Sie auch nichts vergessen?«

Eifrig drehten sie sich um.

»Hier.«

Mit einem Lächeln, sauer wie der trockenste Wein, kramte sie aus einer ihrer Taschen träge eine Brief‌tasche heraus. Eine weitere holte sie unter ihrem Umhang hervor. Gefolgt von einer dritten, einer vierten, einer fünf‌ten! Insgesamt zehn Brief‌taschen!

{15}Sie hielt sie ihnen hin wie braven Tieren einen Hundekuchen.

Die Männer blinzelten. Nein, das waren nicht ihre Brief‌taschen! Sie hatten nur einen Augenblick lang auf der Bühne gestanden. Sie war nur beim Vorbeigehen in ihre Nähe gekommen. Das Ganze war ein Scherz. Bestimmt bot sie ihnen nagelneue Brief‌taschen an, mit den besten Empfehlungen des Hauses!

Doch jetzt begannen die Männer, sich zu betasten, wie Ritter, die in ihrer alten, eilig zusammengeklopf‌ten Rüstung plötzlich Risse entdeckten. Sie sperrten die Münder auf, und ihre Bewegungen wurden hektischer, sie patschten sich auf die Brusttaschen und gruben in ihren Hosentaschen.

Die ganze Zeit über schenkte Miss Quick ihnen keinerlei Beachtung und sortierte ihre Brief‌taschen wie die Morgenpost.

Genau in diesem Augenblick bemerkte ich den Mann ganz rechts am Ende der Reihe, halb auf der Bühne. Ich hob mein Opernglas. Ich sah durch. Einmal. Zweimal.

»Na, so was«, sagte ich leichthin. »Ich glaube, da steht ein Mann, der mir irgendwie ähnlich sieht.«

»Ach ja?«, sagte meine Frau.

Ich reichte ihr lässig das Glas. »Ganz rechts.«

»Er sieht dir nicht ähnlich«, sagte meine Frau. »Das bist du!«

»Nun ja, fast«, entgegnete ich bescheiden.

Der Bursche sah gut aus. Natürlich war es nicht die feine Art, sich auf diese Weise selbst anzuschauen und zu einem positiven Urteil zu gelangen. Gleichzeitig war mir ziemlich {16}kalt geworden. Ich nahm das Opernglas wieder an mich und nickte fasziniert. »Bürstenschnitt. Hornbrille. Rosiger Teint. Blaue Augen –«

»Dein Zwillingsbruder, absolut!«, rief meine Frau.

Sie hatte recht. Und es war höchst sonderbar, dazusitzen und mir selbst auf der Bühne zuzusehen.

»Nein, nein, nein«, flüsterte ich unaufhörlich.

Doch mein Auge nahm hin, wogegen mein Verstand sich sträubte. Gab es nicht zwei Milliarden Menschen auf dieser Welt? Ja! Alles unterschiedliche Schneeflocken, keine identisch mit der anderen! Doch hier, vor meinen Augen, eine Gefahr für mein Ego und meine Eigenliebe, hier war ein Abguss derselben Urgestalt, der aus derselben Gussform stammte.

Sollte ich meinen Augen trauen, misstrauen, Stolz empfinden oder vor Schreck das Weite suchen? Denn hier wurde ich Augenzeuge der Vergesslichkeit Gottes.

»Ich glaube nicht«, sagte Gott, »dass ich so einen schon einmal erschaffen habe.«

Und ich dachte, verzaubert, erschrocken, entzückt: Gott irrt.

Blitze aus alten Psychologiebüchern leuchteten in meinem Kopf auf.

Vererbung. Umwelt.

»Smith! Jones! Helstrom!«

Auf der Bühne hielt Miss Quick in schneidendem Kommandoton Appell und gab das Diebesgut zurück.

Du borgst dir deinen Körper von all deinen Vorfahren, dachte ich. Vererbung.

Aber ist der Körper nicht zugleich auch Umwelt?

{17}»Winters!«

Die Umwelt, heißt es, umgibt dich. Nun gut, umgibt dich nicht auch der Körper, mit seinen Wasserspeichern, seinem Knochenbau, seiner seelischen Fülle oder Ödnis? Was du siehst, wenn du an spiegelnden Schaufenstern vorübergehst, das Gesicht ein heiterer Schneefall oder ein pockennarbiger Abgrund, die Hände wie Schwäne oder Spatzen, die Füße Ambosse oder Kolibris, der Körper ein schwerfälliger Mehlsack oder ein sommerlicher Farn – malen sich diese nicht, hat man sie einmal gesehen, in den Geist ein, hinterlassen ein Abbild, formen Hirn und Psyche wie Ton? Und ob!

»Bidwell! Rogers!«

Nun denn, eingesperrt in die gleiche Umgebung, den gleichen Körper wie ich, wie erging es dem Fremdling auf der Bühne?

Wie es meine Art ist, wollte ich aufspringen und rufen: »Wie viel Uhr ist es?«

Und wie der Nachtwächter, der spätabends mit meinem Gesicht vorübergeht, mochte er halb trauervoll erwidern: »Hört, ihr Herren, lasst euch sagen, dass die Glock hat neun geschlagen. Verwahrt Feuer und das Licht, dass dadurch kein Schad geschicht …«

Aber war denn ihm kein Schad geschehen?

Frage: Verdeckte die Hornbrille eine Kurzsichtigkeit nicht nur seiner Augen, sondern auch seines Geistes?

Frage: War die leichte Fettleibigkeit, die auf dieses Gerippe draufgepackt war, ein Sinnbild für ein ähnlich dichtes Zellgewebe in seinem Hirn?

Mit einem Wort: Wanderte seine Seele gen Norden, {18}während meine gen Süden wanderte? Umhüllte uns dasselbe Fleisch, doch unsere Gemüter reagierten anders, eines wie Winter, das andere wie Sommer?

»Mein Gott«, sagte ich halblaut. »Stell dir vor, wir wären absolut identisch!«

»Psst!«, sagte eine Frau hinter mir.

Ich schluckte schwer.

Stell dir vor, dachte ich, er ist Kettenraucher, hat einen leichten Schlaf, schlemmt, ist manisch-depressiv, schlagfertig, tiefer/flacher Denker, ein Freund der Fleischeslust …

Niemand mit diesem Körper, diesem Gesicht konnte anders sein. Selbst unsere Namen mussten einander ähneln.

Unsere Namen!

»…l…bl…er…«

Miss Quick hatte seinen ausgesprochen!

Jemand hatte gehustet. Ich hatte ihn nicht verstanden.

Vielleicht würde sie ihn wiederholen. Aber nein, er, mein Zwillingsbruder, bewegte sich nach vorn. Verdammt! Er stolperte! Die Zuschauer lachten.

Rasch stellte ich mein Opernglas scharf.

Mein Zwillingsbruder stand jetzt still, mitten auf der Bühne, seine Brief‌tasche kehrte in seine tastenden Hände zurück.

»Halt dich gerade«, flüsterte ich. »Steh nicht so krumm da.«

»Psst!«, machte meine Frau.

Insgeheim straff‌te ich meine Schultern.

Ich habe nicht gewusst, dass ich so gut aussehe, dachte ich und drückte das Opernglas fest an die Augen. Meine Nasenflügel sind bestimmt nicht so fein geschnitten – {19}wahrhaft aristokratisch. Ist meine Haut so frisch und ansehnlich, mein Kinn so fest?

Ich errötete still.

Wenn deine Frau sagt, das bist du, dann akzeptiere es doch! Aus jeder Pore seines Gesichts leuchtete das Lampenlicht reiner Intelligenz.

»Das Opernglas.« Meine Frau stieß mich an.

Widerstrebend reichte ich es ihr.

Sie richtete das Glas nicht auf den Mann, sondern unverwandt auf Miss Quick, die damit beschäf‌tigt war, zu schmeicheln, zu schäkern und den Männern, die ihr am nächsten standen, die Taschen auszuräumen. Ab und zu brach meine Frau in ein zufrieden glucksendes Gekicher aus.

Miss Quick war in der Tat der Gott Shiva.

Wenn ich zwei Hände sah, dann sah ich neun. Ihre Hände, ein ganzes Vogelhaus, flogen, scharrten, klopf‌ten, schwebten, kosten, kreisten, kitzelten, während Miss Quick ungerührt, mit ausdrucksloser Miene über ihren Opfern schwärmte; sie berührte, ohne zu berühren.

»Was ist in der Tasche hier? Und in dieser? Und hier?«

Sie schüttelte ihre Westen, zupf‌te sie am Revers, klimperte mit ihren Hosen: Geld klingelte. Sie stupste sie mit strafendem Zeigefinger an, und die Registrierkassen klingelten. Mit männlichen, aber zarten Bewegungen knöpf‌te sie ihnen die Mäntel auf, gab ihnen ihre Brief‌taschen zurück und stibitzte sie wieder. Sie warf sie ihnen hin, nahm sie an sich, stahl sie erneut, während sie die Geldscheine herausschälte, um sie hinter dem Rücken der Männer zu zählen, dann schnappte sie, während sie ihre Hände hielt, ihre Armbanduhren.

{20}Jetzt hatte sie einen Arzt in ihrer Falle!

»Haben Sie ein Thermometer?«, fragte sie.

»Ja.« Er suchte. Sein Gesicht war schreckverzerrt. Er suchte noch einmal. Das Publikum gab ihm mit seinem Gejohle ein deutliches Zeichen. Er blickte zu ihr hinüber.

Da stand Miss Quick, im Mund wie eine nicht angezündete Zigarette das Thermometer. Sie nahm es heraus und las ab.

»Hohes Fieber!«, rief sie. »Dreiundvierzig Grad!«

Sie schloss die Augen und wiegte sich gekünstelt in den Hüf‌ten.

Das Publikum brüllte. Und jetzt fiel sie über ihre Opfer her, schikanierte sie, zupf‌te an ihren Hemden, zerzauste ihr Haar, fragte: »Wo ist denn Ihre Krawatte?«

Sie fuhren sich mit den Händen an ihre leeren Kragen.

Da pflückte sie aus dem Nichts ihre Krawatten und warf sie ihnen zu.

Sie war ein Magnet, der Glücksbringer, Heiligenmedaillen, römische Münzen, Theaterkarten, Taschentücher, Krawattennadeln heimlich anzog, während das Publikum tobte und sich vor Lachen darüber krümmte, dass diese Hasenfüße so wehrlos und ohne jeden Stolz dastanden.

Wer seine Gesäßtasche festhielt, dem leerte sie die Weste. Wer seine Weste umklammerte, dem räumte sie die Hose aus. Munter und doch gelangweilt, bestimmt und doch flüchtig, überzeugte sie einen, dass einem nichts abhandengekommen war, bis sie es wenige Augenblicke später mit leichtem Abscheu aus ihrem Tweedkostüm hervorzog.

»Was ist denn das?!« Sie hielt einen Brief in die Höhe. »›Liebe Helen, die Nacht mit dir gestern –‹«

{21}Empörtes Erröten, und das Opfer rauf‌te mit Miss Quick, entriss ihr den Brief und steckte ihn weg. Doch einen Moment später war der Brief schon wieder gestohlen und wurde abermals verlesen: »›Liebe Helen, die Nacht mit dir –‹«

So tobte die Schlacht. Eine Frau. Zehn Männer.

Sie küsste einen, stahl ihm seinen Gürtel.

Stahl einem anderen die Hosenträger.

Die Frauen im Publikum wieherten.

Ihre schockierten Männer lachten mit.

Was für eine herrliche Tyrannin, Miss Quick! Wie sie den lieben, blöde grinsenden, sich irgendwie durchwurschtelnden, zu Buben gewordenen Männern auf den Hintern patschte, sie wie Blechindianer vor dem Zigarrenladen sich um die eigene Achse drehen ließ, sie mit ihrer Brontosaurushüf‌te anstieß, sich an sie lehnte, als wären sie Barbierstangen, und jeden von ihnen süß, niedlich oder goldig nannte.

Dieser Abend ist der reinste Wahnsinn!, dachte ich. Ringsum rangen Ehefrauen nach Atem – übermütig vor Verachtung, hysterisch, weil ihr Hauptzeitvertreib ein derart schäbiges Bild abgab. Ihre Ehemänner saßen wie betäubt da, als sei ein nie erklärter Krieg zu Ende gegangen, sei ausgefochten und verloren worden, bevor sie sich noch regen konnten. Allen Männern in meiner Nähe stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als hätten sie ein Messer an der Kehle, als könnten auf ein Niesen hin im Gang vor uns die Köpfe rollen.

Schnell!, dachte ich. Tu was!

»Du, du auf der Bühne, mein Zwillingsbruder, weiche! Fliehe!«

{22}Doch da näherte sie sich ihm auch schon!

»Bleib standhaft!«, sagte ich zu meinem Zwillingsbruder. »Strategie! Duck dich, winde dich. Zickzack. Guck nicht dahin, wo sie sagt. Guck dahin, wo sie nicht sagt! Mach schon! Jetzt!«

Ob ich es ihm zurief oder mit den Zähnen zu Pulver zermahlte, weiß ich nicht mehr, denn als Miss Quick meinen Zwillingsbruder bei der Hand fasste, erstarrten die Männer alle.

»Vorsicht!«, flüsterte ich. Zu spät. Seine Uhr war weg. Er wusste es nicht. Seine Uhr ist weg!, dachte ich. Er weiß nicht, wie viel Uhr es ist!, dachte ich.

Miss Quick streichelte sein Revers. Geh einen Schritt zurück!, warnte ich mich selbst.

Zu spät. Sein 40-Dollar-Füller war weg. Er wusste es nicht. Sie zwickte ihn in die Nase. Er lächelte. Dummkopf! Dann verschwand seine Brief‌tasche. Nicht deine Nase, du Narr, dein Mantel!

»Gut gepolstert?« Sie kniff in seine Schulter. Er sah auf seinen rechten Arm. Nein!, rief ich tonlos, denn jetzt hatte sie ihm die Briefe aus der linken Manteltasche gezogen. Sie drückte ihm einen roten Kussmund auf die Stirn und zog sich mit allem anderen, das sie ihm geraubt hatte, zurück – Kleingeld, Ausweis, ein Schächtelchen Pralinen, die sie gierig verzehrte. Benutz das bisschen Verstand, das Gott selbst den Pferden gegeben hat!, rief ich im Stillen. Bist du blind? Sieh doch, was sie mit dir anstellt!

Sie wirbelte ihn herum, musterte ihn von oben bis unten, fragte: »Gehört die Ihnen?«, und gab ihm seine Krawatte zurück.

{23}Meine Frau bekam einen Lachanfall. Sie hatte das Opernglas noch immer auf den armen Idioten gerichtet, auf jede Nuance und jede Zuckung, mit der sein Gesicht auf Verlust und Beraubung reagierte. Triumphierend verzog sie den Mund.

Mein Gott!, rief ich in dem Tumult. Komm von der Bühne runter!, brüllte ich innerlich und wünschte, ich hätte es laut brüllen können. Hau ab, solang du noch einen Funken Stolz im Leibe hast!

Im Zuschauerraum war vulkanartiges Gelächter ausgebrochen, hoch, grollend und finster. Die schummrige Grotte schien von einem ungesunden Fieber, einem Leuchten erhellt. Mein Zwillingsbruder wollte der Situation ein Ende machen, wie ein pawlow’scher Hund, zu viele Glöckchen an zu vielen Tagen: keine Belohnung, kein Fressen. In seinen Augen stand eine starre, irre Not.

Lass dich fallen! Stürz dich in den Orchestergraben! Kriech auf allen vieren davon!, dachte ich.

Mit Geigentönen und Walkürentrompeten forderte das Orchester das Schicksal heraus.

Mit einem letzten Handgriff, einem letzten verächtlichen Wiegen ihres Körpers packte Miss Quick das blütenweiße Hemd meines Zwillingsbruders und riss es ihm vom Leib.

Sie schleuderte das Hemd in die Luft. Als es zu Boden segelte, rutschte ihm auch die Hose herunter. Als ihm die – gürtellose – Hose herunterrutschte, platzte das Publikum los. Eine fassungslose Lachsalve stieg auf, prallte an den Dachsparren ab und rollte als Echo über uns hinweg – donnergrollende Ausgelassenheit.

Der Vorhang fiel.

{24}Wir saßen da, verschüttet unter unsichtbaren Trümmern. Blutleer, begraben unter einem Aufruhr nach dem anderen, entwürdigt, obduziert und ohne Lobrede in ein Massengrab geworfen, brauchten wir Männer eine Weile, um zu uns zu kommen, und starrten auf den gefallenen Vorhang, hinter dem sich die Taschendiebin und ihre Opfer verbargen, hinter dem ein Mann hastig seine Hose über seine spillrigen Beine zog.

Ein Beifallssturm – lange Flutwelle an dunklem Gestade. Miss Quick kam nicht nach vorn, um sich zu verbeugen. Das hatte sie nicht nötig. Sie stand hinter dem Vorhang, ohne zu lächeln, ausdruckslos. Ich spürte körperlich, wie sie dastand und teilnahmslos das Dezibel des Beifalls abschätzte, es mit den geeichten Erinnerungen an andere Abende verglich.

Außer mir vor Zorn, sprang ich auf. Schließlich hatte ich selbst auch versagt. Als ich mich hätte ducken sollen, war ich aufgesprungen; als ich mich hätte in Deckung bringen sollen, war ich vorgeprescht. Was für ein Esel!

»Was für eine wunderbare Vorstellung!«, sagte meine Frau, als wir uns durch die hinausströmende Menge drängten.

»Wunderbar?«, rief ich.

»Hat’s dir nicht gefallen?«

»Doch, bis auf die Taschendiebin. Durchsichtige Tricks, übertrieben, ohne Raf‌f‌inesse«, sagte ich und steckte mir eine Zigarette an.

»Sie war genial!«

»Hier lang.« Ich lotste meine Frau zum Bühneneingang.

»Der Mann, der dir so ähnlich sieht«, sagte meine Frau {25}nüchtern, »war natürlich ins Publikum eingeschleust. Die Leute nennen so was Lockvogel, nicht wahr? Von der Theaterdirektion werden sie dafür bezahlt, so zu tun, als wären sie Teil des Publikums.«

»Kein Mann würde für so ein Spektakel Geld nehmen«, entgegnete ich. »Nein, das war einfach irgendein ahnungsloser, unvorsichtiger Trottel.«

»Was wollen wir denn hier hinten?«

Als wir uns blinzelnd umschauten, stellten wir fest, dass wir uns in den Garderoben befanden.

Vielleicht wollte ich auf meinen Zwillingsbruder zugehen und rufen: »Bist du noch ganz gebacken, du Hornochse?! Eine Beleidigung für alle Männer! Du tanzt nach jeder Pfeife, hüpfst herum wie eine Marionette, bloß, weil dir jemand das Kinn krault! Schwachkopf!«

In Wahrheit musste ich natürlich meinen Zwillingsbruder aus nächster Nähe betrachten, dem Verräter gegenübertreten und nachsehen, inwiefern sich sein wahres Fleisch von meinem unterschied. Schließlich hätte ich an seiner Stelle eine bessere Figur abgegeben, oder?

Die Garderoben waren von einzelnen roten Lampen beleuchtet, Lichtflecken und Dunkelheit im Wechsel – dort standen die anderen Zauberer und plauderten. Und genau da war Miss Quick!

Und neben ihr stand lächelnd mein Zwillingsbruder!

»Du warst prima, Charlie«, sagte Miss Quick.

Mein Zwillingsbruder hieß Charlie. Dämlicher Name.

Charlie gab Miss Quick einen Klaps auf die Wange. »Sie waren prima, Madam!«

Mein Gott – also doch! Ein Lockvogel, ein Komplize. {26}Was bekam er dafür? Fünf, zehn Dollar dafür, dass er sich das Hemd vom Leib reißen ließ, seine Hose zusammen mit seinem Stolz fallen ließ? Was für ein Überläufer, was für ein Verräter!

Ich stand da und schaute ihn zornig an.

Er blickte auf.

Vielleicht sah er mich.

Vielleicht drang von meinem Zorn und meinem geballten Schmerz etwas zu ihm durch.

Meinem Blick hielt er nur einen Moment stand. Er sperrte den Mund auf, als habe er soeben einen alten Schulkameraden wiedergesehen. Doch weil mein Name ihm nicht einfiel, konnte er nicht rufen, und der Augenblick verging.

Er nahm meinen Zorn wahr. Sein Gesicht wurde bleich. Sein Lächeln erstarb. Er wandte den Blick schnell ab, sah nicht wieder auf, sondern tat so, als höre er Miss Quick zu, die sich lachend mit den anderen Zauberern unterhielt.

Ich starrte ihn unverwandt an. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Mein Hass schmolz dahin. Meine Wut kühlte ab. Ich sah deutlich sein Profil, sein Kinn, seine Augen, seine Nase, seinen Haaransatz: Ich prägte mir alles ein. Dann hörte ich jemanden sagen: »Das war eine wunderbare Vorstellung!«

Meine Frau trat vor und schüttelte dem diebischen Monster die Hand.

Auf der Straße sagte ich: »Ich bin auch zufrieden.«

»Womit?«, fragte meine Frau.

»Er sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Sein Kinn ist zu spitz. Die Nase kleiner. Die Unterlippe nicht so voll wie {27}meine. Und er hat viel dichtere Augenbrauen. Auf der Bühne, aus der Entfernung, hat’s mich beunruhigt. Aber aus der Nähe, nein, nein. Wir haben uns von seinem Bürstenschnitt und der Hornbrille täuschen lassen. Eine Hornbrille und einen Bürstenschnitt kann jeder haben.«

»Ja«, stimmte meine Frau mir zu, »jeder.«

Als sie in unseren Wagen stieg, konnte ich nicht umhin, ihre schönen langen Beine zu bewundern.

Beim Losfahren glaubte ich, in der vorüberziehenden Menge das vertraute Gesicht zu erkennen. Doch das Gesicht beobachtete mich. Ich war mir nicht sicher. Ähnlichkeiten, so viel wusste ich jetzt, sind etwas Oberflächliches.

Das Gesicht tauchte in der Menge unter.

»Ich werde nie vergessen, wie ihm die Hose runtergerutscht ist«, sagte meine Frau.

Auf dem Heimweg fuhr ich erst sehr schnell, dann ganz langsam.

{28}Sanf‌te Morde

Joshua Enderby wachte mitten in der Nacht auf, weil er fremde Finger an seinem Hals spürte.

Im dichten Dunkel über ihm ahnte er, ohne etwas erkennen zu können, das zarte, skelettartige Gewicht seiner Frau. Sie hockte auf seinem Brustkorb, fummelte und drückte zitternd an seiner Kehle herum.

Er riss die Augen auf, begriff, was sie vorhatte. Es war so grotesk, dass er fast geschrien hätte vor Lachen – seine rachitische, gelbsüchtige fünfundachtzigjährige Frau versuchte, ihn zu erwürgen!

Ihr röchelnder Atem verströmte einen Geruch nach Rum und Magenbitter, während sie dasaß, flügelschlagend wie ein trunkener Nachtfalter, und an ihm zog und zerrte, als sei er ein Spielzeug. Sie seufzte gereizt, ihre knochigen Finger begannen zu schwitzen, und sie keuchte: »Warum willst du nicht, oh, warum willst du nicht endlich?«

Warum will ich nicht was?, fragte er sich ungerührt. Er musste schlucken, die leichte Bewegung seines Adamsapfels lockerte ihren schlaffen Griff. Warum will ich nicht endlich sterben, ist es das?, rief er stumm. Er blieb noch einige Augenblicke liegen und überlegte, ob sie wohl Kraft genug hatte, um ihn kaltzumachen. Sie schaff‌te es nicht.

Sollte er das Licht anknipsen und sie zur Rede stellen? {29}Würde sie nicht wie ein Dummkopf dastehen, wie ein dürres Huhn, im Damensitz auf dem erstaunten Körper ihres verhassten Ehemannes thronend, und der lacht bloß?

Joshua Enderby stöhnte auf und gähnte. »Missy?«

Ihre Hände auf seinem Schlüsselbein erstarrten.

»Würdest du –« Er drehte sich um, wie im Halbschlaf.

»Würdest du … bitte« – er gähnte – »auf deine Seite rüberrutschen? Ja? So ist’s brav.«

Missy verschwand im Dunkeln. Er hörte Eiswürfel klirren. Sie trank noch ein Glas Rum.

 

Am nächsten Tag um die Mittagszeit – sie genossen das schöne Wetter und warteten auf Essensgäste – tauschten der alte Joshua und Missy im Gartenpavillon ihre Gläser. Er reichte ihr den Dubonnet, sie gab ihm Sherry.

Für einen Augenblick trat Schweigen ein. Beide beäugten den Inhalt ihrer Gläser und zögerten, daran zu nippen. Er hielt sein Glas so, dass an seiner gelähmten Hand der große weiße Diamantring funkelte und glitzerte. Sein Leuchten ließ ihn zurückschrecken, und schließlich raff‌te er all sein Phlegma zusammen.

»Missy«, sagte er, »weißt du was, du hast nicht mehr lange zu leben.«

Missy lugte hinter den Osterglocken auf einer Kristallschale hervor, um ihren mumienhaften Mann ins Auge zu fassen. Beide merkten sie, dass die Hand des anderen zitterte. Sie trug ein kobaltblaues Kleid, dazu schwere Klunkern um den Hals, unter jedem Ohr einen kleinen glitzernden Planeten, und hatte sich einen scharlachroten Mund nachgemalt. Die alte Hure Babylon, dachte er trocken.

{30}»Wie sonderbar, mein Lieber, wie äußerst sonderbar«, sagte Missy mit einem höf‌lichen Kratzen in der Stimme. »Wieso, erst gestern Abend –«

»Hast du an mich gedacht?«

»Wir müssen miteinander reden.«

»Ja, das müssen wir.« Er saß zurückgelehnt in seinem Stuhl wie eine Wachsfigur. »Nur keine Eile. Aber falls ich dich kaltmache, oder du mich (wer wen spielt keine Rolle), dann sollten wir einander beschützen, meinst du nicht? Jetzt schau mich nicht so erstaunt an, meine Liebe. Deinen kleinen Galopp auf meinen Rippen gestern Nacht habe ich durchaus mitbekommen, du hast an meiner Speiseröhre herumgefummelt und wolltest meinen Kehlkopf knacken hören oder so was Ähnliches.«

»Oje!« In Missys gepuderte Wangen stieg das Blut. »Warst du die ganze Zeit wach? Das ist mir aber peinlich. Ich glaube, ich muss gleich hoch und mich hinlegen.«

»Blödsinn.« Joshua unterbrach sie. »Wenn ich sterbe, solltest du irgendwo in Deckung sein, damit dir niemand etwas vorwerfen kann. Dasselbe gilt für mich, falls du stirbst. Was haben wir denn von all unseren Mühen, all den Versuchen, den andern … aus dem Weg zu räumen, wenn am Ende doch nur einer von uns am Galgen baumelt oder auf dem elektrischen Stuhl brutzelt?«

»Ziemlich logisch«, pflichtete sie ihm bei.

»Ich schlage sehnsuchtsvolle Notizzettelchen vor, überschwengliche Zärtlichkeitsbekundungen vor Freunden, Geschenke und dergleichen. Ich lasse Rechnungen für Blumen, Diamantarmbänder auf‌laufen. Du kaufst mir edle Lederbrief‌taschen und goldbeschlagene Spazierstöcke.«

{31}»Ich muss schon sagen, manchmal hast du gute Ideen«, räumte sie ein.

»Wenn es so aussieht, als wären wir ein verliebtes altmodisches Ehepaar, wird jeder Verdacht schnell zerstreut.«

»Weißt du, Joshua«, sagte sie müde, »es ist ganz egal, wer von uns beiden zuerst stirbt, nur, ich bin eben schon sehr alt und würde gern einmal in meinem Leben etwas richtig machen. Ich bin immer so eine Dilettantin gewesen. Gemocht habe ich dich nie. Geliebt ja, aber das ist zehn Millionen Jahre her. Ein Freund warst du nie. Wenn wir nicht die Kinder hätten –«

»Solche Begründungen sind doch Quatsch«, sagte er. »Wir sind zwei zänkische alte Esel, die nichts weiter zu tun haben, als den Löffel abzugeben, und einen Riesenzirkus darum machen. Dabei ist das Sterbespielchen viel besser, wenn wir ein paar Regeln festlegen und es ordentlich auf‌führen, ohne dass jemand was bemerkt. Seit wann bist du damit beschäf‌tigt, Mordpläne zu schmieden?«

Sie strahlte. »Weißt du noch letzte Woche, die Oper? Als du am Bordstein ausgerutscht bist? Der Wagen hätte dich beinah umgenietet.«

»Du lieber Himmel.« Er lachte. »Ich dachte, jemand hätte uns beide angerempelt.« Kichernd beugte er sich vor. »Na schön. Letzten Monat, als du im Bad hingefallen bist – da hatte ich die Wanne eingeschmiert!«

Sie schnappte nach Luft und trank geistesabwesend von ihrem Dubonnet, dann erstarrte sie.

Er las ihre Gedanken und blickte auf seinen Sherry.

»Der ist doch nicht etwa vergif‌tet?« Er schnüffelte an seinem Glas.

{32}»Sei nicht albern«, erwiderte sie und tauchte eine zweifelnde Eidechsenzunge in ihren Dubonnet. »Sie würden Rückstände in deinem Magen finden. Aber sieh zu, dass du heute Abend deine Dusche überprüfst. Ich hab die Temperatur hochgedreht, so was kann schon mal einen Anfall auslösen.«

»Hast du nicht!«, höhnte er.

»Ich habe mit dem Gedanken gespielt«, bekannte sie.

Die Klingel an der Haustür ertönte, aber sie klang nicht fröhlich wie sonst, sondern irgendwie nach Begräbnis. Blödsinn!, dachte Joshua. Quatsch!, dachte Missy. Dann hellte sich ihre Miene auf.

»Wir haben unsere Gäste ganz vergessen! Das sind die Gowrys. Er ist ein Langweiler, sei trotzdem nett zu ihm! Und mach dir den Kragen zu!«

»Der sitzt verdammt eng, zu viel Stärke. Wahrscheinlich wieder ein Versuch, mir die Kehle zuzuschnüren.«

»Schade, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Jetzt aber dalli!«

Und Arm in Arm, unter idiotischem Gelächter, stapf‌ten sie los, um die halbvergessenen Gowrys in Empfang zu nehmen.

Cocktails wurden serviert. Die alten Fossilien saßen Seite an Seite, händchenhaltend wie ein Pärchen auf der Schulbank, und lachten mit gespielter Herzlichkeit über Gowrys grässliche Witze. Sie beugten sich vor, um ihm ihr Porzellanlächeln zu zeigen, und sagten laut: »Oh, der war gut!« Einander raunten sie sanft, sotto voce, zu: »Hast du dir schon was Neues ausgedacht?« – »Rasierapparat in der Badewanne?« – »Nicht schlecht, nicht schlecht!«

{33}»Und dann sagt Pat zu Mike –«, rief Mr. Gowry.

Joshua flüsterte Missy aus dem Mundwinkel zu: »Weißt du was, ich hasse dich mit einer maßlosen Inbrunst, die fast schon der ersten Liebe gleichkommt. Von dir hab ich schwere Körperverletzung gelernt. Wie hast du mir das nur beigebracht?«

»Wenn der Lehrer bereit ist, kommt der Schüler ganz von selbst«, flüsterte Missy.

In perlenden, quirlenden Wogen stieg Gelächter auf. Der Raum war fröhlich, lebhaft, heiter. »Da sagt Pat zu Mike: ›Mach’s doch selbst!‹«, dröhnte Gowry.

»Haha!« Sie platzten fast vor Lachen.

»Nun, mein Lieber« – Missy winkte ihrem greisen Ehemann zu –, »jetzt gib du mal einen deiner Witze zum Besten. Oh, aber zuerst, Liebling«, fügte sie gewitzt hinzu, »trabst du in den Keller und holst uns einen Brandy hoch.«

In höf‌lichem Übereifer sprang Gowry auf. »Ich weiß, wo er steht!«

»Nein, Mr. Gowry, bitte tun Sie’s nicht!«

Missy gestikulierte hef‌tig.

Mr. Gowry rannte schon aus dem Zimmer.

»Ojemine!«, rief Missy.

Kurz darauf stieß Gowry im Keller einen lauten Schrei aus, und es folgte ein ungeheurer Krach.

Missy hoppelte hinaus und tauchte wenig später, die Hand an die Kehle gepresst, wieder auf. »Herrje, Betsy!«, jammerte sie. »Kommen Sie schnell. Ich glaube, Mr. Gowry hat sich die Kellertreppe hinuntergestürzt!«

 

{34}Am nächsten Morgen kam Joshua Enderby ins Haus geschlurft und zerrte ein mit grünem Samt bezogenes, anderthalb mal einen Meter großes Brett hinter sich her, auf dem, schön nebeneinander angeordnet, Pistolen festgeklemmt waren.

»Da bin ich wieder!«, rief er.

Missy erschien, einen Rum-Collins in ihrer Klimperarmband-Hand, die andere klopf‌te mit dem Krückstock auf. »Was ist denn das?«, wollte sie wissen.

»Zunächst einmal, wie geht’s dem alten Gowry?«

»Hat sich das Bein gebrochen. Die Stimmbänder wären mir lieber gewesen!«

»Ein Jammer, dass sich die oberste Kellertreppenstufe gelockert hat, was?« Der alte Mann hängte das mit grünem Samt bezogene Brett an die Wand. »Ein Glück, dass Gowry losgestiefelt ist, um den Brandy zu holen, und nicht ich.«

»Ein Jammer.« Seine Frau trank durstig. »Erklär mir, was das soll.«

»Ich sammle antike Pistolen.« Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er auf die Waffen in ihren hübschen Ledernestern.

»Ich verstehe nicht, wieso –«

»Wenn man eine ganze Pistolensammlung reinigen muss – peng!« Er strahlte. »Mann erschießt Ehefrau beim Ölen einer Luntenschlossmuskete. Wusste nicht, dass sie geladen war, sagt Gemahl unter Tränen.«

»Eins zu null für dich«, sagte sie.

Als er eine Stunde später einen Revolver einfettete, hätte er sich fast das Hirn weggepustet.

{35}Seine Frau kam hereingepoltert und erstarrte. »Mist, du lebst noch.«

»Bei Gott, die war geladen!« Mit zitternder Hand hob er die Waffe hoch. »Keine von denen war geladen! Es sei denn –«

»Es sei denn –?«

Er nahm drei weitere Waffen in die Hand. »Alle geladen! Du!«

»Ich«, sagte sie. »Während du zu Mittag gegessen hast. Dann werd ich dir jetzt wohl einen Tee servieren. Kommst du?«

Er starrte das Einschussloch in der Wand an. »Zum Henker mit dem Tee«, sagte er. »Wo ist der Gin?«

 

Jetzt war sie dran, mit einer Einkaufsorgie. »Überall wimmelt es von Ameisen.« Sie lief mit ihrer vollen, klappernden Einkaufstasche durchs Haus und stellte in sämtlichen Zimmern Schälchen mit Ameisenmittel auf, streute Ameisenpulver auf Fensterbänke, in seine Golf‌tasche und über seine Pistolensammlung. Aus anderen Säcken holte sie Ratten- und Mäusegift hervor, Insektenvertilgungsmittel und verteilte alles großzügig unter den Nahrungsmitteln. »Ein schlechter Sommer für Küchenschaben.«

»Ein zweischneidiges Schwert«, bemerkte er, »mit dem wirst du dich am Ende selbst verletzen!«

»Quatsch. Als dürf‌te sich das Opfer aussuchen, auf welche Weise es das Zeitliche segnet.«

»Na gut, aber ohne Gewaltanwendung. Ich möchte, dass der Leichenbeschauer in ein heiter gelassenes Gesicht blickt.«

{36}»Nichts als Eitelkeit. Nach einem gehäuf‌ten Teelöffel Unkrautbekämpfungsmittel in deinem Mitternachtskakao, lieber Josh, wird sich dein Gesicht wie ein Korkenzieher verzerren!«

»Und ich«, schoss er zurück, »weiß ein Rezept, von dem du, bevor du dein Leben aushauchst, tausend Beulen bekommst!«

Sie wurde still. »Aber Josh, ich würde nicht im Traum daran denken, Unkrautbekämpfungsmittel zu verwenden.«

Er verneigte sich. »Ich würde nicht im Traum daran denken, das Tausend-Beulen-Rezept zu verwenden.«

»Abgemacht«, sagte sie.

 

Ihr mörderisches Spiel ging weiter. Er kauf‌te riesige Rattenfallen und versteckte sie in den Hausfluren. »Du läufst barfuß, also kleine Wunden, große Infektionen!«

Sie wiederum pikste überall Nadeln von Schonbezügen in die Sofas. Wo er auch hinfasste, stach er sich blutig. »Autsch! Verdammt!« Er lutschte an seinen Fingern. »Sind das die Blasrohrpfeile der Indios vom Amazonas?«

»Nein. Nur einfache alte, rostige Nadeln, die manchmal Wundstarrkrampf verursachen.«

»Oh«, sagte er.

 

Obwohl er schnell alterte, fuhr Joshua Enderby für sein Leben gern Auto. In Beverly Hills sah man ihn mit einer kläglichen Wildheit auf und ab fahren, der Mund stand ihm offen, und seine Augen blinzelten schwach.

Eines Nachmittags rief er aus Malibu an. »Missy? Mein Gott, um ein Haar wäre ich von einer Klippe ins Wasser {37}gestürzt. Auf einer schnurgeraden Strecke ist auf einmal mein rechtes Vorderrad weggeflogen!«

 

»Ich hatte es für eine Kurve vorgesehen!«

»Tut mir leid.«

»Den Einfall habe ich aus Action News. Man braucht nur die Radbolzen zu lockern und dann: Omelette surprise.«

»Mach dir keine Gedanken um einen unvorsichtigen alten Knacker wie mich«, sagte er. »Was gibt’s bei dir Neues?«

»Auf der Treppe in der Diele ist der Läufer weggerutscht. Das Hausmädchen hat sich auf den Hintern gesetzt.«

»Arme Lila.«

»Ich lasse sie jetzt immer vorausgehen. Sie ist wie ein Wäschesack hinuntergepurzelt. Ein Glück, dass sie so dick ist!«

»Wenn wir nicht achtgeben, bringen wir nicht uns, sondern sie um.«

»Meinst du wirklich? Dabei hab ich Lila so gern.«

»Du solltest sie entlassen, wenigstens für eine Weile. Stell eine neue ein. Wenn die zwischen die Fronten gerät, ist es nicht so schlimm. Ein entsetzlicher Gedanke: Lila von einem Kronleuchter zerschmettert oder –«

»Von einem Kronleuchter!«, kreischte Missy. »Hast du dich etwa an dem Schloss-Fontainebleau-Lüster meiner Großmutter vergriffen? Den rührst du mir ja nicht an!«

»Versprochen«, murmelte er.

»Du liebe Güte! Das herrliche Kristall! Wenn der runterfällt und mich nicht trifft, hüpfe ich auf einem Bein zu dir, um dich zu Tode zu züchtigen, dann erwecke ich dich von den Toten und züchtige dich noch mal!«

Rumms!, machte das Telefon.

 

{38}An dem Abend trat Joshua Enderby kurz vor dem Essen vom Balkon herein. Er hatte draußen geraucht. Er betrachtete den Tisch. »Wo ist dein Erdbeerpfannkuchen?«

»Ich hatte keinen Hunger. Ich hab ihn dem neuen Dienstmädchen gegeben.«

»Dumme Nuss!«

Sie funkelte ihn an. »Sag bloß, du hast den Pfannkuchen vergif‌tet, du alter Hurensohn!«

Aus der Küche kam ein lautes Krachen.

Joshua ging nachsehen und kam zurück. »Jetzt ist sie nicht mehr neu«, sagte er.

 

Sie verstauten das neue Dienstmädchen in einem Schrankkoffer auf dem Dachboden. Niemand rief an, um sich nach ihr zu erkundigen.

»Enttäuschend«, bemerkte Missy am siebten Tag. »Ich hatte fest damit gerechnet, dass ein hochgewachsener unterkühlter Mann mit Notizblock aufkreuzen würde und noch einer mit Kamera und Blitz. Das arme Mädchen war noch einsamer, als wir dachten.«

Im Haus jagte eine wilde Cocktailparty die andere. Es war Missys Idee gewesen. »Damit wir uns in einem Wald von Hindernissen gegenseitig abknallen können: bewegliche Ziele!«

Hinkend kehrte Mr. Gowry in das Haus zurück, in dem er ein paar Wochen zuvor gestürzt war. Seitdem zog er das Bein nach. Er scherzte, lachte und hätte sich mit einer der Duellpistolen beinahe ein Ohr weggeschossen. Alles brüllte vor Lachen, aber die Party ging damit vorzeitig zu Ende. Gowry schwor, nie mehr wiederzukommen.

{39}Dann war da eine Miss Kummer, die eine Nacht bei ihnen schlief und, als sie Joshuas Rasierapparat in die Hand nahm, nur knapp einem tödlichen Stromschlag entging. Als sie aus dem Haus trat, rieb sie sich den rechten Unterarm. Joshua ließ sich sofort den Bart wachsen.

Bald darauf verschwand ein Mr. Schlagel. Ebenso ein Mr. Smith. Die beiden waren zuletzt auf einem Samstagabendempfang im Hause Enderby gesichtet worden.

»Spielt ihr Versteck?«, erkundigten sich Freunde und klopf‌ten Joshua jovial auf den Rücken.

»Wie machst du das bloß? Bringst du die Leute mit Giftpilzen um, die du wie Champignons züchtest?«

»Toller Witz, ja!«, gluckste Joshua. »Nein, nein, ha, keine Giftpilze, der eine hat sich in unserer mannshohen Gefriertruhe einsperren lassen, Eistorte, über Nacht. Der andere ist erst über ein Krockettor gestolpert und dann durch ein Treibhausfenster gefallen.«

»Eistorte, Fenstersturz!«, johlten die Partygäste. »Lieber Joshua, du bist vielleicht ein Witzbold!«

»Ich sage die reine Wahrheit«, wandte Joshua ein.

»Was lässt du dir als Nächstes einfallen?«

»Man fragt sich, was dem alten Schlagel und diesem Gauner Smith nun wirklich zugestoßen ist.«

 

»Was ist Schlagel und Smith nun wirklich zugestoßen?«, erkundigte sich Missy einige Tage später.

»Ich werd’s dir erklären. Die Eistorte war mein Nachtisch. Aber das Krockettor? Nein! Hattest du es da hingestellt in der Hoffnung, dass ich vorbeigehe und durch das Treibhausfenster stürze?«

{40}Missy versteinerte; er hatte einen Nerv getroffen.

»Also, ich glaube, es ist Zeit für eine kleine Unterredung«, schlug er vor. »Sag die Partys ab. Wenn hier noch jemandem was zustößt, dann kommt die Polizei mit Tatütata angefahren.«

»Ja«, stimmte Missy zu. »Anscheinend kommen bei unserer Scheibenschießerei die Kugeln wieder zurück. Und apropos Krockettor: Um Mitternacht gehst du doch immer am Treibhaus spazieren. Warum musste dieser Blödian von Schlagel auch um zwei Uhr morgens da draußen herumstolpern? So ein Hornochse. Liegt er immer noch unter dem Komposthaufen?«

»Solange ich ihn nicht zu unserem eiskalten Du-weißt-schon-wer stecke.«

»Oje. Keine Partys mehr.«

»Nur noch du und ich und – ehem – der Kronleuchter?«

»O nein. Ich habe die Trittleiter versteckt, damit du nicht drankommst!«

»Verdammt!«, sagte Joshua.

 

Am selben Abend vor dem Kamin schenkte er ihnen einige Gläser ihres besten Portweins ein. Als er aus dem Zimmer ging, um einen Anruf entgegenzunehmen, schüttete sie ein weißes Pülverchen – in ihr eigenes Glas.

»Das passt mir gar nicht«, murmelte sie. »Schrecklich unoriginell. Aber dann wird es keine gerichtliche Untersuchung der Todesursache geben. Der hat schon lang vor seinem Ableben tot ausgesehen, werden sie sagen, wenn sie ihm die Augen zudrücken.« Und sie tat noch eine Prise von {41}dem tödlichen Zeug in ihren Portwein. In dem Augenblick kam er herein, setzte sich hin und nahm sein Glas in die Hand. Er beäugte es und fixierte grinsend seine Frau. »O nein, du hast doch nicht etwa –?«

»Was?«, fragte sie in aller Unschuld.

Das Feuer im Kamin prasselte sanft und warm. Die Kaminuhr tickte.

»Hast du was dagegen, wenn wir die Gläser tauschen, meine Liebe?«, sagte er.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich deinen Portwein vergif‌tet habe, während du draußen warst?«

»Platt. Banal. Aber möglich.«

»Meinetwegen, tauschen wir, du alter Pedant.«

Er machte ein erstauntes Gesicht, nahm aber ihr Glas und gab ihr seines.

»Auf dein Unwohl«, sagten beide und lachten. Sie tranken mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen.

Und dann ließen sie sich mit einem Gefühl ungeheurer Genugtuung in ihre Lehnsessel sinken. Der Schein des Kaminfeuers spielte auf ihren gespenstisch bleichen Gesichtern, und der Portwein erwärmte ihre fast spinnenbeindünnen Venen. Joshua streckte die Beine aus und hielt eine Hand übers Feuer. »Ah.« Er seufzte. »Es geht doch nichts über einen guten Portwein.«

Sie lehnte ihren kleinen grauhaarigen Kopf zurück und döste. Dann fuhr sie sich mit der Zunge über ihren klebrig roten Mund und sah ihn mit einem halb verschwörerischen, halb trägen Blick an. »Die arme Lila«, murmelte sie.

»Ja«, murmelte er. »Lila. Die Arme.«

{42}Das Feuer knackte, und schließlich setzte sie hinzu: »Der arme Mr. Schlagel.«

»Ja.« Er döste vor sich hin. »Der arme Schlagel. Vergiss Smith nicht.«

»Und du, alter Mann«, sagte sie endlich schleppend, hinterhältig. »Wie fühlst du dich?«

»Schläfrig.«

»Sehr schläfrig?«

»U-huh.« Er musterte sie mit hellwachem Blick. »Und du, meine Liebe, was ist mit dir?«

»Schläfrig«, sagte sie mit geschlossenen Augen. Dann riss sie sie weit auf. »Wozu die ganze Fragerei?«

»Ja«, sagte er und war auf der Hut. »Wozu eigentlich?«