Schreiblust – Kurze Geschichten über dieses und jenes - Franck Sezelli - E-Book

Schreiblust – Kurze Geschichten über dieses und jenes E-Book

Franck Sezelli

0,0

Beschreibung

In diesen kurzen Geschichten lesen Sie von Menschen mit ungewöhnlichen Erlebnissen und Erfahrungen, sie lesen von kleinen Gaunern und großen Verbrechen, von Kunst und Wissenschaft, von Urlaub und Arbeit. Der Stil der Geschichten ist oft humorvoll, manchmal auch ernst, häufig voller Überraschungen. Der Leser lernt Neues kennen und Bekanntes aus ungewöhnlicher Sichtweise. Es gibt Historisches zu entdecken und auch sehr Aktuelles, immer in unterhaltsamer Form. Die Bandbreite der Texte reicht von Kriminellem bis zu Kulinarischem, von Esoterik zu Erotik, vom Alltäglichen zu Besonderem. Entstanden sind alle diese Geschichten bei der Mitarbeit in einem Schreibforum im Internet, in dem monatlich eine Schreibaufgabe zu einem immer wieder neuen Thema gestellt wurde, die der Autor mit Fantasie ausgeführt hat. Selbstverstänlich fließen dabei auch autobiografische Erfahrungen des Autors ein. Da der Autor im Süden Frankreichs lebt, ist es auch nicht verwunderlich, dass ein Teil der Geschichten in Frankreich spielt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 139

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schreiblust

Kurze Geschichten

über dieses und jenes

FRANCK SEZELLI

Copyright © 2022 Franck Sezelli

http://franck-sezelli.jimdo.com

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältiging oder Übersetzung - auch auszugsweise - ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet

INHALT

1 Eine ungewöhnliche Begegnung

2 Nur Spaß

3 Das Blau des Himmels

4 Die Radierung

5 Carmen

6 Die Höhle

7 Von Saratoga Springs in die ganze Welt

8 Ganz nach Süden

9 Bärlauch

10 Wie man sich täuschen kann

11 Recherche

12 Peinliche Überraschung

13 Die Kommunikation der Tardigraden

14 Mädchen mit Schmetterlingen

15 Heißer Sommer

16 Im Hotel

17 Der Hinweis

18 Gut aufgehoben

19 Antigravitation

20 Flaschenpost im Süden Frankreichs

ÜBER DEN AUTOR

VOM GLEICHEN AUTOR

VORWORT

Die hier versammelten Geschichten mit bunt gemischten Themen sind in einem Schreibforum im Internet entstanden. Monatlich wird dort ein Thema vorgegeben und dreißig bis vierzig Schreiblustige lassen ihre Fantasie spielen. Anschließend diskutieren und kommentieren die Teilnehmer gegenseitig ihre Geschichten und verbessern sie nhaltlich und sprachlich.

Ich stelle hier zwanzig meiner auf diese Weise in den letzten drei Jahren entstandenen Kurzgeschichten vor.

Zum Thema »Das unerwartete Blatt im Aktenordner« schrieb ich beispielsweise die Kriminalgeschichte Der Hinweis. Die kleine Gaunerkomödie Im Hotel stand unter dem Thema »Zur Sache, Schätzchen!« und »Das habe ich nicht gewollt« lieferte den Anlass für die historisch-kulinarische Erzählung Von Saratoga Springs in die ganze Welt.

Ich wünsche Ihnen beim Lesen dieses literarischen Potpourris viel Vergnügen!

Südfrankreich im Mai 2022

Ihr Franck Sezelli

1 Eine ungewöhnliche Begegnung

Ich öffne das Fenster und bin vom Anblick, der sich mir bietet, überwältigt. Dabei ist es gar nicht so sehr der in der Sonne liegende Fluss und die hellen, freundlichen Fassaden der Gebäude gegenüber. Nein, es ist die Erinnerung, die mich überwältigt.

Wie lange ist das her? Wenn mich nicht alles täuscht, genau zehn Jahre. Es war Frühling und es duftete herrlich an diesem denkwürdigen Tag.

Nach einem Spaziergang durch das sehenswerte Zentrum der alten Stadt war ich schließlich an diesem kleinen Flüsschen gelandet. Ich setzte mich auf eine Bank und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen.

Da stand sie auf einmal! Keine zwei Meter von mir entfernt, am Geländer, und schaute auf das Wasser. Ihre schlanke, irgendwie zerbrechlich wirkende Gestalt bezauberte mich vom ersten Augenblick an. Ich weiß gar nicht mehr, was sie anhatte. Vielleicht einen knielangen Rock, der ihre schönen nackten Waden betonte und eine Bluse? Ja, eine Bluse, fast durchscheinend, das bemerkte ich aber erst später, viel später!

Jetzt stand sie einfach nur da und schaute auf den Fluss. Und ich bewunderte ihre Figur, ihren schlanken Hals, die Rückenlinie und den kleinen Po, der sich unter dem Rock abzeichnete. Sie hatte schulterlange rote Haare.

Dann drehte sie sich um – und die Welt war eine andere! Ihre graublauen Augen versenkten sich in meine, und ich nahm trotz des Schwindelgefühls, das mich erfasste, ein Lächeln wahr. Es war unbeschreiblich, das hatte ich noch nie erlebt!

Ihr muss es ähnlich ergangen sein, denn sie machte die paar Schritte auf meine Bank zu und setzte sich neben mich, meinen Blick wie verzaubert festhaltend.

Magali hieß sie …

Ich weiß nicht, was ihr an diesem Tage zugestoßen war, irgend etwas Ungewöhnliches wird es gewesen sein. Denn völlig ungewöhnlich ging es weiter. Mit uns!

Wir fassten uns an den Händen und liefen am Kai entlang, blieben immer mal stehen und schauten uns in die Augen. Ich war völlig verzaubert. So gelangten wir auf die Brücke, die ich hier bei meinem Blick aus dem Hotelfenster wieder vor Augen habe und von dort auf die kleine einladende Terrasse neben der Kirche am anderen Flussufer.

Eine Weile saßen wir dort auf einer Bank, gingen dann aber weiter, die große Straßenbrücke wieder hinüber und landeten in einem Café. Als wir zuvor an dem Hotel Le rêve vorbeikamen, sahen wir uns fast verschwörerisch an – wir dachten wohl dasselbe.

Jedenfalls saßen wir uns auf der Terrasse des Cafés gegenüber, schauten uns weiter in die Augen und hielten uns über den Tisch hinweg an den Händen. Ab und zu nippten wir wahrscheinlich an einem Rotwein, den wir bestellt hatten – aber da kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Wir verstanden uns ohne Worte. Zum Glück! Denn Magali sprach kein Deutsch und mein Französisch ist sehr rudimentär.

Nicht viel später liefen wir die paar Schritte wieder zurück zumHotel. Le rêve, das bedeutet Der Traum, soviel wusste ich. Und es wurde ein solcher! Magali sprach mit der freundlichen Dame am Empfang, bekam einen Schlüssel, nahm mich bei der Hand und führte mich in das Zimmer. Es war die Magie de l’amour, die uns überwältigt hatte.

Noch heute, nach zehn Jahren, steht mir alles lebendig vor Augen. Ich atme tief aus und lächle in mich hinein. Wenn ich es recht bedenke, könnte es genau dasselbe Zimmer gewesen sein. Es roch genauso! Damals aber fühlte und roch ich bald nur noch sie – Magali!

Eine Begegnung von solcher Intensität, die sich mir wohl für das ganze Leben tief eingebrannt hat.

Der unausweichliche Abschied am nächsten Morgen tut mir heute noch manchmal weh. Auch jetzt durchströmt mich ein Gefühl von Wehmut, das ich mir nicht erklären kann – führe ich doch ein glückliches Leben!

Ich war in all den Jahren noch des Öfteren in Frankreich, aber nie mehr in dieser wundervollen Stadt meiner Sehnsucht. Wenn ich es geplant hatte, kam dennoch immer etwas dazwischen und wir sind woanders gelandet.

Jetzt aber stehe ich hier und die Erinnerungen überwältigen mich …

»Was machst du da? Was stehst du da so lange, Schatz? Wollen wir nicht rausgehen in die Sonne und die Stadt erkunden?«

Noch einmal nehme ich das Bild am Fluss in mich auf, die Vergangenheit wird von der Gegenwart eingeholt. Ich schließe das Fenster und ziehe die Vorhänge zu. Der Lichtschein, der aus dem kleinen Korridor ins Zimmer fällt, lässt das Hotelbett fast unwirklich, wie in einem Traum, erscheinen. Bilder flackern in meinem Kopf auf. Erst mein entschlossener Griff zum Lichtschalter beendet die aufkommenden Erinnerungen. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und folge meiner Frau.

2 Nur Spaß

Was war das? Ich höre jemanden atmen. Ganz deutlich! Und heftig. Ganz konzentriert lauschend halte ich meinen Atem an.

Stille! Absolute Stille …

Nur da hinten ein leises Geräusch, wie ein Picken oder sachtes Klopfen. Mit großen Abständen.

Mein Herz klopft schneller, es dröhnt in meinen Ohren. Aber da ist es wieder, das heftige Atmen, wie ein unterdrücktes Ausatmen. Jetzt merke ich es: Wenn ich die Luft anhalte, höre ich es nicht mehr. Der Andere hält die Luft auch an. Und er atmet leise weiter, wenn ich es tue. Seltsam! Was har er vor?

Da hinten, dieses gleichmäßig sich wiederholende Geräusch: Es könnten Wassertropfen sein. Die Decke ist vielleicht undicht oder ein Wasserrohr. Und wenn es kein Wasser ist? Gift?

Mir bricht der Schweiß aus, auf der Stirn ganz kalter Schweiß, meine Handflächen sind auch ganz nass. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich halte das nicht aus!

Warum sind sie nur so böse zu mir? In meinem Nacken spüre ich noch den festen Griff, der mich in der Gewalt hatte und hier hineinstieß. Wie lange ist das her? Eine Stunde oder zwei? Was passiert hier mit mir?

Ich kann gar nichts sehen, es ist völlig dunkel. Nicht einmal meine Hände kann ich sehen. Die Stufe, auf die ich mich noch schnell setzen konnte, bevor die Tür zugeschlagen wurde und das Licht ausging, ist kalt.

Mir ist kalt. Meine Zähne klappern.

Da! In der Ecke, da schaut mich einer an. Mit feurigen Augen und strubbligen langen Haaren. Ein Monster? Hat das einen Bart? Nein! Dort sind spitze Zähne in einem aufgerissenen Maul ... Es kommt näher. Ich bekomme eine Gänsehaut und mich fröstelt noch mehr. Furchtbar!

Ich halte mir die Augen zu. Obwohl ich ja eigentlich nichts sehe. Aber dieses Monster? Vorsichtig nehme ich die Hände wieder weg. Nichts mehr da.

Nur dieses Atmen des Anderen. Oder? Ich glaube, das bin ich selbst. Ich höre meinen Atem. Kann das sein?

Da, ein Rascheln! Schleicht sich jemand an? Wie kann ich mich wehren? Vorsichtig taste ich um mich herum, da ist nichts weiter als die kalten Treppenstufen. Als es noch hell war, habe ich auf der Treppe auch nichts gesehen. Unten, ganz unten, da steht eine Werkbank mit Werkzeugen: Hammer, Schraubenzieher, Zangen. Die könnten mir vielleicht helfen. Aber ich kann doch nicht hinuntergehen, dem Bösen entgegen?

Wie lange ist es her, seit das Licht ausging? Bestimmt einen ganzen Tag. Ob ich verhungere und verdurste? Ob sie das wollen, dass ich sterbe? Oder werden sie es bereuen, wenn ich tot bin? Dann haben sie selber Schuld!

In der Familie meines Vaters gab es mal jemanden, ich glaube, es war der Bruder seines Großvaters, der hat in einer Nacht graue Haare bekommen, weil er etwas Schreckliches erlebt hat. Ob ich auch graue Haare bekomme? Der Bruder dieses Großvaters, von dem mein Vater erzählt hat, ist ja dann eigentlich mein Urgroßvater, also der Bruder von dem. Der war damals noch jung und hat eine ganze Nacht auf einem Baum zugebracht und unten heulte ein Rudel Wölfe. Damals gab es noch Wölfe, es war auch nicht hier bei uns, sondern im Gebirge, im Wald, wo die damals gewohnt haben.

Da sind sie jedenfalls auch schuld, wenn ich graue Haare bekomme.

Ein kalter Hauch, ein Luftzug – oder ist das der Atem dieses Monsters direkt vor mir? Ich kann es wieder erkennen, viel näher als vorhin. Aber schreien werde ich nicht! Vielleicht hat es mich noch gar nicht gesehen. Lieber verhalte ich mich still. Wenn ich den Atem anhalte, hört mich auch niemand. Mir wird aber ganz schwindlig im Kopf, ich muss wohl doch atmen, aber ganz leise …

Laute Schritte nähern sich. Mein Körper erstarrt vor Schreck. Das Geräusch der Schritte dröhnt in meinem Kopf. Was wollen sie von mir? Soll ich mich verstecken? Aber wo?

Da wird es hell – meine Augen sind geblendet. Die Tür wird aufgerissen, dort steht eine dunkle große Gestalt.

»Komm, Thomas!«

Ich trotte hinter der Stimme her. Wie lange war ich im Keller, acht Stunden oder einen ganzen Tag und eine Nacht?

Auf dem Tisch im Wohnzimmer dampft noch mein Teller Suppe, wie ich ihn verlassen musste. Steffi blickt mich ein bisschen triumphierend und ein bisschen traurig an.

»Wirst du deiner Schwester noch einmal von Monstern mit langen Haaren und spitzen Zähnen erzählen, die unter ihrem Bett und in ihrem Schrank wohnen?«, fragt mich streng mein Vater.

»Nein! Es war doch nur Spaß ...«

»Du hast deiner kleinen Schwester aber Angst gemacht!«

Hilflos blicke ich zu meiner Mutter, die mich in die Arme nimmt und über meine Haare streicht. »Es ist wieder gut, Tomi. Papa musste das aber tun, damit du mal fühlst, wie es Steffi geht, wenn du ihr immer Angst machst.«

Zu Steffi gewandt, sagt mein Vater: »Du brauchst keine Angst zu haben. Es gibt überhaupt keine Monster! «

Ich höre das und weiß, es stimmt. Aber sicher bin ich mir nicht mehr.

3 Das Blau des Himmels

Wie oft haben sich Andreas und Irmgard während des Sommers gesagt, dass sie glücklich sind, ihren lang gehegten Wunsch verwirklicht zu haben?

Dabei war es sehr schwer gewesen im letzten Winter, anstrengend und emotional aufreibend. Wochenlang haben sie den Haushalt aufgelöst, jede Vase, jede Ansichtskarte, jeden Teller dreimal in die Hand genommen, ehe sie in den Müll gewandert sind. Am schwersten war es, sich von den vielen Büchern zu trennen. So viel Platz hatten sie im neuen Heim nicht, da hieß es sorgsam zu überlegen, was mitgenommen werden durfte.

»Weißt du, wie viel Arbeit wir unseren Kindern hiermit abnehmen?«, fragte Andreas nicht nur einmal.

Und Irmgard erwiderte dann: »Ja, irgendwann hätten das die Kinder machen müssen. Ob sie uns dankbar sein werden?«

Viel hatte sich in der letzten Zeit verändert, Gesellschaftliches, Berufliches und Privates. Manchmal fühlten sich die beiden gar nicht mehr wohl in der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen sind. Auch aus diesem Grund fassten sie letztendlich den Entschluss, in den Süden zu ziehen. Sicher spielte das Wetter eine große Rolle bei ihren Überlegungen, neben der besonderen Beziehung zu ihrem Traumland und der schon länger gepflegten Liebe zu dessen Sprache.

Anfangs waren die Kinder ja skeptisch, aber schließlich bestärkten sie die Alten. »Wenn überhaupt, wann denn dann?« Ihr Sohn sprach es aus, was sie selbst dachten.

Der Sommer verlief beinahe genauso wie die vielen Urlaube, die das Rentnerpaar hier verbracht hatte. Als sie nicht mehr so viel arbeiten mussten, waren sie schließlich auch schon monatelang hier gewesen. Vieles war also vertraut. Mit den Nachbarn verstanden sie sich gut, sie trafen wie jedes Jahr dieselben Leute, die hier ihren Jahresurlaub verbrachten. Wie früher saßen sie mit ihnen zusammen, machten gemeinsame Ausflüge und besuchten gute Restaurants im Ort und der Umgebung.

Ihr Schweizer Freund Walter brachte es auf den Punkt: »Ich beneide euch! Ihr lebt nun hier, wo andere Urlaub machen. Wer wünscht sich das nicht?«

***

Draußen heulte der Wind, es klang schaurig. Der Wetterbericht sprach von 120 km/h, jetzt schon den dritten Tag. Andreas sagte sich, dass sie früher im Sommer bei diesen Geräuschen trotzdem ruhig geschlafen hatten. Es passiert nichts. Die Leute leben seit Jahrhunderten hier mit diesem Wetterextrem. Die Häuser und Dächer sind so gebaut, dass sie standhalten. Auch kranke Bäume gibt es hier nicht, weil sie mit dem Wind aufwachsen.

Jetzt aber störte der Wind den Auswanderer. Die Luft pfiff kalt durch die Ritzen der Terrassentüren. Im Zimmer wurde es gar nicht mehr warm.

»So richtig gemütlich ist das nicht!«, maulte Andreas. »Vielleicht haben wir uns das doch nicht so gut überlegt. Weißt du, Irmgard, wie kuschlig unsere Sofaecke in Erfurt war, wenn es draußen schneite?«

»Was willst du? Möchtest du etwa wieder zurück? Wir wussten das doch! Nicht umsonst findet hier jährlich die Mondial du vent statt, wir wussten immer, dass der Ort für die Vergabe des Titels Welthauptstadt des Windes nicht ganz aussichtslos ist.«

»Ja, du hast ja recht! Aber der dauernde Wind macht einen ganz kirre im Kopf. Manchmal zweifle ich doch, ob wir hier bleiben sollen?«

»Wegen der Tramontane? Die hört auch wieder auf! Oder ist es wegen der Kinder? Wie oft haben wir die früher in Erfurt gesehen? Die sind doch mit sich beschäftigt. Und jetzt besuchen wir sie mindestens zweimal im Jahr und sind insgesamt viel länger mit ihnen zusammen. Wir telefonieren jetzt auch viel öfter miteinander. In Erfurt, als sie am anderen Ende der Stadt wohnten, haben wir das nicht so häufig gemacht.

Wir sind doch auch wegen der Sonne hergezogen, 300 Sonnentage im Jahr – wo gibt es das denn sonst?«

»Na ja, es ist eben so ein Gefühl. Die Sonne kommt seit letzten Monat gar nicht mehr auf unsere Terrasse wegen des hohen Nachbarhauses.«

»Na, und? Marie-France hat doch gesagt, dass wir ihre Terrasse nutzen können. Ihr ist es doch lieb, wenn wir ab und zu nach dem Rechten sehen, während sie in Toulouse in ihrer Winterresidenz ist. Es hat dir doch prima gefallen, als du dich an ihrem Haus fast den ganzen Tag lang sonnen konntest – im Dezember! Bei 20 Grad! Im Schatten! In Erfurt waren da gerade mal 5 Grad! Denk dran, was Napoleon von Deutschland gesagt haben soll: Sechs Monate Winter und sechs Monate kein Sommer. Das ist zwar gegenwärtig wegen der Klimaerwärmung ein wenig anders, aber auch da haben wir es besser. Das Meer lässt selbst die größte Hitze erträglich werden, während ich in der jetzt oft herrschenden Affenhitze nicht in einer Stadt sein möchte.«

***

Irmgard rief: »Andreas, komm mal!« Sie stand an der Terrassentür und sah hinaus.

Brummelnd stand der Mann vom Computer auf: »Was gibt’s denn?«

»Schau doch mal! Fällt dir etwas auf? Ist das nicht ein schöner Anblick? Schließlich haben wir Februar!«

Der Wind pfiff laut und die Zypresse bog sich, die Palmwedel wogten hin und her. Gegenüber leuchteten die Fassaden der Häuser in hellem Gelb.

»Du hast recht! Dieses Blau gefällt mir immer wieder! Gerade bei Tramontane leuchtet der wolkenlose Himmel besonders blau und wärmt das Herz. Allein schon wegen dieses Blau würde sich ein Umzug hierher immer lohnen. Keine Angst, Liebes! Natürlich bleiben wir hier!«

4 Die Radierung

Es ist nun schon ein Jahr her, dass meine Frau mich verlassen hat. Vor etwa einem halben Jahr begann ich, mich von diesem schweren Schlag zu erholen, mich wieder auf mich zu besinnen und das Leben neu zu ordnen.

In dieser Zeit fand ich in einem Kellerschrank auch die Radierung wieder. Aus der zu groß gewordenen Wohnung musste ich vernünftigerweise ausziehen. Deshalb durchstöberte ich den ganzen verbliebenen Hausrat und hatte plötzlich die Mappe mit dieser Aktzeichnung in der Hand.