Schockfrost - Mitra Devi - E-Book

Schockfrost E-Book

Mitra Devi

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  • Herausgeber: Unionsverlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Die alleinerziehende Psychiaterin Sarah Marten hat ihr Leben im Griff. Sie führt eine eigene Praxis und pflegt an den Wochenenden ihre schwerbehinderte Schwester Rebekka. Als sie den Künstler Till kennenlernt, ist Sarahs Glück perfekt. Doch dann stürzt sie die Treppe hinunter. Auf einmal leidet sie unter Sehstörungen und Gedächtnislücken. Spätfolgen der Gehirnerschütterung? Sarahs Exmann, ebenfalls Psychiater, zweifelt an ihren beruflichen Fähigkeiten. Ein schizophrener Patient behauptet, sie befände sich in Lebensgefahr. Und Rebekkas Körper ist von blauen Flecken übersät. Hat Sarah ihre Schwester misshandelt, ohne sich daran zu erinnern? Da entwickelt Till seltsame Krankheitssymptome. Und Sarahs 15-jähriger Sohn verschwindet. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Die beiden Crime-Queens Petra Ivanov und Mitra Devi haben gemeinsam einen Psychothriller geschrieben, der unter die Haut geht: abgründig, rasant und im Grenzbereich zwischen Normalität und Wahnsinn.

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Seitenzahl: 404

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Über dieses Buch

Die alleinerziehende Psychiaterin Sarah Marten hat ihr Leben im Griff. Doch dann stürzt sie die Treppe hinunter, leidet unter Sehstörungen und Gedächtnislücken. Ihr 15-jähriger Sohn verschwindet. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Die Crime-Queens Petra Ivanov und Mitra Devi haben gemeinsam einen Psychothriller geschrieben, der unter die Haut geht.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Mitra Devi (1963-2018) wuchs in Zürich auf, absolvierte die Schule für Kunst und Mediendesign und arbeitete als freie Künstlerin, Filmemacherin und Journalistin. Sie ist Autorin von über einem Dutzend Büchern, darunter der Krimireihe um die Ermittlerin Nora Tabani.

Zur Webseite von Mitra Devi.

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Devi & Ivanov

Schockfrost

Thriller

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

© by Mitra Devi & Petra Ivanov, 2017

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: articoufa (shotshop.com)

Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop

ISBN 978-3-293-30982-1

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 23.09.2022, 01:16h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

SCHOCKFROST

Prolog1 – Sarah Marten eilte durch den strömenden Regen …2 – In der Ecke des Twentyfour stand eine alte …3 – Sarah stand wie angewurzelt in der Tür …4 – Montagmorgen. Bertram Lutz saß nervös auf dem Beifahrersitz …52 Jahre zuvor6 – Sie sind in Gefahr, Doktor Marten.« Georg Schwartz …7 – Endlich war sie weg8 – Sarah atmete langsam aus und baute ihre Rückenspannung …9 – Dave schnellte herum. Ein Typ mit Ziegenbärtchen …10 – Sarah!« Die Stimme klang weit entfernt. »Kannst du …112 Jahre zuvor12 – Guten Morgen, Prinzessin.«13 – Donnerstagmittag. Georg Schwartz tigerte in seiner Wohnung herum …14 – Sarah sprang auf. Bevor sie einen Schritt machen …15 – Dave saß im öffentlichen Lernfoyer der Uni …16 – Bertram Lutz legte den Hörer auf. Er war …17 – Der Duft von Tomatensauce wehte Sarah entgegen …18 – Georg Schwartz hatte den perfekten Platz gefunden …192 Jahre zuvor20 – Unter dem vorwurfsvollen Blick von Doris packte Sarah …21 – Bertram stellte einen Duftstein auf das Fensterbrett im …22 – Die Luft im Patientenzimmer war stickig, sie fühlte …23 – Dave flog hoch hinauf und immer höher …24 – Sarah hörte sich die Nachricht zwei Mal an …252 Jahre zuvor26 – Sarah stellte einen Teller Spaghetti vor Till auf …27 – Daves Bauch schmerzte, als hätte er Scherben verschluckt …282 Jahre zuvor29 – Jedes Mal, wenn Sarah ein Fahrzeug hörte …30 – Der Himmel hing voller Wolken, aber noch regnete …31 – Tötungsversuch32 – Sarah schaute Georg Schwartz nach, der resigniert die …332 Jahre zuvor34 – Dave stand noch immer vor dem Lindengarten und …35 – Sarahs Gedanken drehten sich im Kreis, immer und …362 Jahre zuvor37 – Sarah war, als würde sie in zwei Teile …382 Jahre zuvor39 – Sarah bahnte sich einen Weg durch den Black …40 – Das rote Backsteingebäude war hinter einer Wand aus …Epilog – Mitra Devi & Petra Ivanov

Mehr über dieses Buch

Über Mitra Devi

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich denn Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Prolog

Die Füße baumelten knapp über dem Boden. Abgesplitterte, rote Lackreste auf den Zehennägeln. Waden und Knie nackt. Ein weißes Sommerkleid bedeckte die Oberschenkel der Frau. Ihre Arme hingen schlaff am Körper. Der Strick, der am Dachbalken befestigt und um ihren Hals geschlungen war, hatte ihr die Zunge aus dem Mund gepresst, Schaum klebte ihr auf den Lippen. Sie hatte kein gnädiges Ende durch Genickbruch gefunden. Sie war den Erstickungstod gestorben, qualvoll, einsam. In den aufgerissenen Augen stand ein Ausdruck des Entsetzens, die Erkenntnis, dass ihr Tun unumkehrbar war.

Lisa starrte auf die Leiche. Sie war unfähig, zu begreifen, spürte nur Leere im Kopf. Ein entferntes Rauschen nahm sie wahr, das sich in Wogen näherte. Ein Pulsieren, Pochen, Anschwellen wie von gigantischen Meereswellen. Es kam von überall, verdichtete sich, füllte sie aus, verdrängte alles andere. Ihre Beine knickten ein, sie drohte zu versinken im Boden, der sie nicht mehr trug, der nicht mehr Halt und Sicherheit bot. Sie fühlte, wie ihr Blut träge wurde, keine Kraft mehr hatte, durch ihren Körper zu kreisen. Dann kam das Zittern. Beine, Arme, Kiefer, alles bebte, es drückte ihr den kalten Schweiß aus der Stirn. Schweiß, der nach Tier stank, nach Verderben und Verrotten.

Lisas Mund öffnete sich lautlos. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Schrei. Sie hörte Worte, die keinen Sinn ergaben, Worte, die von einer Fremden ausgestoßen wurden. Sie fühlte nicht die Hände, die sie zurückzogen, weg von der Leiche, weg von dem Grauen.

Ihre Augen waren noch immer auf die Tote gerichtet. Ihr Herzschlag war ein unbarmherziges Trommeln, das sich mit dem Rauschen vermischte. Die Schreie hielten an, wurden lauter, schriller. Jemand schob sie aus dem Zimmer.

Dann endlich verstand Lisa die Worte, die aus ihr geschleudert wurden. Sie hörte sich schluchzen und keuchen, nahm ihre eigene Stimme wahr. Fremd, so fremd. Immer und immer wieder schrie sie: »Meine Schwester hat sich umgebracht! Meine Schwester ist tot! Tot! Tot! Tot!«

1

Sarah Marten eilte durch den strömenden Regen. Der Bus war ihr vor der Nase abgefahren, und sie hatte keine Geduld gehabt, auf den nächsten zu warten. Das war ein Fehler gewesen. Bereits nach einer Minute war sie klatschnass. Sie wich entgegenkommenden Leuten aus, stapfte über das notdürftig geteerte Teilstück einer Baustelle. Eine Windbö hatte ihr den Schirm umgeknickt. Sarah versuchte, ihn im Laufen wieder in die richtige Form zu biegen, doch es war zwecklos. Ein Metallstäbchen brach, der Stoff riss. Verärgert stopfte sie den Knirps in die Manteltasche. Auf den letzten Metern legte sie einen Spurt ein und wurde buchstäblich vom Wind auf den Parkplatz der Autowerkstatt geweht.

Ihr reparierter Nissan stand zwischen einem Geländewagen und einem hohen Zaun. Sarah quetschte sich in den schmalen Spalt und schloss die Fahrertür auf. Als sie einsteigen wollte, verkeilte sich der Griff des Schirms im Maschendraht. Ungeduldig zerrte sie daran. Die Manteltasche riss. Sarah ließ den Schirm im Zaun stecken, zwängte sich auf den Fahrersitz und zog die Tür zu.

In zehn Minuten musste sie im Lindengarten sein. Das Wohnheim lag am anderen Ende der Stadt, niemals würde sie es rechtzeitig schaffen. Dass sie spät dran war, hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Normalerweise empfing sie am Samstagmorgen keine Patienten, doch ihr Exmann hatte so lange gedrängt, bis sie eingewilligt hatte. Seit sechs Jahren waren sie geschieden, und noch immer endeten die meisten Auseinandersetzungen damit, dass Sarah klein beigab. Wie sollte sie ihren Patienten zu Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen verhelfen, wenn sie noch nicht einmal ihre eigenen Muster durchbrechen konnte?

Sie schüttelte die Tropfen aus ihrem Haar und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. Wenn die Wohngruppe schloss, bevor sie im Heim ankam, würde man Rebekka in einer anderen Gruppe unterbringen, das war nicht weiter schlimm. Vermutlich würde man die zusätzlichen Stunden nicht einmal berechnen.

Rebekka hat kein Zeitgefühl, hörte Sarah die Leiterin des Lindengartens sagen. Aber stimmte das wirklich? Dass ihre Schwester nicht verstand, wozu eine Uhr gut war, bedeutete nicht, dass sie die Verspätung nicht bemerkte. Rebekka hatte ein Gespür für Ereignisse, die sich wiederholten. Sarah dachte daran, wie ihre Mutter den Rollstuhl ans Fenster geschoben hatte, wenn sie aus der Schule kam. Schon von Weitem hatte Sarah die gekrümmte Gestalt hinter der Scheibe erkannt. Wenn sie die Stufen zur Haustür hochstieg, veränderte sich Rebekkas Haltung. Ihr Kopf, der immer leicht schräg nach unten hing, hob sich wie eine Blüte, die sich der Sonne entgegenstreckte.

Sarah startete den Motor, fuhr aus dem Parkplatz und reihte sich in die Kolonne auf der Hauptstraße ein. Wo wollten all die Menschen hin? Samstagmorgen, und der Verkehr war fast so dicht wie an einem Arbeitstag.

Im Schritttempo kroch sie Richtung Stadtmitte. Einfamilienhäuser machten Wohnblocks Platz, statt Gärten gab es schmale Rasenstreifen, dann nur noch Asphalt. Sie kam an einem neuen Supermarkt vorbei, im Schaufenster glitzerte bereits Weihnachtsschmuck. Ein Lieferwagen vor ihr setzte den Blinker, um in eine Tiefgarage einzubiegen. Der Nissan zitterte leicht, als spürte er den Drang, dem Vordermann nach rechts zu folgen. Sarah nahm den Fuß vom Gas. Der Wind fegte braune Blätter über die Frontscheibe, einige blieben am Scheibenwischer kleben. Die Straße führte steil den Hang hinab, in der Ferne war die Europabrücke zu erkennen. Der Verkehr war jetzt weniger dicht, Fußgänger gab es kaum. Sarah fuhr auf eine grüne Ampel zu, da wechselte das Licht auf Gelb. Sie trat auf die Bremse.

Erneut zog der Wagen nach rechts, diesmal stärker. Mit beiden Händen umklammerte Sarah das Lenkrad. Eine böse Ahnung beschlich sie. Als sie anfuhr, ließ sie das Fenster herunter. Tatsächlich hörte sie ein Geräusch, das nur von einem kaputten Reifen stammen konnte. Sie bog in die nächste Seitenstraße ein.

Den Nagel entdeckte sie sofort. Einen Moment blieb sie im Regen stehen und starrte auf den silbernen Punkt. Auch das noch. Sie setzte sich in den Wagen und holte ihr Handy hervor, um die Nummer des Lindengartens zu wählen. Das Display blieb schwarz.

Ungläubig starrte Sarah auf das Telefon. Wie war das möglich? Seit jeher bestand ihr Leben aus festen Abläufen, vorgegeben durch Rebekkas Bedürfnisse, später durch jene ihres Sohnes und ihrer Patienten. Jeden Abend schloss sie das Telefon ans Ladegerät an.

Resigniert ließ sie das Gerät in die Tasche zurückfallen und öffnete den Kofferraum. Sie breitete das Werkzeug aus und machte sich im strömenden Regen an die Arbeit. Die Reifen sahen erstaunlich neu aus. Sie hatte sich noch überlegt, sie diesen Winter zu ersetzen, jetzt war sie froh, dass sie sich dagegen entschieden hatte.

Die letzte Mutter klemmte. Sarah stemmte ihr ganzes Gewicht gegen den Schraubenschlüssel, doch es nützte nichts. Sie schlug mit dem Handballen gegen das Werkzeug. Als die Radmutter nachgab, verlor Sarah das Gleichgewicht. Ihre Knie schlugen auf den harten Boden, ihre Schulter prallte gegen die Karosserie. Der Schraubenschlüssel fiel mit einem Scheppern auf den Asphalt.

Sarahs Finger schmerzten vor Kälte. Die Versuchung, in den Wagen zu kriechen und einfach die Augen zu schließen, war groß. Sie riss sich zusammen. Das hatte sie früh gelernt. Ihre Eltern hatten ihre ganze Aufmerksamkeit auf Rebekka gerichtet, für Sarahs vergleichsweise kleinen Probleme war wenig Raum geblieben.

Sie griff nach dem Wagenheber.

Eine halbe Stunde später war das neue Rad montiert, Sarah triefend nass, das Werkzeug verstaut. Mit klammen Händen startete sie den Motor und drehte die Heizung auf. Sie fragte sich, was noch schieflaufen konnte, erreichte den Lindengarten aber ohne weiteren Zwischenfall.

Der Empfang des Wohnheims war am Wochenende nicht besetzt. Sarah eilte am geschlossenen Kabäuschen vorbei, winkte einem Bewohner, der wie immer neben dem Philodendron am Eingang saß. Ihre Sohlen quietschten auf dem grünen Linoleum, von ihrem Mantel tropfte Wasser. Seit neun Jahren ging sie jeden Samstag diesen Weg, kannte das Gebäude so gut wie das Arbeiterhaus, in dem sie aufgewachsen war und nun mit ihrem Sohn lebte.

Wie erwartet war die Wohngruppe in der dritten Etage bereits geschlossen. Trotzdem ging Sarah zu Rebekkas Zimmer. Bevor sie nach ihrer Schwester suchte, wollte sie sich vergewissern, dass alles gepackt war. Letzte Woche hatte die Praktikantin die Katheterbeutel vergessen, einmal sogar das Anticholinergikum, das Rebekka regelmäßig einnahm.

Sarah stieß die Tür auf. Das vertraute Gemisch von Kamillenshampoo, Desinfektionsmittel und Arnika-Massageöl schlug ihr entgegen. Der Geruch hing im verlassenen Zimmer wie ein Geist. Plötzlich hatte sie ein Bild vor Augen, das sie beunruhigte. Sie sah, wie sie den Schrank leer räumte und Kleidungsstücke aussortierte, die Rebekka nie mehr tragen würde. Die Vorstellung, ihre Schwester zu verlieren, war schmerzhaft, starr blickte Sarah auf das Foto, das über dem Bett hing. Zwei Paar grüne Augen, die in die Kamera schauten. Gerade Nasen, geschwungene Augenbrauen, Wangengrübchen. Hier hörte die Ähnlichkeit auf. Während Rebekkas Zopf in der Sonne glänzte wie Flachs, leuchteten Sarahs Locken im Licht orangerot. Rebekkas zierliche Gestalt verschwand fast im Rollstuhl, Sarah hingegen sah mit ihren langen Armen und Beinen aus wie eines der überdimensionierten Strichmännchen, die ihr Sohn als Kind gezeichnet hatte. Im Hintergrund spiegelten sich die Berge auf der Oberfläche eines Sees. Sie war zweiundzwanzig gewesen, als das Foto aufgenommen wurde, Rebekka sechsundzwanzig. Ihre letzten Ferien zu viert. Ein Jahr später starb ihr Vater.

Schon wieder dachte Sarah an den Tod. Sie schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Es ist die ungewohnte Leere, sagte sie sich. Der fehlende Rollstuhl, die Stille, die über der Wohngruppe liegt. Rasch ging sie zum Schrank und öffnete die Tür. Ihr Blick fiel auf eine Sporttasche. Sie kniete sich hin, öffnete den Reißverschluss. Eine Wollmütze, Handschuhe, ein Katheterbeutel, Reservekleider, ein Necessaire. Alles, was Rebekka fürs Wochenende brauchte. Warum stand die Tasche im Schrank? Sie sollte am Rollstuhl hängen.

Sarah verließ das Zimmer und ging nach unten. Als sie die Wohngruppe auf der zweiten Etage erreichte, hörte sie Stimmen. Aus dem Essraum drang das Klappern von Geschirr. Vesna, die schon seit sechzehn Jahren im Lindengarten arbeitete, kam ihr mit einem Servierwagen entgegen.

»Sarah!« Vesna starrte sie an. »Du siehst aus, als wärst du hergeschwommen.«

Unwillkürlich fasste sich Sarah an den Kopf. Die Haarspange, mit der sie ihre Locken zu zähmen versuchte, war weg. Der Regen hatte ihre Frisur in ein Durcheinander verwandelt. Garfield unter Strom, sagte ihr Sohn in solchen Momenten.

»Reifenpanne«, erklärte Sarah.

Vesna schüttelte mitleidig den Kopf. »Und jetzt auch noch etwas vergessen?«

»Vergessen?«, wiederholte Sarah.

»Ich dachte, du wärst noch mal zurückgekehrt. Stimmt etwas nicht?«

Sarah öffnete den Mund, es dauerte aber einen Augenblick, bis die Worte kamen. »Ich bin erst jetzt angekommen. Ist Rebekka nicht bei euch?«

Vesna runzelte die Stirn. »Nein, warum?«

»Oben in der Gruppe 3 ist niemand mehr, ich dachte … bist du sicher?«

»Vielleicht habe ich sie einfach nicht gesehen?«

Sarah hörte die Zweifel in ihrer Stimme. Ihr Mund wurde trocken. War das Bild, das sie gerade noch vor Augen hatte, eine düstere Vorahnung? Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm.

»Komm«, sagte Vesna. »Lass uns nachfragen.«

Sarah folgte ihr in den Essraum, wo zwei Frauen Salatschüsseln auf die Tische stellten und Gläser mit Wasser füllten.

»Ist Rebekka bei uns?«, fragte Vesna die Gruppenleiterin.

Diese warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Nein, wieso?«

Sarah erklärte, dass sie zu spät eingetroffen sei.

»Heike ist vor einer Stunde gegangen«, erklärte die Gruppenleiterin. »Sie hatte heute Morgen in der Gruppe 3 Dienst.«

Heike arbeitete als Springerin in allen vier Wohngruppen. Deswegen kannte sie die Besonderheiten der einzelnen Bewohner weniger gut. Sarah entspannte sich. Bestimmt hatte Heike Rebekka aus Versehen nach oben gebracht.

»Wir schauen in der Gruppe 4 nach«, schlug Vesna vor, die offenbar das Gleiche dachte. »Heute haben wir ziemlich viel zu tun, vielleicht wollte Heike uns entlasten.« Sie übergab den Servierwagen einer Kollegin.

»Schon gut«, sagte Sarah, »das kann ich auch alleine. Rebekka muss oben sein, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Sie wandte sich ab und kehrte in den Flur zurück.

Bunte, von den Bewohnern gemalte Acrylbilder zierten die Wände, da und dort stand ein Wäschebehälter. Sarah stieg wieder die Treppe hoch. Die nasse Hose klebte ihr an den Beinen. Jetzt, wo der Adrenalinschub verebbt war, kam die Müdigkeit. Sie war früh aufgestanden, um einzukaufen, bevor sie den neuen Patienten empfing. Sie wollte das Mittagessen wenigstens teilweise vorbereitet haben, wenn sie mit Rebekka zurückkam. Am Samstagmorgen war die Zeit immer knapp. Das wusste auch Kaspar. Hatte er Sarah deshalb gedrängt, Georg Schwartz dazwischenzuschieben? Sie hatte immer geglaubt, dass Kaspar insgeheim eifersüchtig auf Rebekka war. Sie schüttelte den Kopf. So weit ginge er nicht. Außerdem hatte sie selbst festgestellt, dass sie mit der Sitzung nicht hatte warten können.

Sie erreichte die vierte Etage und betrat den Essraum. Hier musste Rebekka sein. Die Bewohner saßen bereits um den Tisch, es roch nach Bratensauce und Zwiebeln. Sarah blieb in der Tür stehen. Ihr Blick schweifte über die Anwesenden. Jessica, die den Löffel in einen zähen Brei bohrte. Simon, der sie durch dicke Brillengläser anstarrte. Anna-Katherina mit ihrer türkisblauen Halskette. Fabrizio, der schief in seinem Rollstuhl hing und an einem Stück Stoff zupfte. Zwischen ihnen saßen zwei Betreuerinnen.

Jessica. Simon. Anna-Katherina. Fabrizio.

Alle da.

Nur Rebekka fehlte.

2

In der Ecke des Twentyfour stand eine alte Jukebox, aus der Angie von den Rolling Stones schepperte. Irgendetwas stimmte mit dem Musikautomaten nicht, alle paar Sekunden war ein Kratzen zu hören, das Mick Jaggers heisere Stimme mechanisch übertönte. Georg Schwartz setzte sich auf einen der Hocker an den Tresen und lockerte seinen Schal. Er griff nach der Getränkekarte und tat so, als würde er nachschauen, was heute im Angebot war. Doch seine Augen huschten hin und her, suchten verräterische Zeichen.

»Das Übliche?«, fragte die Kellnerin.

Es war Esther, die Spröde. Samstag und Sonntag hatte sie Dienst, unter der Woche übernahm ihre Kollegin, die für Georg immerhin ein Lächeln übrighatte, wenn er Trinkgeld gab. Falls ihr verzogener Mund als Lächeln gedeutet werden konnte. Georg kannte die Menschen. Alle machten sie einem etwas vor. Einige waren besser darin, anderen sah man die Lüge sofort an. Jeder hatte seinen eigenen kleinen Plan, der nur ein Puzzlestück des ganzen Bildes ausmachte. Esther war nicht so harmlos, wie sie tat. Sie versuchte zwar nie, nett zu sein, was er ihr hoch anrechnete. Allerdings war das vielleicht nur eine Masche, damit er keinen Verdacht schöpfte. Zur Sicherheit ging er davon aus, dass alle dazugehörten, dass alle Teil der großen Verschwörung waren, schließlich ging es um nichts Geringeres als um seine Vernichtung.

Esther hakte nach, ungeduldig, ihre Lippen dünn und grau. »Wie immer?«

Georg nickte.

Ein Gast mit einer Aktenmappe betrat kurz nach Georg die Bar und setzte sich in die Nische neben dem Eingang. Georg erkannte ihn. Er zuckte kurz zusammen, ließ sich aber sonst nichts anmerken.

Das Lokal stank nach billigem Reinigungsmittel und Nikotin. Die Wände waren nach dem Rauchverbot nie frisch gestrichen worden, die Farbe, die in den Siebzigern als poppig-modern galt und wohl einmal orange gewesen war, hatte inzwischen einen Stich ins Kompostbraune.

Esther verzog sich und machte sich im trüben Licht hinter der Bar zu schaffen, dann kam sie mit Georgs Gin Tonic zurück. Ohne Gurke, Eis oder anderen Schnickschnack, das hatte er ihr von Anfang an gesagt. Ihr war es recht.

Georg trank. Natürlich vertrug sich Alkohol nicht mit seinen Medikamenten. Die er sowieso nicht mehr in der verordneten Dosierung nahm. Doch wenn er es nicht übertrieb, mischte sich der Gin mit den Tabletten in seinem Blut, was zu einem Zustand von Hyperwachsamkeit führte. Er sah dann die Verbindungen noch klarer, erkannte auf Anhieb, wer involviert war, welches die Drahtzieher und welches die Helfershelfer waren.

Esther gehörte zur untersten Kaste. Sie war nicht in den Gesamtplan eingeweiht, war nur eine der Arbeiterameisen. Aber auch sie konnte gefährlich werden. Und wenn er es sich recht überlegte, war ihre Harmlosigkeit vielleicht auch nur Tarnung. Schon einmal war er zu unvorsichtig gewesen, hatte jemandem vertraut, und das hatte dem Drachen, der in ihm lebte, nicht gefallen. Er war hervorgeschnellt, hatte seinen fauligen Atem ausgestoßen, seine spitzen Zähne in den Hals seines Opfers gebohrt. Was Georg direkt in den Schlund der geschlossenen Psycho-Abteilung katapultiert hatte. Dort war er auf engstem Raum mit echt kranken Typen zusammengepfercht gewesen. Darum hieß es ununterbrochen: Augen offen halten. Ohren gespitzt. Alle Sinne geschärft.

Er trank einen weiteren Schluck. Um diese vormittägliche Zeit saßen neben ihm und dem Mann mit der Aktenmappe nur noch zwei ältere Männer im hinteren Teil der Bar und starrten in ihre Biergläser. Ein kleiner Brillenträger mit schütterem Haar und ein massiger Kahlkopf. Wahrscheinlich zweitunterste Kaste. Im Allgemeinen inaktiv, bei Bedarf jedoch im Handumdrehen zu willigen Vollstreckern umzuformen.

Dreißig Minuten hatte sich die Psychiaterin für Georg genommen, mehr hatte sie ihm auf die Schnelle nicht anbieten können. Nachdem er ein paar Sätze gestammelt hatte, hatte sie ihm die Notstelle für psychische Krisen empfohlen, wo er sich ohne Anmeldung Hilfe holen könne. Sie hatte ihn mit Interesse angeschaut. Mit Besorgnis. Auch eine Warmherzigkeit hatte er gespürt, die nicht professionell eingeübt, sondern echt zu sein schien. Aber wer wusste das schon? Ihr rotes Haar glühte wie Elektrodrähte.

Georg wollte nicht ins Krisenzentrum. Doktor Marten hatte in ihrer Agenda geblättert und einen freien Termin am Dienstagnachmittag gefunden.

»In drei Tagen«, murmelte er.

»Dann habe ich Zeit für Sie«, hatte sie gesagt. »Eine ganze Stunde. Aber wenn es Ihnen zu schlecht geht, nehmen Sie bitte am Wochenende die Notstelle in Anspruch. Die Leute dort sind ausgebildet für Fälle wie Ihren.«

Er war ein Fall. Das aus dem Mund von Doktor Marten zu hören, enttäuschte ihn. Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich werde durchhalten.«

Und hier saß er nun. Im Twentyfour, das Kratzen der Jukebox in den Ohren, den zweiten Gin vor sich. Das war eigentlich zu viel, das wusste er.

Er schaute unauffällig zu den beiden Biertrinkern hinüber, schnappte einen halben Satz auf, der ihm verdächtig vorkam, der Rest wurde jedoch von Mick Jagger übertönt. Esther hatte die Musik wohl extra laut eingestellt, damit Georg die Gespräche der anderen nicht mitkriegte.

Die Wirkung des Alkohols in seinem Kopf war etwas zu stark. Die gesteigerte Aufmerksamkeit hatte sich in etwas Unkontrollierbares verwandelt, und das war nicht gut. Kontrolle war wichtig. Sie war alles, was er hatte.

Plötzlich hörte er es.

Mick Jagger sang Let me whisper in your ear.

Georg horchte auf das Flüstern.

Und verstand.

Die beiden Männer stießen mit ihren Humpen an. Georg schoss wie ein Pfeil von seinem Barhocker hoch, preschte auf die zwei Kerle zu, riss den Glatzköpfigen am Ärmel und schrie: »Ihr schafft es nicht, mich fertigzumachen!«

Der Kahlkopf entzog sich und sagte mit schwerer Zunge: »Lass mich in Frieden, du Freak.«

Sein schmächtiger Kumpel grinste. »Immer die gleiche Leier. Gestern hast du was von Geheimkomplott geschwafelt und heute – «

»Ich durchschaue euch!« Georgs Kinn zitterte. »Ich weiß, was euer Lachen bedeutet. Es ist nur der Anfang. Dann kommen Spott und Häme, dann Gewalt und Vernichtung. Aber nicht mit mir! Diesmal nicht!«

Der Kahlkopf prustete ihm Bier ins Gesicht. »Weißt du, was das Lachen bedeutet?« Er schaute Beifall heischend zu seinem Trinkkumpan hinüber. »Es bedeutet, hau ab, du Spinner! Sonst kannst du dir deine Einge…« Er schlug sich mit der Faust auf die Brust und drückte einen Rülpser hervor, »deine Eingeweide in Einzelteilen zusammensuchen.«

Esther keifte hinter der Bar hervor: »Benehmt euch, Jungs, was sollen denn die anderen Leute denken!«, obwohl kaum Gäste in diesem Pissloch waren.

Georg spürte, wie sich der Drache in ihm aufrichtete. Wie er kräftig wurde, gegen das Zwerchfell drückte, herausgelassen werden wollte. Georg stöhnte, hielt seinen schmerzenden Bauch. Dem Kahlkopf verging das Lachen, er riss die Augen auf, der Schmächtige feixte süffisant: »Was ist los? Machst du dir in die Hosen, oder was?«

In diesem Moment hatte Georg einen Filmriss. Einmal mehr. Wenige Sekunden nur, doch irgendetwas war danach anders. Der Drache hatte ganze Arbeit geleistet. Esther kam angerannt, fuhr ihn an, ob er noch bei Sinnen sei, bugsierte ihn aus der Bar, und Georg warf einen letzten Blick auf die beiden Säufer, die fluchend am Boden lagen. Einer blutete an der Stirn.

Es war wieder passiert.

Aber sie hatten ihn nicht gekriegt, das war die Hauptsache.

Als er um die Ecke wankte, goss es noch immer wie aus Kübeln. Er schaute zurück und sah durch die beschlagene Scheibe der Bar, wie der Mann mit der Aktenmappe einen Geldschein auf den Tisch legte und aufstand.

Keine Frage, der gehörte auch dazu. Sein ehemaliger Psychodoktor. Kaspar Eckert. Georg stapfte durch den Regen, wusste einen Moment lang nicht mehr, wo er wohnte, drehte sich abrupt um und ging in die andere Richtung.

Eckert war verschwunden.

Ein Auto quietschte an Georg vorbei, er geriet auf der glitschigen Straße ins Straucheln und wäre um ein Haar vom Kotflügel gestreift worden. Der Fahrer zeigte ihm den Vogel und verschwand in der Regenwand. Georg reagierte nicht.

Er ging im strömenden Regen weiter, spürte die Tropfen, die ihm übers Gesicht liefen. Noch immer hatte er Mick Jaggers Stimme im Ohr. Let me whisper in your ear.

Georg hatte es gehört. Und endlich hatte er die Botschaft richtig verstanden. Save Sarah, hatte Jagger geflüstert. She’s in danger.

Georg wusste, was er zu tun hatte. Es ging nicht darum, dass er Sarah Marten, diese Psychiaterin, aufsuchte, weil er es nötig hatte. Nein, sie war diejenige, die Hilfe brauchte. Er war sich ganz sicher. Vielleicht war sie die einzige Verbündete auf dieser Welt. Sie mussten zusammenhalten. Er würde sie retten. Ob sie wollte oder nicht.

3

Sarah stand wie angewurzelt in der Tür, unfähig, weiterzugehen. Der Geruch gebratener Zwiebeln verursachte ihr Übelkeit. Sie starrte in den Essraum, auf die Bewohner am Tisch. Jessicas Löffel fiel zu Boden. Das Scheppern erlöste Sarah aus ihrer Starre.

»Ich suche Rebekka«, sagte sie.

Wieder spielte sich die gleiche Szene ab. Erstaunte Gesichter, Kopfschütteln. Sarah griff sich an die Stirn. Wie konnte eine schwerbehinderte Frau einfach verschwinden? Hatte Kaspar Rebekka abgeholt? Aber warum hätte er das tun sollen? Als Sarah nach dem Tod ihrer Mutter beschlossen hatte, ihre Schwester übers Wochenende regelmäßig zu sich zu nehmen, hatte er sich dagegen gewehrt. Schlimmer noch, er warf ihr vor, die Familie damit zu zerstören. Dass Rebekka auch zur Familie gehörte, wollte er nicht wahrhaben.

David? Dave, korrigierte sie sich, ihr Sohn wollte jetzt Dave genannt werden. Er hatte noch geschlafen, als sie das Haus verließ. Außerdem war er erst fünfzehn, er besaß keinen Führerschein. Hätte er Rebekka etwa mit dem Bus nach Hause bringen sollen?

Sonst gab es niemanden, der sich um Rebekka kümmerte. Keine Familie, keine anderen Betreuer. Till? Sie spürte, wie wieder etwas Wärme in ihren Körper zurückkehrte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er Teil ihres Lebens war. Nie hätte sie geglaubt, dass es in ihrem randvollen Alltag Platz für Liebe gab. Bis sie Till Kowak begegnet war. Er musste Rebekka abgeholt haben, natürlich.

»Darf ich kurz telefonieren?«, bat sie eine Betreuerin.

Diese führte sie ins Büro. Als Sarah den Hörer in die Hand nahm, realisierte sie, dass sie Tills Nummer nicht im Kopf hatte. Sollte sie Dave bitten, in ihren Kontakten nachzuschauen? Sie biss sich auf die Unterlippe. Auf ihrem Laptop befanden sich Patientendaten. Dave Zugang zu gewähren, wäre fahrlässig. Sie nahm ihr Handy hervor.

»Habt ihr in der Gruppe vielleicht ein passendes Ladegerät?«

»Bestimmt.« Die Betreuerin verließ den Raum und kehrte kurz darauf mit einem Kabel zurück.

Ohne große Hoffnung schloss Sarah das Telefon an. Das Batteriezeichen leuchtete auf. Sie musste tatsächlich vergessen haben, das Handy über Nacht aufzuladen, auch wenn sie sich die Nachlässigkeit nicht erklären konnte. Sie drückte die Kurzwahltaste.

»Hallo Sarah«, meldete sich Till.

Sarah stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Ist Rebekka bei dir?«

»Deine Schwester?«, fragte er erstaunt.

Sarah schauderte. »Wo bist du?«

»Im Atelier. Ich hab dir doch gesagt, dass der Galerist vorbeikommt. Wegen der Ausstellung in Berlin. Er sollte jeden Moment hier sein. Was ist los? Ist etwas passiert?«

Zum dritten Mal wiederholte Sarah die Geschichte.

»Rebekka kann sich doch keinen Meter allein mit dem Rollstuhl fortbewegen«, sagte Till.

»Eben!«

»Es muss eine Erklärung geben. Hatte sie einen Arzttermin?«

»Nicht an einem Samstag.«

»Vielleicht war es ein Notfall?«

»Dann hätte man mich informiert.« Tränen schossen Sarah in die Augen. »Außerdem wüsste das Personal Bescheid.«

»Ganz ruhig.« Tills warme Stimme berührte sie durchs Telefon. »Ich mach mich gleich auf den Weg. In zwanzig Minuten bin ich bei dir.«

Sarah schluckte. »Das ist nicht nötig, danke. Ich komme klar. Berlin ist wichtig.«

Er zögerte. »Bist du sicher?«

»Ja. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Aber danke, dein Angebot bedeutet mir viel.«

Kaum hatte sie aufgelegt, erschien Vesna in der Tür. Sie sah besorgt aus. »Ich habe gehört, Rebekka sei nicht hier.«

Sarah schüttelte den Kopf.

»Wir durchsuchen gerade das Gebäude«, sagte Vesna. »Komm, hilf uns.«

Sarah folgte ihr in den Flur. Türen gingen auf und zu, Stimmen erklangen im Treppenhaus. Eine Betreuerin berichtete, sie habe Heike, die in der Gruppe 3 Dienst hatte, noch nicht erreichen können. Vesna spähte in die Zimmer der Bewohner, die Aufenthaltsräume, die Badezimmer.

»Hier oben ist sie nicht.« Vesna trat in den Lift. »Wir suchen im Erdgeschoss weiter, die anderen in den Wohngruppen 2 und 3.«

Sie fuhren nach unten. Die nassen Spuren, die Sarah auf dem Boden zurückgelassen hatte, waren noch immer zu sehen. An der Fensterfront standen leere Sessel, der Platz neben dem Philodendron war verlassen.

»Kann es sein, dass David Rebekka abgeholt hat?«, fragte Vesna.

»Nein.«

»Bist du sicher? Er ist immer so rührend mit ihr.«

War, dachte Sarah. In letzter Zeit hatte er sich verändert. »Er findet die Besuche nicht mehr so toll.«

Vesna berührte sie am Arm. »Lass uns in der Ergo nachschauen.«

Sarah wusste, dass die Ergotherapeutin am Wochenende freihatte, Vesna sah ihr skeptisches Gesicht.

»Manchmal benützen wir den Raum, um zu basteln, weil der Tisch breit ist«, erklärte sie.

Resigniert nickte Sarah. Sie gingen am Lift vorbei zu einer Tür, an der ein geflochtener Kranz hing.

Vesna stieß sie auf. Die Jalousien waren heruntergelassen, der Raum war dunkel. Vesna schaltete das Licht ein.

Und da war sie, ihre Schwester.

Der Rollstuhl stand in der Ecke, Rebekka schaute gegen die Wand. Als Sarah den schmalen Kopf hinter der Stütze sah, die spitzen Ellbogen auf der Armlehne, stockte ihr der Atem. Sie eilte auf ihre Schwester zu, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Halb erwartete sie, in starre Augen zu blicken, doch Rebekka blinzelte, hob den Kopf ein wenig und gluckste, wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war.

»Alles ist gut, ich bin hier.« Sarah fuhr den Rollstuhl zurück, streichelte Rebekka, presste ihre Wange gegen die der Schwester, murmelte beruhigende Worte. Sie öffnete den Gurt, hob Rebekka hoch, drückte sie an sich, Herz an Herz.

Langsam ging ihre Angst in Wut über. Wer hatte Rebekka hierhergebracht? Vor allem, warum? Hatte eine Betreuerin etwas aus der Ergotherapie holen müssen und Rebekka vergessen? Im Dunkeln? Oder wollte man Sarah eine Lektion erteilen, weil sie sich verspätet hatte? Sofort schämte sie sich für den Gedanken. In all den Jahren, die Rebekka hier lebte, hatte sich das Personal immer professionell und hilfsbereit gezeigt.

Sarah zwang sich, ruhig zu bleiben. Rebekka reagierte sofort auf schlechte Stimmungen. Vorsichtig setzte Sarah ihre Schwester in den Rollstuhl zurück.

Vesna senkte den Blick. »Wir werden dem nachgehen, das verspreche ich dir. So etwas darf nicht passieren.«

Sarah nickte nur. Sie packte die Griffe des Rollstuhls und schob Rebekka aus dem Raum. Gemeinsam fuhren sie nach oben, um die Tasche fürs Wochenende zu holen. Der Abschied von Vesna fiel kühl aus. Sarah hob Rebekka in den Autositz, den sie für sie auf der Rückbank hatte installieren lassen, und lud den Rollstuhl ein. Auf einmal war sie hundemüde. Die Versuchung, die Stirn aufs Lenkrad zu legen und die Augen zu schließen, war groß. Till fiel ihr ein. Sie nahm ihr Telefon hervor, um ihm eine SMS zu schreiben. Sie sah, dass Dave angerufen hatte. Der Akku reichte nicht mehr für einen Rückruf.

Auf der Fahrt nach Hause berichtete Sarah Rebekka von der vergangenen Woche, wie sie es immer tat. Seit ihren Kindertagen war ihre Kommunikation nie einseitig gewesen, obwohl es auf Außenstehende so gewirkt haben mochte. Sarah erzählte, Rebekka lauschte ihrer Stimme, als höre sie Musik, entspannte sich, gab ab und zu kleine Töne von sich. Sarah machte sich nichts vor, sie wusste, dass ihre Schwester den Inhalt ihrer Gespräche nicht verstand, doch sie war froh, ein Gegenüber zu haben, das es ihr ermöglichte, sie selbst zu sein.

»Ich muss ein Gutachten über eine Patientin mit einer depressiven Störung verfassen«, begann Sarah. »Sie hat eine Zwangseinweisung angefochten. Sie behauptet, man quäle sie in der Klinik. Drei Mal darfst du raten, wo sie behandelt wird. Genau, in der Klinik Schlossau. Kaspar ist der behandelnde Arzt. Die einweisende Ärztin glaubt, es liege akute Selbstgefährdung vor, und Kaspar ist sowieso der Meinung, die Patientin sei nicht stabil genug, um entlassen zu werden. Ich sehe das anders. Sorgen macht mir aber, dass es keine adäquate Nachbehandlung gibt. Die Frau lebt allein und ist nicht mehr arbeitsfähig. In der Vergangenheit hat sie mehrmals die Medikamente verweigert, was zu einer Verstärkung ihrer Symptome führte. Die Hauptverhandlung findet nächsten Donnerstag statt. Ich gehe davon aus, dass der Richter die Beschwerde abweisen wird, aber trotzdem … die alte Geschichte kommt wieder hoch.« Sarah blickte in den Rückspiegel.

Rebekka hatte den Kopf leicht seitwärts geneigt und hörte zu.

»Ich weiß, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe, das macht es jedoch nicht einfacher«, fuhr Sarah fort. »Kaspar hält mir das Ganze immer noch vor. Darum hat es mich erstaunt, dass er mir neulich einen Patienten überwiesen hat. Georg Schwartz. Er leidet unter paranoider Schizophrenie.« Sarah drehte die Heizung etwas auf. »Schwartz wurde mehrmals wegen eines akuten psychotischen Schubs in die Klinik eingewiesen. Er war Postangestellter, ist aber seit Jahren nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Kaspar kommt offenbar nicht an ihn heran. Schwartz behauptet, Kaspar lache ihn hinter seinem Rücken aus und wolle ihm Schaden zufügen.«

Sie hielt vor einer roten Ampel, schaute nach hinten zu Rebekka, dann fuhr sie weiter.

»Aber reden wir von etwas Angenehmerem. Am Mittwoch hat Till für uns gekocht. Sein Lieblingsgericht, Tagliatelle Phantasia. Klingt nach Resteverwertung, nicht wahr? Ist es aber ganz und gar nicht. Alle Zutaten passen optisch zusammen. Als er mir das erklärt hat, musste ich laut lachen. Optisch! Das findet er die Hauptsache. Das Erstaunliche ist, dass das Gericht super schmeckt. Dazu hat er Tiramisu gemacht.« Sarah verdrehte die Augen. »Himmlisch! Ich habe eine Portion für dich eingefroren. Dave behauptet natürlich, Till wolle sich bei ihm einschmeicheln. Er wehrt sich immer noch dagegen, dass Till so oft bei uns ist.« Sie seufzte. »Ich glaube übrigens, Dave interessiert sich für ein Mädchen. Jedenfalls verbringt er plötzlich viel mehr Zeit mit Chatten. Vorgestern habe ich ihn dabei ertappt, wie er an Tills Rasierwasser schnupperte. Erst kürzlich noch bestand die Welt für ihn ausschließlich aus Fußball! Habe ich dir schon erzählt, dass er vielleicht aufhört zu spielen?«

Rebekka schaute sie stumm an.

»Gestern hat er etwas von American Football gesagt. Ich wusste gar nicht, dass diese Sportart bei uns gespielt wird. Das kann er sich aber gleich aus dem Kopf schlagen.« Sie hielt inne, als ihr die Ironie der Worte bewusst wurde. »Ich finde es zu gefährlich. Viele Footballspieler leiden später an neuropsychiatrischen Krankheiten, das belegen Studien. Alzheimer, Parkinson, Amyotrophe Lateralsklerose, Hirntumore oder, ganz schlimm, Chronisch Traumatische Enzephalopathie. Wegen der vielen Erschütterungen lösen sich die Gehirne der Spieler buchstäblich auf.« Sie schnaubte.

Rebekka imitierte das Geräusch, und Sarah musste lächeln.

»Aber das ist Dave natürlich egal. Hauptsache, es ist cool. Ich weiß, ich weiß, seine Dopaminrezeptoren sind noch klein, deshalb sucht er den Kick. Aber sogar ihm müsste einleuchten, dass er sein Gehirn braucht. Da sind Kaspar und ich ausnahmsweise einmal gleicher Meinung.«

Sarah bog in ein ruhiges Wohnviertel ab. Einige der alten Häuser waren durch neue moderne Villen ersetzt worden, statt geschwungene Erker und Giebel prägten Glasfronten die Fassaden. Sie empfand ihr Elternhaus wie eine Oase inmitten der neueren Bauten. Es war schlicht, doch die blauen Fensterläden, die gedrehten Stäbe und Halbbögen des schmiedeeisernen Balkongeländers verliehen ihm Charme.

Sie hielt vor einem Lattenzaun und öffnete das Tor. Früher hatte sich eine Garage am Hang hinter dem Haus befunden, nach dem Tod ihrer Mutter hatte Sarah diese zu einer Praxis umbauen lassen. Bis vor Kurzem hatte eine Craniosacral-Therapeutin den zweiten Raum gemietet, leider war sie nach Frankreich gezogen. Seither hatte der Raum leer gestanden. Am Montag würde der neue Mieter einziehen, ein therapeutischer Hypnotiseur, was Sarah anfangs befremdend fand. Doch nach mehreren Gesprächen mit verschiedenen Bewerbern hatte er sich als der Seriöseste herausgestellt. Es war ihr wichtig, keine Vorurteile zu hegen. Wenn ein Hypnotiseur hier seinem stillen Gewerbe nachgehen wollte, ihre Patienten nicht störte und seine Miete zuverlässig bezahlte, sollte ihr das recht sein.

Eine Steintreppe führte von der Straße aus zu einem separaten Eingang, der ehemalige Zufahrtsweg diente Sarah heute als Parkplatz. Sie stieg aus und rutschte beinah auf dem nassen Laub aus. Die Haustür öffnete sich, und Dave kam ihr entgegen. Seit er gemerkt hatte, wie Till Sarah zu Hilfe eilte, wenn sie schwer trug, bemühte er sich, es ihm gleichzutun.

»Wo warst du so lange?«, fragte er.

»Willst du deine Tante nicht begrüßen?« Sarah öffnete den Kofferraum und nahm den Rollstuhl heraus.

Dave sah flüchtig in Richtung Wagen. »Hallo Rebekka. Es ist schon eins. Ich bin hungrig.«

»Ich hatte eine Reifenpanne«, erklärte Sarah.

Dass Dave weder ihre nasse Kleidung noch die zerrissene Manteltasche bemerkte, erstaunte sie nicht. Wohl aber, dass er diesmal nicht half, den Rollstuhl aufzuklappen. Sie wollte ihn gerade darauf hinweisen, dann sah sie, wie er die Arme verschränkte.

»Dad holt mich in zehn Minuten ab.«

»Wie bitte?« Sarah richtete sich auf.

Dave zuckte mit den Schultern. »Ich habe dich angerufen, aber du bist nicht rangegangen.«

»Das ist unser Wochenende.« Sarah bemühte sich, sachlich zu bleiben. »Wir wollten heute Abend an deinem Vortrag weiterarbeiten.«

»Das hat noch die ganze Woche Zeit. Dad hat Tickets für ein Konzert.«

»Es ist mir egal, und wenn er Tickets für einen Flug zum Mond hätte. Unsere Abmachung lautet, dass du ein Wochenende bei ihm und das nächste zu Hause bei mir verbringst. Du warst letztes Wochenende dort.«

»Du merkst doch sowieso nicht, ob ich hier bin oder nicht!«

»Was soll das jetzt heißen?«, fragte Sarah scharf.

»Du hockst nur mit Rebekka rum.«

Sarah holte tief Luft. »Lad doch ein paar Freunde …« Sie verstummte. Seit Dave aufs Gymnasium ging, verkehrte er nicht mehr mit seinen alten Freunden. Ihr wurde klar, dass sie seine neuen Kumpels nicht kannte. Trennte er seine Welten absichtlich?

Sie sah ihm in die Augen. »Schämst du dich für Rebekka?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

Er stöhnte. »Jetzt kommst du wieder mit diesem Psychoscheiß.«

Volltreffer. Sie hatte sich immer gewundert, wie locker er mit der Tatsache umging, dass seine schwerbehinderte Tante die Wochenenden bei ihnen verbrachte. Er hatte sich nie geziert, Freunde nach Hause zu bringen, sich nie beschwert, wenn Rebekka im Sommer im Schwimmbad oder bei seinen Fußballspielen mit dabei war.

»Hilf mir bitte, Rebekka aus dem Sitz zu nehmen«, sagte Sarah. »Wir reden drinnen weiter.«

Widerwillig öffnete er die Tür und löste Rebekkas Sitzgurt. Seine Handgriffe waren genauso sorgfältig wie immer, stellte Sarah erleichtert fest. Er setzte Rebekka aber nicht in den Rollstuhl wie früher, sondern trug sie ins Haus, scheinbar mühelos. Sarah blickte ihm nach. Er ist schon fast ein Mann, dachte sie. Körperlich zumindest. Wo ist der Junge geblieben, der mit dem Kickboard neben dem Rollstuhl herfuhr? Der Paninibilder sammelte, Lucky-Luke-Comics las, sich für Dinosaurier interessierte?

Sie folgte den beiden mit dem Rollstuhl und der Tasche. Im Eingang streifte sie die Schuhe ab, dann hängte sie ihren nassen Mantel auf. »Ich geh mich kurz umziehen.«

Dave setzte Rebekka in den Rollstuhl. »Dad kommt gleich.«

»So lange wird er warten können.«

Sarah stieg die Treppe hoch. Die Holzstufen knarrten. Auf halber Höhe fiel ihr eine Teppichläuferstange auf, die nicht mehr ganz fest saß. Die Messingstangen hatte ihr Großvater montiert, einige der Winkelösen hätten schon längst ersetzt werden müssen. Sarah nahm sich vor, sich endlich darum zu kümmern.

Ihr Schlafzimmer befand sich im ersten Stock, neben dem ehemaligen Kinderzimmer. Vor einem Jahr war Dave dort ausgezogen und hatte sich im notdürftig ausgebauten Dachstock einquartiert. Dass es durch die Ritzen der alten Fenster zog und die Wände nicht verputzt waren, störte ihn ebenso wenig wie der schmuddelige Flickenteppich. Einzig über den schlechten WLAN-Empfang beschwerte er sich.

»Dad ist da!«, rief Dave.

Sarah warf einen Blick aus dem Fenster. Vor dem Tor stand Kaspars BMW. Rasch schlüpfte sie aus den nassen Kleidern, griff nach der Trainingshose, die über dem Stuhl hing, überlegte es sich anders und holte eine frische Jeans aus dem Schrank. Vielleicht kam Till ja früher als vereinbart.

Kaspar stand bereits im Flur. Von der Treppe aus fiel Sarah auf, wie schütter sein Haar geworden war. Noch immer strahlte er eine Distinguiertheit aus, die an Arroganz grenzte.

Er hob die Hand. »Ich weiß, es ist dein Wochenende, und ich hätte vorher mit dir sprechen sollen, aber – «

»Nicht hier«, unterbrach Sarah. »Dave, bringst du Rebekka bitte in die Küche?«

Dave ging davon.

Sarah bedeutete Kaspar, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Vor langer Zeit hatten sie vereinbart, ihre Konflikte nicht vor ihrem Sohn auszutragen.

»Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen!«, sagte Sarah verärgert. »Wenn ich zustimme, wird David … Dave … meine Regeln nicht mehr akzeptieren. Ausgerechnet jetzt, wo es wichtiger ist denn je. Und wenn ich ihn nicht gehen lasse, wird er mir das ganze Wochenende lang die kalte Schulter zeigen!«

»Es tut mir leid«, sagte Kaspar in dem patronisierenden Tonfall, der Sarahs Blut kochen ließ.

»Versuchst du, einen Keil zwischen Dave und mich zu treiben? Das ist nicht nötig, ich kann dir versichern, wir haben schon genug Probleme.«

Kaspar starrte sie an. »Was ist los mit dir? Ist etwas passiert?«

»Ja! Du walzt herein und – «

Er nahm ihren Arm und führte sie zum Sofa. »Sag mir, was wirklich los ist.«

Plötzlich verstand Sarah, wie Dave zumute war, wenn sie mit ihrem »Psychoscheiß« kam. Kaspar hatte natürlich recht. Der Vorfall im Heim hatte sie erschüttert. Doch sie hatte nicht vor, ihm davon zu erzählen. Er würde ihr vorwerfen, sie grenze sich zu wenig ab. Dass sie sich aus Liebe um Rebekka kümmerte und nicht, weil sie auf ihre Helferrolle fixiert war, wollte ihm nicht in den Kopf.

»Für wie blöd hält mich Dave eigentlich?«, sagte Sarah. »Nach dem Beethoven-Konzert, das du mit ihm besucht hast, klagte er darüber, wie langweilig es war. Ich weiß genau, dass er mir nur eins auswischen will.«

Kaspar rückte seine Goldbrille zurecht. »Wir gehen nicht in die Tonhalle. Sondern zum Bad-Religion-Konzert.«

»Bad Religion? Was ist denn das?«

»Eine Punk-Rock-Band aus den USA.«

Sarah glaubte, sich verhört zu haben.

»Sie soll gut sein.« Kaspar klang, als glaube er selbst nicht daran. »Die Texte sind sozialkritisch.«

Sarah begann zu lachen. Kaspar fürchtete sich offenbar genauso, den Zugang zu Dave zu verlieren, wie sie selbst.

Seine Wangen röteten sich. »Ein Arbeitskollege, der mit Grippe im Bett liegt, hat mich heute früh angerufen. Er wusste, dass ich einen Sohn im Teenageralter habe, und offerierte mir die Tickets.«

Sarah schaute ihn mitleidig an. Für Kaspar war es noch schwieriger, den Draht zu Dave zu halten. Sie vermutete außerdem, dass Tills Anwesenheit ihrem Exmann mehr zu schaffen machte, als er zugab. »Na gut, soll er gehen«, sagte sie. »Aber erst heute Abend, einverstanden? Damit er weiß, dass wir Abmachungen nicht leichtfertig über den Haufen werfen.«

»Einverstanden.« Die Erleichterung war ihm anzuhören. »Wie lief es heute Morgen mit Georg Schwartz?«

»Wie zu erwarten. Bist du sicher, dass der Rückfall nur durch die Medikamenten-Malcompliance ausgelöst wurde? Gab es keine anderen Belastungssituationen?«

»Belastung ist zu viel gesagt. Er führt ja, äußerlich gesehen, ein eher stressfreies Leben. Aber es reichen schon Kleinigkeiten als Trigger. Er hat in einem Antiquariat ein weiteres Buch über Mythologie gekauft und sich wieder in seine Namensgeschichte hineingesteigert. Du hast das sicher in seiner Akte gelesen. Der heilige Georg, der den Drachen tötet.«

»Ich weiß. Er soll über hundert Bücher zu diesem Thema besitzen.«

Kaspar nickte. »Viele davon handeln vom mittelalterlichen Drachenorden Societas Draconistarum, den es ja tatsächlich gab, was es nicht einfacher macht. In diese Geschichten hat er sich richtig verbissen. Und Drachentöter brauchen selbstverständlich keine Medikamente. Er fing an, sein Haldol zuerst unregelmäßig zu nehmen, dann setzte er es ganz ab. Die Folgen zeigten sich schnell. Es kam zum Rückfall. Selbstgespräche, vernachlässigte Körperpflege, Verhaltensauffälligkeiten, schließlich Wahnvorstellungen und Halluzinationen.«

»Verträgt er das neue Kombinationspräparat gut?«

»Ja. Aber er droht immer wieder damit, die Tabletten in den Höllenschlund des Drachen zu werfen, wie er es ausdrückt.«

»Ich werde ihn nächstes Mal darauf ansprechen.«

»Bitte informiere mich unverzüglich, wenn du Anzeichen eines erneuten Rückfalls bemerkst.«

Sarah verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin jetzt seine behandelnde Ärztin. Ich werde tun, was ich für richtig halte.«

Kaspar hob den Kopf leicht und sah auf sie herunter. »Es kann sein, dass eine erneute Einweisung unvermeidbar ist.«

Beinahe hätte Sarah den Köder geschluckt. Im Gegensatz zu Kaspar war sie viel zurückhaltender, wenn es um fürsorgerische Unterbringungen, sogenannte FU, ging, die von manchen noch immer Zwangseinweisungen genannt wurden. Kaspar ließ keine Gelegenheit aus, sie zu belehren.

»Sollte ich eine FU anordnen, wirst du es erfahren«, sagte sie kühl.

»Hauptsache, du wartest nicht zu lange.«

»Das war unter der Gürtellinie!«

Kaum hatte sie das gesagt, bereute Sarah es auch schon. Kaspar durfte nicht wissen, dass sie immer noch unter der Geschichte litt. Er würde ihre Urteilsfähigkeit anzweifeln, ihr mangelnde Distanz vorwerfen.

Ihre Reaktion hatte sein Interesse geweckt. Sarah sah es an der Art, wie er sie musterte. Bevor er ihr Fragen stellen konnte, wechselte sie das Thema.

»Wann beginnt das Konzert?«

»Um acht. Ich dachte, wir könnten vorher noch etwas essen gehen.«

»Dave isst hier. Du kannst ihn um sieben abholen.«

Kaspar nickte kurz und ging zur Tür. Er legte die Hand auf die Klinke und drehte sich noch einmal um. »Wenn du darüber reden möchtest, ich bin immer für dich da.«

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