Schritt für Schritt - Gotthard Haushofer - E-Book

Schritt für Schritt E-Book

Gotthard Haushofer

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Beschreibung

»Nach Rom wollt ihr pilgern? Warum tut ihr euch das an?« Solche und ähnliche Fragen bekommen Ingrid und Gotthard Haushofer zu hören, als sie ihr Vorhaben verkünden. Mit über 60 Jahren beschließen sie, 1300 Kilometer zu Fuß aus ihrem Heimatort in Oberfranken bis nach Rom zu gehen. Was sie in den Wochen und Monaten ihrer Pilgerschaft erleben, schreiben sie jeden Abend nieder. Der spirituelle Pilgerführer nimmt den Leser mit auf den Weg, gibt ihm Impulse und Inspirationen, enthält aber auch praktische Tipps und Hintergrundwissen zu den durchwanderten Orten. Er berichtet von der Motivation des Ehepaars, ihren Gedanken und Erlebnissen, der Begegnung mit anderen Menschen, mit sich selbst und mit Gott.

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Lic. theol. Gotthard Haushofer, geboren in Niederbayern, studierte Philosophie an der Universität Salzburg, Theologie an der Päpstlichen Hochschule St. Anselmo in Rom sowie Germanistik und Romanistik an der Universität Würzburg. Bis zu seiner Pensionierung unterrichtete er als Studiendirektor an einem Bayerischen Gymnasium. Darüber hinaus ist er als Geistlicher Begleiter und in der Erwachsenenbildung tätig.

Ingrid Haushofer, geboren in Oberfranken, ist pensionierte Studiendirektorin. Sie unterrichtete nach dem Studium der Germanistik und Romanistik in Würzburg, Toulouse und Wien an einem bayerischen Gymnasium. Im Nebenberuf ist sie als Heilpraktikerin für Psychotherapie und in der Erwachsenenbildung tätig und verfasst Lyrik.

Kontakt: [email protected]

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.buchmedia.de

September 2016 © 2016 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung Johanna Conrad, Augsburg Alle im Buch abgedruckten Fotos sind Eigentum der Autoren. Printed in Germany E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbHisbn 978-3-95780-071-8isbn epub 978-3-95780-072-5 isbn pdf 978-3-95780-073-2

Gewidmet

unseren Kindern Lisa und Johannes

und allen, die uns durch ihre Anteilnahme

unterstützt haben

in Dankbarkeit

Inhalt

Vorwort Anselm Grün

Ein Wort vorneweg

TEIL I VOR DEM PILGERN

Motivation

Vorbereitungen

TEIL II DER WEG

1. Etappe: Aufbrechen und Gehen Von Oberkotzau nach Regensburg

Der Aufbruch, 1.-9. Pilgertag

Gedanken zum Thema Aufbruch

Es geht voran, 2.-9. Pilgertag

Erfahrungen und Einsichten zum Thema »Gehen«

2. Etappe: Umkehr Von Regensburg bis Wörgl

Quer durch Altbayern, 10.-18. Pilgertag

Erste Unterbrechung

Gedanken zum Thema Umkehr

3. Etappe: Folge dem Fluss! Von Wörgl bis zum Brenner

Am Inn entlang und bis zur Brenner-Passhöhe, 19.-25. Pilgertag

Gedanken zu »Wasser und Fluss«

4. Etappe: Auf vorgegebener Bahn Vom Brenner bis Verona

Auf dem Brenner-Radweg an Eisack und Etsch entlang, 26.-38. Pilgertag

Gedanken zum Bild der »Lebensbahn«

5. Etappe: Viele Wege – welcher ist der richtige? Von Verona nach Bologna

Durch die Po-Ebene, 39.-44. Pilgertag

Gedanken zur Orientierungssuche

6. Etappe – Manche Pfade sind steil und steinig Von Bologna nach Florenz

Durch den Apennin, 45.-51. Pilgertag

Gedanken zu Lebenskrisen

7. Etappe: Es wird dunkel und kalt Von Florenz nach Rom

Durch die Toscana und das nördliche Latium, 52.-63. Pilgertag

Das Wunder von Bolsena – Zweifeln und glauben

Es wird dunkel und kalt – Gedanken zum Alter

8. Etappe: Ankunft In der Heiligen Stadt

Gedanken zum Ankommen

Die sieben Pilgerkirchen, 64.-66. Pilgertag

Gedanken zur Reliquienverehrung

Gedanken zur »Heiligen Stadt«

TEIL III WAS BLEIBT

VORWORT ANSELM GRÜN

Die Liebe zu Italien und zu Rom verbindet Gotthard Haushofer und mich seit fast 50 Jahren. Damals waren wir gemeinsam in Sant’Anselmo und studierten dort Theologie. Doch am Giovedì libero wanderten wir manchmal gemeinsam in die Berge um Frascati und Tivoli. Und in den Ferien machten wir gemeinsame Touren.

Gerne habe ich das Pilgerbuch gelesen, das er mit seiner Frau Ingrid über seinen Pilgerweg nach Rom geschrieben hat. Beide beschönigen nichts. Sie schreiben auch von ihren Krisen auf ihrem Pilgerweg. Der Körper verlangte manchmal eine Pause. Manchmal erzwang auch das Wetter, innezuhalten und die Pilgerreise zu unterbrechen. Beide erzählen von ihren vielen Begegnungen mit Menschen auf dem Pilgerweg. Sie reflektieren über ihre Erfahrungen an den heiligen Orten.

Pilger sein ist heute wieder modern. Viele pilgern nach Santiago de Compostela. Ursprünglich kommt das Wort Pilger von »peregrinus«. Das ist der Mensch, der in der Fremde ist. Die Pilger spüren, dass sie in dieser Welt fremd sind, dass ihre eigentliche Heimat bei Gott ist. Wer sich auf den Pilgerweg macht, der befreit sich von alten Selbstbildern, der wandert aus dem Bild, das andere ihm übergestülpt haben. Er wandert, um sich mehr und mehr in das ursprüngliche und einmalige Bild hineinzuwandeln, das Gott sich von ihm gemacht hat. Wir pilgern, um unseren eigenen Weg zu gehen. Doch zugleich machen wir uns oft gemeinsam auf die Wallfahrt. Wir gehen zusammen, um im Wandern Gemeinschaft und Halt bei anderen zu erfahren. Wenn andere mit uns gehen, dann fühlen wir uns angespornt, weiterzugehen und nicht stehen zu bleiben auf unserem inneren Weg. Zugleich ist das gemeinsame Pilgern ein Weg, um tiefere Gemeinschaft zu erfahren. Wandern verbindet. Und seit jeher gibt es die Tradition, für einen anderen zu pilgern. Wir machen eine Wallfahrt, um für den kranken Vater oder die depressive Mutter zu beten. Gotthard und Ingrid sind ihren Weg nicht allein für sich gegangen, sie haben bewusst die Anliegen von Freunden mit auf ihren Weg genommen. Das hat ihnen das Gefühl der Verantwortung gegeben. Wir wandern nicht allein für uns, für unser Privatvergnügen. Wir machen uns auf den Pilgerweg, weil wir auch für andere gehen wollen, weil wir ihre Anliegen im Gebet Gott hinhalten wollen. Für einen anderen zu gehen, das verwandelt meinen Weg. Das macht ihn zu einem heilenden Weg, zu einem Segen nicht nur für mich, sondern auch für andere.

So wünsche ich den Lesern und Leserinnen dieses Buches, dass sie teilhaben an den Erfahrungen von Gotthard und Ingrid, dass sie beim Lesen und Meditieren ihrer Gedanken auch den Segen erfahren dürfen, den die beiden Pilger auf ihrem Weg erleben durften. Und ich wünsche allen Lesern und Leserinnen, dass sie selbst sich auf den Weg machen in die einmalige Gestalt, die Gott ihnen zugedacht hat, dass sie wie Abraham auswandern aus allen Abhängigkeiten, aus allen Trübungen des ursprünglichen Bildes Gottes in uns. Mögen wir uns alle immer mehr verstehen als »Fremde und Gäste auf Erden«, die »eine Heimat suchen«. ( Hebr 11, 13f ) Dann werden wir unserem Wesen als Menschen gerecht, die sich hier nicht für immer einrichten können, weil sie auf dem Weg zu einer anderen Heimat sind, einer Heimat, die beim Pilgern immer wieder einmal hineinleuchtet auf unseren Weg.

P. Anselm Grün OSB Abtei Münsterschwarzach

EIN WORT VORNEWEG

»Noch ein Pilgerführer??« – Wie das Buch zu gebrauchen ist

Das Pilgern hat in den vergangenen Jahren eine Renaissance erlebt. Viele Menschen machen sich auf den Weg, aus den verschiedensten Motiven und mit unterschiedlichen Zielen. So gibt es auch schon zahlreiche Pilgerführer.

Was ist das Besondere des vorliegenden Buches?

Es beschreibt den Weg nach Rom, eine Destination, die bei Fußpilgern noch wenig in Mode ist. Das Buch enthält Wegvorschläge und praktische Hinweise und ermöglicht so, auch auf unbekannten und nicht ausgewiesenen Wegen zu pilgern.

Wir sind den Weg zu zweit gegangen. Das Buch lädt ein zu individuellem Pilgern für Menschen, die gerne ohne Gruppe unterwegs sein wollen.

Wir waren als gemischt-konfessionelles Ehepaar unterwegs und haben an vielen Orten und in den Vollzügen des Pilgeralltags die Spannungen, aber auch das Verbindende des gemeinsamen christlichen Glaubens erfahren. Das Pilgern nach Rom ist nicht an eine Konfession gebunden.

Wir haben den Weg zu Beginn unseres gemeinsamen Ruhestandes gemacht und waren beide über 60 Jahre alt. Das Buch ermutigt zum Pilgern auch im Alter und zeigt auf, was in dieser Lebensphase besonders zu bedenken ist.

Das Buch versteht sich auch als spiritueller Pilgerführer. Immer wieder gibt es geistliche Impulse und mancherlei Inspirationen, die es ermöglichen, den Weg als Zeichen zu verstehen und sich der existenziellen und religiösen Dimension des Unterwegs-Seins, auch im übertragenen Sinn, anzunähern.

Wer nicht selbst pilgern kann oder will, hat durch die anschauliche Schilderung der einzelnen Etappen die Möglichkeit, den Weg gleichsam virtuell, also innerlich und in der Vorstellung, nachzuvollziehen und die Erfahrungen und Begegnungen mitzuerleben.

Schließlich liest sich das Buch wie ein Reisebericht, der auch Informationen und Hintergrundwissen über die durchwanderten Orte und Landschaften bringt.

TEIL I VOR DEM PILGERN

»Warum tut ihr euch das an?«

MOTIVATION

»Nach Rom wollt ihr pilgern? Zu Fuß??? Den ganzen Weg???«

Ungläubiges Staunen. »Warum tut ihr euch das an?«

Ja, warum tun wir uns das an? Wie kommen wir auf so eine verrückte Idee?

Klar, das Pilgern ist »in« – aber ausgerechnet nach Rom, wo es keine »Pilgerinfrastruktur«, kaum Wegbeschreibungen, gar keine oder eher unzureichende Markierungen, nur wenige Pilgerherbergen gibt? Und dann in so fortgeschrittenem Alter? Immerhin haben wir beide die 60 weit überschritten. So viele Bedenken stehen dagegen: Werden wir das durchhalten? Ist das gesundheitlich vertretbar? Gotthard ist immerhin hüftoperiert – soll ihn seine künstliche Hüfte bis Rom tragen? Und die organisatorischen Überlegungen: Können wir das Haus so lang allein lassen? Wer gießt die Blumen, versorgt den Garten? Was ist, wenn Rechnungen kommen, wichtige Post?

Vieles geht uns durch den Kopf – aber die Idee, einmal gedacht, setzt sich fest, entwickelt ihre eigene Dynamik, lässt sich nicht vertreiben, nicht unterkriegen, behauptet sich zäh und hartnäckig gegen viele vernünftige Einwände.

Ja, wir wollen nach Rom gehen, zu Fuß, den ganzen Weg, mit 63 und 69 Jahren. Aber dazu, das wird uns bald klar, braucht es in erster Linie eine sehr bewusste, starke Motivation, die uns trägt – über 1300 Kilometer und neun Wanderwochen hinweg. Das Praktische lässt sich regeln.

Wir machen uns Gedanken – warum, in der Tat, haben zu allen Zeiten und in allen Religionen Menschen Wallfahrten und Pilgerreisen unternommen, entbehrungsreiche, lange, oft auch gefährliche Märsche zu Fuß oder zu Pferd, zu den heiligen Stätten? Im Christentum war das seit dem Mittelalter in erster Linie Jerusalem, dann auch Santiago de Compostela und später Rom.

Gewiss schwangen »weltliche« Motive mit. In früheren Zeiten, als es noch keine Urlaubsreisen, keine Wochenendtripps als »kleine Fluchten« aus dem Alltag gab, bedeutete eine Pilgerfahrt die einzige Möglichkeit, einem rigiden Gesellschaftssystem mit seinen festgefügten Ordnungen für eine gewisse Zeit zu entkommen, auszubrechen aus einem starren Alltag und Leben, in denen man kaum Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hatte. Man konnte Neues sehen, Abenteuer erleben.

Für die meisten war jedoch bestimmt ein religiöses Anliegen Triebkraft für ihre Unternehmung: Sühne für ein Vergehen, Hoffnung auf Heilung oder Erfüllung eines Gelübdes als Dankbarkeit für eine zuteilgewordene Gnade. Selbst die vielen Wallfahrtsorte in unseren Breiten mit ihren unzähligen Votivtafeln zeugen davon.

Hinter dem Pilgergedanken steht als unbewusste Motivation letztlich die Sehnsucht nach dem Reich Gottes: Friede, Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und Liebe. Die Pilgerstädte, die man unter so viel Mühen anstrebt, symbolisieren dieses »Reich Gottes«. Ein anderes Symbol für das Reich Gottes ist die Perle, die in der Muschel verborgen ist, weshalb sie auch das Symbol für die Jakobspilger geworden ist.

Nachdem das Pilgern lange Zeit in Vergessenheit geraten war, ist es heute wieder »in«. Ganze Scharen von Menschen, Gläubige und Ungläubige, Sportliche und Untrainierte machen sich auf den Weg, namentlich auf den Jakobsweg, mit einer mehr oder weniger bewussten Sehnsucht, einer kleineren oder größeren Ahnung von dem, was sie auf dieser Unternehmung suchen und zu finden hoffen:

Da ist die sportliche Herausforderung: sich selbst erproben, an seine Grenzen gehen.

Da ist der innere Wunsch nach Selbsterfahrung und Selbst-Findung.

Da ist, oft in Umbruchsituationen oder schweren Krisen, die Hoffnung auf Neuorientierung und Sinnfindung.

Sicher ist es kein Zufall, dass die uralte Pilgeridee gerade in unserer Zeit wiederentdeckt und mit neuem Leben erfüllt wird. Sie stellt einen Gegenpol, einen Gegenentwurf zu den Werten dar, die unser Leben beherrschen: Gegen die Effektivität, das Leistungsdenken und die Zweckrationalität der Moderne steht die völlige Zweckfreiheit des Pilgerns. Das Pilgern hat keine Antwort auf die Modefrage »Was bringt’s?«, sondern führt sie ad absurdum. Auch unser rasantes Lebenstempo, die immer raschere, aberwitzige Beschleunigung unserer Lebensabläufe, findet in der extremen Langsamkeit und Entschleunigung des Pilgerwanderns einen Gegenentwurf. Und schließlich stellt die radikale Reduktion, zu der das Pilgern zwingt – alles, was man braucht, muss in einen kleinen Rucksack passen – einen Kontrast zu all dem Überfluss und Überflüssigen dar, mit dem wir uns oft genug belasten und beschweren. Man merkt sehr bald, was man wirklich braucht und was man tragen kann. Das Zurücklassen von Ballast, das Leichte, Unbeschwerte wird bald als wohltuend und befreiend empfunden.

All diese Überlegungen sind die »Hintergrundfolie« für unseren eigenen Entwurf, unser ganz persönliches inneres »Bild« von unserer individuellen Pilgerreise.

Als erstes ist klar, was unsere Pilgerreise nicht sein soll:

Jedenfalls keine sportliche Leistung, mit der wir anderen oder uns selbst etwas beweisen wollten.

Kein »Projekt« mit dem Ziel, Fotos oder Erlebnisse zu sammeln, um sie hinterher »auszuschlachten« – das lenkt vom Eigentlichen, Wesentlichen, vom zweckfreien religiösen Erleben ab. Dass wir im Nachhinein unsere Erfahrungen dennoch reflektieren, in Form bringen und anderen mitteilen wollen, ist eine neue und zusätzliche Herausforderung und dient dazu, sie für uns selbst und für andere fruchtbar zu machen.

Klar ist des Weiteren, dass es kein Bußgang in Reue und als Sühne für ein Vergehen sein wird. Die fast rhetorische Frage, die uns unterwegs von so manchem Passanten gestellt wird: »Na, ihr werdet schon wissen warum!« (Ja, das wussten wir, aber nicht, was ihr denkt!), und dann weiter die Feststellung: »Ihr werdet schon was abzubüßen haben!« (Nein, da fällt uns jetzt nichts Spezielles ein) konnten wir eigentlich für uns verneinen.

Hoffnung auf Heilung? Nein, nicht für uns, wohl aber für andere, für etliche Kranke und Schwerkranke aus unserem Umfeld, deren Anliegen wir mitnehmen und immer wieder im Gebet, im Gehen vor Gott bringen.

Warum aber pilgern wir dann?

Für Gotthard, der zuerst die Idee zu unserer Unternehmung hatte, steht im Vordergrund der Wunsch, einfach die Erfahrung des Pilgerns zu machen. Wie ist das, diesen uralten Glaubensvollzug tatsächlich, konkret, im wahrsten Sinne des Wortes »Schritt für Schritt«, persönlich und »leiblich« zu erleben? Was geschieht da? Das »Modell« des Märchenhelden als Prototyp des Menschen, der sein Selbst erfahren und sein Lebensziel erreichen will, steht als Erfahrungsmuster im Hintergrund. Das Geheimnis, das ihn zu seinem Leben führt, ist: er muss aufbrechen, Vertrautes und Gewohntes verlassen, sich mutig und vertrauensvoll auf Neues, Unbekanntes, auch das Risiko, einlassen. Der Weg wird Unbilden, Gefahren und Mühen bereithalten, aber ihm wird auch immer wieder Stärkung und Hilfe zuteil. Und es gibt ein Happy End: Er erreicht sein Ziel und erfährt dadurch Wandlung, Reifung und Sinn. Auch wir werden aufbrechen, und manches wird in uns aufbrechen. Wir werden neue Erfahrungen machen:

mit der Welt, wenn wir Landschaften und Gegenden durchwandern, die wir bisher nur von der Autobahn aus kennen,

mit anderen Menschen,

mit dem Partner,

mit uns selbst,

mit Gott

Ja, das ist ein gutes Konzept, das ist vielversprechend, darauf kann sich Ingrid auch einlassen. Bei ihr entsteht allmählich aber noch eine andere Vorstellung: Es ist nicht wirklich die Erfüllung eines Gelübdes, aber es ist ein Gehen aus tiefer Dankbarkeit. Vor vier Jahren hat Gotthard eine Krebserkrankung überstanden. Und sie stellt sich vor, dass sie beide durch das Gehen dieses Weges Gott ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen können.

Dankbarkeit für erfahrene Heilung und Hoffnung auf Heilung für Freunde, Verwandte, die krank sind, zum Teil schwer.

Dabei ist ganz klar, dass es kein »Handel« ist: So simpel funktioniert das nicht, dass man meint, Opfer bringen zu müssen, um durch das eigene »Leiden« Gott etwas abringen zu können. Vielmehr ist es eine Ver-Gegenwärtigung Seiner Gnade, ein Eintauchen in Seine Gegenwart.

Für uns beide markiert die Pilgerwanderung eine Zäsur auf unserem Lebensweg: Wir haben das Berufsleben abgeschlossen und treten in den Ruhestand ein. Die Zeit des Pilgerns gibt uns die Möglichkeit, Rückblick zu halten und uns bewusst mit der Tatsache zu beschäftigen, dass die wichtige Phase des aktiven Arbeitslebens zu Ende ist. Ein neuer Abschnitt, die letzte Lebensphase beginnt. Wir können darüber nachdenken, wie wir die vor uns liegenden Jahre gestalten wollen und welche neuen Herausforderungen und Fragen uns das dritte Lebensalter stellt.

Schließlich bleibt zu klären: Warum nach Rom? Wieder zuerst nach dem Ausschlussverfahren: keinesfalls nach Santiago – zu überlaufen, zu weit weg, auch innerlich. Mit diesem Ziel verbindet uns nichts. Rom – das hat einen Bezug zu unserer eigenen Geschichte. In Rom hat Gotthard vier Jahre studiert und gelebt, nach Rom ging unsere erste gemeinsame Reise, und immer wieder kommen wir dahin. Rom, das ist unsere Stadt.

Und der Zeitpunkt ist günstig, auch wenn wir schon 63 bzw. 69 Jahre alt sind. Ja, genau jetzt, denn wir sind noch fit – wer kann wissen wie lange? Ja, genau jetzt, denn es ist der Anfang unseres gemeinsamen Ruhestandes, der Beginn eines neuen Lebensabschnittes, des »dritten Alters«, wie die Italiener und Franzosen sagen. Hier eine Zäsur zu setzen, innezuhalten, den Anfang dieser letzten Lebensphase ganz bewusst zu gestalten, zu »begehen«, im wahrsten Sinne des Wortes – genau das wollen wir!

Und wir gehen zu zweit. Ein Ehepaar verspricht bei der Hochzeit, den Lebensweg gemeinsam zu gehen. So gehen auch wir den Pilgerweg gemeinsam.

Also auf nach Rom!

Das Unplanbare planen …

VORBEREITUNGEN

Johann Wolfgang von Goethe ist zu seiner Italienreise Hals über Kopf aufgebrochen, die wenigen Vorbereitungen hat er im Geheimen getroffen. Als er sich im September 1786 nachts aus Weimar fortstiehlt, ist kaum jemand aus seiner Umgebung informiert, er reist unter falschem Namen, will nicht wiedererkannt werden.

Wir sind keine »offiziellen« Personen, uns kennt niemand, wir müssen uns nicht um Anonymität bemühen. Und wir treffen genaue Vorbereitungen für unser Unterfangen, wollen so wenig wie möglich dem Zufall überlassen.

Streckenverlauf

Das fängt bei der Planung der einzelnen Etappen an: Etwa 15 Kilometer sollen anfangs unser Tagespensum sein, später dürfen die Tagesmärsche etwas länger werden. So planen wir anhand von Landkarten und mit Google Earth die voraussichtlichen Wegabschnitte. Wir orientieren uns dabei an dem alten Pilgerweg, den Erhard Etzlaub auf seiner »Romweg-Karte« für die Rompilger des Heiligen Jahres 1500 gezeichnet hat. Streckenweise gehen wir auf der Via Romea, einem Weg, den Abt Albert von Stade im Jahre 1236 von seinem norddeutschen Kloster kommend auf einer Pilgerreise zum Papst nach Rom und zurück ging. Er führt von Stettin über »Weyden – Lantzhut – Dorfen – Rosenham – Kopstan – Hal – Yspruck – Sterzing – Pozen …«, von dort über Verona, Ostiglia, Bologna, Florenz und Viterbo nach Rom. Im Inntal treffen wir auf die Via Julia, eine römische Militärstraße, die Günzburg mit Salzburg verbunden hat. Durch das Inntal und weiter in Richtung Verona gehen wir immer wieder auf Abschnitten des Jakobsweges und treffen dann auf die Via Julia Augusta. Heute sind die alten Pilgerwege entweder zu Autostraßen geworden oder zu Fahrradwegen ausgebaut. Auf dem Abschnitt durch die Po-Ebene müssen wir uns an Autokarten orientieren und wählen für unsere Route kleinere Straßen, die uns hoffen lassen, dass wir dort auf wenig Autoverkehr treffen (was leider nicht immer stimmt).

Den Apennin überqueren wir auf der Via degli Dei, einem Wanderweg, der Bologna mit Florenz verbindet und der teilweise auf der alten Via Flaminia militare aus dem Jahr 187 v. Chr. verläuft.

Von Florenz aus gehen wir auf Feldwegen und Autostraßen durch die Crete nach Siena und folgen von dort der Via Francigena, soweit sie begehbar ist. Es ist die alte Route der Bischöfe und Könige, die von Canterbury nach Rom führt.

Wir dürfen nicht wählerisch sein: von der vielbefahrenen Bundesstraße über bequeme Radwege bis zum kaum erkennbaren Trampelpfad bringen uns alle Arten von Wegen unserem Ziel näher. Als Kartenmaterial benutzen wir Wanderkarten, soweit sie für die jeweiligen Gebiete vorliegen, aber auch Straßenkarten im Maßstab 1:200 000, mit denen wir ganz gut zurechtkommen, auch wenn es manchmal schwierig ist. Die Wegmarkierungen sind leider nicht immer verlässlich – das gilt vor allem für die Via degli Dei und die Via Francigena.

Quartiere

Nach reiflichen Überlegungen beschließen wir, keine Isomatten, keinen Schlafsack und keine Bettwäsche mitzunehmen. Wir wollen mit möglichst leichtem Gepäck laufen. Zudem ist klar, dass in unserem fortgeschrittenen Alter ein »Kampieren« auf Bänken, auf dem Boden, in Scheunen oder gar im Freien nicht infrage kommt – es wäre absehbar, dass wir sonst am nächsten Tag kreuzlahm dahinhumpeln würden und die Fortführung sicher mehr als einmal infrage gestellt wäre. Das wollen wir nicht riskieren, und wir entscheiden uns auch bewusst dagegen, das Pilgern mit allzu großen Einschränkungen und Opfern zu verbinden. Nach unserer Überzeugung macht es Gott keine Freude, wenn wir uns schinden und quälen. Einfache Quartiere, kein Luxus – ja, das schon. Aber ein Bett, in dem man gut schlafen und sich regenerieren kann, und eine Dusche am Morgen bzw. am Nachmittag, wenn man verschwitzt und körperlich erschöpft im Quartier ankommt, das soll schon sein. Die Quartiere sind in der Regel einfach, manchmal sehr schlicht und etwas unwohnlich, zuweilen aber auch »prälatenhaft« (wie in der Abtei Muri-Gries) und komfortabel.

Es gibt auf der von uns gewählten Strecke nur wenige Pilgerherbergen. Daher müssen wir uns die Quartiere selbst suchen: Wir wenden uns an Klöster, an Pfarrämter, an Touristenbüros, mieten uns in Privatquartieren und B&B ein. Es ist nicht einfach – viele Pfarrämter sind wegen Urlaubs nicht erreichbar, die Zimmer von Feriengästen belegt. Später, in Italien, ist die Urlaubszeit vorbei und deshalb haben viele Beherbergungsbetriebe geschlossen.

Um uns nicht am Abend, nach einem mühsamen Tag, noch mit der Suche nach der anvisierten Herberge herumschlagen zu müssen, drucken wir uns die Lagepläne der Quartiere mit Google Earth aus – so erreichen wir meist sicher unser Nachtlager. Anschriften und Telefonnummern der Unterkünfte halten wir in einer Tabelle fest, die wir ausdrucken und mitnehmen. So können wir vor unserer Ankunft durch einen Anruf meist sicherstellen, dass uns jemand empfängt und wir nicht vor verschlossener Tür stehen.

Ausrüstung

Durch Lektüre von Pilgerbüchern und Tipps von Pilgern machen wir uns kundig, welche Ausrüstung sinnvoll ist, was man braucht und was nicht, und worauf man achten muss. Als erstes besorgen wir uns einen Rucksack – leicht, funktional, wobei Gotthards alter Wanderrucksack wieder zu Ehren kommt, während Ingrid – ein bisschen blauäugig, aber mit einem glücklichen Händchen – einen Rucksack in einem Sonderangebot im Großmarkt ersteht. Er erweist sich als sehr praktisch und solid (s. Abb. 2).

Sehr nützlich sind Wanderstöcke. Gotthard entscheidet sich für zwei Walkingstöcke. Die Entlastung der Hüften und ein rhythmisches, ausgewogenes Gehen im Gleichgewicht sind so für ihn am besten erreichbar. Ingrid dagegen erscheint es zu anstrengend und unruhig, mit zwei Stöcken zu wandern, außerdem will sie eine Hand frei haben. Auch in früheren Zeiten, so argumentiert sie, hatte man nur einen Pilgerstab, und sie begnügt sich daher mit einem Stock von unserer Haselnussstaude. Die »Glaubensfrage« – ein oder zwei Stöcke – mag also jeder für sich selbst entscheiden, wie er am besten zurechtkommt. Überhaupt einen Stock zu haben, um sich abzustützen und eventuell auch mal Hunde abwehren zu können, ist allerdings ratsam.

Natürlich versuchen wir, das Gewicht unseres Rucksackes möglichst gering zu halten. Bei der Kleidung gelten die Prinzipien: wenig, wettertauglich und bequem. Wir haben sozusagen zwei »Garnituren«, eine zum Wandern, mit bequemer Funktionshose und zwei Blusen bzw. Hemden, und eine für die wanderfreie Zeit am Nachmittag und Abend. Dazu Funktionsunterwäsche zum Wechseln, ein Schlafanzug, Hausschuhe, Regenjacke, und ein Pilgerhut gegen Sonne und Regen – das ist schon fast alles. Von den Wandersocken hat jeder auch nur zwei Paar, und wir beherzigen den Geheimtipp, dass sie nicht gewaschen werden sollen, um Blasen an den Füßen zu vermeiden. Es funktioniert!

Wir packen vorsichtshalber die Wäsche noch in Plastiktüten, da der Regenschutz der Rucksäcke nicht alle Feuchtigkeit abhält. Die Regentage überstehen wir dank guter Regenkleidung ohne Probleme, nur die starken Unwetter in der Toscana und bei Viterbo zwingen uns zu Pausen, weil Brücken weggeschwemmt sind und umgestürzte Bäume die Wege unpassierbar machen.

Verzichtet haben wir auf Laptop und GPS, wohl aber haben wir ein Handy für den Notfall und einen Fotoapparat dabei.

Ganz wichtig sind natürlich die Schuhe, übernehmen sie doch die Hauptaufgabe, die Füße, die uns nach Rom tragen sollen, möglichst gut und bequem zu beherbergen. Die Grundfrage ist: knöchelhohe oder normale Wanderschuhe? Gotthard plädiert für das Stützen der Knöchel in halbhohen Wanderstiefeln und zieht mit seinen bereits gut eingelaufenen Schuhen los. Es zeigt sich leider, dass solche Schuhe zwar in bergigem Gelände, bei Steigungen und Gefällen, funktional sind. Auf den »Langstrecken« aber erweisen sie sich als hinderlich: Durch das Eingeschnürtsein der unteren Wade entstanden Probleme am Fuß, und Gotthard musste die Schuhe wechseln und ein Paar normale flache Wanderschuhe kaufen, wie sie Ingrid sich schon vor der Abreise besorgt hat. Immerhin haben wir auf dem ganzen Weg nur eine einzige Blase zu beklagen.

Auch bei den Hygieneartikeln versuchen wir an Gewicht zu sparen, doch müssen wir »nachrüsten«, da wir bei manchen Quartieren in getrennten Zimmern bzw. in verschiedenen Häusern untergebracht sind. Zur Pflege unserer strapazierten Füße führen wir Hirschtalg und Arnika-Salbe mit, die uns wertvolle Dienste leisten.

Für unterwegs nehmen wir täglich je einen Liter Wasser und ein Brötchen mit, dazu eine Packung Kekse als »Notration«. Wir kommen damit gut zurecht.

Handlich und leicht und dennoch von großem ideellen Gewicht und innerer Wichtigkeit sind die spirituellen Utensilien: das Deutsche Psalterium für die Sonn- und Wochentage des Kirchenjahres, unsere Pilger-Tagebücher und die Meditationskärtchen der »Pilgerapotheke«. Unsere Freundin Michaela hat uns vor der Abreise einen kleinen bronzenen Reiseengel geschenkt, der uns begleitet, und im Kloster Mallersdorf bekommen wir von Schwester Helene einen Rosenkranz, der bereits viele Gebete in sich trägt, denn er besteht aus Perlen von Rosenkränzen, die zur früheren Klostertracht gehörten.

Ein Erkennungszeichen wie die Muschel auf dem Jakobsweg gibt es für Rompilger nicht. Um dennoch äußerlich sichtbar zu machen, dass wir als Pilger unterwegs sind, hat jeder von uns ein kleines hölzernes Franziskuskreuz, das Tau-Zeichen, als Anhänger an einem Lederbändchen um den Hals. Wir haben dieses Zeichen gewählt, weil es ausdrückt, dass Pilgern ein Heils-Weg, ein Heilungsweg ist. Beim Propheten Ezechiel wird das Tau-Zeichen all denen auf die Stirn gezeichnet, die gerettet werden sollen (Ez 9,4).

Kontakte mit anderen Pilgern

Im Vorfeld einer solchen Unternehmung ist es hilfreich, sich mit anderen Pilgern auszutauschen, um von ihnen Ratschläge und Anregungen zu bekommen.

Als erstes danken wir Günther Müller aus Köditz, der schon viele Male auf verschiedenen Routen den Jakobsweg gegangen ist und sich um die Markierung und die Infrastruktur auf fränkischen Jakobswegen, namentlich im Hofer Raum, sehr verdient gemacht hat. Ihm verdanken wir wertvolle Tipps zum Pilgern allgemein, zur Ausrüstung und zu spirituellen Fragen.

Sodann haben wir per Internet Kontakt mit Franco, einem italienischen Jakobspilger aus Florenz, der sich bei der Markierung und Erschließung der Via Francigena in Mittelitalien engagiert. Er berät uns über Fragen zur Route und Quartierbeschaffung im Streckenabschnitt zwischen Florenz und Rom. In Fiesole begegnen wir ihm persönlich und können ihm unseren Dank aussprechen.

Rompilger kennen wir nicht, aber einer ist uns indirekt eine Hilfe: Christian Jostmanns Taschenbuch »Nach Rom zu Fuß« ist eine anregende Lektüre zur Einstimmung auf die Wanderung ebenso wie ein nützlicher Begleiter unterwegs1. Da es keine offizielle Route gibt, treffen wir während der gesamten Wanderung keinen anderen Pilger, sodass ein Austausch, wie er auf dem Jakobsweg üblich zu sein scheint, hier nicht möglich ist.

Pilgerausweise

Natürlich braucht man einen Pilgerausweis, und auch da ist es bei einer Rompilgerfahrt nicht einfach in Erfahrung zu bringen, wo man einen solchen überhaupt bekommen kann. Schließlich stoßen wir auf die Jakobsgesellschaft in Trier, die uns einen Ausweis für deutsche Rompilger zuschickt. Da der Weg lang und die Etappen zahlreich sind, reichen die vorgesehenen Felder allerdings nicht aus, sodass wir etliche Seiten kopieren müssen, um genug Platz für den Stempel eines jeden Tages zu haben. Dem Pfarrer unserer Heimatgemeinde, Joachim Cibura, danken wir für das Empfehlungsschreiben, das uns als »echte« Pilger zusätzlich ausweisen soll.

Regelungen für die Zeit der Abwesenheit

Da wir alle in viele Alltagsabläufe verwickelt sind und in vielfältigen Beziehungsgeflechten stehen, bedarf es einiger Überlegung und Organisation, wenn man sich da für Wochen herausnehmen will. Unsere Nachbarn Anni und Benno erklären sich bereit, das Haus im Auge zu behalten, die Blumen zu gießen, die Post in Empfang zu nehmen und für uns zu sammeln. Absehbare Zahlungen und Rechnungen erledigen wir vorher bzw. unterrichten Empfänger darüber, dass wir eine Zeit lang abwesend sind. Ingrids Bruder Horst versorgt das Elterngrab auf dem Friedhof. So kann, mit der Unterstützung hilfsbereiter Menschen, möglich werden, was manche im Vorfeld entsetzt bezweifelt haben: »Ihr könnt doch nicht Haus und Garten ein Vierteljahr allein lassen!« Die gute Nachricht ist:

Es lässt sich (fast) alles regeln und organisieren!

So können wir getrost losziehen.

TEIL IIDER WEG

1. ETAPPE: AUFBRECHEN UND GEHEN VON OBERKOTZAU NACH REGENSBURG

Die Etappe führt von Oberkotzau nach Regensburg. Nachdem wir das Fichtelgebirge und den Steinwald durchquert haben, gehen wir durch die Täler von Naab und Regen nach Regensburg. In kleinen Abschnitten folgen wir dabei markierten Wander- und Radwegen.

Die Strecke haben wir in neun Tagesetappen eingeteilt:

Oberkotzau – Kirchenlamitz

Kirchenlamitz – Wunsiedel-Breitenbrunn

Breitenbrunn – Marktredwitzer Haus

Marktredwitzer Haus – Johannisthal bei Windisch-Eschenbach

Johannisthal – Schirmitz b. Weiden/Opf.

Schirmitz – Pfreimd

Pfreimd – Schwarzenfeld

Schwarzenfeld – Klardorf

Klardorf – Regensburg/Obertraubling

Der Aufbruch, 1.-9. Pilgertag

Sonntag, 18. August 2013 – 1. Pilgertag Oberkotzau – Kirchenlamitz

Das erste Wort, der erste Schritt, das erste Kapitel eines Romans – Anfänge sind von besonderer Wichtigkeit und Qualität, ihnen wohnt, wie Hermann Hesse in seinem Gedicht »Stufen« sagt, »ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben«.

Wir brechen zu unserer Pilgerwanderung am 18. August 2013 auf (s. Abb. 1). Es ist ein strahlender Sommermorgen, ein Sonntag. Die Glocken der beiden Kirchen unseres Heimatortes begleiten die ersten Schritte. Es ist, als gingen wir mit einem besonderen Segen auf diesen Weg. Wir fühlen uns geleitet vom Glockenklang und von den vielen guten Gedanken und Wünschen, Gaben und Gebeten von Freunden. Das ist wohltuend, wir spüren, wie es Kraft gibt. Es taucht die Ahnung auf, dass wir auf diesem Weg in eine große innere Gemeinschaft eingebunden sind und ihn – obwohl allein bzw. zu zweit – mit anderen und auch für andere gehen.

Solch ermutigende und stärkende Gedanken tun not, denn auch Bedenken und Ängste sind gegenwärtig. Wir brechen auf – was wird in den kommenden Wochen in uns aufbrechen? Werden wir es bis Rom schaffen? Bei den ersten Schritten ist das kaum vorstellbar. So lange werden wir von zu Hause weg sein, mehrere Wochen. Wie wird es uns er-gehen?

Da hilft nur Gehen, Schritt für Schritt. Es muss gegangen sein!

Vor unserer Abreise haben uns unsere Freunde Heidi und Axel eine »spirituelle Pilgerapotheke« geschenkt, eine kleine silberne Metalldose mit 36 Kärtchen, auf denen kurze Sinnsprüche stehen – sie sind als »Wundpflaster« für Blasen auf der Seele und als Stärkungstropfen für jeden Tag sehr hilfreich, und diese »Medizin« nehmen wir täglich ein.2

Gleich zu Beginn spüren wir, dass sie hilft: »Ich bin dankbar für diesen Weg. Er lehrt mich, wieder offener zu sein, aufmerksamer zu hören und zu spüren«, heißt es auf dem ersten Kärtchen. Ja, uns erfüllt eine große Dankbarkeit, dass wir diesen Weg machen dürfen: zu zweit, in Gesundheit, mit allen neuen Möglichkeiten und Erfahrungen, die er uns eröffnen wird.

Auf dem zweiten Kärtchen heißt es: »Einer trage des andern Last«. Zuerst stutzen wir: Es muss schon jeder seinen eigenen Rucksack tragen. Und keiner kann dem anderen seine Last abnehmen. Das gilt auch im übertragenen Sinn. Aber es hilft oft schon zu wissen, dass auch andere ihre Last, ihr »Päckchen« zu tragen haben, und dass, wenn wirklich Not am Mann ist und man unter der Last zusammenzubrechen droht, ein anderer ein Stück weit einspringen kann.

Unser Rucksack, obwohl nur acht Kilogramm leicht, drückt schwer auf den Schultern, aber wir können ihn tragen, und wir werden uns an diese Last gewöhnen.

Wir gehen aus dem Ort hinaus, an der Saale entlang – flussaufwärts, der Quelle entgegen. Auch das scheint uns sinnbildlich: Es ist ein Weg zu den Quellen des Lebens, und der geht oft mühsam bergan. Das Wasser bahnt sich munter seinen Weg, bisweilen sprudelnd und übermütig, dann wieder still und klar. Wie von selbst kommen uns beiden die Worte eines Kirchenliedes in den Sinn und wir summen seine Melodie:

Alle meine Quellen entspringen in dir, in dir, mein guter Gott. Du bist das Wasser, das mich tränkt und meine Sehnsucht stillt. Du bist die Kraft, die Leben schenkt, eine Quelle, welche nie versiegt …

Das Wetter ist ideal – die Sonne scheint, ein leichter Sommerwind kühlt uns. Die Vögel zwitschern. Das Getreide steht goldgelb, manche Felder sind schon abgeerntet. Die Heideröschen blühen, die Ebereschen leuchten rot. Die Zeichen stehen auf Herbst.

In Schwarzenbach, dem nächsten Ort, besuchen wir Frau R. Sie ist 93 Jahre alt und liegt, geistig klar, aber körperlich unendlich schwach, auf der Pflegestation eines Altenheims. Sie wartet auf den Tod und kann nicht sterben. Wir verabschieden uns von ihr, wohl wissend, dass es die letzte Begegnung sein kann. Und tatsächlich erreicht uns schon fünf Wochen später die Nachricht von ihrem Tod. Sie ist heimgegangen.

Beschnattert von Schwänen, Enten und Gänsen, die sich auf der Saale tummeln, führt uns der Weg nun steil bergan (s. Abb. 3). Auf einer schattigen Bank mit Blick auf den Förmitzspeicher gibt es die erste Rast mit Apfel und Wasser. Immerhin wird der Rucksack dadurch deutlich leichter. Durch Wald und über offene Felder gelangen wir nach Hallerstein. Dort ist ein Handwerkerfest in vollem Gang. In Scheunen, auf Plätzen und Straßen herrscht rege und geräuschvolle Betriebsamkeit, auf den Wiesen sind Zelte und Buden aufgebaut. Bratwurstduft, Blasmusik und Bierzeltstimmung liegen in der Luft. Nach der Stille und Einsamkeit des Weges erscheint uns das wie ein Misston, obwohl das fröhliche Treiben an sich schön und verlockend ist. Wir aber gehen schnell weiter und gelangen nach einer Stunde zum Endpunkt der ersten Tagesetappe in Kirchenlamitz. Wir beziehen unser Quartier im Dachzimmer einer stilvollen Villa und ruhen uns erst einmal aus.

So werden auch die zukünftigen Tage strukturiert sein: von den vier mönchischen Stundengebeten, die wir morgens vor dem Aufbruch, bei der Mittagsrast unterwegs, abends und nachts vor dem Schlafengehen sprechen. Und von dem immer wohltuend gleichen äußeren Tagesablauf: Aufstehen – Duschen – Beten – Frühstück – Gehen – Beten – Mittagsrast – Ankommen – Duschen – Ausruhen – Orientierungsgang im Ort – Besorgen des Pilgerstempels – Tagebuch schreiben – Beten – Abendessen – Beten – Nachtruhe.

Das Abendessen nehmen wir im einzig offenen Lokal des Ortes, dem Turnerheim, ein. Das Wirtsehepaar ist vor 24 Jahren über die Prager Botschaft aus der DDR geflüchtet. Seit dieser Zeit sind sie hier ansässig und betreiben das Lokal. Sie sind voll integriert und akzeptiert, keine Fremden mehr. Wie viel Mut haben sie gebraucht, um diesen Schritt zu wagen! In welche Ungewissheit sind sie hineingegangen! Sie haben alles aufgegeben, alles zurückgelassen – wir sind voller Bewunderung für sie und versprechen, worum sie uns bitten: ihnen aus Rom eine Karte zu schreiben, wenn wir angekommen sind. (Diese Postkarte hängt inzwischen tatsächlich in ihrer Gastwirtschaft.)

Nach dem Abendessen sehen wir auf dem Heimweg zwei Schwäne auf dem Kirchenlamitzer Dorfweiher. Wir denken intensiv an Helmut, den Pfarrer und Psychotherapeuten, der uns drei Jahre lang durch unsere Ausbildung in Traumberatung und Traumtherapie begleitet hat. Der Schwan war »sein« Symbol-, sein Krafttier – Zeichen der Intuition, die ihn so sehr auszeichnete. »Mir schwant etwas« pflegte er verschmitzt zu sagen. Vor einem halben Jahr ist er gestorben. Wir spüren seine starke, intensive Präsenz und eine tiefe Verbundenheit.

Auf dem Balkon unseres Quartiers, eingetaucht in die friedliche Stille des verwunschenen Gartens und des lauschigen Sommerabends, beten wir die Nachthore. Trost und Zuversicht schenkt uns der Zuspruch aus dem 1. Buch Moses:

»Der Herr wird seine Engel mit dir senden und Gnade zu deiner Reise geben. Gott spricht: Und siehe, ich bin bei dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.« (Gen 24)

Wieder läuten Glocken, diesmal geleiten sie uns in den Schlaf.

Gedanken zum Thema Aufbruch

Spirituelle Aspekte

Ohne Aufbruch keine neuen Erfahrungen und Einsichten.

Jeder noch so lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Schritt für Schritt!

Vertrauen und Mut müssen geleistet werden.

Dass ich vertrauensvoll und mutig sein kann, erfahre ich immer wieder als Geschenk.

Wenn ich aufbreche, kann etwas in mir aufbrechen.

Wenn etwas in mir aufbricht, kann es heilen.

Zum Nachdenken

Wo sollte ich den ersten Schritt tun? (Zu einer neuen Aufgabe, auf einen anderen Menschen zu?) Was hindert mich, was hilft mir?

Wo bin ich ungeduldig, wo presche ich zu schnell vor?

Wo bin ich zu zögerlich und träge?

Finde ich die Balance zwischen Vertrauensseligkeit und Misstrauen?

Kann ich mich einpendeln zwischen Ängstlichkeit, Unentschlossenheit einerseits und Draufgängertum, Verwegenheit, Unvorsichtigkeit andererseits?

Welche Gewohnheiten sind zur Routine geworden?

Welche Muster und Strukturen sind erstarrt und müssten aufgebrochen werden?

Es geht voran, 2.–9. Pilgertag

Montag, 19. August 2013 – 2. Pilgertag Kirchenlamitz – Röslau – Wunsiedel – Breitenbrunn

Zu Langsamkeit, Beschaulichkeit und Geduld mahnt uns der Spruch aus der »Pilgerapotheke«: »Anfängerfehler: zu viel, zu schnell, zu weit«.

Nach einem reichhaltigen Frühstück und einer herzlichen Verabschiedung gehen wir zunächst zur katholischen Kirche, die aber noch verschlossen ist. Daher verrichten wir die Morgenhore auf der Granit-Balustrade vor der Kirche. Während des vierten Psalms knirscht der Schlüssel im Schloss, so beten wir die Laudes doch noch im Gotteshaus zu Ende. Als wir zum Abschluss das Lied »In Gottes Namen fahren wir« singen wollen, unterhalten sich die Reinemachefrau und ihre Kollegin laut und ausdauernd am Altar über den Blumenschmuck, sodass wir die Strophen nur leise vor uns hin rezitieren. Mit diesem alten Wallfahrtslied flehen wir Gottes Schutz auf uns herab. Wir zünden eine Kerze an, die stellvertretend für uns vor Gott gegenwärtig sein soll. Natürlich denken wir dabei auch an das Wohlergehen unserer Kinder.

Vorbei am Friedhof gehen wir in Richtung Reichhartsgrün und treffen wieder die Frau, die uns gestern den Weg nach Röslau erklärt hat. Sie wünscht uns gutes Gelingen unserer Pilgerfahrt. Zwischen reifen Getreidefeldern – Weizen, Gerste, Roggen – steigen wir den Berg hinan (s. Abb. 4), hin und wieder geht der Blick zurück auf Kirchenlamitz mit seinen drei wuchtigen Kirchtürmen und hinüber zur Burgruine Epprechtstein. Unter drei Birken lädt neben einem Kreuz eine Bank zum Ausruhen ein, aber wir gehen tapfer weiter hinunter nach Reichhartsgrün, wo wir eine erste Rast einlegen. Sie tut unseren Knochen und Muskeln sehr gut, und wir rüsten uns gegen den Regen, der aus dunklen Wolken droht. Tatsächlich begleiten uns die Schauer fast bis Wunsiedel. Auf der Anhöhe vor Röslau halten wir Mittagsrast. Wir durchqueren Röslau und gehen Richtung Bibersbach, wobei wir teilweise steile Anstiege zu bewältigen haben. Schließlich geleitet uns eine herrliche Ahorn-Allee in die Kreisstadt Wunsiedel, dort holen wir uns als erstes im evangelischen Dekanat den Pilgerstempel. Die Sekretärin interessiert sich sehr für unser Unterfangen, möchte auch über den Ausgang informiert werden und sagt uns, wo wir gut Kaffee trinken können. Neben der Kirche stehen wir vor dem Denkmal des Dichters Jean Paul, der vor 150 Jahren in dieser Stadt geboren wurde. Er hat in seinem Roman »Siebenkäs« (Kapitel 47) die schreckliche Vision einer atheistischen Welt dargestellt und schreibt dazu: »Das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen- und auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner.« Im Gegensatz dazu steht das zweite Motto des heutigen Tages aus der »Pilgerapotheke«, nämlich die Bitte der Emmausjünger: »Herr, bleibe bei uns!« (Lk 24,29) Sie leitet uns an, den Tag über in der Gegenwart Gottes zu verweilen und uns seiner Begleitung bewusst zu sein.

In einer Konditorei stärken wir uns für den letzten Wegabschnitt mit Kaffee und Kuchen, versuchen die Wirtsleute des Quartiers der kommenden Nacht zu erreichen, aber niemand geht ans Telefon oder ruft zurück, sodass wir etwas unruhig die letzten Kilometer bis Breitenbrunn zurücklegen, immer hoffend, dass jemand zu Hause sein möge, denn vom Himmel her droht ein starkes Gewitter. Nach einigen Minuten bangen Wartens wird uns die Haustür geöffnet und wir können unser Zimmer beziehen. Es hat eine herrliche Sicht über Baumkronen hinweg zu den Höhen des Fichtelgebirges. Wir haben gleich am zweiten Tag die Erfahrung gemacht, dass es sich auch bei Regen gut pilgern lässt – immerhin trockenen Fußes. Gotthards Hut allerdings ist völlig durchweicht und wir müssen ihn mit dem Fön trocknen.

Dienstag, 20. August 2013 – 3. Pilgertag Breitenbrunn – Luisenburg – Kleinwendern – Waldershof – Walbersreuth – Marktredwitzer Haus

Der Tag beginnt mit einem Mut machenden Spruch aus der »Pilgerapotheke«: »Ich habe die Kraft, den Weg zu gehen.« Diese Affirmation stärkt in Momenten der Verzagtheit und der Schwäche. Dazu der zweite Spruch: »Pilger, nicht du sollst den Weg machen. Lass zu, dass der Weg dich macht!« Es ist schon zu ahnen, dass der Weg »wirkt«: wir werden geduldiger, aufmerksamer, ruhiger.

Der Herbergsvater taut erst bei unserem Abschied richtig auf – er bewundert unser Vorhaben und erklärt uns den Weg nach Kleinwendern. Den Anstieg zur Luisenburg schaffen wir nach dem kräftigen Frühstück recht flott, dann geht es fast eben Richtung Kleinwendern, vor dem Ort steil bergab. Wir nehmen uns nicht Zeit für das private Bauernmuseum, sondern mühen wir uns in kleinen Trippelschritten den steilen Berg hinauf; oben gibt es eine erste Wasser-Rast. Anschließend geht es durch dichten Nadelwald hinab nach Waldershof. Die Pilze, die wir am Wegrand sehen, müssen wir schweren Herzens stehen lassen. In Waldershof beten wir in der modernen Kirche des hl. Sebastian die Mittagshore. Wir sind beeindruckt von der Skulptur des brennenden Dornbuschs, die auf die Gegenwart Gottes in der Kirche hinweist. »Ich bin, der ich da bin« – so hat er sich am Berg Sinai Moses geoffenbart. Wir nehmen dieses Selbstzeugnis Gottes gerne mit auf unseren Pilgerweg und machen uns immer wieder bewusst, dass er mit uns geht und uns begleitet. In der Kapelle des Priesterseminars in Brixen werden wir dieser biblischen Geschichte wieder begegnen.

Besonders berührt uns ein modernes Wandbild von der Flucht der Hl. Familie nach Ägypten. Vor unserem Aufbruch hat uns eine Freundin ein Fra-Angelico-Bild mit dem gleichen Motiv geschenkt und dazugeschrieben: »Auch dieses Paar war unterwegs, ohne zu wissen, ob es ankommt.« Ja, wir sind unterwegs, zwar ohne Esel (oder ist, wie Franziskus sagt, der Körper der »Bruder Esel«?) und unser inneres Kind haben wir dabei. Wir wollen uns auf diesem Weg gut darum kümmern. An der Friedhofsmauer entlang gehen wir ins Zentrum, wo Ingrid in einem Geschäft ein Getränk kauft. Die Inhaberin des Ladens freut sich: Rompilger, das hatte sie noch nicht, nur Holländer, die mit dem Rad nach Prag fahren.