Schurken, Helden, Heilige - Margareta Fuchs - E-Book

Schurken, Helden, Heilige E-Book

Margareta Fuchs

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Beschreibung

Kaiser Maximilian, Wunderheiler Paracelsus, Wettermacher Urban: Wie werden und wurden Männer in den alpinen Sagen dargestellt? Über zehntausend Texte aus dem gesamten Alpenbogen hat Geschichtenerzählerin Margareta Fuchs für ihren Leseband durchkämmt, um dem männlichen Leben in der alpinen Sagenwelt nachzuspüren. Das Ergebnis enthüllt eine mannigfaltige Geschichtenwelt und ein Männerbild, das wenig mit den mythischen Helden aus den griechischen, römischen oder nordischen Sagen zu tun hat. In vierzehn unterhaltsamen Kapiteln stellt Fuchs eine große Anzahl von Geschichten vor, in denen das vielseitige Seelenleben des Mannes – in all seiner Schwäche und Stärke – gezeigt wird. Die Themen der alpinen Sagen sind für Männer (und nicht nur für sie) noch heute relevant: Sie erzählen von Liebe und Hass, Kraft und Macht, Gewalt und Verletzlichkeit, Leben und Sterben, Mut, Angst sowie Ohnmacht. Damit sind sie nahe am echten Leben.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Margareta Fuchs

Schurken, Helden, Heilige

Das Männerbild in der alpinen Sagenwelt

MARGARETA FUCHS

SCHURKEN HELDEN HEILIGE

DAS MÄNNERBILD IN DER ALPINEN SAGENWELT

Inhalt

Einleitung

Kindheit und Jugend

Der gescheite Knabe

Wie das Büblein Mutterlos in den Himmel reist

Der grüne Reiter

Der Feentanz

Die Krönleinschlange

Das fromme Hirtenbübl

Wert der Unschuld

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen

Der Bauer als Wettermacher

Ein Fuhrmann stiftet eine Leonhardskette

Der geizige Müller

Der Köhler und die Zwerge

Der Hausbutz und der Schuster

Der Pechklauber

Die Schmuggler

Der Advokat

Der Teufel holt einen Tänzer

Der Teufel holt einen Gotteslästerer

Die geweihte Hostie

Die Totenkopfsuppe

Der gebannte Jäger

Von Blutkugeln und Lämmleinbrot

Der Vogelfänger von Schwaz

Der Teufel als Gamsbock

Zwerge strafen die Gämsjäger

Die wilden Fräulein beschützen die Schneehühner

Die Steinböcke

Von wundersamen und schauerlichen Begegnungen

Die Ehe des Bauern mit einer Anguana

Die Prophezeiung des Zwerges

Die Bergmännlein von Idria

Zwerge und Norggen in der Wildschönau

Wie die Salvangs Hochzeit halten

Im Reich der Tribulaune

Der schlafende Riese

Der Kalchwalder Wilde

Drautaler Wettersee-Sage

Die Arfai

Der Wassermann auf Seeberg

Der Orco von Wengen

Die Brücke des Orco

Augen in der Nacht

Das Ballspiel der Hexen

Die Jungfrau auf dem Baume

Die armen Seelen des Langgletschers

Liebesfreud und Liebesleid

Arunte und Olinda

Die Frau des Sarazenen

Salinghenstein

Immer dem Faden nach

Das Heiratspulver

Der wilde Mann

Die wilden Männer von Graubünden

Die wilden Männer vom Agarinatal

Der wilde Mann und die Liebe (1)

Der wilde Mann und die Liebe (2)

Der wilde Mann macht Wetter

Der wilde Mann und die wilde Jagd

Die hundert Hündchen des wilden Mannes

Die Kunst, aus Schotte Gold zu machen

Der Salvang mit dem roten Röcklein

Der wilde Mann im Kalcherwald

L’om salvarek – Der wilde Mann

Herrscher und Untertan

Über Karl den Großen und die Kirche von Santo Stefano

Von Karl dem Großen

Kaiserin Hildegard

Von der Geburt Kaiser Maximilians

Von den Vorzügen Maximilians

Die Sage von Valcorno

Kaiser Joseph II. und seine drei Fragen

Kaiser Joseph II. und der Sultan

Attila, die Geißel Gottes

Die Hochzeit von König Authari und Theodelinde

König Arostages

Der Bergkönig Oswald

Der Rosengarten

Vom Réy de Nyès

Der Schlossherr von Belvedere

Volksrache

Tolmeiner Burgsagen

Der Drache bei Deutschmetz

Der Weg über den Jaufen

Kirchenmänner

Dr. Martin Luther

Der Pfarrer von San Lorenzo und die Hagelkörner

Das Brett im Bett

Das kanonische Alter

Der Höllenpförtner

Zauberer und Heiler

Doctor Teophrasts Tod

Der Zauberer-Jackl und die Bäuerinnen

Urban der Wettermacher

Huisile stiehlt eine Nadel

Huisile tut nit gut

Der Gfrörer und das Verblenden der Wilderer

Missbrauch der Fähigkeit des Blutstellens

Der Drachenreiter

Wie drei Handwerksburschen zu einem Schatz gelangten

Vom Kröll Anderle

Der Zauberer Christl da Ras

Männliche Gewalt

Wenn die Stunde schlägt

Hufeisen am Matscher Schlosskirchlein

Der Matscher Ritter

Graf Ulrich von Matsch

Helfmirgott

Der Pfaffenstein

Eine Sage vom Pillersee

Verschmähte Liebe

Das Knöchlein

Die Orgel zu Santa Maria Maggiore in Trient

Die goldenen Kegelkugeln

Die Knochen unter dem Feuerherd

Die Franzosen in Vezzena

Törichte Männer

Der Bär

Die gefährliche Schnecke

In an stroach ista gest – Es war einmal

Die Kartoffelnocken im Noce-Bach

Die Kalterer und der Maulwurf

Die Kirchenschieber

Gras auf dem Kirchendach

Die Ofentür

Eine lustige Geschichte

Die Weisheit

Mäuseprozess und Auswanderung

Sünder und Büßer

Was die Welschnofener von der Gepleng erzählen

Die Blümlisalp des Lötschentales

Die Nigermander

Der erlöste Marchegger

Der „hoich Hans“

Das Sterben des Tierquälers

Die Schindalm im Stillupp

Die Unze

Die Wasserfrauen vom Lak de i Ǧai

Die Salinghe aus den Felslöchern

Die Pilatus-Sage

Das graue Männlein

Die Schatzhüterin von Fracstein

Die Schatzjungfrau im Schloss Wangen

Der authentische Mann

Die Schlangenbraut

Das Messamt auf der Hungerlialp

Der gottergebene Sohn

Die Zubiana

Die Mutter der Gämsen – La Madre dei Camosci

Die zwei Hirten bei Anras

Der angebundene Fuchs

Der unerschrockene Sumvirer

Der nächtliche Holzhacker

Das merkwürdige Glockenläuten

Den eigenen Tod gesehen

Die armen Seelen auf dem Aletschgletscher

Jauchzen kündet Schnee

Der Putz mit den Knospen

Der Mann in seinem letzten Lebensabschnitt

Bürstling-Gespräch

Der Kalvarienberg der Föhren

Wenn der Schatz blüht

Der Alte

Die weiße Alpenrose

Der Alte und der Tod

Die Wehrmauern des Gottes Thor

Männliche Heilige und ihre Vorfahren

Der heilige Valentin und die Schlösser

Sankt Columban

Die Legende des heiligen Bernhard von Menthon

Wie die Ampezzaner zum Christentum bekehrt wurden

Gott Silvanus in Ampezzo

Unser lieber Herr und Sankt Petrus

Sankt Christoph in Kärnten

Der Ausbruch des Gadriasees

Der heilige Antonius von Pikolein

Quellen und Literatur

Die Autorin: Margareta Fuchs

Einleitung

„Es gab eine Zeit, wo alle jene starren Felsen, Gletscher und Eismeere sonnige Triften waren, auf denen das fetteste Gras und der saftigste Klee wucherte. Keine Giftblumen waren damals vorhanden, jede Blume war dem Vieh gedeihlich, sodass die Kühe und Ziegen dreimal des Tages gemolken werden mussten. Diese Zeit war das goldene Zeitalter der Alpen. Von ihm erzählen die Sennen und Hirten: Damals waren die Kühe von ungeheurer Größe; sie hatten einen solchen Überfluss an Milch, dass man sie in weite Gräben melken musste, welche sehr bald gefüllt waren. In Nachen fuhr man aus, um den Rahm von diesen Bassins abzuschöpfen. Eines Morgens verrichtete ein junger, schöner Hirte diese Arbeit, da …“1

Das Denken in Symbolen und Bildern ist in unserer modernen Gesellschaft weitgehend verschwunden oder wird als nicht mehr zeitgemäß angesehen. „Das demokratische Ideal des sich selbst bestimmenden Individuums“, so der Mythenforscher Joseph Campbell, „die Erfindung der Dampfmaschine und des Motors, die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode haben das Leben so einschneidend verändert, dass der uralte, zeitlose Kosmos der Symbole einstürzen musste …“2

Zwar haben wir gelernt, uns über unseren Intellekt und unsere Sprache mitzuteilen, aber in unserer Seele, in unserem Unbewussten leben und wirken nach wie vor in erster Linie bildhafte Vorstellungen, die zu deuten uns niemand mehr beibringt.

Diese Art des Denkens und Wahrnehmens wird auch in den Schulen nicht gelehrt. Ebenso werden in den schulischen Alltag kaum noch Mythen, Märchen und Sagen eingebaut. Dabei enthalten diese Erzählungen bis auf den heutigen Tag eine tiefwirkende, heilsame Kraft, auch wenn sie oft keine faktische Wahrheit wiedergeben.

Reich an Bildern und Sinnbildern sind auch die Sagen aus den alpinen Ländern, was der eingangs zitierte Ausschnitt einer alten Geschichte aus der Schweiz mit dem Titel „Das goldene Zeitalter der Alpen“ repräsentativ zum Ausdruck bringen soll. Besonders oft stehen Männer im Mittelpunkt der alpinen Erzählungen. Diesem Männerbild wollte ich nachspüren und dem früheren männlichen Leben von der Kindheit bis ins Alter, wie es sich in der Sagenwelt niedergeschlagen hat, auf den Grund gehen.

Es war eine Zeit intensiver Lektüre und Recherche, in der ich auch viele der in den Geschichten erwähnten Orte aufgesucht und wohl an die zehntausend Sagen aus dem gesamten Alpenbogen durchkämmt und gelesen habe. Daraus entstanden ist dieses Buch, mit dem ich Ihnen nun eine kleine, repräsentative Auswahl aus dieser mannigfaltigen männlichen Geschichtenwelt vorlegen möchte.

In den alpinen Männersagen hat sich der ewige Dualismus zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel ausdrucksstark niedergeschlagen. Sie sind geprägt von gesellschaftlichen, politischen und religiösen Vorgaben, die nicht nur Frauen, sondern auch zahlreichen Männern eine freie Entwicklung und Entfaltung versagten. Viele Sagen stimmen deshalb traurig und sind bedrückend, andere wiederum erzählen von männlicher Zivilcourage und Authentizität, von mutiger Entschlossenheit und Schlauheit.

Sie lassen auch die Gefühle und Traumata erahnen, die Buben in Situationen der Überforderung, Vernachlässigung, Vereinsamung und Gewalt durchleben mussten, sowie die Machtlosigkeit, mit der Männer, Familienväter, Geliebte, schwer Arbeitende und Greise den Ungerechtigkeiten des rigiden Gesellschaftssystems begegneten. Und immer wieder stößt man in der Erzählwelt unserer Vorfahren auf das zementierte System der Bevormundung und Unterdrückung durch die Kirche bzw. deren Vertreter. Auf den christlich-religiösen Grundsätzen, den Zehn Geboten, den sieben Hauptsünden und den sieben Tugenden fußt eine außerordentlich große Anzahl von Sagen des gesamten Alpenraums – auf eine streng moralisierende, fast erpresserische Art und Weise. Dieser religiöse Druck hat unseren Vorfahren die Suche nach der Wahrheit und dem Sinn des Lebens und den Vorstellungen von Sterben und Tod sicher nicht leichter gemacht.

In den Sagen kommen neben den christlich-moralischen auch die gesellschaftspolitischen Weisungen der vergangenen Jahrhunderte zutage. Bemerkenswert ist dabei, dass in den meisten Geschichten das herrschende System, sei es das gesellschaftliche oder das kirchliche, in seiner Ungerechtigkeit und Doppelmoral weniger kritisiert wird als vielmehr einzelne Vertreter desselben, zum Beispiel ein grausamer Graf oder ein lasterhafter Priester.

Nach meinem langen Studium der alten Erzählungen behaupte ich – vielleicht etwas provokativ –, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer Opfer des größtenteils von Männern geprägten Patriarchats und dessen Auswirkungen sind – so kontrovers dies auch klingen mag.

Doch welche Rolle spielt die Tatsache, dass die Sagen größtenteils von Männern, zumeist im 19. Jahrhundert, schriftlich festgehalten wurden? Würden sie anders lauten, wenn sie von Frauen oder in einer anderen Zeit formuliert worden wären? Was fanden unsere Vorfahren erzählenswert und warum? Gab oder gibt es einen wahren Kern in den Erzählungen?

Eine erschöpfende Antwort auf diese Fragen werden Sie in diesem Buch nicht finden. Trotzdem können diese alten Geschichten uns auch in der heutigen modernen Zeit noch manchen Denkanstoß geben oder vielleicht eine versteckte Botschaft vermitteln und uns auf sagenhafte Weise lehren, wie wir – Frauen wie Männer – unser menschliches Leben gestalten können oder nicht gestalten sollten.

Das Männerbild, das sich für mich bei der Lektüre der vielen Sagen herauskristallisiert hat, hat wenig mit den mythischen Helden aus den griechischen, römischen oder nordischen Sagen zu tun, die teilweise halbgöttliche Züge und Fähigkeiten haben oder gar in den Götterhimmel aufgenommen werden. Nein, das Männerbild in den alpinen Sagen ist bodenständig und wirklichkeitsnah. Diese Geschichten spiegeln die vielschichtigen Seelenanteile und das Wesen des Mannes wider, in all seiner Schwäche und all seiner Größe. Sie enthalten sämtliche Themen, die im Leben für den Mann nach wie vor wichtig sind (und nicht nur für ihn), wie Liebe und Hass, Kraft und Macht, Gewalt und Verletzlichkeit, Leben und Sterben, Mut, Angst und Ohnmacht …

Je nach Herkunft und Zeitraum haben die Sagenbuchautoren bei der Schilderung dieser Themen unterschiedliche Erzählstile, was sich auch in den Sagen dieses Buches zeigt: So werden manchmal Gefühle oder Landschaften ausführlich und bilderreich beschrieben, wodurch sich die Erzählung wesentlich in die Länge zieht, andere Autoren hingegen halten sich kurz und bündig an das ihnen Erzählte, ohne näher auf Gefühle einzugehen.

Sagen sind aber nicht nur aufgrund ihres Ablaufs spannend, sondern haben vielfach eine tiefere Bedeutung. Zwar werden äußere Geschehnisse erzählt, aber bei genauerem Hinschauen oder mehrmaligem Lesen eröffnen sich auch die darin enthaltenen symbolischen Bilder. Die Geschichten erzählen unter anderem von sogenannten Archetypen und von unserem individuellen und kollektiven Unbewussten. Nach dem Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung wirkt und leitet uns dieses auch in unserem Leben, oft ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Einer dieser Archetypen ist der wilde Mann, dem im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet und der auch tiefenpsychologisch von Bedeutung ist. Viele Männer in der heutigen Zeit tun sich immer schwerer, ihr Leben in Freiheit und ‚Wildheit‘ zu gestalten und ihren Intuitionen und Instinkten zu trauen, was für den wilden Mann hingegen selbstverständlich war. Gleichzeitig haben sie durch ihr Handeln maßgeblich dazu beigetragen (und tun es immer noch), dass auf unserem Planeten immer mehr ursprüngliche Naturgebiete für ihre Bewohner für immer verschwinden, auch dies in völligem Gegensatz zum wilden Mann, dem laut Sagen aller alpinen Regionen die Natur mit all ihren Wesen als absolut schützenswert galt.

Es war früher allgemeiner Glaube der Alpenbewohner – und dieser hat sich auch in der Sagenwelt vielfach niedergeschlagen –, dass nach dem Almabtrieb die Almen und die Berge den Geistern der Natur und den ‚Jenseitigen‘ gehören. Davon ist heute keine Rede mehr. Der Mensch geht jederzeit überallhin, er hat nicht nur den Respekt vor diesen unsichtbaren Wesen verloren und entheiligt die Natur immer wieder aufs Neue, sondern er macht sich nicht einmal Gedanken über das Schutz- und Ruhebedürfnis der Wildtiere, die sich abseits von Dörfern und Städten in den Wintermonaten zurückziehen müssen, um zu überleben.

Achtsam mit sich selbst und mit Natur und Schöpfung zu sein, sich für ihren Erhalt einzusetzen, sollte für den modernen Mann, so wie für seinen mythischen Vorgänger, eine unabdingbare ethisch-existenzielle Aufgabe sein – entsprechend sollte er sich verhalten.

Viele Sagen haben eigentlich eine religiöse Funktion. Sie erzählen über den ‚richtigen‘ Umgang mit den Mächten aus der Anderswelt, ob dies nun Natur- oder Vegetationsgeister, arme Seelen, Dämonen oder andere Wesen sind. Die ausdrucksstarken Bilder, die in den Sagen und nach alter Volksmeinung den Jenseitigen anhaften, sollten von uns modernen Menschen nicht belächelt werden, zumal wir uns ja kaum noch damit beschäftigen und sie deshalb nicht mehr verstehen können.

Vor allem aber geht es in derlei Sagen um die zentralen menschlichen Fragen, ob wir in ein höheres Gefüge eingebunden sind oder nicht, wo wir herkommen und nach dem Tod hingehen, was uns danach erwartet, ob und wie wir selbst auf dieses ‚Danach‘ einwirken können. Die Entzauberung der Religion und der damit einhergehende Verlust der religiösen Sicherheit in der heutigen Zeit haben unser Menschsein wohl nicht vereinfacht. Letztendlich muss sich aber jede und jeder von uns mit dem eigenen Ende, mit Sinn oder Sinnverlust des eigenen Lebens auseinandersetzen. Dieses Thema wird im Kapitel „Der Mann in seinem letzten Lebensabschnitt“ behandelt.

Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der männlichen Macht und Gewalt in all seinen Facetten durch die Welt der alpinen Sagen. Parallel dazu versuchten die Leidtragenden oftmals, sich mit listiger Bauernschläue dagegen zu wehren, oder indem sie eiskalt zurückschlugen.

Erfrischend und amüsant fand ich bei meinen Recherchen die Vielzahl an Erzählungen über törichte Männer, die es bei allen Völkern, in allen Regionen und Ländern gibt, die hier aber aus Platzgründen nur auszugsweise wiedergegeben werden konnten.

‚Ein Kapitel für sich‘ sind in den alpinen Sagen das Beziehungsleben und die Liebe zwischen Mann und Frau. Sinnlichkeit und Erotik werden darin zumeist umschrieben und als lasterhaft dargestellt. Vorherrschend ist das Bild der romantischen Liebe, Happy Ends sind eher selten. Viel öfter als von Liebesfreuden ist von Liebesleid die Rede. Es stellt sich allerdings die Frage, ob den von Dorf zu Dorf ziehenden Sagensammlern vonseiten der Erzähler bzw. Erzählerinnen die ‚pikanteren‘ vorenthalten wurden oder ob sie solche bewusst nicht in ihre Sammlungen aufnehmen wollten. Ein großer Teil der Sagen-Verschriftlichung erfolgte, wie bereits erwähnt, im 19. Jahrhundert, als auch die Prüderie überall stark zugenommen hatte und eine lebensbejahende Sexualität gesellschaftlich tabu war.

Bemerkenswert fand ich den Umstand, dass ich unter den vielen Sagen nur auf wenige gestoßen bin, in denen es um die Vaterrolle und eine liebevolle Beziehung des Mannes zu seinen Kindern geht. Über die ‚sagenhafte‘ Abwesenheit der Vaterfigur im Leben von Kindern kann nur spekuliert werden – ob diese beispielsweise auf Arbeitsgründe zurückzuführen oder ein intensiveres Miteinander nicht üblich oder schlicht und einfach nicht erzählenswert war. Hingegen finden sich vermehrt Sagen, die von gemeinsamen Erlebnissen von Großvätern und Enkelkindern erzählen, vielleicht auch deshalb, weil die Großväter die anstrengende, stundenlange körperliche Männerarbeit irgendwann nicht mehr zu leisten imstande waren.

Im Buch finden sich noch viele weitere facettenreiche Geschichten, die von Männern in unterschiedlichen Lebenssituationen und teilweise vergessenen Berufen erzählen, aber auch von Herrschern und Knechten, Zauberern und Heilern, von Riesen, Zwergen und anderen Naturgeistern, von Schurken, Helden und Heiligen. All diese Geschichten hatten in den abendlichen Erzählzusammenkünften – ob an den winterlichen Spinnstubenabenden, während der Sommerwochen auf der Alm oder auf der Burg – ihren festen Platz und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Diese mündliche Erzähltradition ist leider fast zur Gänze erloschen. Ebenso ist auch die Überzeugung früherer Generationen vom Eingebundensein in eine magische, wesensreiche Natur, deren ungeschriebene Gesetze es zu befolgen galt, dem rationalen Zeitgeist des 20. Jahrhunderts gewichen. Seit aber die mündliche Überlieferung von Sagen und Märchen der schriftlichen Platz machen musste, ist der eigentliche ‚Lebenssaft‘ des alten Erzählgutes ins Stocken geraten, wie es der bayerische Schriftsteller und Ethnograf Josef Friedrich Lentner (1814–1852) einmal trefflich formulierte.

Wenn Sie diesen Lebenssaft der alten Geschichten ergründen wollen und Sagen nicht nur als etwas vom Volk Vergnügliches, Erdichtetes betrachten, sondern sie auch mit Ihrem Herzen verstehen möchten, müssen Sie ihnen zugestehen, dass ihre Darstellungen WAHR sind, allerdings im Sinne einer symbolischen, einer ‚psychischen‘ Wahrheit. Zum besseren Verständnis wurden deshalb immer wieder einige vielleicht für Sie informative Anmerkungen zu den Sagen und deren Hintergrund eingestreut.

Lesen Sie die Geschichten nicht nur mit analysierendem, kritischem Geist, sondern lassen Sie sich auch mit Ihren Gefühlen auf diese geheimnisvolle Welt ein, in der es zu unzähligen wundersamen wie furchtbaren Begegnungen kommt. Vielleicht können Sie dadurch auch die Gefühls- und Vorstellungswelt vergangener Generationen, die Lebensumstände Ihrer Vorfahren und Ahninnen besser nachvollziehen.

Fritz Freund,

Hütebub im bayerischen Gebirge

, Öl auf Leinwand, ca. 1890

Kindheit und Jugend

Der arme Küahbua

Is kein schlechters Leben auf Erden

Als wie armer Küahbua werden,

Früh und spat muaß man laufen

Und a blaue Milli saufen,

Voller Hunger, voller Durst

Muaß der Küahbua wieder fort.

A losi Suppen, alti Brocka

Und stoanharte Millinoka

Holz und Wasser muaß hertrogn

Wie’r a Hund muaß er si plogn,

Dös dauert die ganze Sommerszeit

Hat der Küahbua nia kan Freud …3

Kindheit – ein Begriff, der für die einen mit unvergesslich schönen Bildern verbunden ist, bei anderen auch noch im fortgeschrittenen Alter schmerzhafte, bittere Erinnerungen hervorruft.

In unzähligen Liedern besungen, in Gedichten und Romanen beschrieben, steht das Kindsein auch in der Welt der Märchen, Sagen, Bräuche und Anschauungen häufig im Erzählmittelpunkt.

Die Volkssagen aus dem alpinen Raum schildern vor allem das Leben und Erleben von Kindern, die in Armut und Not hineingeboren wurden. Sie veranschaulichen das Aufwachsen ganzer Generationen von Buben und Mädchen, die schon ab der frühesten Kindheit arbeiten mussten, um das Überleben der Familie zu sichern. Man denke nur an die „Schwabenkinder“, deren tägliche Arbeitszeit 12 Stunden und mehr betrug. Nach Ferdinand Ulmer, der bereits 1943 eine Studie über diese ‚Kinderwanderungen‘ veröffentlichte, wanderten um 1830 jährlich circa 5.000 Kinder aus Tirol und Vorarlberg nach Schwaben, vor allem Buben im Alter zwischen 6 und 16 Jahren; ihre häufigste Arbeit war das Viehhüten, was auch Thema des obigen Steirer Volksliedes aus dem 19. Jahrhundert ist. Oft führte diese Kinderwanderung über den Arlbergpass, wo in der Christoph-Kapelle eine große, aus Holz geschnitzte Statue des heiligen Christophorus stand. Das Bild soll von einem ehemaligen Hütbub mit dem Taschenmesser geschnitzt worden sein, leider wurde es bei einem Brand im 20. Jahrhundert zerstört. Der Heilige galt als Schutzpatron der Schwabenkinder – sie schnitten bei ihrer Rast auf dem Pass aus den Füßen der Statue kleine Splitter und trugen sie in der Tasche als Talisman gegen das Heimweh mit sich, sodass die Statue mit einem Drahtgitter geschützt werden musste.

Nicht nur äußerst schwierige Situationen von Armut, Vernachlässigung und Gewalt prägten das Heranwachsen unzähliger Kinder in den Alpenländern; über viele Jahrhunderte war ihnen auch ein regelmäßiger Schulbesuch verwehrt, und sie konnten oftmals weder lesen noch schreiben.

Umso interessanter ist es, dass viele Märchen und Sagen von klugen Kindern und speziell von gescheiten Jungen handeln; sie finden sich übrigens im Erzählgut vieler Völker auf der ganzen Welt. Darin ist durchwegs von Heranwachsenden aus einfachen sozialen Verhältnissen die Rede, zum Beispiel Bauern- oder Hirtenbuben, die in Gesprächen mit Menschen mit viel höherem Bildungsgrad oder sozialer Stellung (Fürsten, Priester usw.) herausragende intellektuelle Antworten geben. Die Entstehung solcher Geschichten reicht fast immer weit in die Zeit vor der Einführung der Schulpflicht zurück. Als Beispiel einer solchen Erzählung wurde in dieses Kapitel die folgende Sage aus dem Trentino aufgenommen.

Der gescheite Knabe

Ein armer Mann war einem reichen Herrn eine Summe Geldes schuldig und wurde von diesem immer wieder an das Zahlen gemahnt. Eines Tages ging der Herr wieder ins Haus seines Schuldners, fand aber nur dessen Sohn, einen Knaben, welcher neben dem Feuer am Herd saß. „Was tust du da?“, fragte ihn der Herr. „Ich schaue, wie sie kommen und gehen“, erwiderte der Knabe. „Kommen denn so viele Leute zu dir?“, fragte der Herr. „Kein Mensch!“, antwortete der Knabe. „Hm, wo ist denn dein Vater?“, sagte der Herr. „Er ist gegangen, um ein Loch mit einem Loche zu stopfen.“ „Hm, was tut denn deine Mutter?“ „Sie backt schon gegessenes Brot.“ „Hm, hm, und was macht deine Schwester?“ „Sie beweint die Freuden des vergangenen Jahres.“ „Du sprichst wie ein Narr oder wie ein Weiser“, sagte der Herr, „möchtest du’s mir nicht erklären?“ „Ei wohl, aber dann müsst Ihr meinem Vater die Schuld schenken“, erwiderte der Knabe. „Das will ich tun, wenn mich deine Antwort befriedigt“, versetzte der Herr.

Nun erklärte der Knabe: „Ich siede hier Bohnen, die steigen immer auf und nieder, also schaue ich, wie sie kommen und gehen. Mein Vater ist gegangen, die Summe, die er Euch schuldet, von einem andern zu leihen, um sie Euch zu zahlen: also macht er ein Loch, um ein Loch zu stopfen. Das Brot, welches wir in den letzten vierzehn Tagen gegessen haben, war vom Nachbarn entlehnt, nun backt die Mutter Brot, um es ihm zurückzugeben: folglich backt sie schon gegessenes Brot. Meine Schwester endlich hat im vorigen Jahre Hochzeit voll Lust und Freuden gehalten, aber ihr Mann ist böse, schlägt sie und macht sie oft weinen. Da beweint sie denn nun die Freuden des vergangenen Jahres und wünscht, sie hätte nie Hochzeit gehalten.“

Da sprach der Herr: „Du bist ein gescheiter Knabe und deine Antwort hat mich befriedigt, deinem Vater ist die Schuld geschenkt.“4

Besonders schwerwiegend war die frühere hohe Müttersterblichkeit – ob während einer erneuten Schwangerschaft der Frau oder bei der Geburt eines weiteren Kindes –, und es ist sicher für alle nachvollziehbar, welch traumatische Auswirkungen der Tod der Mutter für ein Kind bedeutete und immer noch bedeutet. Die vielen Märchen und Sagen, die das Stiefmutter-Thema zum Inhalt haben, zeugen von dieser traurigen Wirklichkeit. Eine Eisacktaler Sage schildert die von einem kleinen Buben erlittenen körperlichen und seelischen Verletzungen in seiner täglichen Situation von Gewalt und Hoffnungslosigkeit, denen er schutzlos ausgesetzt ist.

Wie das Büblein Mutterlos in den Himmel reist

Es war einmal ein kleines Büblein, das hatte früh seine Mutter verloren. Seit ihrem Tode aber hatte es keine gute Stunde mehr, die Stiefmutter schlug es alle Tage, und wo sie das Kind nur sah, stand es ihr im Wege, und sie stieß es mit dem Fuße auf die Seite, sodass das arme Kind in immerwährender Angst war. Wenn ihre eigenen Kinder das schöne Weißbrot aßen, warfen sie dem Büblein, das nur am Katzentisch sitzen durfte, ein Stück hartes Brot hinüber, wie solches der Bäcker aus Nachmehl bäckt. Auch ließ sie ihm einen groben, rupfenen Kittel machen und enge Schuhe, die dem Kinde recht weh taten. Und schwere Arbeit musste es tun vom Morgen bis zum Abend und laufen, dass es vor Schmerz in den Füßen hätte schreien mögen. Die anderen Kinder spotteten des Bübleins, hießen es nur Hinkebein und taten ihm alles Mögliche zuleide. Aber das Kind ertrug alles ohne Murren und blieb brav und fromm. Einmal, als der Vater im Wald war und die Stiefmutter noch schlief, ging das Knäblein hinaus zum Grab der Mutter und weinte bitterlich. Mit seinen kleinen Fingerchen klopfte es ans Totenkreuzlein und rief: „O Mutter, liebe Mutter, tu auf und lass mich zu dir hinein! Die Stiefmutter ist bös und schlägt mich alle Tage.“

Aber es blieb alles still und niemand antwortete. Darauf sagte der Knabe zu sich: „Die Mutter ist gewiss nicht mehr darin; sie war ja so gut und fromm und wird in den Himmel gegangen sein.“ Da wollte er auch den Himmel suchen und seine liebe Mutter darin, und das arme Kind ging den ganzen Tag über Wiesen und Felder und durch den Wald, und weil es keinen Weg hatte, musste es über Stock und Block laufen. Die Füße schmerzten es so jämmerlich, dass es hätte aus den engen Schuhen springen mögen.

Abends kam es aus dem Walde zu einem großmächtigen See und war vom Hunger und Leid und von der langen Reise so müde, dass es sich vor dem Fischerhaus auf einen Stein setzte und einschlief. Im Traum kam es ihm vor, als käme eine schöne goldglänzende Wasserwelle zu ihm heran, und wie es sie anschaut, bekommt sie menschliche Gestalt und ein Gesicht, so weiß wie Schnee und so rot wie Blut, und sieht gar freundlich aus. Und das Kind ist nicht mehr traurig, und weil die Wellenjungfrau es gar so holdselig anlächelt, fasst es sich ein Herz und bittet schmeichelnd: „O Welle, liebe Welle, trag mich über das Wasser in den Himmel hinüber, wo meine gute Mutter wohnt und andere gute Menschen, die mich nicht mehr schlagen!“

Die Nacht wird finster, die Wellen wühlen zum Strande herein und schlagen ans Fischerhaus.

Und eine fasste das schlafende Kind, dass es weich gebettet lag, wie in einer Wiege, und trug es sorgfältig, als wäre der Knabe ihr Wickelpüppchen, dem Morgenwind entgegen ans andere Ufer. Dort legte sie ihn unter einer grünen Linde ins weiche Gras, und ein Waldvöglein sang ihm vom Baume herab ein fröhliches Lied auf die Reise in der Mutter Land.

Am anderen Tag wuchsen in seines Vaters Garten drei blutrote Blümlein. Als der Vater die Blümlein erblickte, ward ihm so schwer ums Herz, und er meinte nichts anderes, als sein Büblein wäre gestorben. Und er machte sich auf den Weg und suchte neun Tagrasten in der Runde, aber er fand das Kind nicht mehr.5

Gramvolle und demütigende Erfahrungen durchlitten unehelich geborene Kinder und deren Mütter in vielen Alpenregionen noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Viele fristeten fern ihrer Eltern ein hoffnungsarmes, tristes Dasein in Waisenhäusern oder als kleine Knechte oder Mägde auf Bauernhöfen. Das Schicksal eines solchen Buben wird in einer traurigen Sage aus dem Aostatal geschildert. Die Erzählung berührt mich persönlich sehr, denn sie erinnert mich an viele Kindheitserzählungen alter Menschen, die ich während meiner langjährigen Tätigkeit in der professionellen Sozialarbeit gehört habe. Somit sind Sageninhalte – zumindest aus meiner Erfahrung – oft gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt.

Der grüne Reiter

Jean-Marie, so sagten die Leute, war ein wenig verrückt. Er antwortete nur einsilbig, wenn ihn jemand etwas fragte, und sein Blick war stets irgendwohin in die Ferne gerichtet. Seine vierzehn Jahre schienen ihm bereits schwer auf den Schultern zu lasten, als ob er schon ein alter Mann wäre.

Der Bub war Waise seit seiner frühesten Kindheit. Eine alte geizige Tante hatte ihn zu sich genommen, und sie machte keinen Unterschied zwischen ihm und den Ziegen und Kälbern im Stall. Natürlich konnte er nicht lesen und schreiben, aber verrückt war er deshalb noch lange nicht. Er war, wie man früher so schön sagte, ein „Kind der Sünde“, und deshalb wurde er, teils aus Verachtung, teils aus Gewohnheit, stets „Drecksbalg“ gerufen. Was dies bedeutete, wusste der Bub nicht, nur, dass es ein Schimpfwort war.

Seit mehreren Jahren schon arbeitete er den Sommer über auf der Alpe von Money im Cogne-Tal.

Auf diese Zeit freute sich Jean-Marie das ganze Jahr: auf die blühenden Almwiesen und den würzigen Geruch von Arnika und Kohlröschen, auf die kreischenden Alpendohlen und den majestätischen Steinadler, auf die schäumenden Wasserfälle und vor allem auf die Murmeltiere. Hier oben auf der Alm schien ihm auch die tägliche Arbeit weniger mühsam. Der frische Wind, der Blumenduft in der Luft, der Blick auf die beeindruckende Bergwelt des Gran Paradiso, das alles ließ ihn oft vergessen, wer er war, wo er gerade war und warum er hier war …

„Jean-Marie, Drecksbalg, wo bist du?“ Ein Steinchen, das nach ihm geworfen wurde, traf ihn am Arm. Jean-Marie fuhr erschreckt hoch. Der Patron suchte ihn! So schnell er konnte, lief der Bub zurück zur Alm. „Auf was wartest du noch, Drecksbalg? Esist höchste Zeit fürs Melken! Beeil dich!“ Jean-Marie lief um Milcheimer und Melkstuhl, aber das Einzige, an was er dachte, war, dass er oben beim großen Stein, unter dem sich der Eingang in einen Murmeltierbau befand und wo er vorher gesessen hatte, sein Taschenmesser vergessen hatte.

Als er die Kühe gemolken und eine Schnitte trockene Polenta zu Abend gegessen hatte, eilte er wieder hinauf, um sein Messer zu holen. Da lag es ja!

Er wusste, eigentlich sollte er sogleich zur Alpe zurückeilen, aber er setzte sich hin und fing an zu träumen. Schön wäre es, allein hier oben zu leben, mit den zutraulichen Murmeltieren, den Mardern, den Vögeln und auch den Schlangen. Es gab allerhand würzige Kräuter und Wurzeln, die man essen könnte, und ein gutes, frisches Wasser … Unten auf der Alm und im Dorf hörte er eh nie ein freundliches Wort, nie eine Zärtlichkeit, nein, nur Drecksbalg hier, Drecksbalg da … Er schloss die Augen und vernahm nicht die nahenden Schritte. „O Drecksbalg, sag, denkst du an deine Liebste?“ Luc, einer der Hirten, hatte beobachtet, wie er davongeeilt war, und war ihm gefolgt. Jean-Marie bewegte sich nicht. „He, Mistkerl, dich meine ich! Mach, dass du herunterkommst – wenn du so weitermachst, wird dich der Patron grün und blau prügeln!“ Luc stapfte wieder davon, und Jean-Marie blieb sitzen.

Mittlerweile war es fast dunkel geworden. Als sich der Bub erhob, hörte er ein leises Zischen. „Ssst, sst!“ Und dann, wie ein leiser Hauch: „Jean-Marie, hör mir zu!“ Er blickte um sich, aber da war niemand. „Hör mir zu, Jean-Marie, sst! Schau her zu diesem Grasbüschel und dem Stein!“ Jean-Marie schaute hin. Zwei kleine glühende Punkte bewegten sich da im Dämmerlicht leicht hin und her, und als er genauer hinschaute, entdeckte er eine kleine Kreuzotter. „Hab keine Angst, Jean-Marie, ich tu dir nichts!“

Von der Alm her rief man nach ihm: „Drecksbalg, Drecksbalg, wo zum Teufel steckst du?“ „Hör nicht hin“, zischte die Kreuzotter, „ich werde dir beibringen, wie du dich rächen kannst und auch mich! Die da unten werden alle zugrunde gehen! Hör mir zu! Ich war auch einmal ein armes Waisenkind wie du, ein Drecksbalg wie du, und auch ich habe hier gearbeitet. Aber einmal hat mich der Patron blutig geprügelt, und da habe ich ihm in den Finger gebissen. Der ist aber nie wieder richtig verheilt und seit jenem Tag wollte mich niemand mehr haben. Alle haben mich nur noch ‚Viper‘ gerufen, Viper da und Viper dort. Als ich es nicht mehr ausgehalten habe, bin ich zur Zauberin gegangen und habe sie um Hilfe gebeten. Sie hat mich in diese Gestalt verwandelt, und seither lebe ich hier und warte auf den Moment der Rache. Ich beobachte dich schon lange, Jean-Marie. Wenn du willst, kannst du dich und mich rächen. Die Leute werden sterben, und dann gehört die Alm uns. Dann werde ich wieder in meine wahre Gestalt zurückkehren und wir können heiraten. Hast du verstanden, Jean-Marie?“

Von der Alm her hörte er erneut rufen: „Drecksbalg, o Drecksbalg, kommst du endlich?“

Als die Hirten am anderen Morgen vor ihre Hütten traten, war Jean-Marie verschwunden. Vergeblich stieg Luc zum großen Stein hinauf, wo er ihn gestern noch angetroffen hatte. Vergeblich riefen sie mit lauter Stimme nach ihm. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Was für ein seltsamer Morgen! Der Rauch des Herdfeuers kroch die steinernen Dachplatten entlang, anstatt fröhlich vom Kamin in die Luft aufzusteigen; vom Tribolazione-Gletscher her vernahm man das Poltern herabkollernder Steinbrocken, und Schwärme kreischender Dohlen flatterten über die Hütten. Die Hirten machten sich mit ihren Milcheimern und Melkstühlen auf zu den Kühen, als Luc mit weit aufgerissenen Augen rief: „Schaut, da!“ Auf dem Colle di Money war, nur für einen Augenblick, ein grünes Licht aufgeblitzt. Aber dann verwandelte es sich in einen grünen Reiter, grün vom Helm bis zum Schaft. Er saß auf einem grünen Ross, und nun galoppierte er wild über den Gletscher, über die Wiesen, bis zur Alpe. Hier sprang er vom Pferd, und ohne ein Wort zu sagen, ging er von einer Kuh zur anderen, berührte ihre prallen Euter; dann stieg er wieder in den Sattel und galoppierte davon.

Es dauerte einige Zeit, bis sich Luc und die anderen Hirten wieder gefasst hatten. Es musste endlich gemolken werden! Aber was war geschehen? Nicht ein Tropfen Milch war aus den Eutern der Kühe herauszumelken. Auf der Weide wollten sie nicht fressen, und als sie in den Stall zurückkehrten, legten sie sich ächzend auf den Stallboden.

Der Nachmittag kam und damit auch die erneute Stunde des Melkens. Da, auf dem Colle di Money, war schon wieder das grüne Licht zu sehen, dann das Herannahen des grünen Reiters, er stieg wieder vom Pferd, berührte die Kühe, galoppierte davon und verschwand hinter den Gletschern.

Auch dieses Mal konnten die Hirten keinen einzigen Tropfen melken. Die Euter der Kühe waren überprall, sie brüllten vor Schmerz, wenn sie daran berührt wurden.

Am darauffolgenden Tag erschien der grüne Reiter wieder, und auch am kommenden. Mittlerweile schrien die Kühe ohne Unterlass, ihre Augen waren blutunterlaufen, die Schwänze steil in die Höhe gerichtet. Die Hirten waren ratlos. An Jean-Marie dachte niemand mehr.

Da kam César, der treffsichere Jäger, daher. Niemand schenkte ihm Beachtung, denn alle Gedanken drehten sich um die Kühe, deren bestialisches Brüllen nicht mehr auszuhalten war. Aber César war ein außergewöhnlicher Mann. Er hatte mit den wilden Tieren im Wald gekämpft, den Hexen ins Gesicht gelacht, er kannte keine Angst. Als man ihm erzählte, was los war, sagte er: „Lasst mich nur machen.“

Er lud seine Armbrust und legte sich hinter dem ersten Stall auf die Lauer. Er musste nicht lange warten; zur gewohnten Stunde erschien der grüne Reiter, galoppierte über den Gletscher, die Moräne und die Wiesen und machte erst vor den Ställen Halt. Césars Hand zitterte nicht. Er zielte und schoss. Dann hörte man einen lauten Schrei, einen Zornschrei.

Reiter und Pferd waren verschwunden. „Gott steh uns bei!“, entfuhr es dem Jäger, „kommt her, kommt her, o großer Gott!“

Die Hirten liefen zu ihm. Am Boden lag, unter einer schwarzen Rauchwolke, eine tote Gestalt. „Aber das ist doch der Drecksbalg! Mein Gott, es ist der Drecksbalg!“ Es war tatsächlich er, Jean-Marie, er war Opfer seiner Rachegedanken und Opfer der Zauberin geworden, die ihm dazu geraten und geholfen hatte. „Schaut her, schaut!“, rief César. Um Jean-Maries Arm lag zusammengerollt eine schwarze Kreuzotter, sie schien friedlich zu schlafen, nein, sie war tot.

Der grüne Reiter erschien nie mehr auf der Alm von Money. Und seit jenem Abend hatte das Schikanieren der Hirtenbuben auf der Alpe ein Ende.6

Dass es aber Buben und Mädchen immer wieder gelingt, auch in schwierigsten Lebenssituationen zurechtzukommen und nicht daran zu zerbrechen, ist staunenswert und beeindruckend. Diese besondere innere Stärke, auch „Resilienz“ genannt, ist eine geheimnisvolle psychische Kraft. Auch alpine Sagen erzählen aus dem Leben von solchen geprüften Kindern und Jugendlichen: Sie kommen mit dem stundenlangen Verbleib in völliger Einsamkeit klar, machen spannende Bekanntschaften mit Pflanzen und Tieren und begegnen ‚magischen Wesen‘ in der Natur. Für sie ist dieses Alleinsein auch eine Zeit des Beobachtens, Zeit für spielerische Tätigkeiten, Zeit zum Träumen, und oftmals verschwimmen Phantasie und Wirklichkeit ineinander, wie in der folgenden Sage um den jungen Ziegenhirten im Friaul. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Auffassung von Kulturforscherinnen und -forschern und Tiefenökologinnen und -ökologen wie Dolores La Chapelle, der zufolge Menschen, die in ihrer frühen Kindheit eine tiefe Beziehung zur Natur aufbauen konnten, zeitlebens aus ihr Kraft schöpfen und sich in ihr aufgehoben fühlen.

Der Feentanz

Die endlosen Wälder von Sappada/Plodn lagen wie ein riesengroßer dunkelgrüner Teppich weit unter ihm. Darüber dehnten sich eine lange, braungrüne Bergkette und ein grünblauer Höhenzug von Gipfeln und Jöchern aus, und ganz hinten leuchtete ein silbrig weiß schimmerndes Bergmassiv mit vielen Zacken, Graten und Spitzen.

Es war der erste Sommer, in dem der Bub hier oben die Arbeit des Ziegenhirten verrichtete. Aber schon nach wenigen Tagen hatte er verstanden, dass diese Aufgabe gar nicht so leicht war, denn die Ziegen machten, was sie wollten. Sie liefen hierhin, sie liefen dorthin, und sie kletterten in die Felsen hinauf, wenn sie dort würzige Kräuter erspähten.

Der Bub ließ sie nicht aus den Augen; er versuchte immer wieder, sie in einen überschaubaren Kreis zusammenzutreiben und sie von den Steilabschüssen fernzuhalten. Doch je mehr er sich damit abmühte, umso lieber entfernten sie sich von ihm, und am Abend war er oft so müde, dass er schon während des Abendessens mit dem Löffel in der Hand am Hüttentisch einschlief.

Aber einsam fühlte er sich nie, nein, er hatte ja seine Tiere, und es gab immer viel zu entdecken und zu beobachten, eine Wolke zum Beispiel, die plötzlich die Form eines riesigen Pferdes annahm, oder einen leuchtenden Blütenkelch, der auf seinen Fingern einen feinen gelben Staub zurückließ …

Oder er legte sich so wie jetzt ins weiche Gras und schaute in den Berghimmel hinauf und träumte von allem und nichts … aber plötzlich schreckte ihn dann aus dieser paradiesischen Glückseligkeit der Gedanke auf, wo wohl seine Ziegen umgehen würden.

Immer wieder kam es auch vor, dass zwei Geißböcke ihre Kräfte messen wollten, und wenn sich ihre Hörner dabei ineinander verhakten, musste er sie wieder auseinanderbringen. Auch vorhin hatte er wieder einmal eingreifen müssen. Jetzt stellte er sich stolz und breitbeinig hin und steckte sich die Hände in die Hosentaschen, wie er es bei den Großen oft gesehen hatte. Er schaute um sich, über die hügeligen Almwiesen zu den Felswänden und -platten bis hinunter zum kleinen, tiefblau leuchtenden Bergsee. Am Rand des Sees tanzten mehrere Mädchen. Er zählte sie, sieben waren es. Vielleicht lachten und sangen sie auch, aber des Windes wegen konnte er ihre Stimmen nicht gut hören. Sie trugen rote Kleider, o wie schön sie waren!

Schnell lief er über die blühenden Almwiesen hinunter. Er rief nach den Mädchen, aber die schenkten ihm keine Beachtung und tanzten unbeschwert weiter. Ein Stein rollte von der Bergwand herunter, er schaute hinauf, o nein, seine Ziegen waren in die Felsen hinaufgeklettert, genau dorthin, wo sie nicht sein sollten. Schnell machte er kehrt, lief wieder über die Almwiesen zurück, keuchend eilte er zu den Felsschrofen hinauf. Er pfiff nach Leibeskräften, warf Steine nach den Tieren, und unter großer Mühe gelang es ihm, sie von den Felsen herunterzutreiben. Als er zum See hinunterblickte, waren die sieben Mädchen verschwunden.7

Eine variantenreiche, im gesamten Alpenraum und weit darüber hinaus verbreitete Sage berichtet über die weiße Krönlnatter oder Krönleinschlange. Oftmals tritt sie in der Nähe eines Kindes in Erscheinung und frisst sogar aus dessen Essnapf. Die folgende Sage stammt aus Vorarlberg.

Die Krönleinschlange

In der guten alten Zeit hat es überall Schlangen gegeben. Doch Schlangen weiß wie Schnee mit einem goldenen Krönlein auf dem Kopf hat man auf Wies’ und Feld und Haus und Stall nur ganz selten gesehen. Aber alle Leute wussten und glaubten, dass ihnen eine solche Schlange Glück und Segen bringe.

Einmal ist vor einem Haus ein kleines Bauernbübchen gesessen und hat aus einem Näpflein Kuhmilch mit eingebrockten Eierschnitten geschöpft. Und wie es schöpft und isst, schleicht eine Krönleinschlange daher, sie setzt sich neben das Bübchen und isst mit, als ob sie eingeladen wäre. Doch wie das Büblein merkt, dass sein Gast die ganze Milch trinkt, schlägt es ihm das Krönlein vom Kopf und sagt: „Du kannst auch Bröcklein nehmen!“

Seither findest du im ganzen Land, wohin du auch gehst, keine weiße Krönleinschlange mehr, und mit dem Glück schaut es auch magerer aus.8

Laut Sagenforschung schimmert aus derlei Erzählungen der uralte Kult der Hausschlange durch. Nach alten Erzählungen verschiedener Länder war diese Hausschlange einst von so großer kultischer Bedeutung – sie galt unter anderem als Schutzgeist bzw. -gottheit des Hauses und als Seelentier der Ahnen –, dass sie ungestört in Stall und Haus leben konnte und sich manchen Autoren zufolge völlig zahm in der Nähe von Kindern aufhielt. Töte, verletze oder störe man diese Schlange – wie der Bub in der obigen Sage –, entferne sie sich für immer, und mit ihr verschwänden Gesundheit und Wohlstand aus dem Haus, hieß es früher. Das Bild der gekrönten Schlange ist Tausende von Jahren alt und weist auf die über lange Zeit hochverehrte Schlangengöttin hin.

Forschende vermuten, dass es sich bei den Schlangen dieses Erzählmotivs um die ungiftige Ringelnatter handelt, die am Hinterkopf zwei halbmondförmige gelbe Flecken aufweist, die als Krone gedeutet werden könnten; sehr selten gibt es unter den Ringelnattern auch Albinos, also weiße Nattern.

Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Thema, das im religiösen Glauben, aber auch im Volks- und Aberglauben eine wichtige Rolle spielt: die kindliche Unschuld. Während man sich einerseits viele Jahrhunderte lang wenig Gedanken hinsichtlich der Bedürfnisse und des Schutzes von Kindern machte und sie gesellschaftlich viel geringer schätzte als Erwachsene, wurde ihnen andererseits aufgrund ihrer Unschuld, ihres Freiseins von Sünde und jeglichem berechnenden Verhalten eine ganz besondere Kraft zugesprochen. So hieß es im schweizerischen Wallis, dass die kindliche Unschuld das Kind selbst und auch seine Umwelt vor dem Teufel bewahre. In Schwaben war man noch im 19. Jahrhundert überzeugt, dass sterbende unschuldige Kinder direkt über das Fegefeuer dem Himmel zufliegen würden, und was sie dabei an übrigen Schmerzen ausstehen müssten, müssten ihre Eltern nicht mehr erleiden.

Als außergewöhnlich wirksam gilt und galt die Kraft von Kindergebeten. Noch vor circa 15 Jahren erzählten mir ältere Menschen aus verschiedenen Dörfern in tiefster Überzeugung, dass Kindergebete um vieles wirksamer seien als jene von Erwachsenen. Bei besonders schwerwiegenden Todesfällen habe in ihren Dörfern noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Gruppe von Kindern an den Gebeten für die Sterbenden oder Verstorbenen teilnehmen müssen, da dem Kindergebet eine segnende Stärke innewohne. Von dieser besonderen Gebetskraft ist auch in Volkssagen die Rede, ein Beispiel hierfür ist diese Wipptaler Sage.

Das fromme Hirtenbübl

Einem Hirtenbübl war es einsam auf den Höhen. Da haben ihm andere Hirten geraten, nur recht fleißig zu beten. Es hat sich kleine Hölzchen gemacht, und allm [immer] wenn es ein Vaterunser gebetet hat, warf es ein Hölzl in seine Kappe, die es neben sich gelegt hatte. Nachher schüttete es die Hölzchen aus, um die Vaterunser zu zählen, da sind aber die armen Seelen gekommen, haben die Vaterunser aufgeklaubt und sich schleunig damit durchgemacht. Ein Kapuzinerpater ging vorüber, erfuhr davon und schenkte dem Knaben einen „Betten“ [Rosenkranz]. Jetzt nahm es diesen zum Beten, aber da blieben die armen Seelen weg. Da hat das Bübl den Rosenkranz verworfen und wieder in die Kappe gebetet, weil es das lieber mochte, wenn die armen Seelen kamen.9

Den Wert der Unschuld haben auch die Ausführungen des Schweizer Domherrn Peter Joseph Ruppen aus dem 19. Jahrhundert zum Inhalt, sie beenden dieses Kapitel. Obwohl sie nur circa 150 Jahre zurückliegen, sind sie in der heutigen Zeit kaum noch nachvollziehbar.

Wert der Unschuld

Das frommgläubige Volk legt der Unschuld getaufter Kinder hohen Wert bei und traut derselben wohl überirdische Kraft zu. – Der Satan und böse Geister vermögen nichts gegen dieselbe; Bozen (Almgeister) und Spukgeister sind kaum zu fürchten, wo ein Kind in der Unschuld Gesellschaft tut. – Betrüger, die diesen Volksglauben kennen, verlangen oft unschuldiger Kinder Hände, um einen versprochenen Schatz zu entdecken oder anderes Blendwerk zu verüben. – Die Mutter glaubt viel kräftiger und wolkendurchdringender beten zu können, wenn sie ein unschuldiges Kind auf den Armen hält, das sich ihr anschmiegt und ihren Hals umklammert. Auch gibt es Orte, wo den Sterbenden ein unschuldiges Kind möglichst nahe gebracht wird, das den bösen Feind verscheuchen und die ausgehauchte Seele in der Unschuld in Empfang nehmen soll. – Unschuldige Kinder werden darum beim Volke überall gerne gesehen und wohl geduldet.

Diese Schätzung und Achtung vor der Unschuld getaufter Kinder erreicht aber beim gläubigen Volke den Höhepunkt, wenn eines derselben das Glück hat, in derselben zu sterben. In mancher Sage beurkundet sich der Volksglaube, die unschuldigen Kinder gehen nicht allein in den Himmel, sondern würden von einer andern, aus den Reinigungsqualen dafür erlösten, armen Seele dahin begleitet. Der Tod eines unschuldigen Kindes, so wird geglaubt, befreit also allemal, wenn möglich unter den Anverwandten, eine leidende Seele aus den Peinen des Fegfeuers; gilt darum als ein glückliches Ereignis für die ganze Familie, das oft in heißen Gebeten vom Himmel verlangt wird. Der gute Vater und die zärtliche Mutter weinen freilich dem lieben Kinde ein paar stille Tränen nach; aber das freudige Bewusstsein, einen schönen Engel im Himmel zu haben, der für sie am Throne des Allmächtigen betet, trocknet diese Tränen gleich und stimmt alle Traurigkeit in Freude um. Der Begrabtag des Kindes wird ein Freudenfest für die ganze Familie; Eltern und Anverwandte ziehen ihre Hochzeitskleider an, begleiten so die Leiche zu Grabe und feiern im trauten Kreis den glücklichen Tag. – Auch die Kirche kennt keine Trauer und begleitet unter Lobgesängen die Leichen unschuldiger Kinder zur geweihten Erde.

O! wie sehr sticht da die glaubensarme Mode der Städte und Grunddörfer ab, wo der feine Ton fordert, auch die Leichen unschuldiger Kinder in Trauer und unter Wehklagen zur letzten Ruhestätte zu bringen!10

Jagdszene

, Fresko (Detail), Schloss Runkelstein, Bozen, um 1400

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen

Die in den alpinen Sagen genannten beruflichen Tätigkeiten der Männer beziehen sich zu einem überwiegenden Teil auf die landwirtschaftliche Arbeit in all ihren Facetten. Unzählige Geschichten berichten von den verschiedenen bäuerlichen Handlungen und Gewohnheiten, ob als Bauer oder Knecht, als Senn oder Hirte, ob im Tal oder auf der Alm.

Neben den wohlhabenden Bauern in den Talniederungen, die auf die tatkräftige Unterstützung von Knechten und Mägden zurückgreifen konnten, gab es viele Klein- und Bergbauern. Wie mühsam vor allem die Arbeit der Letzteren einst war, kann hier nur oberflächlich beschrieben werden. Es fehlten die arbeitserleichternden Hilfsmittel von heute, und es gab auch noch keine bequemen Zufahrtswege zu den sich oftmals in sehr steilem Gelände befindenden Höfen – noch zu Beginn der 1980er Jahre konnte ich im Rahmen meiner Tätigkeit in der professionellen Sozialarbeit mehrere Bergbauernhöfe nur zu Fuß erreichen. Und immer waren die Menschen auf Gedeih und Verderb den Zyklen und Launen der Natur ausgesetzt.

Der Bauer als Wettermacher

Ein Bauer, der mit dem Wetter niemals zufrieden war, hatte sich vom lieben Gott die Gnade ausgebeten, dass er einmal ein Jahr lang die Witterung nach seinem Gutdünken bestimmen dürfe. Diese Bitte wurde ihm gewährt. Nun bat er, sooft es ihm zum Gedeihen der Früchte nötig schien, abwechselnd bald um Regen, bald um Sonnenschein, und die Saaten schienen sich gut dabei zu befinden. Als er aber sein Getreide geerntet und gedroschen hatte, fand sich’s, dass die Körner alle taub waren und keinen Mehlstoff enthielten. Der Bauer beschwerte sich nun beim lieben Gott, dass seine Frucht, obwohl es ihr nie an Regen noch an Sonnenschein gefehlt habe, doch so schlecht ausgefallen sei. Der liebe Gott aber sagte: „Du hast nur um Regen und Sonnenschein gebeten, aber niemals um Wind, der doch zum Gedeihen der Frucht ganz notwendig ist.“ Seitdem überließ der Bauer das Wettermachen ohne Murren wieder dem lieben Gott.11

Zu den schweißtreibendsten bäuerlichen Tätigkeiten zählte früher das Befördern von Lasten auf dem Rücken und Nacken, wie beispielsweise das Heueintragen. Dabei transportierten die Männer in „rupfenen“ (groben, aus minderwertigen Flachs- oder Hanffasern hergestellten) Tüchern oder Netzen an die 60 Kilogramm Gewicht und auch mehr. An den steilen Hängen und Äckern der Bergbauernhöfe mussten sie auch den Mist in Rückenkörben befördern, oft rann den Männern dabei die Mistflüssigkeit über den Rücken hinunter. Arbeitstiere konnten auf diesem abschüssigen Gelände nicht genutzt und der Dung musste mit den Händen ausgebracht werden. Ebenso musste sich Bauer oder Knecht auf den allersteilsten Äckern beim Pflugziehen selbst vor den Pflug spannen, da Ochs oder Pferd hier nicht verwendbar waren. Eine äußerst risikoreiche bäuerliche Arbeit war das winterliche Heuziehen, bei dem das im Sommer in den Almhütten eingebrachte Heu auf Schlitten ins Tal herabgebracht wurde, um es an die Tiere im Stall zu verfüttern. Dies wurde noch bis ins 20. Jahrhundert hinein so praktiziert.

Nicht minder gefahrenvoll war in verschiedenen Berggebieten das Mähen der oft sehr abschüssigen Bergmähder. Beda Weber, Priester, Professor und Schriftsteller, berichtet in seinem Werk „Das Land Tirol“: „Die Stubayer klettern wie Ziegen an den gefährlichsten Abhängen umher, um eine Handvoll Heu für ihr Vieh zu gewinnen … Beim Mähen der Bergmähder im Stubai hängen die Mäher mit Stricken aneinander, um sich vor dem Ausgleiten auf steilen Kläpfen (Felsen) zu sichern (1838).“12

So ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass es im Pustertal bis ins 20. Jahrhundert hinein üblich war, vor Beginn der Arbeit auf diesen Mähdern zur Beichte zu gehen, um nicht unvorbereitet vom Tod überrascht zu werden.13 Da in zahlreichen Sagen anderer Kapitel dieses Buches oftmals von Bauern und Knechten, Hirten und Sennen die Rede ist, werden solche Erzählungen hier nicht detailliert wiedergegeben.

Risikoreich und strapaziös waren auch andere männliche Berufe, von denen hier nur eine kleine Auswahl vorgelegt werden kann – beispielsweise jener des Fuhrmanns, der bei jedem Wind und Wetter unterwegs war und oft auch weite Strecken zurücklegte.

Ein Fuhrmann stiftet eine Leonhardskette

Über den Maierhof „Klughammer“ am Kalterer See führte einst eine wichtige Handelsstraße. Diese benutzte einmal ein Fuhrmann zur Winterszeit mit seinem schwer beladenen Wagen. Aber aufgrund eines heftigen Schneegestöbers kam er vom Weg ab und geriet auf den gefrorenen Kalterer See. Weil ihm trotzdem kein Schaden widerfuhr, gelobte er dem heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der Fuhrleute, eine Kette zu stiften, und zwar ringsum an den Außenwänden der uralten Sankt-Leonhards-Kirche in Unterplanitzing bei Kaltern. Im 18. Jahrhundert wurde ein Teil dieser Kette verkauft, um Restaurierungsausgaben der Kirche zu decken.14

Der heilige Leonhard (Gedenktag 6. November), der auch als „Kettenheiliger“ bezeichnet wird, ist Schutzpatron der Gefangenen, für die er sich regelmäßig beim König eingesetzt haben soll. Laut Legende stand er der Gemahlin des Frankenkönigs Chlodwig bei der schweren Geburt ihres Sohnes bei. Er gilt deshalb auch als Patron der Gebärenden, zudem als Beschützer von Ochsen und Pferden, Stallknechten und Fuhrleuten, die ihn sehr verehrten und zum Dank oft ein Hufeisen an Leonhardskirchen schlagen ließen. Leonhardskirchen sind zumeist sehr alt, stehen oft an Straßen und Saumwegen und sind mit einer Eisenkette umspannt.

Von Legenden umrankt ist auch das Handwerk des Müllers, der in Märchen und Sagen häufig als geizig und gierig geschildert wird. Mühlen werden besonders gerne von helfenden Zwergen besucht.

Der geizige Müller

Oberhalb der Bauernhöfe Hägelen, eine Viertelstunde vom Städtchen Kaiserstuhl (Aargau) entfernt, stehen zwei sehr große Felsen voller Scharten und Löcher, die den hier nistenden Vögeln einen sicheren Aufenthalt bieten. Der größere der beiden Felsen heißt „Lampohrenfluh“ und hat eine tiefe Höhle. Diese war einst der Wohnort friedlicher Zwerge. Hier herauf trugen sie säckleinweise ihr Mehl aus der Talmühle und brachten dafür Glück und Segen in diese hinab. Aus dem Mehl buken sie den armen Leuten Kuchen, aus allerlei Kräutern bereiteten sie Arzneien für die Kranken, in der ganzen Umgegend hielt man sie in hohen Ehren. Sie hatten ungewöhnlich große Ohren, die ihnen sogar unter der Mütze hervorschlappten. Aber der Meister-Müller wurde allmählich reich, hierauf geizig, und zuletzt war er auch des Besuchs seiner Wohltäter überdrüssig geworden. Er mischte ihnen daher Gips unter ihr Mehl und meinte, sie würden daran sterben. Allein sie lachten nur über seinen törichten Geiz und warfen das giftige Mehl in den Mühlbach hinein, aus dem er sein Vieh tränken musste. Nun ging ihm Ross und Rind drauf. Ein Unglücksfall folgte dem andern, der Müller verlor seine ganze Habe. Vollständig verarmt nahm er seinen letzten Sack Mehl und stieg damit nach der Höhle hinauf, um es den Zwergen zu bringen. Diese waren aber bereits ausgewandert, und anstatt sie zu finden, stürzte er in eine Spalte und fand seinen Tod.15

Fast ausgestorben ist die schweißtreibende Arbeit des Köhlers: Zuerst musste das erforderliche Holz gehackt und zu den Plätzen geschafft werden, wo die Kohlemeiler errichtet werden sollten. Aus Holzscheiten oder Ästen errichtete der Köhler dann halbkugelförmige Konstruktionen und bedeckte sie mit einem Dach aus Zweigen, Gras und Erde, nur eine kleine Kaminöffnung wurde freigelassen. Ganz im Innern des Meilers, im „Kamin“, zündete er nun das Feuer an, das er dann über Tage oder Wochen ständig überwachen musste. Das Holz durfte nicht brennen, sondern nur verkohlen. Trotz der schwierigen Arbeit waren Köhler in der Gesellschaft nicht sehr angesehen. Hie und da erinnern immer noch Namen im Gelände an solche Plätze.

Der Köhler und die Zwerge

Einem Köhler hatten die Zwerge schon dreimal seinen Haufen auseinandergestreut. Als er ihn zum vierten Mal wiederaufgerichtet hatte, baten sie ihn flehentlich, dass er doch besser sie denselben anzünden lasse, was er ihnen, um sie nicht zu reizen, auch zugestand; worauf sie aber so unbändig drauf losschürten, dass der Haufen lichterloh zu brennen anfing und der Köhler statt der Kohlen nichts als Staub und Asche erhielt.16

Abgekommen ist auch die seit dem 16. Jahrhundert bekannte sogenannte Störarbeit. „Auf die Stear“ gingen Handwerker wie Schneider, Weber, Kesselflicker oder Schuster, wobei sie ihre Arbeit bei fremden Höfen und Häusern anboten. Sie bekamen Kost, Logis und den vereinbarten Lohn, und nach Beendigung ihrer Arbeiten zogen sie zum nächsten Hof weiter. Auch der Steirer Schriftsteller Peter Rosegger ging in jungen Jahren als Wanderschneider auf die Stör.

Der Hausbutz und der Schuster

Da wurde einmal ein Schuster von einem Bauern für acht Tage auf die Stör gedungen. Am ersten Abend seines Einstandes sagte der Schuster: „Ich lege mich diese Nacht nicht ins Bett, sondern bleibe auf der Bank beim warmen Ofen!“ Der Bauer wollte ihm das ausreden und bemerkte, auf diese Ofenbank komme allnächtlich der Hausbutz (Hausgeist) zum Schlafen. Der Schuster aber legte sich dennoch auf der Ofenbank zur Ruhe. Um Mitternacht kam wirklich der angekündigte Hausbutz, weckte den Schuster gar unsanft, indem er ihn von der Bank herunterzuzerren suchte. Dieser aber setzte sich munter zur Wehr und behauptete mit Gewalt seine erwählte Schlafstätte gegen den Hausbutz. Ganz so erging es die nächsten Abende. Als aber die Störzeit aus war und der Schuster bei einbrechender Nacht des Bauern Haus verließ, da packte ihn vor der Haustür schon der Butz und schnarrte: „Jetzt bin ich Meister“, und darauf lief er davon. Da wusste der Schuster auf einmal nicht mehr, wie ihm geschah: Es trieb und drängte ihn, dass er unwillkürlich dem vorauseilenden Butz nachspringen musste. Der Butz lief, über Stock und Stein wie eine Gämse hinwegsetzend, den steilen Berg hinauf. Der nachkeuchende Schuster bekam auf dieser eiligen Bergreise bald wunde Fußsohlen und jammerte kläglich; aber je mehr er winselte, desto schneller lief der Butz voraus und desto schneller musste er auch nachlaufen, und als sie auf die Spitze des Berges gekommen waren, da hatte sich der arme Schuster auf dem rauen Weg seine beiden Füße bis auf die Knöchel abgenützt, und zu guter Letzt hängte ihn noch der Butz an diesen verstümmelten Füßen auf der Bergspitze an einem Tannenbaume auf und ließ ihn zappeln, bis er verendete.17

In den alpinen Ländern mussten Männer eine Vielzahl von zusätzlichen, teils risikoreichen Arbeiten übernehmen, um ihr spärliches Einkommen aufzubessern – als Wurzengraber oder Ölträger, als Schnitzer, Kräuter- oder Zirbenzapfensammler, als Schmuggler, Schüsseldreher oder Pechklauber, um nur einige Beispiele zu nennen. Völlig an Bedeutung verloren hat auch die frühere Tätigkeit des Schlangenjägers. Ich selbst hatte vor circa zehn Jahren bei einem Hausbesuch die Gelegenheit, wohl einen der letzten Schlangenfänger Südtirols kennenzulernen. Mit leuchtenden Augen erzählte mir der Todkranke von seinen Abenteuern, davon, wie er Kreuzottern sammelte, sie zu Hause in einem großen Weckglas lebend aufbewahrte, ihr Gift „molk“ und dieses dann in einer Brixner Apotheke ablieferte, wo damit ein Antidot gegen Schlangenbisse hergestellt wurde.

In den Hochtälern der Grajischen Alpen (Piemont) und im Aostatal aßen ältere Menschen noch Ende des 19. Jahrhunderts gekochte Schlangen, wobei deren Herzen eine besondere Kraft zugesprochen wurde. Selbst Ärzte verordneten ihren kranken Patienten in diesen einst sehr einsamen Bergtälern in den vergangenen Jahrhunderten Schlangensuppe, damit sie wieder zu Kräften kämen. Der Verzehr von Schlangenfleisch ist auch Thema verschiedener Märchen und Sagen. Dadurch, so heißt es, sei man in der Lage, die Sprache von Tieren und Pflanzen zu verstehen und die im Berginneren versteckten Edelmetalle zu erblicken.

Der Pechklauber

Ein Pechklauber war auf eine alte Wettertanne gestiegen, die den Zwergen besonders lieb und wert war. Da strichen sie in aller Eile den Stamm mit siedendem Harz an, und als er herunterkam, verbrannte er sich Hände und Füße und blieb überdies am Baum hängen, bis der Forstwart kam und ihn noch weidlich durchbläute.18

Die Schmuggler

Zuhinterst im Schnalstal hatten sich vier Schmuggler zusammengetan. Jeder trug seinen Sack Schmuggelware vom Eishof heraus gegen Vorderkaser. Zur Vorsicht sollte einer ohne Sack vorausgehen und Ausschau halten. Bei Gefahr solle er stehen bleiben wie von ungefähr, und das soll für die anderen drei das Zeichen sein: „Halt! Versteckt euch!“ Eine Zeitlang ging alles wie geplant. Da vergaß sich der Späher, blieb stehen und schaute gedankenlos zu den Ziegen jenseits des Baches hinüber. Wie die anderen drei hinter ihm ihn so stehen sahen, wurden sie von heller Angst gepackt und rannten nach allen Windrichtungen auseinander. Der Späher merkte seinen Fehler und was er