Schottendisco - David Ross - E-Book

Schottendisco E-Book

Ross David

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Beschreibung

Irvine Welsh meets Roddy Doyle - ein hinreißender Roman über das Aufwachsen in der schottischen Provinz in den 80er-Jahren

Zwei Jungs in der schottischen Provinz in den Achtzigern. Kein Plan, keine Perspektive. Was machen? Wie wäre es mit einer mobilen Disco? Gute Popmusik, die gibt es. Und die beiden kennen sich aus. Also wird eine kleine Anlage geliehen, und bald gibt es die ersten Geburtstagspartys. Und das erste Geld. Dumm nur, dass die beiden eines nicht wissen: Die Gegend wird von einem Partyveranstalter kontrolliert, der keinen Spaß versteht, wenn ihm jemand die Aufträge streitig macht.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 375

Veröffentlichungsjahr: 2016

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In den frühen Achtzigern wähnt sich Fat Franny Duncan an der Spitze der Welt. Er ist unbestrittener Herrscher über Ayrshires mobile Discoszene - und er regiert mit eiserner Hand. Von Geburtstagen bis Scheunentänzen, nichts läuft ohne Franny. Er legt sogar »My Boy Lollipop« bei Beerdigungen auf und kommt damit durch. Aber was bringt die Zukunft? Ein neues Disco-Duo taucht auf der Bildfläche auf und droht sein Imperium zu stürzen …

Bobby Cassidy und Joey Miller sind seit der Grundschule beste Kumpel. Joey ist Idealist; Bobby will einfach nur Mädchen flachlegen und bloß nicht wie sein Bruder Gary auf die Falkland-Inseln verschifft werden. In die mobile Discoszene einzusteigen, ist für Bobby der beste Weg, beides unter einen Hut zu bringen.

Schottendisco ist eine Hommage an die Schönheit und Kraft alter Vinyl-Platten und den kleinen aber einflussreichen Part, den sie 1982 im Kleinstadtleben Ayrshires spielten. Originell, voller Energie und gnadenlos authentisch, verbindet David F. Ross‘ Debütroman Tragik und Komik in verblüffender Eleganz.

Der Autor

David F. Ross wurde 1964 in Glasgow geboren. Nach diversen Gelegenheitsjobs ist er heute Design Director bei einem der größten Architekturbüros Schottlands und hält weltweit Vorträge. Mit Frau und zwei Kindern lebt er heute in Kilmarnock. Die Fortsetzung von Schottendisco ist bereits in Vorbereitung.

Exklusiver Song zum Buch

www.heyne-hardcore.de/schottendisco

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen war so nett, die inzwischen vergriffene Single-Version ihres Songs »Der fünfte Four Top« für dieses Buch als kostenlosen Download zur Verfügung zu stellen.

Weitere Infos zur Band unter:

http://www.tapeterecords.de/artists/die-liga-der-gewoehnlichen-gentlemen/

DAVID F. ROSS

SCHOTTENDISCO

Roman

Aus dem schottischen Englisch

von Kristian Lutze

Wilhelm Heyne Verlag

München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel LAST DAYS OF DISCO bei Orenda Books, London

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Copyright © 2015 by David F. Ross

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Stefanie Schlatt

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock/dpaint

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-17828-4V001

www.heyne-hardcore.de

Für Elaine, Nathan und Nadia

»Sneak home and pray you’ll never know,

The hell where youth and laughter go.«

Aus »Suicide in the Trenches«

Von Siegfried Sassoon, 1917

TEIL 1

ZEIT ZU HANDELN

»Nachdem die offizielle Zahl der Arbeitslosen nun die Drei-Millionen-Marke überschritten hat, ist die Premierministerin stolz darauf, so viele Familien in Großbritannien in so tiefe Verzweiflung gestürzt zu haben? Ist sie stolz darauf, dass sie und die Regierung der britischen Wirtschaft verheerenderen Schaden zugefügt haben als das deutsche Oberkommando im gesamten letzten Krieg?«

Dennis Skinner, Parlamentsabgeordneter von Bolsover Fragestunde im britischen Unterhaus, Januar 1982

1

EIN MANN AM RANDE DES ABGRUNDS

24. Januar 1982: 10.23 Uhr

»Bobby Cassidy lebte sein Leben am Rande des Abgrunds. Monaco war eine Stadt nach seinem Geschmack …«

Verglichen mit anderen Erfahrungen, war das hier höchst ungewöhnlich. Er hatte sich immer vorgestellt, in irrwitzigem Tempo durch die Nouvelle Chicane zu brettern, im linken Seitenspiegel James Hunt, im rechten Gilles Villeneuve, die beide nicht an ihm vorbeikamen. Aber als es nun tatsächlich passierte, verlieh Sean Connerys Kommentar – Wo kam der überhaupt her? – dem Ganzen ein seltsames und eindeutig surreales Flair. Und es wurde noch sonderbarer. Während er versuchte, sich auf den engen gewundenen Kurs mit all seinen wahnwitzigen Haarnadelkurven und diversen urbanen Ablenkungen zu konzentrieren – War das wirklich Sally McLoy aus Hurlford, die ihm vom Balkon des Grand Hotel aus zuwinkte, oben ohne mit ihren Riesentitten, die wackelten wie Götterspeise bei einem Erdbeben? –, bereitete ihm die Tatsache Sorgen, dass er sich nicht erinnern konnte, wie er hierhergekommen war.

Wie war er bei drei Millionen Arbeitslosen, deren Zahl täglich stieg, überhaupt Rennfahrer geworden? Er konnte sich nicht erinnern, bei einem Vorstellungsgespräch gewesen zu sein oder auch nur ein Bewerbungsformular ausgefüllt zu haben. Wie viele Rennen war er schon gefahren? War er von Murray Walker interviewt worden? Wohnte er noch in dem zweistöckigen Haus in der Almond Avenue 13, in einer Sozialsiedlung in Kilmarnock, Schottland, Europa, Welt, Universum (Schulhefte, alte Gewohnheiten …), mit seiner Mum, seinem Dad, seiner Schwester Heather und dem verlorenen älteren Bruder Gary? Und, die beunruhigendste Frage von allen, warum hatte er auf einmal drei Arme?

»Garantiert irgendein Fehler …« Allmählich ging 007 Bobby echt auf die Nerven.

»Halt die Klappe, Sean. Ich versuche hier zu fahren.«

Als sie um die enge Portier-Kurve kamen und mit 290 Stundenkilometern auf den berühmten Tunnel zurasten, sah Bobby in den gläsernen Barrieren, mit denen der Kurs abgesperrt war, für einen Moment sein Spiegelbild. Der rotweiße McLaren sah aus wie eine riesige Zigarettenpackung auf Rädern. Eine waagerechte Reihe blendender Scheinwerfer ließ ihn eine Hand vom Lenkrad nehmen, um die Augen abzuschirmen. Als er seinen Kopf berührte, dämmerten ihm zwei Dinge gleichzeitig: Erstens trug er keinen Helm, und zweitens war der dritte Arm nicht seiner. Er gehörte zu einer Frau, die auf dem Schalensitz hinter ihm saß. Und das war nicht irgendeine Frau; dieser Arm war der rechte Arm der hinreißenden Sally James aus der Kindersendung Tiswas, und der fing an, seinen Schwanz zu streicheln.

»Sean, Alter, wir sind nicht mehr im beschissenen Kansas …«

Er wachte gerade noch rechtzeitig auf. Es war nicht Sally, die seinen Steifen gepackt hielt. Der dritte Arm gehörte zu Bobbys älterem Bruder Gary. Die beiden lagen auf dem Bett nebeneinander, Kopf an Fuß, als hätten sie sich vorher darauf geeinigt oder wären von jemandem mit mehr Umsicht so arrangiert worden. Auch wenn Bobbys Fähigkeit, seine Umgebung zu begreifen und Schlussfolgerungen zu ziehen, zurzeit stark eingeschränkt war, fand er das zweite Szenario nur unwesentlich tröstlicher als das erste.

Bei dem Gedanken musste er würgen. Er zuckte instinktiv zurück. Gary rührte sich erstaunlicherweise nicht. Wenn Bobby vorsichtig und gefasst vorging, konnte er sich vielleicht noch mit intakter Würde aus dieser Situation herauswinden. Nachdem der Traum von der Weltmeisterschaft für eine weitere Saison ausgeträumt war, löste er rasch, aber behutsam die Hand seines Bruders von seinem Schwanz und rutschte von seinem Einzelbett auf den Haufen Kleidung auf dem Boden. Gary stöhnte leise, wachte jedoch nicht auf. Bobby hatte alle Mühe, seinen Magen am Versuch zu hindern, sich an Ort und Stelle zu entleeren. Er öffnete seine Zimmertür einen Spaltbreit und machte sich – unter Höchstleistung von Arschbacken und Schließmuskel – auf den Weg den drei Meter langen Flur hinunter zur Toilette.

Als er in dem kleinen Badezimmer Zuflucht gefunden hatte, setzte eine neue und ähnlich unangenehme Sinneswahrnehmung ein. Motörhead hatten ihr Equipment in seinem Kopf aufgebaut und begannen mit den Proben zu ihrer anstehenden Tour.

»Lasst uns die beschissenen Amps bis elf aufreißen, Jungs«, sagte Lemmy, »und diesen blöden Wichser richtig wecken.«

Davon bekam Bobby sofort Kopfschmerzen, wie er sie noch nie erlebt hatte. Schlimmer als damals, als er mit acht im Gartenzaun der alten Doris Peters stecken geblieben war, nachdem er sich zunächst hindurchgezwängt hatte, um Äpfel von ihrem Baum zu stehlen. Sein Kopf auf dem Rückweg stecken geblieben. Er hatte sich nur zwanzig Minuten in dem Garten aufgehalten, aber entweder war er während des Diebstahls gewachsen, oder er hatte versucht, den Tatort durch eine Öffnung wieder zu verlassen, die kleiner war als die, durch die Gary und seine Arschloch-Freunde ihn zuvor gezwängt hatten. Nachdem Gary ihn schließlich an den Beinen hatte herausziehen müssen, hatte sein Kopf eine Woche lang wehgetan.

Er hockte sich auf die Toilettenschüssel wie die berühmte Skulptur von Rodin und grübelte ungefähr zwanzig Minuten lang. Wie kann man nur so beschissen enden, dachte er. Er hatte sich nicht bewegt, seit er in weiser Voraussicht das kleine Klappfenster geöffnet hatte, kurz bevor die Sturzflut begann. Seine Beine waren wegen mangelnder Durchblutung aufgrund vorherigen heftigen Arschbackenzusammenkneifens taub. Danach hatte er gedacht, Scheiß drauf. Es klang zwar, als würde sich die Brighouse & Rastrick Blaskapelle einstimmen, aber es war trotzdem weniger anstrengend, die Schleusentore einfach geöffnet zu halten.

Die schon im günstigsten Fall launische Klospülung hatte nach der etwa sechsten Betätigung den Geist aufgegeben. Als Bobby sich endlich hinreichend entleert fühlte, um einen Versuch zum Aufstehen zu unternehmen, lärmten Motörhead immer noch vor sich hin. Er klammerte sich an die Handtuchstange wie ein Rentner im Altersheim, während die Band immerhin beschloss, ein paar Nummern unplugged zu probieren. Bobby erlaubte sich den Anflug eines Lächelns über diese alberne Analogie.

»Danke, Lemmy, altes Warzengesicht«, flüsterte er seinem eigenen Spiegelbild zu, das ihm über dem avocadogrünen Waschbecken entgegenstarrte.

Was war letzte Nacht passiert, Scheiße noch mal? In seiner noch kurzen Laufbahn als »Säufer« war er schon ein paarmal mit einem heftigen Kater aufgewacht, aber das hier war der Wahnsinn. Er konnte sich nicht erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Ehrlich gesagt, konnte er sich nicht einmal daran erinnern, das Haus verlassen zu haben. Er wusste nur, dass Gary bestimmt in irgendeiner Weise für seine Amnesie verantwortlich war. Außerdem machte sich ein Schmerz unten an seinem Rücken bemerkbar.

»Verdammt, Alter, komm in die Gänge, ja?« Die barsche, heisere Stimme ließ Bobby hochschrecken. Sie gehörte zu dem Blender, der gerade noch versucht hatte, Bobbys Penis sanft in den Fünften hoch zu schalten, als er auf La Rascasse zugerast war.

»Du glaubst nie, was ich grad geträumt hab«, tönte es herein.

Die Badezimmertür war jetzt so weit geöffnet, wie es die Türkette zuließ. Harry – Bobbys Dad – hatte sie angebracht, nachdem Bobbys Schwester nach ihren ersten beängstigenden Schritten auf dem Weg zum Frausein inständig um ein bisschen Privatsphäre gebeten hatte. Vorher hatte es zehn Jahre gar kein funktionierendes Schloss an der Badezimmertür gegeben. Anstatt die angemessene Verriegelung zu besorgen, hatte Harry in seinem Schuppen herumgekramt und aus einem alten Vorhängeschloss eine provisorische Lösung gebastelt, die nun seit mittlerweile fast vierzehn Monaten unerwünschte Besucher fernhielt.

»Ich war verkleidet«, erklärte Gary, seine wieselartigen Gesichtszüge an den fünf Zentimeter breiten Spalt gepresst wie Jack in The Shining.

»Als Phantom Flan Flinger. Sally James kommt rüber, total schüchtern und so – das Ganze läuft live im Fernsehen, Alter, Samstagvormittag und alles – und sagt: ›Zeit, das Phantom zu demaskieren.‹« Bobby würgte.

Garys Gesicht war jetzt so weit in den Spalt gedrückt, dass es verzerrt aussah – wie ein Picasso mit beiden Augen auf einer Seite.

»Wonach stinkt’n das hier, verdammt? Bist du das, Bob? Scheiße, du bist da drin aber nicht tot umgefallen, oder?« Gary schnupperte ein paarmal die faulig miefende Luft.

»Also, wie gesagt, ich soll live im Fernsehen demaskiert werden. Aber anstatt mir den Umhang abzureißen, steckt Sally eine Hand rein und fängt an, mir einen runterzuholen. Total irre, Mann.« Gary machte eine Kunstpause. Bobby war verblüfft, dass sie beide von derselben Frau geträumt hatten.

»Einer von diesen Träumen, bei denen man sich absolut sicher ist, dass sie in echt passieren.« Gary hielt erneut kurz inne, atmete tief ein und fuhr fort.

»Und dann, als ich gerade kurz davor bin, hört sie einfach auf … und lässt mich hängen.« Eine dritte Pause.

»Mach voran und komm da raus, damit ich’s mir selbst zu Ende besorgen kann.« Weiteres Schnuppern.

»Es sei denn, du willst es machen …«

»Hey, das war bloß ein Witz. Hättest nicht gleich die ganze Tür vollkotzen müssen. No way hätt’ ich dich an meinen Schwanz gelassen. Ist mir scheißegal, dass du eine verdammte Schwuchtel bist … aber das wär ja wie … Inzest oder so.« Gary hatte sichtlich Spaß daran, seinen jüngeren Bruder zu verarschen.

Und obwohl Bobby an diesem Morgen gut darauf hätte verzichten können, war er im Allgemeinen froh, dass sein Bruder wieder zu Hause war. Manchmal konnte er ein absoluter Wichser sein, doch im Großen und Ganzen hatte Gary immer auf ihn aufgepasst und sich oft der vollen Wucht von Harrys Zorn entgegengestellt, selbst wenn Bobby der eigentlich Schuldige gewesen war.

Bobby hob den Kopf, den er in die Hände gestützt hatte, und sah sich im Zimmer um. Er hatte nach wie vor das Gefühl, frühere Ereignisse in Zeitlupe noch einmal zu durchleben. Er sah die sommersprossige und beeindruckend muskulöse Gestalt seines Bruders in der angrenzenden Küche verschwinden. Draußen war ein wunderbar frischer Spätwintermorgen: gleißende, tief stehende Sonne und hier und da Atemwolken von Menschen, die auf der Straße unterwegs waren. Bei der Aussicht vom Esstisch fühlte Bobby sich ein wenig besser. Egal, wie schlimm er war, irgendwann ging jeder Kater vorbei. Er blickte in das Wohnzimmer seiner Eltern, frisch tapeziert mit Raufaser, »in Mongolia«, wie seine Mum Ethel es verlangt hatte. (Bobby nannte seine Mutter Mrs. Malaprop, ein Witz, den Ethel nicht verstand, während der Rest der Familie ihn hochkomisch fand.) Soweit sich Bobby zurückerinnern konnte, war seine Mum stets ein wenig reizbar gewesen. Als er klein war, hatte es regelmäßig zermürbende Streitereien zwischen seinen Eltern gegeben. Meistens ging es um Gary. In den letzten Jahren waren es weniger geworden, doch Ethels emotionale Zerbrechlichkeit war das sichtbare Vermächtnis.

Bobby betrachtete eingehend das Bild eines kleinen Jungen über dem elektrischen Kamin, ein Ölgemälde, allerdings kein besonders gutes, und ganz sicher kein Original. Mindestens zehn andere Leute, die Bobby kannte, hatten das gleiche Bild an praktisch gleicher Stelle auch in ihrem Haus hängen. Trotzdem übte das Porträt eine unbestreitbare Faszination aus. Als sie es vor vielen Jahren bekommen hatte, erzählte Ethel ihrer Tochter, es sei ein Gemälde von Gary als kleiner Junge. Tränenspuren liefen von niedergeschlagenen großen blauen Augen, wie Gary sie hatte, über die Pausbacken des Jungen. Unerklärt blieb, warum jemand ein Bild von Gary gemalt haben sollte, als er dermaßen traurig war. Und warum seine Eltern dieses Bild dann hatten rahmen lassen und es an so prominenter Stelle aufgehängt hatten. Die Mystifizierung hatte sich mit wachsender Vertrautheit irgendwann erledigt, doch weder Bobby noch seine Schwester hatten das Bild je wieder betrachten können, ohne an Gary zu denken. Vor allem in den Monaten, als er ihr Zuhause plötzlich verlassen hatte und nach London aufgebrochen war.

Der »Weinende Junge« hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen Mitglied der Familie. Genauso wenig wie Gary. Im Hauptaufenthaltsraum der Familie Cassidy waren zahlreiche Familienfotos aufgestellt. Auf dem Sideboard, auf dem verdammten Klavier, das Harry aus der Schule »gerettet« hatte, wo er inzwischen als Hausmeister arbeitete, auf den Fensterbänken zum Garten vor und hinter dem Haus, auf dem massiven Holzschrank, der den Fernseher beherbergte – schon seit langer Zeit die dominierende Stimme des Haushalts. (Wenn er sprach, hörten alle zu.) Gary tauchte auf keinem dieser Fotos auf. Darüber hatte Bobby sich eigentlich nie Gedanken gemacht. Es kam ihm so vor, als wäre Gary ganz allgemein meistens einfach nicht da gewesen, das klassische schwarze Schaf. Aber nachdem er nun nach Hause zurückgekehrt war, und sich die Dinge zwischen seinem Bruder und seinem Vater endlich entspannt hatten, fand Bobby diese Abwesenheit bei Familienereignissen doch ziemlich seltsam.

Durch die offene Küchentür drang der blecherne Sound von Soft Cell, gefolgt von Gary. Er trug ein Tablett mit großen geflochtenen Korbgriffen, auf dem ein nach Cassidy-Standards außergewöhnlich reichhaltiges Frühstück arrangiert war: ein Teller voll Toast – sorgfältig mit Butter bestrichen und nach kontinentaler Art diagonal durchgeschnitten; zwei gekochte Eier – eins schon geköpft –, schmuck in lustig bemalten Eierbechern; eine Kanne Tee in einem von Ethels selbst gehäkelten, schlecht passenden Teewärmern sowie zwei Becher – einer schlicht weiß, während der andere den Teetrinker in Blackpool willkommen hieß. Und Gary war noch nicht fertig. Der untrügliche Duft von gebratenem Speck und Wurstscheiben machte die ganze Sache noch beeindruckender, vor allem wenn man Garys geradezu olympiareifes Faulheitsniveau von früher bedachte. Vielleicht hatte ihm die Armee doch gutgetan. Bobby rutschte verlegen auf seinem Sitz herum. Er hatte den Stuhl mit Blick auf das restliche Zimmer gewählt, weil sein Kreuz immer noch schmerzte und die feste, gepolsterte Lehne einladender wirkte als die vier harten Holzstühle um den runden Tisch.

»Harte Nacht, was, Kleiner?«, sagte Gary, der schlanke, barbrüstige schottische Guardsman.

»Keine Ahnung. Kann mich an nichts erinnern … und ich mein wirklich null, garnichts«, sagte Bobby, der jetzt schon überlegte, welche Teile dieses fettigen Festmahls nach dem Verzehr auch drinbleiben würden.

»Du bist achtzehn geworden! Kacke, Bob, da soll man sich an nichts erinnern. Das weiß doch jeder. Wie bei deinem Junggesellenabschied … oder den 60’s.«

»Red keinen Scheiß! Ich erinner mich nicht an die 60’s, weil ich noch klein war, und nicht, weil ich besoffen war. Wann sind wir hier los?« Bobby versuchte sich auf Fragen zu konzentrieren, die hoffentlich kleine Erinnerungsfetzen wachrufen würden.

»So gegen neun Uhr morgens«, sagte Gary stolz, bevor er hinzufügte, »am Freitag.« In Bobbys Gesicht spiegelte sich zunächst Überraschung, dann Schock, Scham und – als Steve Wright aus der Küche allen Hörern einen guten Morgen wünschte – schließlich Resignation. Ein ganzer Tag (und eine Nacht) seines Lebens verschwunden. Er fragte, ob sie am Samstag zu dem Spiel Kilmarnock gegen Hearts gegangen waren. Gary nickte, den Soldatenmund voller Toast. Bobby erkundigte sich, ob sie in Casper’s Nightclub am Kilmarnock Cross gewesen waren.

»Freitag … und Samstag auch«, antwortete Gary.

»Und wo haben wir Freitag auf Samstag gepennt?«, fragte Bobby zögernd und nicht ganz sicher, ob er für die Antwort bereit war. Er stützte den Kopf wieder mit beiden Händen.

»Wir haben drei Tussis aus Galston aufgegabelt … sind mit zu denen, um Party zu machen, wenn du weißt, was ich meine«, deutete Gary mit einem lüsternen Augenzwinkern an.

»Was, nur wir beide?«

»Nee«, sagte Gary. »Thommo war auch noch dabei. Wie kann das sein, dass du dich an gar nichts erinnerst?«

Plötzlich bemerkte Gary, dass Bobby wie gebannt auf seinen linken Arm starrte, genauer gesagt auf die Tätowierung am Oberarm, die vom Schulterblatt bis direkt oberhalb des Ellbogens verlief. Auf der blassen Haut sah die dunkelblaue Tinte ein bisschen aus wie ein Polizeiabzeichen, allerdings prangten über dem Wappen die Worte »2nd Battalion« und darunter »Scots Guards«. Das Wappen war vor ein Bajonett gesetzt, um das sich lose eine Schlange wand. Gary spürte die Frage, die im Kopf seines Bruders Form annahm, und stand auf, um den Bann zu brechen. Bobby blickte durch den Glastisch auf seine nackten Füße. Nachdem Mum Harry so lange zugesetzt hatte, bis er das alberne Teil gekauft hatte, war allen männlichen Cassidys bei seinem Anblick der gleiche Gedanke gekommen: Ein Glastisch! Wie kann man seine Eier hin- und herschieben und sich selbst hin und wieder ein bisschen kraulen, wenn man an einem beschissenen Glastisch sitzt?

Ethels Rechtfertigung lautete, dass der Raum durch diesen Tisch viel größer wirken würde. Das hielt Harry für eine typisch weibliche Sichtweise: Aussehen vor Zweckmäßigkeit.

In just diesem Moment erwies sich die Durchsichtigkeit des Tisches jedoch tatsächlich als wertvolle Funktion. So war der Blick frei auf eine Reihe von Zahlen, die auf Bobbys rechten Fuß geschrieben waren. Auch wenn sie nicht direkt ein Portal in sein Verlorenes Wochenende öffneten, war es doch eine Spur, da es sich bei genauerer Betrachtung offenkundig um eine Telefonnummer handelte. Und weil Gary das Arschloch gab, musste er die Teile des Puzzles wohl selber zusammensetzen.

Die Haustür ging auf und volle dreißig Sekunden später wieder zu. Gary und Bobby starrten auf die geschlossene Tür zum Flur. Sie wurde langsam geöffnet, und bevor einer von ihnen ihn sah, verkündete Harry: »Lausig kalt draußen.«

Harry war zurück von seinem Spaziergang, Sonntagszeitungen kaufen – ein Ausflug, den er allsonntagmorgendlich genoss, wobei der Bummel an diesem Tag länger als üblich gedauert hatte. Harry hatte Stanley May getroffen, der ihm unbedingt mitteilen musste, was er aus zweiter Hand über die Aktivitäten seiner Söhne in den letzten achtundvierzig Stunden wusste.

»Ihr beiden habt euch ja wohl voll zum Deppen gemacht.« Bei diesen Worten seines Vaters verabschiedete Gary sich stumm und nahm im Hinausgehen ein Trikot des Kilmarnock FC von der Heizung. Harry beobachtete ihn vom anderen Ende des langen schmalen Raums. Er war mittelgroß, Ende vierzig, ein typischer Westschotte aus der Arbeiterklasse. Im hellen Gegenlicht der hereinscheinenden Sonne sah er aus wie das Michelin-Männchen, fand Bobby.

Harry wies mit dem Kopf auf das Fenster hinter Bobby, vor dem Rauchfahnen aufstiegen, die Garys aktuellen Aufenthaltsort verrieten. »Ich nehm an, das war seine Schuld?«

»Ach, keine Ahnung. Ich kann mich an kaum was erinnern. Aber ich glaub, Gary kann echt nichts dafür. Diesmal nicht …«

»Das wär ja mal ganz was Neues«, murmelte Harry aus seinem bequemen Sessel und faltete die Sunday Mail auf.

»Gib ihm eine Chance, Dad. Er ist anders geworden, seit er aus England zurück ist.«

Harry musste zugeben, dass die Armee einen halbwegs anständigen Menschen aus Gary gemacht hatte, und auch wenn es für Stolz noch nicht ganz reichte, hatte er doch ein bescheidenes Maß an Respekt für Gary entwickelt.

»Egal, er fährt bald wieder zurück in die Wellington-Kaserne. Ich find, du solltest ein Bier mit ihm trinken gehen, Dad. Was meinst du?« Es irritierte Bobby, sich an den schütteren Hinterkopf seines Vaters zu richten, doch er sprach trotzdem weiter. »Warum nimmst du ihn nicht mit zu den Freimaurern, wenn du das nächste Mal gehst?«

Keine Antwort.

»Er kennt Stan, und Desi O’Neill auch. Er würd schon nicht wie ein überflüssiges Arsch … Ersatzteil in der Ecke rumhängen.« Bobby fand es nach wie vor peinlich, vor seinen Eltern derbe Worte zu benutzen, im Gegensatz zu seinem besten Freund Joey Miller, der jede Gelegenheit dazu regelrecht genoss.

»Steht heut Abend nicht irgendwas an?«

Nach wie vor keine Antwort. Der jüngere Mann seufzte.

»Lass gut sein, Bobby, ja? Mit uns läuft es schon besser. Das reicht fürs Erste.« Harry war offenbar nicht in der Stimmung, das weiter auszuführen. Er legte die Zeitung beiseite, stand auf und ging zum Fernseher. Nachdem er sich durch drei Sender gezappt hatte, entschied er sich für Farming Outlook.

»Hast du mir die Sunday Post mitgebracht, Harry?«, drang Ethels zittrige, schrille Stimme – wie zwanzig Minuten zuvor die ihres Mannes – durch die Tür.

»Ja.« Heute Vormittag würde es keine langen Gespräche mit dem Familienoberhaupt geben.

Ethel ging Richtung Küche und blieb nur kurz stehen, um Bobby zu fragen: »Wann seid ihr zwei nach Hause gekommen?«

»Was weiß ich denn.« Bobby war klar, dass er schleunigst von dem Stuhl aufstehen musste, wenn er nicht ausgequetscht werden wollte, doch er machte sich ernsthaft Sorgen, dass seine Füße ihm den Dienst versagen würden.

»Bobby, zieh dir was über, wenn du am Tisch sitzt.«

Dieser Hinweis seiner Mum brachte ihn endgültig auf die Beine. Sonst würde mit Sicherheit ein Kreuzverhör folgen.

»Bobby, auf meinem Sitz ist Blut!« Ethel war aus der Küche zurückgekommen und hatte einen kleinen roten Fleck auf dem beigefarbenen Juteleinen entdeckt.

»Das ist nicht von mir, Mum. Ich blute nicht«, erklärte Bobby und verdrehte langsam den Kopf, um sich selbst zu untersuchen.

»Was ist denn das da auf deinem Rücken? Ganz unten. Da«, fragte Ethel mit zusammengekniffenen Augen.

»Ich seh nix. Wo?« Bobby verrenkte sich immer noch den Hals.

»Da steht irgendwas von R-A-S-C-H«, sagte Ethel. »Warte. Ich brauche meine Brille.« Harry wartete, bis Ethel nach oben verschwunden war, um ihre Brille vom Nachttisch zu holen. Dann stand er schon mit den schlimmsten Befürchtungen auf, um selber nachzusehen.

»Du dämlicher Idiot! Das ist ein Tattoo, verflucht. Da steht: ICH MAG’S IN DEN ARSCH …«

»Was? Ach du Scheiße! Hör auf!« Bobbys Schock über das Tattoo als Ursache seiner Schmerzen am Rücken ließ ihn kurzzeitig vergessen, mit wem er sprach. »SCHEIßE! Ist das alles?«

»Hey, nicht in dem Ton! Und nein, das ist nicht alles. Drunter steht noch ›REIN INS VERGNÜGEN‹, und dann ist da ein Pfeil, der auf deine Arschfalte zeigt! Verdammt noch mal, Bobby, das ist eine echte Tätowierung! Die kann man nicht wieder abwaschen!«

Hin- und hergerissen, ob er lieber gleich Gary zur Rede stellen oder erst seine Mutter abwimmeln sollte, ging Bobby zur Hintertür. Sein Bruder war natürlich längst verschwunden.

»Die miese Drecksau«, murmelte Bobby, als er ein weißes Adidas T-Shirt – Garys, der kann mich mal – von der Wäscheleine riss und über das leicht blutende Kunstwerk zog. Der Stoff war eiskalt und lag an seinem Körper an wie ein Stück gefrorene Pappe, das über Nacht im Freien gelegen hatte.

»Wo ist Mum?«, fragte Bobby Harry, der zu ihm hinaus an die frische, klare Luft getreten war.

»Sadie Flanagan ist an der Tür. Dauert sicher wieder Stunden. Du hast verdammtes Schwein, Junge. Bis die zu Ende gequatscht haben, hat sie’s wieder vergessen.«

Vater und Sohn setzten sich auf die feuchte Holzbank und starrten durch den Garten auf die Schule, wo Bobby in die zwölfte Klasse ging und sich auch gelegentlich blicken ließ, wohingegen Harry während des Schuljahres an jedem Tag unter der Woche und hin und wieder auch samstags dort war.

»Was willst du mit deinem Leben anfangen, Junge?« Diese Frage hatte Harry seinem mittleren Kind schon oft gestellt – vor allem in den vergangenen fünf Monaten, jedesmal ohne erkennbare Reaktion.

Bobby zuckte die Achseln. Fragen in dieser Richtung machten ihn immer reizbar. Er war gerade erst achtzehn geworden. Die Tinte auf den Geburtstagskarten im Wohnzimmer war kaum trocken. Er wollte einfach nur rumgammeln. Sein Vater hatte das Wort verächtlich gemeint. Als Bobby es gegenüber Joey Miller wiederholt hatte, hatte es noch planvoll geklungen.

Joey war ein bisschen jünger als Bobby. Er wurde erst im Oktober achtzehn und konnte ziemlich angespannt rüberkommen, weshalb die Mädels ihn ein bisschen sonderbar oder sogar unheimlich fanden. Weil er ständig in Bobbys Schatten auftauchte, hatten sie ihm den Spitznamen Jeeves gegeben, was Joey wie Bobby ziemlich nervte. Bobby sah die andere Seite seines Freundes – er konnte echt witzig sein, stand voll auf Musik und war komplett auf derselben Wellenlänge wie Bobby. Er war bestimmt nicht mit bei dem Kilmarnock-Spiel gewesen. So viel war klar. Joey war Rangers-Fan, was ihm auch zustand, weil er immerhin im Süden von Glasgow aufgewachsen war. Nicht wie die beschissenen Pseudo-Fans, von denen es in Kilmarnock wimmelte, die aus reinem Opportunismus Anhänger von einem der erfolgreichen Glasgower Erstligaclubs geworden waren. Bobby hasste sie alle.

»Was hast du vor, wenn du mit der Schule fertig bist?«

Bobbys andauernder Kater führte dazu, dass er seinen Vater wie unter Wasser reden hörte. Kein angenehmes Gefühl.

»Hörst du mir zu?« Harry rüttelte an der Schulter seines Sohnes.

»Mann, Dad, ich weiß nicht. Ich will bloß …«

»Bloß was? Dieses Jahr musst du eine gute Note in Englisch kriegen, wenn du nach dem Sommer auf die Uni willst.«

Bobby brachte es nicht über sich zu gestehen, dass er es praktisch aufgegeben hatte, die für eine Studienzulassung notwendige Punktzahl in Englisch zusammenzubekommen. Die Vorprüfung vor ein paar Wochen war ein Desaster gewesen. Sein Ergebnis hatte auf einem Punkteniveau gelegen, das beim Eurovision Song Contest vielleicht noch der norwegische Teilnehmer akzeptabel gefunden hätte. Bisher hatte er es sowohl seiner Mutter als auch seinem Vater verschwiegen, doch in Wahrheit steuerte er auf einen Schulverweis zu. Die Hakennase hatte ihn schon zwei Mal gewarnt, dass er bei Ausschluss von der weiteren Teilnahme am Englischkurs ganz von der Schule fliegen würde. Joey war in der gleichen Lage, wobei dessen spezielle Nemesis Mathe war. Bobby wusste sehr gut, dass er einen Fluss hinuntertrieb – und das Paddel etwa eine halbe Meile flussaufwärts über Bord geworfen hatte. Aber deswegen ins Wasser zu springen, zurückzuschwimmen und es zu bergen wäre ihm als Letztes in den Sinn gekommen. Scheiß drauf. Wenn hinter der nächsten Biegung ein Wasserfall lag, würde er sich einfach zurücklehnen, weiter darauf zutreiben und unterwegs ein paar Sonnenstrahlen aufsaugen. Wasserfälle waren immerhin aufregender als beschissene Bäche.

»Hör mal, Dad, ich komm schon klar. Joe und ich wollen irgendwas auf die Beine stellen. Wir wissen halt bloß noch nicht, was.«

»Also echt, Bobby, der ist doch genau wie du! Wenn Grips Dynamit wäre, würde Joeys nicht reichen, um den Rasen zu sprengen«, sagte Harry, was ihm sofort zumindest ein wenig leidtat. Joey war bestimmt intelligent – er benutzte lauter wichtig klingende Worte, die Harry noch nie gehört hatte. Harry meinte auch nicht, dass Joey dumm war; er meinte, dass Joey womöglich der faulste und antriebsloseste Mensch der nördlichen Hemisphäre war. Ihm fiel bloß kein passender Witz ein, mit dem er das hätte illustrieren können.

»Wir dachten, wir machen vielleicht irgendwas mit Musik«, sagte Bobby, optimistisch genug, um auch so zu klingen.

»Schon irgendwelche Ideen?«, bohrte Harry nach. »Ein Plattenladen? Studioarbeit? Eine Band? A & R …?« Seine Vorschläge hatten einen sarkastischen Unterton, der jedoch so gedämpft war, dass er der eingeschränkten Sinneswahrnehmung seines Sohnes entging.

»Nee. Wir können ja kein Instrument«, erklärte Bobby, als wäre das eine völlig neue Information für seinen Vater. »Wir dachten eher so in Richtung DJ.«

Harry hielt seine Packung Embassy Regal zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Er hatte keine andere Wahl – vor ein paar Jahren waren die anderen drei Finger von einem Webstuhl der BMK Teppichfabrik abgetrennt worden, in der er seit seinem Abgang von der Schule gearbeitet hatte. Mit der anderen Hand zog er vorsichtig eine Zigarette aus der frisch geöffneten 20er-Packung. Bobby beobachtete, wie mühelos Harry mit seiner beschädigten Hand ein Streichholz anriss und die Zigarette anzündete. Er bewunderte seinen Vater aufrichtig dafür, wie er mit den Folgen des Unfalls zurechtgekommen war. Er war nicht wütend oder verbittert geworden, sondern hatte einfach hingenommen, dass es ein großes Schlagloch in der holprigen Straße des Lebens war, das er nicht hatte umfahren können. Anfangs war Bobby nicht besonders begeistert gewesen, als sein Dad nach der Genesung nur ein Angebot für den Posten des Hausmeisters an seiner Schule bekommen hatte. Aber Harry war in New Farm Loch ein bekannter und allseits beliebter Typ, weshalb sich auch niemand über ihn lustig machte. Wenn man bedachte, wie viele Mitre-5-Fußbälle Harry in den letzten paar Jahren mit nach Hause gebracht hatte, musste Bobby sogar zugeben, dass das Arrangement gewisse Vorteile hatte. Auch heute sollte sich das wieder bewahrheiten.

»Also, wenn du’s wirklich ernst meinst, am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer hing ein Zettel«, sagte Harry nach einer langen Pause, in der er seinen »kleinen Himmelsstängel« in perfekt geformte Rauchkringel aufgehen ließ.

»Und was stand drauf?« Ein plötzlich aufmerksamer Bobby wandte den Kopf und sah Harry zum ersten Mal direkt an.

»Irgendein Mädchen sucht eine mobile Disco für die Party zu ihrem Achtzehnten.«

»Wo?«, fragte Bobby.

»Hab ich dir doch gesagt! Am Schwarzen Brett im Lehrer –«

»Nein, nein … wo ist die Party?« Bobbys anfänglicher Ärger verflog, als er merkte, dass sein Dad ihn sanft auf den Arm nahm.

»Im Sandriane. In ungefähr drei Wochen. Sie heißt Lizzie. Ist aber nicht auf unsrer Schule, also musst du dich womöglich beeilen. Wahrscheinlich hat sie solche Zettel auch woanders ausgehängt. Unten drunter stand eine Telefonnummer.« Es entstand eine weitere Pause in der Unterhaltung, in der Harry förmlich vor sich sah, wie die kleinen Techniker in Bobbys überhitztem Hirn schufteten, um die gerade erhaltene Information zu verarbeiten. Harry lachte, als er Bobbys Blick hin und her schießen sah. Er überlegte, ihm auf die Nase zu drücken, um zu sehen, ob er einen Lochstreifen ausspucken würde, auf dem stand: »Besorg mir die Nummer, bitte.«

»Soll ich dir dann die Nummer beschaffen?«, kam Harry ihm zuvor.

»Äh, hmm, ja. Glaub schon …« Bobby war schon dabei, seinen Part in der Unterhaltung einzustudieren, die er am Nachmittag mit Joey führen würde. Und die Oberstübchen-Techniker hatten ihrerseits begonnen, ein paar sachdienliche Fragen zu formulieren: Wo kriegst du eine Anlage her? Hast du genug Platten? Was ist mit Licht? Einem Transporter? Einem Fahrer?

Jetzt stellten die kleinen Scheißer zu viele Fragen. Dabei sollten sie die verdammten Antworten liefern. Das war ihr Job. Bobby stand auf und ging zur Treppe. Er zitterte nicht schlecht, nachdem ihm gerade bewusst geworden war, wie lange er an einem schottischen Januarmorgen an der Luft gewesen war. Er hatte vor, sich ein Bad einlaufen zu lassen und sich danach fertig zu machen, um Joey abzuholen. Vielleicht sollte er auch Hamish May anrufen. Obwohl es wahrscheinlich besser wäre, ihnen etwas Konkreteres sagen zu können. Er sollte diese Lizzie anrufen und die Details erfragen. Sichergehen, dass der Job wirklich noch zu vergeben war. Es gab viel zu tun, doch er musste zugeben, dass er sich ungleich dynamischer fühlte als noch vor einer halben Stunde. Sogar Lemmys Gang hatte sich verpisst.

»Hallo, Bobby, Junge.« Mrs. Flanagans Stimme war tief wie eine Kohlenmine in Cumnock und doppelt so gefährlich. »Hast gestern Abend wohl ein bisschen gefeiert, wie ich gesehen habe, und deinen Namen auf Vivianis Schaufenster gesprüht.«

Ethel drehte sich mit halb offenem Mund zu Bobby um.

»Oh, tut mir leid. Hab ich mich verplappert?« Mrs. Flanagan schlug sich theatralisch die Hand vor den Mund.

Blöde Scheißkuh, dachte Bobby, als er sich an seiner Mutter vorbeidrückte und unter ihrem missbilligenden Schnalzen das relativ sichere Badezimmer anstrebte.

»Da war noch was, worüber ich mit dir reden wollte. Aber ich kann mich nicht dran erinnern.« Bobby und sein Dad machten sich häufig Sorgen wegen Ethels Vergesslichkeit, doch heute war Bobby, zumal noch kein Blut durch Garys weißes T-Shirt gesickert war, ausnahmsweise einmal dankbar dafür.

Als er den oberen Treppenabsatz erreichte, drangen die sonntagmorgendlichen Klänge von Human League aus dem Transistorradio, sicheres Anzeichen dafür, dass seine Schwester sich im Bad breitgemacht hatte. Bis auf Weiteres würde er nirgendwohin gehen. Verstohlen schlich Bobby die Stufen wieder hinunter, vorbei an seiner wütend dreinblickenden Mum und der alten Schachtel Flanagan, die – bloß um Salz in die Wunde zu streuen – fröhlich ein zweites Mal sagte: »Hallo, Bobby, Junge.«

Verfaul in der Hölle, alte Pissfotze, dachte er und machte sich auf die Suche nach dem Telefon. Die Familie hatte kürzlich ein neues »mobiles« Gerät angeschafft, das absolut genial war. Es hatte die Ausmaße eines Ziegelsteins, war größer als der Bakelithörer, den es ersetzt hatte, und hatte nur eine begrenzte Reichweite, aber wenn man die Antenne ganz herauszog, musste man nicht im Flur – oder mit allen anderen im selben Zimmer – hocken, wenn man seine Kumpels anrufen wollte.

Er neigte seinen Fuß, bis er die leicht verblasste Nummer lesen konnte. Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine Stimme, noch heiserer als die der alten »Stinkfotze«.

»Hallo? Hallo?«, sagte sie in einem Rhythmus, dass Bobby fast in den Fangesang eingestimmt und geantwortet hätte: »We are the Billy Boys …« Das tat er nicht, und die Schmirgelpapierstimme fauchte ihn an:

»Hallo? Wer ist da, verdammt noch mal?«

»Ähm, hier ist Bobby Cassidy. Wer ist da?«

»Du hast mich angerufen, du Wichser!«

»Ja, aber ich glaub, mir hat vielleicht jemand eine falsche Nummer gegeben.«

»Alter, hier ist Franny Duncan. Also, was willst du? Ich lieg noch im Bett, verdammt.«

Heilige Scheiße, Franny Duncan. Was machte er mit Fat Franny Duncans Nummer auf seinem Fuß? Bobbys Hirntechniker rannten panisch herum. Wörter wie »Gangster«, »Dealer«, »Machenschaften«, »groß«, »fett« und »Dreckskerl« schossen in seinem Schädel hin und her wie die Metallkugeln in einem Multi-Play-Flipper.

»Ich überlege, DJ zu werden«, stotterte Bobby, dem nur allzu bewusst war, dass er bereits seinen Namen genannt hatte.

»Ruf später noch mal an, verdammte Kacke, so gegen vier. Frag nach Hobnail. Der kümmert sich drum.« Klick. Die Verbindung wurde beendet und wich einem brummenden Dauerton.

Bobby starrte das Telefon ein paar Sekunden lang an. Hobnail? War das ein beschissener Code? Neben all den anderen Worten, die ihm in den Sinn kamen, wenn man an Fat Franny Duncan dachte, tauchten zwei weitere auf: »Mobil« und »Disco«. Es war ein großes Risiko, aber Franny Duncan würde zumindest wissen, wo man Equipment bekam, und hatte vielleicht sogar welches zu verleihen. Bobby Cassidy war einen winzigen Schritt vom Rande des Abgrunds zurückgetreten.

2

DER MENSCH MACHT PLÄNE, UND GOTT LACHT

2. Februar 1982: 14.26 Uhr

Fat Franny Duncan liebte DerPate, gehörte jedoch nicht zu jener neuen Gruppe von Theoretikern, die Teil II des Films für besser hielten als Teil I. Fat Franny fand das Original definitiv am besten, und er war angesichts des Erfolgs der Filme und der Zeitlosigkeit der Geschichte verblüfft, dass es keinen dritten Teil gegeben hatte wie bei Rocky. Genauso wenig konnte er begreifen, warum es kein Buch zum Film gab, obwohl er, selbst wenn es eins gegeben hätte, seine Zeit bestimmt nicht mit dessen Lektüre vergeudet hätte. Er kannte die Dialoge aus beiden Filmen mehr oder weniger auswendig und benutzte die berühmtesten Zitate als persönliche Lebensmaximen, vor allem die Sätze von Don Corleone, dem er, da war Fat Franny sich sicher, in seinem späteren Leben ähneln würde. Schließlich war er auch fett. Das war unbestreitbar. Und Brandos berühmtester Figur verlieh die Körpermasse Würde und brachte ihr damit ein Maß an Respekt ein, das Fat Franny ebenfalls zu erreichen hoffte. Michael war ein hagerer Itaker-Drecksack, und wenn auch er zweifelsohne Respekt einflößend war, beruhte der Respekt bei ihm auf Einschüchterung.

Fat Franny war entschlossen, ein rechtschaffenes Business aufzuziehen, das ihm allgemeine Bewunderung einbringen würde. Und Vehikel dafür sollte das aufblühende Unterhaltungsgewerbe sein. Das Ganze hatte sich ganz ordentlich angelassen. Das Geschäft mit der mobilen Disco hatte schleppend begonnen, jedoch in den vergangenen eineinhalb Jahren zunehmend lukrative Gigs wie auf Hochzeiten und Jubiläen abgeworfen. Mit Feiern ließ sich Geld verdienen, daran bestand kein Zweifel. Und deswegen hatte Fat Franny einen Künstlerpool zusammengestellt: eine Ansammlung von Unterhaltern für jede Gelegenheit. Von Kindergeburtstagen über Volljährigkeitspartys bis hin zu Wohltätigkeitsveranstaltungen – Fat Franny hatte alles abgedeckt. Warum also wollte er, als er seine Künstler musterte, die sich zwei Mal pro Woche in seinem geräumigen Ex-Sozialbau zur Besprechung am Küchentisch versammelten, trotzdem jedem anwesenden Mitarbeiter am liebsten ein Schlachtermesser in beide Hände jagen?

»Franny.« Verlegen brach Bert Bole das Schweigen, das seit einer Viertelstunde über der Runde lag.

Alle am Tisch beäugten ihren schwarz gekleideten Anführer nervös. Er fuhr sich mit seinen Wurstfingern durch das schüttere, ergraute Haar auf seinem Kopf und nestelte an dem schwarzen Gummi, mit dem der Rest zu einem festen Pferdeschwanz gebunden war. Schließlich strich er mit Daumen und Zeigefinger über seinen dünnen Schnurrbart. Für Bert Bole sah es aus wie das Ritual vor einer Schlachtung.

»Franny! Boss …?« Bert hatte – wenngleich nur minimal – die Stimme erhoben, um dem dicken Mann mit dem verträumten Blick am Kopf des Tisches eine Reaktion zu entlocken. In Momenten wie diesen – und es hatte in letzter Zeit ein paar zu viele davon gegeben – dachte Fat Franny häufig an den Don. Umringt von seinen Untergebenen stellte er sich vor, was Corleone zu Bob Dale gesagt hätte – Fat Frannys Luca Brasi –, wenn diese Schwachköpfe ihm berichtet hätten, was sie gerade verkündet hatten.

Bob Dale antwortete kaum hörbar.

»Er versteht dich schon. Er glaubt dir bloß nicht.« Bob Dale sagte nicht oft etwas. Wegen einer Hasenscharte und seiner schiefen Zähne lispelte er stark, wofür er in der Schule gnadenlos gehänselt worden war. Bob hatte es daher für zweckdienlicher gehalten, sich statt mit seiner brüchigen Stimme gleich mit Fäusten zu wehren. Im Laufe der Zeit war er herangewachsen, und mit ihm sein Ruf als jemand, mit dem nicht zu spaßen war. Doch bis dahin war bereits bleibender Schaden angerichtet. Sein Spitzname war Vermächtnis jener frühen brutalen Jahre – Hobnail, Schuhnagel, nach dem Geräusch, das er machte, wenn er Leuten erklärte, wer er war.

»Kein Trinkgeld? Bei einer scheiß Hochzeit in Cumnock?« Fat Frannys Stimme war im Gegensatz zu Hobnails laut und für sein versammeltes Gefolge nur allzu deutlich vernehmbar. »Wollt ihr mich verarschen? Sogar der verdammte Pfarrer kriegt normalerweise ’nen Fuffi.« Don Franny breitete die Arme aus und legte seine Hände dann in Zehn-vor-zwei-Position flach auf den Tisch. »… und einen Freischuss bei mindestens zwei Brautjungfern.«

Bob Dale feixte, achtete jedoch peinlich genau darauf, dass Fat Franny es nicht mitbekam. Fast alle anderen blieben stumm und wandten den Blick ab. Nur Jill Boothby – eine Hälfte des verheirateten DJ-Duos Cheezee Choonz – meldete den Wunsch an, etwas zur Unterhaltung beizutragen. Doch ihre erhobene Hand sollte vom Vorsitzenden bis zum Ende der Besprechung unbeachtet bleiben.

»Die Sache ist die …« Fat Frannys dunkles Geknurre schien aus den Tiefen seiner Wampe zu kommen und hallte von den nackten Wänden der zweifach erweiterten Küche wider. Erneut entstand eine lange Pause, in der Fat Franny sich vorstellte, wie Hobnail Bert Bole in die Mangel nahm und dessen mit Gewichten beschwerten Körper vom Pier in Irvine Harbour ins Wasser beförderte. Dann konzentrierte er sich wieder.

»Ob es euch gefällt oder nicht, ihr beschissenen Clowns seid Teil eines Business. Ich finanziere jeden eurer scheiß Gigs. Ich stelle das Equipment. Ich stelle die ganze Security, damit ihr in Dreckslöchern wie dem Auchinleck Bowling Club nicht auf die Fresse kriegt.« Fat Franny blickte im Uhrzeigersinn nacheinander jeden von ihnen direkt an. »Ihr – und ich kann nicht glauben, dass ich das verdammt noch mal sage – seid meine beschissenen Künstler.«

Die Cheezees verharrten regungslos. Bert Bole zeigte auf, als wollte er eine Redeerlaubnis beantragen. Mr. Sunshine, der ehemalige Kinderunterhalter, war offenbar eingeschlafen.

»Hey … Sunshine!« Fat Franny warf ein Creme-Teilchen, das den älteren Mann seitlich im Gesicht traf und seine Dr. Crippen-Brille von der Nase rutschen ließ. »Wach auf, du Flachwichser! Es geht auch um deine Interessen.«

Hobnail erkannte, dass Fat Frannys Laune sich weiter verfinsterte, und war klug genug, nicht auf den Sahneklecks hinzuweisen, der noch an Mr. Sunshines bizarrem rötlichen Bart klebte.

»Ihr bringt ganz einfach nicht genug Kohle rein, und das sollte sich verdammt noch mal besser schleunigst ändern, kapiert?« Fat Franny zeigte auf Hobnail. »Er hat mir gesagt, dass ihr Trinkgelder zurückhaltet.« Die Künstler richteten geschlossen den Blick auf den stehenden Bob Dale, der ruhig die Arme verschränkte, die Augen schloss und nickte.

»Ab jetzt läuft das so: Im nächsten Monat muss jeder von euch einen eigenen Gig reinholen oder ich such mir andere Leute.« Fat Franny stand so hastig auf, dass sein Stuhl dramatisch nach hinten umkippte. »Ich geh jetzt kacken. Denkt gut darüber nach, was ich gerade gesagt habe.«

»Verdammt, Alte, nimm die Hand runter, er ist weg«, sagte Bert zu Jill, als Fat Franny und Bob Dale außer Hörweite waren. Obwohl er nicht der älteste der vier war, fungierte Bert bei den vereinzelten Anlässen, zu denen sie das kollektive Bedürfnis verspürten, ein Anliegen bei dem fetten Mann vorzubringen, als ihr Sprachrohr. Bert gehörte seit fast drei Jahren zu Fat Frannys Truppe. Damals waren beide Ende dreißig gewesen, und Berts Frau Doris hatte eine ernst zu nehmende Spielsucht entwickelt. Es hatte ganz beiläufig begonnen. Aus ein paar Bingo-Abenden mit Freundinnen aus der Teppichfabrik waren, nachdem sie ihren Job verloren hatte, Tagesbesuche in William Hills Online-Casino geworden.

Für Bert fielen damals Extraschichten als Hausmeister an der James Hill Academy an, wo er bei Lehrern wie Schülern gern gesehen war, was vor allem an seinem unerschütterlichen Optimismus lag. Er glaubte an das Gute im Menschen, und das verleitete ihn dazu, Dinge für andere zu tun, selbst wenn es zu seinem eigenen Nachteil war. So hatte er Harry Cassidy dann auch geholfen, den Job als zweiter Hausmeister zu bekommen, wo ein eigensüchtigerer Mensch womöglich versucht gewesen wäre, die zusätzlichen Schichten einfach selbst zu übernehmen. Anfang 1979 hatte sich Bert und Doris Boles Situation merklich verschlechtert. Obwohl beide wussten, dass Doris ein gravierendes Problem hatte, fiel es ihnen schwer, darüber zu sprechen. Deshalb beschränkte sich ihre Bewältigungsstrategie praktisch darauf, es zu ignorieren. Als sie mit Miet-, Strom-, Gas- und Wasserrechnungen ernsthafte Verbindlichkeiten angehäuft hatten, befolgte Bert einen wohlmeinenden Rat und stattete Fat Franny Duncan in Onthank einen Besuch ab. Fast drei Jahre später arbeitete er immer noch als Pub-Sänger unter dem Künstlernamen Tony Palomino und zahlte eine ursprünglich überschaubare Schuld von einhundertfünfzig Pfund für drei Monate Mietrückstand ab. Einen Monat, nachdem Bert diese Vereinbarung abgeschlossen hatte, war Doris tot.

Eine Gefälligkeit, die Berts Arzt von einem Freimaurerbruder bei der Staatsanwaltschaft einforderte, sorgte dafür, dass als Todesursache ein »Unglücksfall« eingetragen wurde, da Doris die Überdosis Antidepressiva, die sie tatsächlich getötet hatte, versehentlich eingenommen habe. Für Bert machte das am Ende keinen großen finanziellen Unterschied, ermöglichte jedoch immerhin die Auszahlung einer erbärmlichen Lebensversicherung, mit der er eine ordentliche Einäscherung bezahlen konnte. Für den Leichenschmaus kamen seine Freunde vom Freimaurerclub in Hurlford auf. Seitdem sorgte Fat Frannys wöchentliche Berechnung der Zinseszinsen dafür, dass die endgültige Tilgung der Schuld immer unerreichbar blieb. Insofern war Bert in gewisser Weise Gefangener seiner eigenen Geschichte, doch die Motivation der anderen hatte er nie ganz verstanden.