Schwaben-Träume - Klaus Wanninger - E-Book

Schwaben-Träume E-Book

Klaus Wanninger

4,9

Beschreibung

Der 18. Band der Erfolgsserie! Wanningers Schwaben-Landkarte ist blutrot eingefärbt. Diesmal bietet er seinen Fans Hochspannung im malerischen Schwarzwald. Mitten im Kurpark von Bad Wildbad beobachten Zeugen, wie eine Frau von einem Unbekannten überwältigt und von einem Felsen in den Tod gestürzt wird. Sehr rasch gelingt es den ermittelnden Behörden, den Täter als den kurz zuvor aus der Haft entflohenen Strafgefangenen Stefan Bayer zu identifizieren. Schnell wird klar, dass der Mann einen Rachefeldzug plant, dem alle zum Opfer fallen sollen, die seinerzeit an seiner Verurteilung mitgewirkt haben. Den Kommissaren Katrin Neundorf und Steffen Braig vom Landeskriminalamt Stuttgart bleibt wenig Zeit, sich dem unberechenbaren Mörder in den Weg zu stellen. Viel zu wenig Zeit …

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Klaus Wanninger Schwaben-Träume

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache Schwaben-Messe Schwaben-Wut Schwaben-Hass Schwaben-Angst Schwaben-Zorn Schwaben-Wahn Schwaben-Gier Schwaben-Sumpf Schwaben-Herbst Schwaben-Engel Schwaben-Ehre Schwaben-Sommer Schwaben-Filz Schwaben-Liebe Schwaben-Freunde Schwaben-Finsternis

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher fünfunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile achtzehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare.

Klaus Wanninger

Schwaben- Träume

Originalausgabe© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20 Umschlaggestaltung: Ralf KrampLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-296-9 E-Book-eISBN 978-3-95441-310-2

Udo Weisshaar gewidmet, als Dank für die gemeinsame Zeit und die einzigartig lebensfrohe und menschenfreundliche Atmosphäre unserer Schule.

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

1. Kapitel

Mir gebet nix!« Aufrecht, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, stand die Frau vor der Haustür. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, alle Muskeln angespannt. Der ganze Körper in Abwehrhaltung. Ein unüberwindbares Bollwerk, fest und starr. Fast genauso massiv wie das große, alte Bauerngehöft.

Marika Breiter wusste im gleichen Moment, dass sie nie zueinander finden würden. Nicht jetzt und auch nicht in ferner Zukunft. Sie wich trotzdem nicht einen Millimeter zurück, musterte stattdessen die Inschrift auf dem gerundeten Türgebälk, das die grauen, zu einem Dutt gebundenen Haare der Alten wie ein Heiligenschein umrahmte: GOTT SCHÜTZE DIESES HAUS. Die Sonne stand an diesem frühen Herbstabend schon schräg am Himmel, riss die Worte mit ihrem gleißenden Licht wie eine Leuchtreklame aus dem Schatten der Umgebung.

Marika Breiter musterte die versteinerte Miene ihres Gegenübers. Sie wagte nicht darüber zu spekulieren, was abschreckender wirkte: die abweisende Mimik der Frau oder das wuchtige Mauerwerk des alten Gebäudes. Schon von Weitem hatte sie die wenig einladende Erscheinung des Hauses wahrgenommen: wuchtige, kaum geschmückte Wände, viel zu kleine Fenster, ein weit über die Mauern hinweggezogenes Dach, der rings um das Gebäude mehr als drei Meter weit gegossene Asphalt. Und nirgendwo Blumen, nur eine halbe Handvoll Pflanzen, keine Bank zum Ausruhen, kein Tier, nicht einmal eine streunende Katze in der Nähe. Alles ging von dem eher einem Bunker als einer wohnlichen Heimstatt ähnelnden Monstrum aus, nur keine freundliche Atmosphäre, keine Lebensfreude, nicht ein Hauch von Liebe und Glück.

Es schien, als spürte selbst das kleine, gerade ein Jahr alt gewordene Kind auf ihrem Arm diese Ausstrahlung, denn kaum war die Alte in sein Blickfeld getreten, begann es zu zucken und mit seinen dünnen Armen und Beinen durch die Luft zu rudern, um in der Umarmung der Mutter Schutz zu suchen. Marika Breiter streichelte ihrer Tochter sanft über die strohblonden Locken. »Du musst keine Angst haben, Maria. Das ist deine Oma«, sagte sie laut, mit kräftiger Stimme. »Von ihr hast du deinen Vornamen.«

Im gleichen Moment begann in der Ferne eine Kirchenglocke hell zu läuten.

Noch Jahre später erinnerte sie sich an diesen Augenblick: Wie die Gesichtszüge der Alten vollends entgleisten, ihre knochigen Finger zur Begleitung der Glocke die Stirn, die Brust und ihre Oberarme berührten und sie sich in ein Gemurmel religiöser Formeln verlor. Was sie mehr erschreckt hatte: Der zu spät wahrgenommene Klang der Gebetsglocke oder das Auftauchen ihrer Enkelin samt Schwiegertochter, Marika Breiter hatte es nie erfahren.

Heilige Maria Mutter Gottes hilf uns …

Es sollte nur wenige Wochen dauern, bis sie die Worte auswendig konnte. Und jedes Mal gleichzeitig mit dem ersten Buchstaben schon die Gänsehaut über ihren ganzen Rücken kriechen spürte.

2. Kapitel

Primäre Intention der Evaluation ist die Optimierung des didaktischen Alltagsgeschehens. Gelingt es, das Spezifische im Unspezifischen zu eruieren …

Jessica Knaus konnte es nicht mehr hören. Die hohlen Phrasen quollen ihr bereits aus den Ohren. Den kompletten Mittag hatten sie mit dem sinnlosen Gebläxe verbracht. Nur weil irgendein Vollpfosten im Regierungspräsidium oder dem Kultusministerium sich davon einen Karrieresprung erhoffte.

Mit der Realität des Schulalltags hatte das alles nichts zu tun. Pure Schaumschlägerei – wie so vieles, was aus Amerika über den großen Teich geschwappt war. Zuerst hatte es die großen Konzerne, dann die Behörden und die gesamte Verwaltung erfasst. Substantielle Verbesserungen oder Fortschritte waren durch die neuen Methoden nicht erzielt worden, im Gegenteil. Allein die Beschäftigung damit hatte Unmengen an Mühe und Schaffenskraft absorbiert. Im Prinzip ging es nur darum, längst bekannten Inhalten neue bombastische Bezeichnungen überzustülpen, simple Vorgänge mit wohlklingenden Wortklaubereien aufzuhübschen. Der Inhalt interessierte nicht, nur die Verpackung.Let’s move, the show must go on.

Trotzdem war das gesamte Lehrerkollegium am Donnerstagmittag unmittelbar nach dem Ende des Unterrichts in die Landesakademie nach Bad Wildbad gepilgert. 95 Erwachsene, fast ausnahmslos erfahrene, Praxis-gestählte Pädagoginnen und Pädagogen hatten jetzt – Mitte Mai – nichts Besseres zu tun, als ihre Hirne zweieinhalb Tage lang bis in den späten Samstagabend hinein mit dem Evaluationsgeseiere zu malträtieren. Zum Glück war der neue Kollege mitgekommen. Neben der traumhaft schönen Umgebung der einzige Grund, warum sich der Trip in die kleine Stadt im Nordschwarzwald lohnte.

»Ich habe keine Lust, bis in die Nacht hinein zu evaluieren«, hatte er sich ihr am späten Nachmittag zugewandt. »Hat das Leben sonst nichts zu bieten?«

Sie hatte sich vorgenommen, ihm Alternativen aufzuzeigen.

Unverhohlen miteinander flirtend schlenderten sie jetzt durch den Kurpark. Sie hatten sich von den Kollegen gelöst, folgten der rauschenden Enz. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, nur das Licht einzelner Laternen erhellte die Wege links und rechts des reißenden Wassers am Grund der Schlucht. Der Fluss hatte sich hier tief eingegraben, auf beiden Seiten ging es steil in die Höhe. Sie passierten ein gewaltiges, frei am Hang stehendes Wasserrad, das von einem schmalen Bach angetrieben wurde, näherten sich der Engstelle des Tals. Auf der linken Seite hohe, fast senkrecht aufragende Felsen, rechts ein nur wenig sanfter ansteigender, mit Gras und Buschwerk bewachsener Hang. Das intensive, süßliche Aroma üppig blühender Azaleen- und Rhododendronbüsche hing schwer in der Luft.

Jessica Knaus spürte, wie sich ihre Hände wieder und wieder berührten, griff beherzt zu. Es gab keine Verpflichtung, morgen früh im eigenen Bett aufzuwachen.

Ihr Begleiter blieb stehen, wandte sich ihr zu. »Du hast keine Angst – hier so einsam im Dunkeln?«, schäkerte er.

»Einsam?«, erwiderte sie mit spöttischem Unterton.

Der Schrei ertönte genau in dem Moment, als sich ihre Lippen ineinander vergruben. Nervenaufreibend schrill, das kräftige Rauschen der Enz übertönend. Um Luft ringend stoben sie auseinander.

Jessica Knaus warf den Kopf zurück, starrte in die Höhe. Sie benötigte mehrere Sekunden, ihre Augen an den Dämmer zu gewöhnen, sah die steile Felswand schemenhaft jenseits des Flusses aufragen.

»Mein Gott, was war das?«, hörte sie die aufgeregte Stimme ihres Begleiters. »Das klingt gerade so, als ob …«

Sie fand keine Zeit zu einer Antwort, hatte das Schreien erneut in den Ohren. Ein Mensch, ein Tier, irgendein Lebewesen in höchster Not. Ihre Augen huschten suchend über die Felsen, blieben an den Umrissen zweier Personen auf einer Art Balkon oberhalb der steilen Wand hängen. Vom Schein einer mehrere Meter entfernten Laterne nur notdürftig erhellt, glaubte sie, einen Mann und eine Frau zu erkennen. »Da«, hauchte sie, den Finger ins Dunkel über sich gerichtet.

Sie versuchte, sich auf das Geschehen in der Höhe zu konzentrieren, bemerkte, dass die beiden miteinander rangen. Die Frau hing, von dem Mann heftig bedrängt, halb über dem Balkongeländer und plötzlich …

»Verdammt!«, schrie ihr Begleiter. »Was ist da los?« Er schnappte nach Luft, sprang aufgeregt ans Ufer des Flusses, um das Treiben oben besser zu erkennen, brüllte aus Leibeskräften. »Der bringt die um!«

Im gleichen Moment sah Jessica Knaus den Körper der Frau in die Tiefe fallen.

3. Kapitel

Ausgerechnet a Ausländere musch du auf unseren Hof hole! Pfui Deifel!«

Es hatte keine zwei Wochen gedauert, da war der Gewittersturm zum ersten Mal ausgebrochen. Jedenfalls soweit es Marika mitbekommen hatte.

Wie das Donnergrollen nach einem unmittelbar in der Umgebung eingeschlagenen Blitz hatte die Alte ihrem Sohn den Satz entgegengeschleudert, kurz bevor der verhasste Eindringling die Küche betreten hatte. Marikas Erscheinen hatte ihrem Partner eine Antwort erspart; ohne jeden Gruß war die Alte im gleichen Moment aus dem Zimmer verschwunden. Nie gemeinsam in einem Raum war offensichtlich ihr Vorsatz; er bezog sich sowohl auf das Kind als auf dessen Mutter, und sie hatte sich bisher minutiös daran gehalten.

So hatte sie sich das gemeinsame Leben nicht vorgestellt. Um sich in einen Guerillakrieg mit der alten Hexe zu stürzen, war sie nicht in das fremde Land gekommen. Monatelang hatte sie sich trotz Georgs Bemühungen Zeit gelassen, sogar nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes noch gezögert, seinem beharrlichen Werben nachzugeben. Aber dann war ihre Situation als berufstätige und alleinerziehende Mutter immer unerträglicher geworden und das Bild von der gemeinsam gelebten Zukunft immer verlockender, und so hatte sie, fast auf den Tag genau drei Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten, ihr Schicksal in die Hand genommen und den entscheidenden Schritt zum Standesamt in ihrer Heimat gewagt.

»Du musst meiner Mutter Zeit geben.« Georgs Worte lagen ihr über Wochen hinweg im Ohr. »Du bist eine Fremde für sie. Das ist sie nicht gewohnt. Warte ab, sie wird bald auftauen.«

Die Alte taute nicht auf, Marika wunderte sich nicht eine Sekunde darüber. Die Miene Maria Breiters blieb eisig und ohne jede Emotion, wann immer sie sich ihren Isolationsversuchen zum Trotz begegneten. Selbst das fast die ganze Zeit über vor Lebenslust sprühende und durch und durch von einem sonnigen Gemüt geprägte Kind vermochte die strengen Gesichtszüge nur selten und auch dann nur für wenige Sekunden aus ihrer Erstarrung zu lösen.

So unerträglich die Situation auf Dauer auch war, ein Tatbestand stimmte Marika versöhnlich: Den miesepetrigen Charakter der Alten hatte ihre Tochter nicht geerbt. Die Genugtuung darüber konnte sie nicht oft genug zum Ausdruck bringen. Maria hat so gar nichts von ihrer Großmutter, was für ein Glück!

Wie es der Sohn bisher mit seiner Mutter unter einem Dach ausgehalten hatte, war ihr nicht nachvollziehbar; seine Schwester und sein Vater jedenfalls waren vor Jahren schon auf und davon. Die Schwester, indem sie noch vor dem Schulabschluss ins ferne Berlin geflohen war und ihre Tage seither fast ohne jeden Kontakt zu ihrer ehemaligen Heimat verbrachte. Der Vater, indem er sich einen dicken Strick besorgt und seinem Leben an einem wuchtigen Balken im Kuhstall ein Ende gesetzt hatte.

Dass der Lebensüberdrüssige deshalb nicht auf dem Friedhof des kleinen Ortes bestattet worden war, merkte Marika erst, als sie zwischen den Gräberreihen nahe der Kirche umherstreifte, die Inschrift des Josef Breiter im Sinn, aber nirgends vor Augen. Der Pfarrer hatte sich geweigert, einem Selbstmörder Gottes Segen zukommen und ihn in geweihter Erde beisetzen zu lassen, so war er in einem namenlosen Grab in Ravensburg abgelegt worden. Oberschwaben war seit jeher ein streng religiöses Pflaster – und so sollte es bleiben.

»Ich scheiße auf eure fromme Heuchelei!«, hatte Marika laut und deutlich kundgetan, als Georg ihr mit den besonderen Bräuchen seiner Heimat gekommen war.

Maria Breiter freilich war diese Tradition heilig. Vor allem anderen musste die Beziehung zum Allmächtigen und seinen irdischen Bevollmächtigten in ordentliche Bahnen gelenkt und täglich gepflegt werden. Kaum hatte sie die frühmorgendliche Arbeit im Kuhstall bewältigt, eilte sie deshalb nach Hause, wusch und kämmte sich und kleidete sich dann frisch ein. Und noch bevor die Glocke zur Frühmesse rief, war sie schon auf dem Weg in die Kirche, Tag für Tag.

Den verstorbenen Vater zu erwähnen, war auf dem Kauderles-Hof ein absolutes Tabu. Georg hatte ihr zwar mehrmals von dessen bescheidenem Lebensstil und seiner fleißigen Arbeitshaltung erzählt, aber nirgendwo auf dem großen Hof fand sich irgendeine Erinnerung an den Mann. Kein Bild, kein Hochzeits- oder Kommunionsspruch, nicht einmal ein gemeinsames Familienfoto, auf dem er wenigstens am Rand zu erkennen war. Es schien, als hätte er überhaupt nicht existiert.

Der einzige Hinweis, dass es je einen Josef Breiter gegeben hatte, war der neue Familienname, den die Bewohner des Kauderles-Hofes jetzt trugen. Ohne Begeisterung, was die Alte anbetraf.

»Unser Besitz isch seit elf Generationen der Kauderles-Hof und dabei bleibt’s!«, verkündete sie oft genug.

Erkundigte sich Marika nach dem Vater, verkrampfte Georgs Miene sofort. Fast wie im Reflex hielt er den Zeigefinger vor den verschlossenen Mund. »Mutter will nicht, dass hier über ihn gesprochen wird.« Seine Worte waren kaum zu verstehen.

»Warum denn, verdammt noch mal? Hat er irgendetwas Schlimmes verbrochen?«

Die gequälten Gesichtszüge ihres Partners ließen sie jedes Mal verstummen, obwohl ihre Neugier eher noch gewachsen war. Immerhin handelte es sich bei der Person, die in diesem Haus nicht erwähnt, über die nicht gesprochen werden durfte, um den Vater der Familie, den ehemaligen Herrn des Bauernhofs. Und der stellte in dieser ländlich geprägten Region doch so etwas wie eine Respektsperson dar, wie sie ursprünglich gedacht hatte. Aber offensichtlich galten in diesem seltsamen Dorf andere, ihr nicht nachvollziehbare Regeln.

4. Kapitel

Eine Kulisse wie in einem monumentalen Landschaftsfilm. Der wilde, in die enge Schlucht gezwängte Fluss, die steil darüber aufsteigende Felswand, jetzt in ihrem Sockelbereich von mehreren Strahlern in grelles Licht getaucht. Atemberaubend, die überragende Größe der Natur und die Verlorenheit des Menschen betonend. Wenn nur der traurige Anlass nicht wäre, der ihn heute Abend hierher geführt hat, schoss es Steffen Braig durch den Kopf. Er kannte Bad Wildbad von vielen Besuchen, war jedes Mal aufs Neue beeindruckt von der urwüchsigen Landschaft, die hier geboten wurde.

Ein Kurpark, geprägt von einem kaum zu bändigenden Gebirgsfluss und den ihn flankierenden Berghängen, die sich mal sanft, mal steil in die Höhe schoben, unzählige Büsche, blumenbestandene Naturwiesen, Felsvorsprünge, schmale Wasserläufe und hohe, uralte Bäume präsentierend. Auf künstliches Beiwerk wie millimetergenau zurechtgestutzte Hecken oder monoton gleichförmige Rasenflächen hatte man weitgehend verzichtet, stattdessen der urwüchsig-wilden Naturkulisse absoluten Vorrang eingeräumt. Hinzu kam die geniale Idee, die aus dem Zentrum Karlsruhes beziehungsweise dem Stuttgarter Großraum kommende Stadtbahn den ganzen Tag über im gleichen Takt durch die Ortsmitte Bad Wildbads hindurch direkt in den Kurpark fahren zu lassen. Wer hier ausstieg, fand sich unbehelligt von Autohektik und Autolärm mitten in einer traumhaft schönen Umgebung wieder.

Eine bewundernswert kluge Entscheidung, die den Kurpark Bad Wildbads als einzigartiges Juwel aus dem unübersehbaren Heer gleichförmiger Kuranlagen im gesamten Land herausragen ließ, urteilte Braig. Ihn aus beruflichen Gründen aufsuchen zu müssen, und das auch noch zu so später Stunde, war jedoch eine ungewohnte Erfahrung.

Er näherte sich der hell ausgeleuchteten Szenerie, sah sich mit einer Ansammlung Schaulustiger konfrontiert, die aufgeregt miteinander parlierten. Das kräftige Rauschen des nur wenige Meter entfernten Flusses übertönte selbst die lautesten Rufe. Erst als er unmittelbar im Rücken der Leute angelangt war, konnte er ein paar Sätze verstehen.

»I han ghört, die soll noch glebt han, wie se do glege isch.«

»Ja wie denn, du Bachel? Die war uf der Stell tot!«

Braig schob sich durch die Menge nach vorne, erreichte das rot-weiße Absperrband, das von einem grimmig blickenden, uniformierten Kollegen bewacht wurde. Der Mann hatte alle Hände voll zu tun, die Leute im Zaum zu halten.

Der Kommissar schlüpfte unter dem Band durch, zeigte dem Beamten seinen Ausweis.

»Was will denn der rücksichtslose Kerl?«, tönte es hinter ihm.

Er ließ sich nicht beirren, trat vollends ins Licht. Der Platz vor der fast senkrecht ansteigenden Felswand war derart grell ausgeleuchtet, dass seine Augen schmerzten. Er kniff sie zusammen, sah den mit einer Plane bedeckten Körper auf dem Asphalt liegen. Die Umrisse des Kopfes und der Beine zeichneten sich deutlich ab.

Braig bückte sich nieder, atmete kräftig durch. Er wusste, was ihn jetzt erwartete, hielt drei, vier Sekunden inne. So oft er sich in seinen mehr als 25 Jahren Berufserfahrung auch schon mit dem Anblick und der Untersuchung toter, meist gewaltsam ums Leben gekommener Menschen konfrontiert gesehen hatte, zur Routine war ihm dieser Prozess nicht geworden. Smarte, mit coolem Grinsen von einer Leiche zur nächsten spazierende Kommissare gab es nur in billig gemachten Fernsehkrimis – mit der Realität, wie er sie kannte, hatte das nichts zu tun. Einen gerade verstorbenen Menschen zu begutachten, gehörte zu den unerfreulichsten Momenten seines Berufes – auch langjährige Praxis hatte daran nichts geändert. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Kollegen gab, die das anders empfanden. Nein, solche Filme vermittelten ein völlig falsches Bild seines Berufes.

Mit spitzen Fingern hob er die Plane ein Stück weit hoch, musterte die Überreste, die vom Gesicht der Frau geblieben waren. Ein wirres Gemisch aus zerschmetterten Knochen und völlig deplatzierten Fett- und Muskelpartien. Sie musste mit dem Kopf direkt auf den Asphalt geprallt sein, von ihrem ursprünglichen Aussehen oder ihrem Alter war nichts mehr zu erahnen.

»Eine Monika Holl«, hörte er eine Stimme. »Jedenfalls den Papieren nach, die wir dort oben gefunden haben.«

Er schaute auf, sah Dr. Kai Dolde vor sich stehen. Der Spurensicherer wartete, bis er die Tote wieder zugedeckt hatte, reichte ihm dann einen in eine durchsichtige Folie gefassten Personalausweis.

Monika Holl, Lehenstraße, Asperg.

Das Foto zeigte eine freundlich lächelnde, dezent geschminkte Frau Ende fünfzig.

»Ob es sich wirklich um die Tote handelt, lässt sich leider nicht mehr erkennen.«

»Nein«, bestätigte Braig. » Das ist nicht mehr möglich. Den Ausweis trug sie bei sich?«

»Nein. Wir fanden ihn dort oben auf dem Ausguck. Eine Damenhandtasche samt Inhalt.« Der Spurensicherer deutete in die Höhe. »Zeugen haben einen Mann und eine Frau beobachtet. Die sollen sich gestritten und miteinander gekämpft haben. Und dann mussten sie zuschauen, wie er sie über die Brüstung in die Tiefe stieß. Rössle ist oben und sichert die letzten Spuren.«

»Wo sind diese Zeugen?«

»Dort hinten. Zwei Kollegen kümmern sich um sie.

Die sind völlig durch den Wind.«

Braig folgte dem Fingerzeig Doldes, lief der Enz entlang an einer Brücke vorbei bis zu einer weiteren Ansammlung Neugieriger. Der grelle Lichtschein reichte nicht bis hierher; er benötigte mehrere Sekunden, die uniformierten Kollegen zu erkennen, die sich etwas abseits am Rand des Weges mit einer jungen Frau und ihrem Begleiter unterhielten.

»Betrunkene«, hörte er die Worte eines der Beamten, »mit dene hent mir den meisten Ärger.«

Er trat auf die Gruppe zu, stellte sich vor.

»Sie sind endlich der Kommissar?«, fragte der junge Mann. Der vorwurfsvolle Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Braig bemerkte die bleichen Mienen der beiden Leute, sah ihre angespannte Körperhaltung. Die junge Frau stand, ihre Arme fest um sich geschlungen, etwas ab seits; sie trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Ihr Begleiter wippte mit verkrampfter Miene nervös hin und her. Beide schienen zu frieren, was angesichts der abendlich frischen Temperaturen kein Wunder war. Sie hatten wohl ziemlich lange auf Braigs Erscheinen gewartet.

»Es tut mir leid, wenn ich erst jetzt auftauche, aber das ist nicht mein erster Fall heute Abend«, versuchte er sein Problem zu umschreiben.

»Nicht Ihr erster Fall?« Der junge Mann schien überrascht. Braigs freundliche, fast devote Eröffnung des Gesprächs ließ ihn jeden Anflug von Aggressivität verlieren. »Es gibt noch weitere …?« Er verstummte, musterte das Gesicht seines Gegenüber.

»Auf der Autobahn bei Pforzheim. Ein Fernbus. Übermüdeter Fahrer … Ich nehme an, es kam in den Nachrichten.«

»Sechs Tote«, mischte sich einer der uniformierten Beamten ins Gespräch. »Und über zwanzig Schwerverletzte. Es läuft auf allen Kanälen.«

Braig winkte ab. Zu deutlich hatte er die grauenvolle Szenerie noch vor Augen. Gemeinsam mit seiner Kollegin Neundorf hatte er die Ermittlungen übernommen, bevor er hierher gerufen worden war. »Konzentrieren wir uns bitte auf das Geschehen hier. Ich nehme an, Sie sind die Zeugen?«

Der junge Mann nickte. »Wir, wir haben es gesehen. Zufällig. Dort oben.« Die Erinnerung an das Vorgefallene ließ ihn jede Selbstsicherheit verlieren. Er wies mit zitterndem Arm in die Höhe. »Die Frau. Die haben regelrecht miteinander gekämpft. Und dann hat der Kerl sie über die Brüstung gestoßen.«

»Von wo aus haben Sie das beobachtet?«

»Von dort.« Er zeigte auf die andere Seite des Flusses.

»Wir waren dort drüben unterwegs.« Er hielt inne, be richtigte sich dann. »Das heißt, wir standen dort auf dem Weg. Dann hörten wir das Schreien. Wir wussten sofort, dass da etwas nicht stimmt, und starrten in die Höhe.«

Braig sah das zustimmende Nicken der jungen Frau, notierte sich ihre Namen: Andreas Reich und Jessica Knaus. Er erkundigte sich, weshalb sie zu so später Stunde noch im Kurpark unterwegs waren und ließ sich ihre Beobachtungen bis ins Detail beschreiben.

»Und Sie sind sich absolut sicher, dass es sich bei der Person, die die Frau über die Brüstung stieß, um einen Mann handelte?«, fragte er dann.

»Absolut«, erklärte Jessica Knaus mit fester Stimme. »Ich habe ihn genau gesehen. Nur zwei, drei Sekunden lang, aber er war gut zu erkennen. Irgendwoher fiel genau in dem Moment ein Lichtschein auf sein Gesicht, deshalb bin ich mir absolut sicher.«

»Ich auch«, bestätigte Reich.

»Sie trauen sich zu, sein Aussehen zu beschreiben?«

»Soweit es aus dieser Entfernung möglich ist, ja«, antwortete Jessica Knaus.

»Dann werde ich sofort unseren Grafiker benachrichtigen. Er hat ein spezielles Computerprogramm und ist einer der erfahrensten Phantombildzeichner. Gemeinsam mit ihm müsste es gelingen, das Aussehen des Täters zu rekonstruieren. Einverstanden?«

Braig bemerkte die zögernde Zustimmung der jungen Frau.

»Müssen wir hier auf ihn warten?« Sie fröstelte deutlich, hielt die Arme noch enger um ihren Leib geschlungen als vorher.

»Nein, natürlich nicht. Sie sind in der Landesakademie zu Gast, haben Sie erzählt. Ich gebe dem Kollegen den Auftrag, Sie dort aufzusuchen. Heute Abend noch.«

Er sah ihr dankbares Nicken, wollte sich schon verabschieden, als die Frau ihn noch einmal ansprach.

»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Es klingt sicher seltsam, aber …«

»Ja?«, fragte Braig.

»Andreas und ich haben uns vorhin darüber unterhalten … Wir sind uns nicht sicher, aber der Typ dort oben – irgendwie kam er uns bekannt vor.«

»Bekannt?« Braig war die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

»Als hätten wir den schon mal gesehen«, bestätigte Reich die Aussage seiner Kollegin.

»Wo? Hier in Bad Wildbad?«

Reich hob abwehrend seine Hände. »Keine Ahnung. Das war nur so ein Gefühl … Aber es ging uns beiden so.« Er warf Jessica Knaus einen Blick zu, veranlasste sie zu zustimmendem Nicken.

»Dann bitte ich Sie, darüber nachzudenken. Wo und wann Sie ihn gesehen haben – das könnte uns vielleicht entscheidend weiterhelfen.«

Braig bedankte sich für ihre Hilfsbereitschaft, bat einen der uniformierten Beamten, ihm den Weg zum Tatort zu zeigen. Er folgte dem Kollegen eine breite Steintreppe steil bergan bis zu einer Straße oberhalb des Felsens, sah dort, hell ausgeleuchtet und von zwei weiteren Beamten bewacht, den schmalen, etwa zwei auf drei Meter großen Ausguck vor sich. Eine aus Metallstreben errichtete, bis in die Höhe seiner Hüfte reichende Brüstung schirmte das Gelände vom Abgrund ab. Das laute Rauschen der Enz übertönte auch hier alle anderen Geräusche. Braig riskierte einen Blick in die Tiefe, trat schaudernd zurück. Es bedurfte weiß Gott keiner großen Anstrengung, hier einen Menschen in den Tod zu befördern.

»Alle achtzig Deifel von Sindelfinge, das war kein schönes Finale, wie?«

Braig warf einen Blick zur Seite, sah Helmut Rössles vollständig in Plastiküberzüge eingepackte Gestalt auf dem Boden knien und mit einer Pinzette einen winzigen Partikel von der Betonplatte klauben. »Ihr habt Fasern von Kleidung entdeckt?«

»Viel zu viele«, jammerte der Spurensicherer. »Uf dem raue Bode bleibt alles hänge. Ob das alles wirklich mit dere Sach zu tun hat – i glaubs net.« Rössle verstaute den neuen Fund in einem durchsichtigen Kunststoffbeutel, richtete sich auf. »Mir hent aber a Stück Stoff«, fuhr er fort, »da von der Brüstung. Zu der Tote ghörts net, mir hents überprüft. Mit viel Glück …«

»Von unserem Täter«, nahm Braig die Spekulation auf.

»Mit viel Glück, ja. A blaue Jacke, vielleicht bei der Streiterei an der Brüstung hänge bliebe und abgrisse. Vielleicht. Mir müssets noch genauer agucke.«

»Wie kamen die hierher? Zu Fuß oder …«

»Was woiß i? Da obe isch glei a kleiner Parkplatz. Vielleicht hat die Frau dort ihren Karre stande.«

»Das müssen wir überprüfen«, bestätigte Braig. »Ich werde es gleich veranlassen. Was ist mit ihrem Handy?«

»Nichts. Mir hent alles abgsucht. Entweder hat es der Täter an sich gnomme oder sie hat keines ghabt. So was soll es au noch gebe.«

»Na ja, das ist aber sehr unwahrscheinlich.«

»Immerhin wisset mir eines: Sie scheint vorher im Bad gwese zu sein«, meinte Rössle.

»Wie im Bad?«

»Palais Thermal. Die große Attraktion hier. Schwimmbad, Massage, Sauna, letzte Ölung … Was woiß i noch alles. I han leider koi Zeit für den Krempel.«

»Ihr habt eine Eintrittskarte gefunden?«

»Richtig, Herr Kommissar. In ihrer Handtasche da.« Der Spurensicherer wies auf eine kleine Tasche in einer Plastiktüte. »Falls die wirklich ihr ghört.«

Braig musterte die kleine, hellbraune Tasche, hörte Rössles Stimme.

»Als Herzog Carl zu Wirttemberg im Feb 1744 die Regierung antrat, besuchte derselbe gleich im Junio diese Quelle«, erklärte der Spurensicherer in gestelztem Ton.

»Was soll das?«, fragte der Kommissar.

»Do unte am Fuß von dem Fels, der Gedenkstein. Hasch den net gsehe?«

»Mein Gott, ich habe wirklich andere Sorgen.« Braig hörte sein Handy fiepen, sah, dass eine SMS von Dolde eingegangen war.

Bin bei der Leiche. Interessanter Fund.

»Dolde«, sagte er, Rössles fragende Miene im Blick. »Er wartet unten auf mich.« »Bitte. Abwärts geht’s schneller.«

Braig trat aus dem Licht, machte sich auf den Weg zum Flussufer. Das Geschehen schien an Faszination verloren zu haben; die Menge der Schaulustigen hatte jedenfalls deutlich abgenommen, als er am Wasser angekommen war. Wahrscheinlich war es den Leuten aller Neugier zum Trotz auf Dauer einfach zu kalt, überlegte er. Dr. Dolde war gerade dabei, die Plane wieder vollends über die Tote zu ziehen, als Braig ins grelle Licht trat.

»Du hast etwas entdeckt.«

»Hier.« Der Spurensicherer wies auf eine durchsichtige Plastikkladde. »Der Gerichtsmediziner war ziemlich in Eile. Du weißt es ja, die Sache mit dem Fernbus. Er hat mich gebeten, die Kleidung der Frau genau durchzusehen. Das fand ich in ihrer Jacke. Zerknüllt in der Seitentasche.«

Braig nahm die Kladde zur Hand, hatte ein leicht zerknittertes Papier im Format DIN A5 vor sich, das eine kurze, handschriftliche Notiz enthielt.

Kurpark 20 Uhr

»Sie scheint sich mit ihrem Mörder verabredet zu haben«, meinte Dr. Dolde. »Oder was meinst du?«

Braig musste nicht eine Sekunde überlegen, die Konsequenzen dieses Fundes zu begreifen. »In ihrer Jackentasche«, murmelte er halblaut vor sich hin. Sein Blick fiel unwillkürlich auf die Felswand keine zwei Meter hinter dem Körper der toten Frau. »Mit ihrem Mörder verabredet«, überlegte er. »Und dann lief die Sache aus dem Ruder?« Er schwieg einen Moment, musterte das Papier. »Oder war das Absicht? Hat der das etwa geplant?«

Sein Gesprächspartner atmete kräftig durch. »Ich weiß es nicht«, gab er zur Antwort. Er bückte sich nieder, musterte die Blutspritzer auf dem Boden. »Ausschließen kannst du es aber nicht.«

5. Kapitel

Vom mit allerlei Gerümpel vollgestellten Dachboden des Hauses aus konnte Marika die ganze Siedlung überblicken. Als Dorf konnte man das kleine Ensemble nicht bezeichnen, dazu war es viel zu klein. Bei Wolfsreute handelte es sich um einen Weiler, die typische Siedlungsform der Gegend. Vier große Häuser, dazu Ställe, Scheunen und Garagen, mittendrin die kleine Kirche samt dem Friedhof, am oberen Rand, unmittelbar ans eigene Grundstück angrenzend, der kleine See. Eingebettet in eine hügelige, üppig grüne Landschaft – ein Bild wie geschaffen für einen Touristenprospekt. Mit dem Unterschied, dass es beides nicht gab: weder Touristen noch einen Prospekt.

Fremde verirrten sich selten ins Dorf. Es gab keinen Laden, kein Lokal, nicht einmal von der Gemeinde erstellte Bänke, auf denen man sich kurz ausruhen konnte. Selbst die Bushaltestelle verfügte außer den beiden Stoppschildern links und rechts der Landstraße über keinerlei Annehmlichkeiten. Wozu auch?

Man blieb gern unter sich. Attraktionen für Urlauber gab es in der Nachbarschaft zur Genüge. Sehenswerte Städte wie Ravensburg, Wangen oder Biberach lagen nicht allzu weit entfernt, auch der Bodensee und die Schweizer Alpen waren bei entsprechender Wetterlage am Horizont zu erahnen. Sollten die Touristen doch dort ihr Glück suchen. Solange man von den Erträgen der Landwirtschaft leben konnte …

Marika war Georg nicht ohne Grund die wacklige Holztreppe hinauf in den Speicher gefolgt. Zwei Ziegel hatten sich am frühen Morgen vom Dach gelöst. Keine drei Meter von der Haustür entfernt waren sie auf dem Asphalt zerschellt. »Wieso ist das möglich?«, hatte sie protestiert. »Das Dach muss sofort in Ordnung gebracht werden. Stell dir vor, Maria spielt vor dem Haus …«

Nicht erst die persönliche Überprüfung des Dachbodens zeigte Marika, in welchem Zustand sich weite Teile des Anwesens befanden. Das Haus wie die Scheunen und der Stall bedurften einer gründlichen Überholung. Seit unzähligen Jahren war nichts mehr repariert worden, wo immer Schäden auftraten, hatte man sich mit notdürftigem Flickwerk begnügt.

»Wer soll es richten?« Georgs verzweifeltes Schulterzucken war keine Ausrede. Die Arbeit, die ihm der Hof Tag für Tag abverlangte, sprengte meist alle Grenzen. Auch wenn die Alte und in zunehmendem Maß Marika fleißig mit Hand anlegten, 120 Milchkühe zu versorgen erforderte seinen Preis. Zumal der Erlös für all die Mühe gerade so zum Leben reichte. Handwerker oder Baufirmen zu beauftragen, lag finanziell nicht im Bereich des Möglichen.

»Wir haben sowieso schon genug Schulden«, erklärte er. »Unser halber Hof gehört der Bank. Ich weiß nicht, wie das auf Dauer gehen soll.«

Die Erträge der Landwirtschaft hielten mit den zunehmenden Lebenshaltungskosten nicht Schritt, im Gegenteil. Zeitweise schienen die Preise, die die Molkerei für die Milch zu zahlen bereit war, im freien Fall. Und mit dem Fleisch des Schlachtviehs verhielt es sich nicht anders. Also blieb nichts übrig, als sich mit billigem Flickwerk zu helfen.

So gefährlich der Vorfall mit den Dachziegeln auch war, Marika hatte er an diesem Morgen an einen Ort geführt, der vom ersten Moment an eine außergewöhnliche Faszination auf sie ausübte. Verborgen im verwinkeltsten Eck des Hauses, sah sie die halbe Welt unter sich liegen, als schwebte sie auf einer Wolke übers Land. Mit bloßem Auge entdeckte sie Dinge, von denen sie früher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Das Glitzern der Sonnenstrahlen auf der Wasserfläche des kleinen Sees etwa, die sich nach einem leisen Windhauch in die von Tausenden von Feen bevölkerte Tanzfläche eines verwunschenen Gartens zu verwandeln schien. Oder die im sanften Abendlicht von der Oberfläche eines still vor sich hin kokelnden Misthaufens aufsteigenden Wolken, deren würziger Duft sich ab und an bis in ihr vermeintlich so gut abgeschottetes Versteck verirrte.

Ohne ihr Blickfeld mit einem Fernglas zu optimieren, beobachtete sie Vorgänge, die ihr wie von einem anderen Planeten zu stammen schienen. Eine große, bunt gescheckte Katze etwa, die sich am Ufer des Sees ins Gras duckte, um dann plötzlich wie von einer Tarantel gestochen aufzuspringen und sich mit weit geöffnetem Maul einen Fisch zu schnappen, der sich leichtsinnig bis an den Rand des Gewässers vorgewagt hatte. Weit bequemer richteten es dagegen im Spätsommer die Gänse des Nachbarn ein, an besondere Leckerbissen zu gelangen: Gelangweilt warteten sie unter dem ausladenden Geäst prall bestückter Pflaumenbäume auf die nächste Windböe, die ihnen die reifen Früchte haufenweise in die weit aufgerissenen Schnäbel regnen ließ. Sie mussten sie nur noch zermahlen und verdauen; ihrem aufgeregten Geschnatter zufolge waren sie dann dem Nirwana sehr nah.

Marikas Aufenthalte auf dem Dachboden wurden zahlreicher, je mehr der Konflikt mit Georgs Mutter eskalierte. Sie nutzte den Ort in unmittelbarer Nähe zu den Wolken als Fluchtpunkt, wenn wieder einmal die ganze Welt über ihr zusammenzustürzen drohte. Wie an jenem Tag, an dem sie überrascht den Nachbarn mit einem Gewehr auf eine Frau losgehen sah.

6. Kapitel

Kurpark 20 Uhr

Die gesamte Rückfahrt von Bad Wildbad war Braig die Notiz nicht aus dem Kopf gegangen, die sie in der Jackentasche der Toten gefunden hatten.

»Die hat sich mit ihrem Mörder verabredet«, hatte er spekuliert. »Aber weshalb?«

Dolde, der das Steuer des Dienstwagens übernommen hatte, war ohne Zögern auf seine Überlegungen eingegangen. »Ein Rendezvous?«

»Das dann zu dieser Gewalttat eskalierte.« Irgendetwas an diesem Gedankengang hatte Braig gestört. »Ich weiß es nicht.«

»Du meinst, das passt nicht zusammen«, war der Kollege auf seinen Einwand eingegangen. »Die Eskalationsstufe ist zu hoch.«

Braig hatte zustimmend genickt.

»Vom Rendezvous zum Mord«, hatte Rössle mit müder Stimme von der Rückbank her hören lassen. »Noi, des isch a bissle zu amerikanisch!«

»Ja, das scheint mir auch so«, hatte Dolde erklärt. »Das ist wirklich etwas zu weit gegriffen.«

»Dann war die Tat also geplant. Ein Treffen im Kurpark, um die Frau zu ermorden.«

»So wie am Samstagabend in dem Theaterstückle: Mord aus Vorsatz. Obwohl, am meisten imponiert hat mir der Hund. Hut ab vor der Franzi, wie die den Kerle abgrichtet hat!«

Braig hatte sofort verstanden, worauf Rössle angespielt hatte. Auch er hatte gemeinsam mit seiner Partnerin am Wochenende die Aufführung der Theatergruppe des LKA besucht. So überzeugend die meisten Laiendarsteller aufgetreten waren, fast alle Besucher hatten sich besonders vom Auftritt eines Polizeihundes beeindruckt gezeigt. Das von ihrer Kollegin Franziska Deuschler trainierte Tier war mit wenigen Unterbrechungen vom Anfang bis zum Ende auf der Bühne präsent, hatte nicht ein einziges Mal den ihm vorgesehenen Platz verlassen oder gebellt. Der in dem Theaterstück thematisierte geplante Mord war fast zur Nebensache geraten.

Hatten sie es hier im Kurpark von Bad Wildbad ebenfalls mit einem geplanten Verbrechen zu tun, das hieß, hatte der Täter die Frau wirklich vorsätzlich getötet, war eine Menge Hass im Spiel. Eine unvorstellbar große Menge an Hass, war Braig sich sicher. Entgleiste Emotionen, fehlgeleitete persönliche Beziehungen. Opfer und Täter hatten sich nahegestanden, waren einander vertraut. Wie Mann und Frau. Oder Freund und Freundin. Vater und Sohn.

Was das bedeutete, war klar. Tatverdächtig war in erster Linie der Ehemann. Den musste er zuerst überprüfen. Den abschließenden Untersuchungen der Spurensicherer zufolge war davon auszugehen, dass es sich bei der Toten tatsächlich um Monika Holl handelte. Dolde war bei der Überprüfung ihrer Identität im Internet auf ein Foto gestoßen, das dem der Frau auf dem Ausweis deutlich ähnelte. Unter der Überschrift Backen für Waisenkinder waren zwei ältere Frauen zu sehen, die auf einem Flohmarkt leckere Obstkuchen präsentierten. Der Bildunterschrift nach handelte es sich bei einer der Frauen um Monika Holl. Braig sah, dass der Artikel vor etwas mehr als einem Jahr in der Ludwigsburger Kreiszeitung veröffentlicht worden war.

Auch den Wohnort der Frau hatten sie überprüft. Sie war gemeinsam mit einem Jörg Holl in Asperg angemeldet, wie es ihr Ausweis dokumentierte. Trotz der späten Stunde, es war bereits auf 21 Uhr zugegangen, hatte Braig versucht, den Mann telefonisch zu erreichen. Erst nach längerem Warten war es ihm geglückt. Jörg Holl hatte mit müder Stimme abgenommen. Braig hatte sich vorgestellt und darum gebeten, ihn in ein paar Minuten kurz aufsuchen zu dürfen.

»Sie sind Polizeibeamter?« Die Stimme Holls hatte in keiner Weise aggressiv geklungen. Seine Besorgnis war nicht zu überhören.

»Ich bin Polizeibeamter, ja. Und ich weiß, dass es sehr spät ist. Trotzdem muss ich kurz bei Ihnen vorbei kommen.«

»Ist etwas passiert?«

»In dreißig Minuten bin ich bei Ihnen, einverstanden?« Braig war nicht bereit gewesen, sich auf ein Gespräch einzulassen. Er wollte den Mann persönlich sehen, wenn er ihm den Tod seiner Frau mitteilte. Schon weil er nicht ausschließen konnte, in diesem Moment ihrem Mörder gegenüberzustehen.

Wenige Minuten später waren sie in der Lehenstraße in Asperg angelangt. Er hatte Dolde und Rössle gebeten, im Dienstfahrzeug auf ihn zu warten, war dann im Dämmer der Straßenbeleuchtung von Haustür zu Haustür geirrt, bis er die richtige Hausnummer endlich gefunden hatte. Angesichts der späten Stunde hatte er nur kurz auf die Klingel gedrückt, als er den Namen entdeckt hatte.

Ein kleiner, unübersehbar nervöser Mann öffnete die Tür. »Sie sind der Polizeibeamte, der vorhin …«, sprudelte er los.

Braigs Nicken ließ ihn mitten im Satz verstummen. Er reichte dem Mann seinen Ausweis, stellte sich nochmals vor.

»Aber was wollen Sie von uns? Es ist doch nichts passiert, oder? Meiner Frau, meine ich, oder den Kindern?«

»Wenn Sie erlauben …« Braig wies ins Innere der Wohnung. »Hier an der Tür …«

»Ja, bitte, kommen Sie.« Holl trat zurück, ließ den Besucher eintreten.