Schwaben-Wut - Klaus Wanninger - E-Book

Schwaben-Wut E-Book

Klaus Wanninger

4,8

Beschreibung

Mitten im bunten Trubel des sehnsüchtig erwarteten Straßenfests wird in Backnang ein Mann ermordet. Die Brutalität der Tat ist erschreckend. Wenige Tage später fällt in Ludwigsburg während der Fernsehsendung "Nachtcafé" ein Manager eines Privatsenders einem Anschlag zum Opfer. Wie schon in Backnang beobachten Zeugen auch diesmal einen blonden jungen Mann am Tatort. Und die Mordserie reisst immer noch nicht ab. Kommissar Steffen Braig und seine Kollegin Katrin Neundorf jagen dem jugendlichen Monster hinterher und lernen dabei immer besser verstehen, was junge Menschen heutzutage so häufig kriminell werden lässt.

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Klaus WanningerSchwaben-Wut

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Schwaben-Sommer

Schwaben-Filz

Schwaben-Liebe

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau und den schwäbischen Katern Mogli und Balu in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher einunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile vierzehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare.

Klaus Wanninger

SCHWABEN-WUT

1. Auflage 2000

2. Auflage 2001

3. Auflage 2002

4. Auflage 2003

5. Auflage 2003

6. Auflage 2005

7. Auflage 2007

8. Auflage 2012

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-934638-81-5

E-Book-ISBN 978-3-95441-091-0

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe aber auf Tatsachen.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

1. Kapitel

Einen Tag vor dem Sommeranfang traf er die letzten Vorbereitungen. Es war soweit. Endgültig. Die Zeit war reif.

Lange genug hatte er alles durchdacht. Es gab keine andere Möglichkeit. Er musste sich von dem Druck befreien, wollte er selbst überleben. Sie hatten es nicht anders verdient. Jetzt, nach fast zehn Jahren Zugehörigkeit zu ihrem Einfluss-, oder wie er es empfand, Machtbereich, war er sich absolut sicher: Es gab Menschen, die keine Berechtigung hatten, noch länger zu existieren. Schmarotzer, die so viel Elend angerichtet hatten, über so viele Leichen gegangen waren, dass man sie gar nicht mehr alle aufzählen konnte. Niedergetrampelt, zu Boden geworfen auf ihrem unaufhaltsamen Weg nach oben.

Er war eine dieser Leichen. Eine der wenigen, die noch lebten. Fragte sich nur, wie?

Schlaflose Nächte, Albträume voller Angst und Schrecken, schweißgebadetes Erwachen mitten im Dunkeln. Ohnmächtiges, verzweifeltes Warten auf den tröstenden, besänftigenden Schlummer. Jeden Morgen die unwilligen Reaktionen des Körpers, nervöse Organe, verspannte Muskulatur, gereizte Nervenstränge; Angst in allen Gliedern vor dem, was wieder über ihm hereinbrechen würde. Willkür, Häme, niederträchtige Winkelzüge. Tag für Tag.

Es gab keine Alternative. Sie hatten genug Unheil angerichtet. Er durfte nicht länger den Fußabtreter spielen, der Morgen für Morgen nur willfährig darauf wartete, dass sie sich seiner wieder gnädigst bedienten.

Der einzige Ausweg lag ihm klar vor Augen: Er musste sich von dem Übel befreien, das ihm jede Überlebensmöglichkeit raubte. Die Chancen für seine Gegenwehr waren günstig wie nie.

Wochenlang hatte er sich die Sache überlegt, in den schlaflosen Nächten über Stunden hinweg darüber nachgedacht. Je länger er sich damit beschäftigt hatte, desto klarer war ihm der Weg geworden, auf dem er die Lösung all seiner Probleme bewerkstelligen konnte. Wenn dir etwas Schmerzen bereitet, dann ist dir auf lange Sicht nicht damit gedient, die Schmerzen zu betäuben. Du musst das Übel beseitigen, das ist deine einzige Chance.

Jetzt lag die Lösung all seiner Schwierigkeiten endlich offen vor ihm. Es gab nur diese Wahl. Alles andere bedeutete eine ins Unendliche reichende Verlängerung des alltäglichen Terrors.

Er musste die Gelegenheit, die sich ihm in den nächsten Tagen so einzigartig bot, beim Schopf packen und für eine endgültige Bereinigung der Probleme sorgen.

Kein Mensch wusste von seinen akribisch ausgeführten Vorbereitungen. Niemand, auch nicht die am meisten Betroffenen ahnten von den Aktionen, die jetzt anliefen. Keiner wusste, wie sehr der Hass in ihm kochte. Jahrelang hatte er sich alles bieten lassen, alle Willkürakte und Erniedrigungen wehrlos ertragen. Niemand hatte mitbekommen, wie er sich gegen die Schläge, das Niedertrampeln immunisiert, im jahrelangen Leiden einen Abwehrpanzer aufgebaut hatte, der ihn jetzt endlich zur Gegenwehr befähigte. Die Wunden hatten seine Seele verätzt, den Menschen, der er einst war, verändert. Jetzt trieb ihn die Wut, einfach nur die Wut. Er war ein Pulverfass, an dem die Lunte bereits glimmte.

Welche Waffen er einsetzen würde, ob die Pistole oder den kleinen unscheinbaren Hammer, würde die Situation ergeben. Er hatte ihre Anwendung in den Filmen lange genug studiert. Kurz und schmerzlos sollten seine Attacken erfolgen. Einer nach dem anderen würde ihnen zum Opfer fallen.

Es war nur noch eine Frage von wenigen Tagen.

2. Kapitel

Ende Juni befand sich die ganze Stadt im Ausnahmezustand. Straßen und Gassen im Zentrum waren für den Verkehr gesperrt, Zufahrten und Wege abgeriegelt, Läden und Erdgeschosswohnungen mit dicken Kartons und massiven Brettern verbarrikadiert. Arbeiter und Angestellte des Ordnungsamtes schoben seit Tagen Überstunden, die lokalen Polizeibeamten fügten sich in die lange zuvor angeordnete Urlaubssperre. Feuerwehr und Rettungsdienste standen in Alarmbereitschaft, die Notaufnahme des Kreiskrankenhauses war mit dem gesamten verfügbaren Personal besetzt, gleich vier Ärzte der Stadt hielten sich bereit. Schwerstarbeit für alle Einsatzretter der Umgebung war angesagt. Backnang, die kleine Stadt am nördlichen Rand des Stuttgarter Großraumes feierte wieder ihr Straßenfest.

Fleißige Hände hatten dafür gesorgt, den gesamten Bereich des an einem steilen Hang oberhalb der Murr gelegenen Zentrums innerhalb weniger Tage in einen einzigen großen Biergarten zu verwandeln. Jeder Quadratmeter des öffentlichen Raumes war von den städtischen Behörden detailliert verplant, jede Straße, jeder Platz mit akribischer Sorgfalt unter den Brauereien und Gasthöfen der Region aufgeteilt und von diesen mit Bänken und Tischen möbliert worden. Bäume und Sträucher in großvolumigen Kübeln schmückten die Häuser. Getränkeausschänke, Pommes- und Wurstbuden, Podien für die zahlreichen Musikkapellen standen fast zu dicht beieinander.

Unterhalb der Altstadt, jenseits des schmalen Flusses, boten Karussells, Autoscooter, Wurfbuden, eine Geisterbahn und ein Riesenrad inmitten unzähliger Kirmesbuden ihre Dienste an.

Von Freitagabend bis zum frühen Dienstagmorgen war in der Stadt die Hölle los. Menschenmassen zwängten sich durch die schmalen Gassen. Alte wie Junge, Frauen und Männer, ein großer Teil der Bevölkerung des gesamten Umlandes genossen die hautnahen Kontakte, unverhofften Begegnungen, die Musik, das Essen, die Getränke.

Budenbetreiber, Wirte und Brauereien frohlockten angesichts der Umsätze. Je länger der Rummel währte, desto ausgelassener wurde die Stimmung. Bier und Wein flossen, die Hitze der frühen Sommertage sorgte für Durst. Alkoholiker und Quartalssäufer ließen alle Hemmungen fallen. Mehr und mehr Besucher gerieten außer Rand und Band.

Samstagabend, etwa zwei Stunden vor Mitternacht, schien der erste Höhepunkt erreicht. Albrecht Schwarz, Inhaber und Seniorchef einer gleichnamigen, ortsansässigen Baufirma, leerte sein siebtes oder achtes Glas, erhob sich leicht schwankend von seinem Platz, klammerte sich mit der Linken am Tisch fest. Er blickte in die Runde: Geschäftspartner, Familienangehörige, Mitarbeiter, Freunde, – heute Abend allesamt von ihm freigehalten! Er betrachtete ihre verschwitzten Gesichter.

»Und dann?«, rief eine kräftige, von allzu viel Alkoholkonsum deutlich gekennzeichnete Männerstimme. »Haben sie dich fertiggemacht?«

Schwarz thronte inmitten der Runde, sah die erwartungsvollen Mienen der Leute. Er spürte die Schweißperlen, die ihm von der Stirn tropften, wischte sie mit dem Handrücken weg. Der Bauunternehmer genoss die Situation, ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Im Mittelpunkt zu stehen, von einer Menschenmenge umringt, die sich der herausragenden Stellung und des Reichtums, zu denen er es gebracht hatte, bewusst war, gab ihm den ultimativen Kick. Momente wie diese, wo Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, einfachere Leute, die bei ihm arbeiteten, Betuchtere, deren prächtige Villen er erstellt hatte, sich von ihm einladen ließen, zu ihm aufsahen, entschädigten für all den Stress und den Ärger, welcher sich unter der Woche immer aufs Neue ansammelten.

Schwarz spürte alle Herrlichkeit des Lebens in sich pulsieren, aber er spürte auch seine Blase. Er reckte seinen Stiernacken in die Höhe. »Ob die mi fertig gmacht hent?« brüllte er schwäbelnd in die laue Juninacht. »Die – mi?«, rief er noch lauter. Schwarz fühlte Wellen der Erregung durch seinen Körper laufen. Die Kapelle schmetterte die letzten Takte der Schwarzbraunen Haselnuss, verstummte. Für einen Moment war es überraschend ruhig im Stiftshof über dem Zentrum der Stadt. Der Bauunternehmer nutzte die Gunst des Augenblicks. »Nur über meine Leich, han i gsagt«, schrie Schwarz in das vielstimmige Menschengemurmel, das vermischt mit verschiedenen Melodien aus allen Gassen der Stadt emporklang, »anders kommet ihr net an mei Häusle na!« Er reckte seinen kräftigen Stiernacken noch weiter in die Höhe.

Zustimmendes Johlen und Klatschen setzte ein. Schwarz schien über sich hinauszuwachsen. »I bin schließlich selber Manns genug, für Recht und Ordnung zu sorge!«, brüllte er in die laut grölende Menge. Er schwenkte seinen leeren Bierkrug durch die Luft, reichte ihn dem Azubi, der sich dienstbeflissen um den flüssigen Nachschub kümmerte.

»Und dann han i’s dem Granatedackel vom Landratsamt ins Gsicht nei gsagt: Was i mit meim Häusle mach, goht euch an Scheißdreck a!« Er genoss die zustimmende Begeisterung seiner Zuhörer. »An Scheißdreck«, wiederholte Schwarz laut, »verstandet ihr Beamte-Ärsch des überhaupt?«

Laute Ovationen folgten.

»Der Schwarz baut nie schwarz!«, donnerte der Bauunternehmer, »merket euch des!«

Die abrupt einsetzenden Rhythmen der Musikkapelle stahlen ihm die Schau. Schwarz genoss die Szene trotzdem. Er hatte es zu etwas gebracht in seinem Leben, mit seiner eigenen Hände Werk, durch seinen Fleiß, Cleverness, geschicktes Geschäftsgebaren. Seine Firma, vom Umsatz und den Arbeitsplätzen her die größte im weiten Umkreis, glänzte mit astreinen Bilanzen. Wo immer neue Baugebiete projektiert, erschlossen und realisiert wurden, war er von Anfang an dabei. Seine politischen Freunde, ausgewählt nach ihrem Einfluss, sorgten für rechtzeitige Informationen. Albrecht Schwarz hatte also allen Grund, stolz auf das Erreichte zu sein. Der Ärger mit seinem von der einfachen Hütte zur protzigen Villa erweiterten Wochenendhaus blieb eine sekundäre Kapriole. Ständige Kabbeleien mit den zuständigen Behörden und mehrere Auseinandersetzungen vor Gericht folgten, bis Schwarz schließlich nachgeben und den Bau wieder auf sein ursprüngliches Maß zurücknehmen musste. Alles nur, weil ein Zeitungsschmierfink keine Ruhe gegeben und immer neue Attacken gegen ihn geritten hatte.

Voller Ärger angesichts der Erinnerung an den Journalisten nahm Schwarz den Bierkrug, setzte ihn an den Mund und leerte ihn unter dem Beifall der Tischnachbarn bis auf den letzten Tropfen. »Ihr hent wohl denkt, der packt's net, wie?«, tönte er, spürte den Druck auf seine Blase. Der Drang im Unterleib ließ sich nicht länger unterdrücken.

Schwarz schob sich vom Tisch weg, bewegte sich schwerfällig durch die eng stehenden, dicht besetzten Bankreihen.

Überall intensive Gespräche, laute Stimmen, Gelächter. Er überhörte die Kommentare, die hinter ihm her gerufen wurden, steuerte auf die abseits, am Rand des Stiftshofes aufgestellten Toiletten zu. Eine Handvoll Frauen und Männer standen wartend vor den Containern.

»Haschs eilig, Albrecht?«, begrüßte ihn ein grauhaariger Mittfünfziger.

Schwarz fühlte sich absolut unwohl, winkte ab. Er hatte weder Lust noch Zeit, sich auf ein Gespräch einzulassen oder gar darauf zu warten, bis er an der Reihe wäre. Dringende Probleme auf die lange Bank zu schieben, war er nicht gewöhnt. Ohne die Leute vor den Toiletten länger zu beachten, bewegte sich der Bauunternehmer quer über den Stiftshof, mitten durch die dicht gedrängte Menschenmenge.

Schwarz spürte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, kämpfte sich an den letzten Bänken vorbei. Er wusste genau, wo er sein dringendes Bedürfnis erledigen, sich von dem immer heftiger werdenden Druck befreien konnte. Hinter dem mächtigen Gebäude des Amtsgerichtes führte eine steile Treppe auf einen schmalen, unbeleuchteten Waldweg den Burghang hinunter zur Murr.

Er blickte nicht nach rechts, nicht nach links, erreichte die Stufen in allerletzter Sekunde, schaffte es gerade noch, dem grellen Licht der Festbeleuchtung auszuweichen. Er blieb mitten auf der Treppe stehen, nestelte schwerfällig an seinem Reißverschluss, öffnete den Schlitz. Jeder Augenblick zählte.

Als er endlich alles in die richtige Position gebracht hatte, schoss der Strahl in weitem Bogen ins schwach beleuchtete Unterholz des Waldes. Erleichtert schloss der Bauunternehmer die Augen, atmete tief durch. Mehrere Gläser verdauten Gerstensaftes verschwanden im Dunkel der Nacht. Langsam ließen die Schmerzen nach, entspannte sich die Muskulatur.

Als Albrecht Schwarz die Augen wieder öffnete, sah er im Dämmerlicht die Umrisse eines menschlichen Körpers zu seinen Füßen liegen. Genau an der Stelle, wo sein Strahl auf den Boden traf. Die Person bewegte sich nicht, unternahm keinen Versuch, der übelriechenden Flüssigkeit auszuweichen. Sie lag einfach leblos am Fuß der Treppe, die Ausscheidungen mitten im grauenhaft entstellten Gesicht.

3. Kapitel

Die Fahrbahn sah aus wie nach einem Bombenangriff. Blechteile kreuz und quer über den Asphalt verstreut, Ansammlungen von Glassplittern, die zerfetzten Überreste eines Ledersitzes, zwei verbogene Reifen, Stoffteile, drei Schuhe, ein Geldbeutel, mehrere Münzen, eine Kreditkarte, dazu das vollkommen demolierte, in der Mitte auseinandergerissene Wrack eines Fahrzeugs. Nur noch andeutungsweise war zu erkennen, dass es sich um einen Mercedes handelte. Gleißende Scheinwerfer tauchten die Unfallstelle in ein grelles, unwirkliches Licht.

Das ganze Gelände war weiträumig abgesperrt worden, Polizeibeamte in Uniform bemühten sich, den Ansturm der Gaffer in Grenzen zu halten. Im Abstand von etwa hundert Metern hatten sie mit ihren Dienstfahrzeugen die Fahrbahn blockiert, zusätzlich Warnblinklampen aufgestellt. Auf den beiden Spuren der Gegenrichtung stauten sich die Autos. Neugier prägte die Gesichter, weit aufgerissene Augen verfolgten die restlichen Aufräumarbeiten der Polizisten. Die Krankenwagen waren längst weggefahren, die Ärztin wie die Sanitäter entsetzt und enttäuscht angesichts ihrer offenkundigen Hilflosigkeit. Die Spurensicherung hatte in mühseliger Arbeit die Unfallstelle überprüft, die gesamte Umgebung nach etwaigen brauchbaren Indizien abgesucht. Auch die Leichenwagen, drei verschiedene Autos, waren verschwunden.

Der Unfall war so tragisch, dass die zuständige Polizeidienststelle um die Hilfe des Landeskriminalamtes gebeten hatte. Kommissar Steffen Braig stand am Rand der abgesperrten Fahrbahn, nahm den zusammenfassenden Bericht der Beamten entgegen. Der Kollege Helmut Rössle galt als einer der erfahrensten und zuverlässigsten Techniker des Stuttgarter Landeskriminalamtes. Sein Fleiß, verbunden mit profunder Sachkenntnis hatte schon mehrfach dazu beigetragen, aussichtslos erscheinende Fälle aufzuklären.

»Nach unserer vorläufigen Erkenntnis können wir Fremdeinwirkung eindeutig ausschließen. Es gibt keinerlei Hinweise in diese Richtung. Die Sorge der Kollegen war überflüssig.« Rössle setzte seine dünne Nickelbrille ab, wartete auf Zwischenfragen Braigs.

»Technisches Versagen?«

»Lässt sich noch nicht endgültig beiseiteschieben, wir müssen die Überreste des Wagens noch genauer überprüfen. Ich sehe aber keinen Grund, allzu große Hoffnungen darauf zu verschwenden. Die Symptome sind geradezu klassisch. Alle Indizien weisen auf überhöhte Geschwindigkeit hin. Mindestens 180 Sachen, vielleicht sogar mehr.«

Braig nickte zustimmend mit dem Kopf, bedankte sich.

Deshalb mussten sich eigens fünf Mann des Landeskriminalamtes den späten Samstagabend hier draußen um die Ohren schlagen. Nur weil sich ein paar verrückte Halbwüchsige wieder mal nicht im Zaum halten konnten und sich selber beweisen mussten, zu was sie imstande waren.

Die drei Insassen des Autos waren zwischen 20 und 22 alt, hatte man anhand der am Unfallort vorgefundenen Ausweise festgestellt, wer von ihnen am Steuer gesessen hatte, ließ sich noch nicht ermitteln. Gleich nach der Ausfahrt aus Winnenden, am Anfang des vierspurigen Ausbaus der Bundesstraße 14, hatte der junge Fahrer voll beschleunigt, die Möglichkeiten, die ihm die Trasse bot, ausgenutzt. Die Fahrt war zur letzten Tour seines Lebens geworden – auch für seine Freunde. Den Leichenbestattern blieb es vorbehalten, die im weiten Umkreis verstreuten Reste dreier junger Männerkörper zusammenzusuchen.

Braig dachte an die wahnwitzigen Pläne vieler Politiker, die Bundesstraße weit über Winnenden hinaus mehrspurig auszubauen, schüttelte unwillig den Kopf. Rasten immer noch nicht genügend Verrückte in den Tod?

Das Piepen des Handys unterbrach seine Gedanken. Er zog den kleinen Apparat aus seiner Jackentasche. Die Stimme des Kollegen aus dem LKA klang verzweifelt.

»Ich weiß, wie spät es ist und seit wann du auf den Beinen bist. Aber heute ist der Teufel los. Straßenfeste in Waiblingen, Backnang und Böblingen. Unfälle, Schlägereien, Vergewaltigungen. Und jetzt eine Leiche. Alle sind unterwegs, ich finde niemanden mehr. Und du bist ganz in der Nähe.«

Braig wusste, was die Worte des Beamten bedeuteten, seufzte laut. »Okay. Wo soll ich hin?«

»Backnang«, erklärte der Mann, »mittendrin. In der Altstadt, hinter dem Amtsgericht. Aber sieh dich vor, die halbe Stadt ist unterwegs. Straßenfest. Und nimm die Spurensicherung mit. Alle anderen Kollegen sind vollkommen ausgebucht.«

Braig maulte ein »Die werden sich freuen«, steckte das Handy weg.

Auf der Gegenfahrbahn stauten sich immer noch die Fahrzeuge, starrten die Neugierigen auf die Unfallstelle. Wahrscheinlich war es nur noch eine Angelegenheit von wenigen Minuten, bis irgendein Verrückter mit vollem Tempo in den Pulk der Gaffer raste und auf der anderen Seite ein ähnliches Inferno verursachte wie hier.

Sind wir denn wirklich alle von Neugier zerfressen, überlegte Braig, von der Sucht nach Sensationen, Abenteuern? Haben wir jede Scheu verloren, uns am Unglück anderer Menschen zu weiden?

Angewidert von der lüsternen Meute auf der anderen Fahrbahn wischte sich Braig mit dem Handrücken übers Gesicht. Wie oft mussten sie nach dem Eintreffen an einem Tatort erst einmal dafür sorgen, lästige Menschenmassen wegzuscheuchen, um sich um die Opfer kümmern oder mühsam die wenigen noch nicht zertrampelten Spuren sichern zu können. Kaum war ein Verbrechen irgendwo publik geworden, stauten sich schon die Sensationsgeilen, die Gier nach dem Ungewohnten im Blick.

Kamen die gleißenden Scheinwerfer von Fernsehkameras hinzu, war die Masse kaum mehr zu halten. Kein Respekt vor Betroffenen, keinerlei Rücksicht auf die schockierten Angehörigen. Braig verabscheute das Verhalten einiger Boulevardjournalisten genauso wie die abnorme Wissbegier vieler Passanten, musste sich jedes Mal aufs Neue im Zaum halten, nicht gewaltsam auf sie, samt ihren Fotoapparaten und Kameras, loszugehen.

»Hast du heute noch was vor?«, rief er Helmut Rössle zu.

»Heute?« Der Kriminaltechniker kniete auf dem Asphalt, untersuchte mit einem Maßband den rückwärtigen Teil des Autowracks. »Du bist gut. Weißt du, wie spät es ist?« Er deutete auf seine Uhr.

Braig nickte. »Zehn vor elf.« Er wusste es gut genug. Schließlich hatte er darauf gehofft, einen ruhigen Samstag ohne große Zwischenfälle zu erleben und sich dann gegen Abend nach Esslingen abzusetzen, wo eine Frau, die er erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatte, auf ihn wartete.

Mit dem Überfall auf den Leiter eines großen Supermarkts am späten Nachmittag, dem die gesamten Tageseinnahmen von einer Million Mark entrissen worden waren, sowie zwei großen Massenkarambolagen mit mehreren Toten und Schwerverletzten auf den Umlandautobahnen war dieses Vorhaben hinfällig geworden; denn die zuständigen Beamten hatten notgedrungen die Hilfe des Landeskriminalamtes angefordert.

Seine Kollegin Katrin Neundorf war seit der überraschenden, gewaltsamen Befreiung eines inhaftierten jugendlichen Mörders, anlässlich eines Arztbesuches am gestrigen Mittag, mit einer mehrere Mann starken Sonderkommission pausenlos beschäftigt, den jungen Verbrecher wieder aufzufinden; erfolglos bisher, soweit er informiert war.

Braig war nichts anderes übrig geblieben, als sich wieder einmal telefonisch zu entschuldigen und sein Privatleben zurückzustecken, auch wenn das der neuen Beziehung, die bisher noch kaum als solche zu bezeichnen war, nicht gerade in die Wege half. Es sollte wohl nicht sein, hatte er sich selbst zu beruhigen versucht, das Schicksal schien sich wieder einmal gegen eine neue Liaison verschworen zu haben.

»Sie brauchen uns in Backnang«, sagte er mit lauter Stimme und deutlich verärgertem Tonfall, »sofort.« Er sah, wie Rössle sich müde aufrichtete und zu ihm herüberschaute.

»Alle achtzig Deifel von Sindelfinge, was denn jetzt noch?«

»Eine Leiche. Mitten in der Altstadt.«

Rössle rollte das Maßband zusammen, schüttelte den Kopf. »Muss das wirklich sein?«

Braig zuckte mit der Schulter. »Tut mir leid. Ich habe die Frau oder den Kerl nicht umgebracht.«

4. Kapitel

Der Anblick des Toten traf Braig wie ein Schlag. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück, spürte die heftigen Reaktionen seines Körpers, der Magen revoltierte. Er wandte sich ab, spuckte auf den Boden, rang um Luft.

Mit vielem hatte er gerechnet, damit jedoch nicht. Unvorbereitet, ohne jede Warnung war er zu der Leiche getreten, hatte die darüber gebreitete Plane entfernt und den hellen Strahl seiner Taschenlampe über den Toten gleiten lassen – und mitten auf die zertrümmerte Stirn eines Mannes gestarrt. Die obere Hälfte des Gesichts war völlig demoliert.

Es war nicht die späte Stunde, nicht der Stress eines langen, arbeitsreichen Tages – es war die üble Entstellung, die der oder die Mörder ihrem Opfer zugefügt hatten. Braig war wenig erspart geblieben in den Jahren seiner Tätigkeit als Kommissar beim Landeskriminalamt, er hatte manche Leiche begutachtet und untersucht,– der Anblick dieses Toten versetzte ihn in eine Unruhe wie selten der Fund eines ermordeten Menschen zuvor.

Die Brutalität der Tat sprang zu deutlich in die Augen, ließ sich einfach nicht übersehen. Ein Mensch, entstellt, misshandelt, vernichtet. Was musste mit einem Menschen geschehen, um einen anderen so zu behandeln?

Er starrte ins Dunkel des Waldes, versuchte tief durchzuatmen. Gab es keine Grenzen des Wahnsinns, der Gewalt? Was sollte er, Braig, noch alles ansehen müssen, nur weil er sich für einen Beruf entschieden hatte, der ihm auch Einblicke in die Schattenseiten des Daseins gewährte?

Langsam kam er wieder zu sich, wurde ihm die makabre Situation, in der er sich hier befand, bewusst. Oben auf der Anhöhe des Stiftshofes das leiernde Gedudel billiger Musikkapellen, unten im Tal die Schreie fröhlicher Menschen, die sich in Karussells und auf Achterbahnen vergnügten. Und hier, am Rand des Abhanges die entstellte Leiche eines Mannes, der vor wenigen Stunden Opfer eines oder mehrerer brutaler Gewalttäter geworden war.

Hatte der Tote mitgefeiert? Gelacht, getrunken, lustige Sprüche von sich gegeben? Ausgelassen im Kreis von Freunden gesessen?

Braig kam nicht mehr dazu, sich die Situation des Toten in dessen letzten Lebensminuten auszumalen, weil ein schmächtiger Mann mit dichtem schwarzem Vollbart, der sich ihm als Dr. Schweisser vorstellte, und die Kollegen von der Spurensicherung die Treppe herunterstiegen. Er zeigte auf die Leiche, schaute den Männern zu, wie sie ihre Arbeit begannen. Helmut Rössle fluchte laut, als er den Toten sah, maulte mehrere Minuten vor sich hin – seine Art, den schrecklichen Anblick zu bewältigen – packte seine Geräte aus. Wenige Augenblicke später tauchten seine Lampen den Waldrand in ein grelles Licht. Oben, am Anfang der Treppe, stauten sich die Neugierigen, ängstliche Rufe und hysterische Schreie wurden laut.

»Isch der tot?«

»Wer hat ihn ermordet?«

»Wie viele sind umbracht worde?«

Die Identität des Toten war schnell geklärt. Der Ausweis in seiner Geldbörse zeigte einen Mann Ende fünfzig mit kurzen grauen Haaren, breitem Kinn, energischen Gesichtszügen. Hans Greiling, wohnhaft in Backnang.

»Ich kenne ihn«, erklärte der Beamte der örtlichen Polizeiwache, der den Fundort der Leiche mit Ästen, Zweigen und schmalem Leuchtband weiträumig abgesteckt und alle neugierigen Gaffer bis auf den obersten Absatz der Treppe vertrieben hatte.

Polizeiobermeister Roland Busch folgte der Arbeit der Kriminaltechniker mit müden Augen und aschfahler, eingefallener Miene. Der Schock über den Anblick der entstellten Leiche stand auch ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Braig kannte den Backnanger Polizeibeamten, hatte schon vor einigen Jahren anlässlich der Entführung mehrerer Männer mit ihm zusammengearbeitet.

»Woher kennen Sie den Mann?«, fragte Steffen Braig. Er musste alle seine Kraft zusammennehmen, die Ermittlung in die Wege leiten. »Beruflich?«

Der Kollege schüttelte den Kopf. »Nicht, was Sie denken. Der Mann ist«, er verstummte, berichtigte sich dann, zeigte auf den Toten. »Er war bekannt in Backnang.« Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. »Finanz- und Immobilienmakler. Er hat sich hochgearbeitet, besaß ein eigenes Büro.«

»Wie ist sein Ruf?«

Roland Busch zögerte, wischte sich die Stirn. »Sie meinen ...«

»Seriöse Firma oder eher anrüchig?«

»Seriös«, beeilte sich der Kollege, »ich habe nur Gutes gehört.«

Braig sah sich um, betrachtete den schmalen Pfad, der steil abwärts durch den Wald führte. Die Bäume standen dicht, bildeten ein undurchsichtiges dunkles Bollwerk. »Wie kommt er hierher?«, fragte er. »Um diese Zeit?«

Der Polizeibeamte drehte sich zur Seite, so dass er dem Toten den Rücken zuwandte, zuckte mit der Schulter. »Keine Ahnung.«

»Wo geht der Weg hin?«

Busch wies ins Tal, wo die laute Musik der Karussells und das Geschrei von unzähligen vergnügten Menschen erscholl. »Den Hang hinunter zur Murr. Zwei Serpentinen mit mehreren Stufen. Unten führt eine Brücke über den Fluss zur Bleichwiese, wo jetzt auch Jahrmarktbuden aufgebaut sind – der Lärm, den sie hören.«

Braig folgte dem ausgestreckten Arm des Kollegen mit seinem Blick, bemerkte, dass der Weg unbeleuchtet war. Angesichts des steilen Hanges und der Dunkelheit sicher keine ungefährliche Angelegenheit.

»Wird er oft benutzt bei Nacht?«

Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf.

»Normalerweise überhaupt nicht, höchstens jetzt während des Straßenfests.« Irritiert schaute er nach oben, wo mehrere Stimmen um die Wette schrien.

»Ein Toter?«

»Ermordet?«

»Hent sie den Mörder erwischt?«

Unzählige Gesichter starrten über die Brüstung.

Braig versuchte, sich auf die Untersuchung zu konzentrieren, sah, wie der Arzt die Plastikplane über die Leiche zog und sich erhob.

»Können Sie schon entscheiden, was die Todesursache war?«, fragte Braig.

Dr. Schweisser holte tief Luft, nickte. »Der oder die Täter müssen ganz schnell gefasst werden«, sagte er mit leiser, ruhiger Stimme.

Braig hörte das Schimpfen Rössles einige Meter weiter, schaute den Arzt überrascht an.

»Ich war ein paar Jahre in der chirurgischen Abteilung im Katharinenhospital. Aber so etwas habe ich noch nicht gesehen.« Er fuhr mit der Hand durch seinen Bart. »Das ist kein gewöhnlicher Mord.«

Braig konnte die Gedanken des Mannes nachvollziehen, war dennoch kurz davor, seine Geduld zu verlieren.

»Die Todesursache«, erinnerte er, »sofern Sie sich wirklich schon sicher sind.«

Dr. Schweisser nickte, trat auf ihn zu. »Ich wüsste nicht, was noch dagegen spricht, obwohl ich den Untersuchungen des Pathologen nicht vorgreifen möchte. Aber ich denke, er wurde erschossen und erst dann mit einem harten spitzen Gegenstand bearbeitet. So seltsam das klingt.«

Braig bemühte sich, trotz der späten Stunde seine Gedanken zu ordnen. »Wollen Sie damit sagen, dass der Mann bereits tot war, als ihm der Schädel zertrümmert wurde?«

»Soweit ich es beurteilen kann: ja«, erklärte der Arzt.

»Aber das ist doch ...«

Dr. Schweisser fuhr mit der Hand wieder durch seinen Bart, blieb angesichts der Situation überraschend gelassen. »Ungewöhnlich, würde ich mal sagen.«

»Wozu?«, fragte Braig. »Wozu ihn noch erschlagen, wenn er bereits tot war? Was soll das? War dem Mörder nicht klar, dass sein Opfer nach dem Schuss nicht mehr lebte?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Der Kerl müsste riegeldumm sein. Der Mann war sofort tot. Die Kugel traf ihn mitten in die Stirn. Der hatte nicht den Hauch einer Chance.«

»Und dennoch zertrümmert ihm der Mörder anschließend noch den Schädel.« Braig schüttelte sich. Er hatte Schwierigkeiten, einen klaren Gedanken zu fassen. Was konnte hinter dieser brutalen Gewalttat stecken? Welches Motiv verbarg sich in diesem Geschehen? Welche Dimension menschlicher Aggression?

»Wenn ich es richtig verstehe, bieten sich eigentlich nur zwei Erklärungen an: Entweder es war so dunkel, dass der Mörder nicht sah, wie es um sein Opfer stand und um absolut sicher zu gehen, schlug er wie ein Verrückter auch noch mit einem Stein oder einem anderen harten Gegenstand auf ihn ein. Oder ...« Er verstummte, blickte nach oben, wo eine heisere, deutlich angetrunkene Männerstimme mehrfach ein aufgeregtes »Ist er tot? Ist er tot?« über die Mauerbrüstung rief.

»Oder er hatte einen solchen Hass auf sein Opfer, dass er sich selbst nach dessen Tod noch an ihm rächen wollte.«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, erklärte Polizeiobermeister Busch, »wie ich schon sagte, Herr Greiling hatte einen guten Ruf.«

»Sie machen es sich sehr einfach. Schauen Sie sich doch die Leiche an! Warum wurde er so misshandelt?« Braig spürte, dass er jetzt, nach diesem harten Arbeitstag und nur noch wenige Minuten vor Mitternacht, nicht mehr imstande war, sich mit voller Konzentration auf eine korrekte Untersuchung des Verbrechens einzulassen. Er musste die unbedingt notwendigen Ermittlungen an Ort und Stelle durchführen und den Rest auf morgen verschieben. Auf einen Zeitpunkt, an dem er ausgeschlafen, wieder Herr der Lage war. Er überlegte, was wohl in dieser Nacht noch unbedingt zu erledigen sei.

»Können Sie Genaueres zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte er.

Dr. Schweisser zog ein Taschentuch vor, schnäuzte sich. »Es ist nicht länger als ein bis eineinhalb Stunden her.«

Braig schaute auf seine Uhr. »Halb elf bis elf etwa.« Er überlegte. »Nach Einbruch der Nacht also, der Mörder nutzte die Gunst der späten Stunde, arbeitete im Dunkeln. Was aber ist mit dem Schuss, hat den niemand gehört?« Er blickte ins Unterholz am Rand des schmalen Weges, beobachtete die Kriminaltechniker, die sich dort mit ihren Geräten abmühten. »Wurde der Mann hier getötet?«

Dr. Schweisser war sich sicher. »Der Körper des Toten lässt keinerlei Spuren eines Transportes erkennen. Ich denke schon, dass es hier geschah.«

Oberhalb der Treppe ertönte lautes Schreien, eine schrille Frauenstimme kreischte laut: »Wer ist es?«

Braig achtete nicht darauf, wandte sich an die Spurensicherer. »Was meint ihr?«

Helmut Rössle starrte müde vom Boden, den er mit einer dünnen Taschenlampe und einer großen Lupe akribisch absuchte, auf. »Volle Zustimmung. Wir haben keinerlei Schleifspuren. Weder auf dem Weg noch im Laub am Hang. Dort im Unterholz fanden wir Blutspritzer über mehrere Zentimeter verteilt, die Blätter sind teilweise zusammengepresst, die Erde leicht eingedellt. Das passt zu dem, was Sie erklärt haben.« Er zeigte auf den Arzt. »Er wurde erschossen, fiel ins Gebüsch, wurde dann noch mit einem großen Stein oder einem anderen harten Gegenstand malträtiert. So ist es vorstellbar, ja. Der Mörder wird sein Opfer wohl kaum huckepack durch die Menschenmassen getragen und dann hier abgelegt haben.«

Braig nickte, überlegte. Sein ganzer Körper schmerzte. Er fühlte sich ausgepowert, müde, erschöpft. »Der Schuss«, sagte er, »irgendjemand muss ihn doch gehört haben.«

»Bei dem Lärm?« Rössle schüttelte den Kopf. »Alle paar Meter dudelt eine Kapelle, die Leute schreien um die Wette, einer lauter als der andere und die meisten sind halb besoffen. Do könnt mr halb Sindelfinge totschlage, koi Mensch dät was merke!«

Braig hörte das Geschrei der Festgäste und die Klänge der Musikgruppen von oben und aus dem Tal, wusste, dass der Kollege recht hatte. Es war wirklich unwahrscheinlich. Und wenn schon, was nutzte es ihm in seinen Ermittlungen?

Von Interesse waren einzig und allein Personen, die sich vor etwa eineinhalb Stunden – falls der Arzt mit seinen Überlegungen zum Todeszeitpunkt des Ermordeten richtig lag – über die Treppe in den Wald begeben hatten. Sie mussten so schnell wie möglich die Festbesucher, die in der Nähe der Stufen saßen, befragen. Falls der Täter nicht von unten aus dem Tal oder auf einem anderen Weg gekommen war.

Er drehte sich um, folgte dem Abhang mit seinem Blick, soweit er etwas erkennen konnte. Der Berg schien überall steil abzufallen. »Ist der Weg die einzige Möglichkeit, hierher zu kommen?«

Polizeiobermeister Busch stieg die Stufen der Treppe herunter, an deren oberen Ende er die neugierige Menge ermahnt und zurückgedrängt hatte, nahm seine Jacke vom Geländer. »Die einzige sicher nicht«, antwortete er, »aber alles andere ist verdammt gefährlich. Vor allem bei Nacht.« Er wies nach rechts in den Wald. »Wenn Sie es riskieren wollen, dem Steilhang zu folgen: einige hundert Meter weiter endet er an einer Straße. Und unterwegs könnten Sie über Grenzmauern klettern. Aber ohne mich. Das kann Hals und Kragen kosten.«

»Dann müssen wir die Leute fragen. Es ist unsere einzige Chance.« Braig erklärte dem Kollegen den Sachverhalt, bat ihn um Mithilfe. »Personen, die die Treppe benutzten, vor eineinhalb Stunden oder noch früher. Wer hat eigentlich den Fund gemeldet?«

»Der Bauunternehmer Schwarz, aber der ist sturzbesoffen. Sollten wir uns nicht auch nach Herrn Greiling erkundigen? Vielleicht hat ihn jemand beobachtet, als er zur Treppe lief? Wenn er nicht allein unterwegs war ...«

Braig erkannte blitzschnell, was die Überlegung des Polizeibeamten bedeutete. Sollte der Mörder es riskiert haben, gemeinsam mit seinem Opfer durch die Menschenmenge zu laufen? Ganz bestimmt nicht, wenn es sich um einen geplanten Mord handelte. Das schien Braig vollkommen unwahrscheinlich. Was aber, wenn die beiden oder die Gruppe, falls es sich um mehrere Täter handelte, mit völlig anderen Vorsätzen hierher gekommen und erst an Ort und Stelle in Streit geraten waren?

Er durfte den Vorschlag des Kollegen nicht außer Acht lassen, soviel war ihm klar. »Ihre Idee ist sehr gut«, lobte er Busch, »vielleicht haben wir Glück.«

Er zog sich seine Handschuhe über, lief zu dem Päckchen, in dem sie die Geldbörse und die Ausweise des Ermordeten verwahrt hatten, suchte nach den Visitenkarten Greilings, verteilte sie. »Wir müssen uns beeilen. Hoffentlich finden wir noch ein paar Leute, die gegen zehn, halb elf in der Nähe der Treppe saßen.«

Die Arbeit war noch mühsamer und unergiebiger, als er es sich vorgestellt hatte. Die Menschenmenge am oberen Ende der Treppe kämpfte mit von Neugier und Alkohol aufgeputschten Sinnen um eine Auskunft über das Geschehen am Abhang und die Identität des Toten. Aufgeregte Stimmen erbaten sich kreischend genauere Informationen, andere schrien sinnlose Verdächtigungen in die lärmerfüllte Nacht. Nur unter Einsatz ihrer letzten körperlichen Reserven gelang es den beiden Beamten, sich durch die Meute zu kämpfen.

Als Braig und Busch endlich an den ersten Bankreihen angekommen waren, hatten sie Mühe, Gehör zu finden. Es gab nur noch ein Gesprächsthema, das Gerücht von dem Mord hatte sich wie ein Lauffeuer überall verbreitet. Jede Frage der Beamten wurde zuerst mit unzähligen Gegenfragen beantwortet. Bis der jeweilige Gesprächspartner die Ruhe fand, auf das Problem der Polizisten einzugehen, brauchte es Minuten.

Kurz nach zwei Uhr hatten sie sämtliche Besucher des oberen Stiftshofes, die sie im Bereich zwischen Amtsgericht und Finanzamt antrafen, nach Greiling bzw. verdächtigen Personen befragt. Zwischendurch war der besorgte Oberbürgermeister der Stadt bei Braig vorstellig geworden und hatte sich seltsamerweise in ausgeprägt hessischem Dialekt nach dem Geschehen und dem vorläufigen Stand der Ermittlungen erkundigt, danach war der Kommissar kurz auf die Bitten zweier Journalistinnen der Lokalzeitung und des regionalen Rundfunksenders eingegangen, ihnen erste Informationen zu überlassen. Wenige Minuten später hatte es neue Unruhen unter der aufgeregten Menge gegeben, als zwei Männer mit einer verhüllten Bahre quer über den Hof marschiert und dann – keine zehn Minuten später – jetzt schwerer tragend, wieder zurückgekommen waren.

Braigs und Buschs Erkenntnisse beschränkten sich auf den Sachverhalt, dass niemand Hans Greiling an diesem Abend beobachtet hatte, obwohl mehrere der befragten Personen den Mann nach eigener Aussage gekannt hatten. Aufgefallen, die Treppe benutzt oder zumindest in ihre Richtung gelaufen zu sein, waren der betrunkene Bauunternehmer Albrecht Schwarz – der hatte durch lautes Schreien auf den Fund der Leiche aufmerksam gemacht, -und mehrere irgendwie südländisch oder türkisch aussehende Männer. Je genauer sich Braig diese Ausländer skizzieren ließ, desto verschwommener wurde ihr Bild: Von Gestalten mit dichten dunklen Haaren über Vollbärtige bis zu Halb- und Dreiviertelglatzen reichte die Erinnerung. Die Beschreibung passte auf alle und jeden, nicht ein übereinstimmendes Charakteristikum ließ sich ermitteln.

Allein die Erwähnung eines Burschen im Alter von vielleicht 18 Jahren ließ Braig aufhorchen, waren sich drei an völlig verschiedenen Plätzen sitzende Zeugen über das Verschwinden dieses jungen Mannes in Richtung der Treppe gegen zehn Uhr etwa doch ziemlich sicher. Er wurde als nicht allzu groß, schlank und künstlich blondiert beschrieben, dazu mit dünnem Oberlippenbart und einer schmalen Sonnenbrille im Gesicht, was umso verwunderlicher war, als die Nacht zu jenem Zeitpunkt bereits angebrochen war – alles in allem eine viel zu auffällige Erscheinung, als dass sie auf einen Kriminellen, der im Dunkeln tötete, passen konnte. Aber war das Verbrechen wirklich beabsichtigt gewesen?

Der Kommissar hatte sich die Namen und die Anschrift der möglichen Zeugen notiert und ihre Bereitschaft dazu eingeholt, sonntags gegen zwölf Uhr im Landeskriminalamt mit einem Spezialisten zusammen ein Fahndungsbild des jungen Mannes zu erstellen. Sie mussten nach der auffälligen Person suchen – und sei es nur deswegen, um hundert Prozent sicher zu gehen, dass der Jugendliche mit dem Verbrechen unterhalb der Treppe auch nicht das Geringste zu tun hatte.

Zehn Minuten nach zwei war die Musik überall in der Stadt verstummt. Braig nahm die Nervosität und aufgeregte Stimmung der nur langsam nach Hause strömenden Menschen vor Müdigkeit und Erschöpfung kaum wahr, sehnte sich nur noch nach seinem Bett und ein paar ruhigen Stunden.

5. Kapitel

Steffen Braig schlief am Sonntagmorgen bis kurz nach neun, wurde vom Läuten des Telefons geweckt. Schlaftrunken schälte er sich aus den Federn, nahm den Hörer ab. Barbara Sorg war am Apparat, erkundigte sich nach seinem Befinden, den aktuellen Ermittlungen, einem Ersatz für das gestern ausgefallene Treffen.

Er hatte sie vor wenigen Wochen auf der Rückfahrt von Hamburg im Zug kennengelernt. Drei Tage hatte er mit seiner Mutter in der Stadt im Norden verbracht, eingeladen von seiner ehemaligen Nachbarin Elisabeth Ungemach, einer älteren Journalistin, die an die Elbe zurückgekehrt war. Gemeinsam hatten sie eine Schiffstour nach Schulau-Wedel, einen Stadtbummel und eine Bahnfahrt nach Westerland unternommen und seine Mutter hatte wieder einmal, – wie schon vor Jahren nach ihrem ersten Ausflug nach Hamburg – zu einem normalen Verhalten ihrem Sohn gegenüber zurückgefunden. Ihre von krankhafter Eifersucht ausgelösten Vorwürfe gegen diesen waren schlagartig verstummt, ihre bissigen Bemerkungen über seinen Lebenswandel mehr und mehr freundlichen Kommentaren gewichen. Die einzige kleine Auseinandersetzung zwischen ihnen resultierte aus der Bereitschaft Frau Ungemachs, seine Mutter für länger in Hamburg zu beherbergen und seiner erfreuten Zustimmung auf dieses Angebot. Sie müsse sofort wieder mit ihm zurück, hatte seine Mutter in diesem Moment mit gewohnt unnachgiebiger Verbissenheit betont, könne sich den Aufenthalt im Norden nicht länger erlauben, weil irgendeine Maria Sowieso auf sie warte.

Braig hatte sich über diese Bemerkung gewundert, da seine Mutter bisher Kontakten gleich welcher Art weitgehend verschlossen geblieben war, hatte aber keine Gelegenheit mehr gefunden, sie nach der Frau zu fragen, zumal ihm dann auf der Rückfahrt im Zug Barbara Sorg über den Weg gelaufen war.

Barbara lebte als Studienrätin in Esslingen, unterrichtete an einem der dortigen Gymnasien, hatte mit einer ihrer Klassen einen Aufenthalt in einem Schullandheim nahe der Insel Sylt hinter sich. Erschöpft von mehreren Nächten ohne ausreichenden Schlaf, nach Nerven zermürbenden Diskussionen mit ihren Schülerinnen und Schülern, hatte sie sich für einige Minuten in den Speisewagen geflüchtet und war an Braigs Tisch gelandet. Wie es dazu kam, dass ihm die bisher unbekannte Frau trotz der Anwesenheit seiner Mutter binnen einer einzigen Stunde ihr Herz ausschüttete, hatte er bis heute nicht begriffen. War es die angenehme Atmosphäre in den weichen Polstern des Zuges, der hervorragende Salat, den ihnen die Kellnerin im Speisewagen servierte, die sonnige Landschaft, die an den Fenstern draußen vorbeiflog?

Wie auch immer, Barbara Sorg hatte sich, wie sie ihm gestand, Hals über Kopf in ihn verliebt und betrachtete ihn inzwischen unverhohlen als den Rettungsanker, an dem sie sich aus ihrer weitgehend zerrütteten Ehe herauszuwinden gedachte.

Steffen Braig war die Frau nicht unsympathisch, ganz im Gegenteil, seine Empfindungen für sie gingen weit über das normale Maß bloßer Sympathie hinaus, doch scheute er den entscheidenden Schritt, sich ganz an sie zu binden; primär deswegen, weil er nicht als der endgültige Zerstörer ihrer zwar nur noch auf dem Papier, doch immerhin offiziell noch existierenden Ehe auftreten wollte.

Er erinnerte sich noch genau an seinen ersten Besuch in Barbaras Haus, vier Wochen, nachdem sie sich kennengelernt hatten und sie bereits mehrfach bei ihm in Stuttgart in seiner Wohnung in der Hermannstraße zu Gast gewesen war, an den aggressiven Blick und das besitzheischende Auftreten ihres Mannes, der trotz fortschreitender Zerrüttung der Beziehung ganz offensichtlich nicht bereit war, seine Frau kampflos ziehen zu lassen. Mochten vielen Zeitgenossen moralische Skrupel dieser Art unbekannt sein, die Furcht, er könne der Anlass zur endgültigen Auflösung einer bestehenden Ehe sein, hemmte Braig, sich vollkommen auf Barbara einzulassen.

Seine Weigerung, diese innere Blockade zu überwinden, hatte ungeahnte Energien in ihr geweckt. In unzähligen Telefonaten hatte sie ihn bearbeitet, umschwärmt, becirct. Braig öffnete sich nur langsam, Stück für Stück, immer auch die Erinnerung an seine immerhin zwei Jahre währende Beziehung zu Gabriele Krauter, einer Landwirtin aus Leinfelden-Echterdingen, die er bei einer seiner schwierigsten Ermittlungen kennen gelernt hatte, im Hinterkopf. Gabriele Krauter war von vielen Seiten übel mitgespielt worden. Aber Steffen Braig, der Kriminalbeamte, hatte sich außerstande gesehen, mit dieser Frau zusammenzubleiben: sie hatte ihm zu viel aus ihrer Vergangenheit offenbart, das er gar nicht hätte wissen dürfen. Langsam aber sicher setzte sich in ihm die frustrierende Erkenntnis fest, zu einer langfristigen Beziehung zu einer Frau nicht fähig zu sein – warum auch immer.

Barbara Sorg teilte diese Auffassung nicht, versuchte stattdessen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. In immer neuen Anläufen legte sie ihm dar, wie wichtig, ja unverzichtbar er inzwischen für ihr Leben geworden sei, welche Qualen sie durchlitt, weil er sich immer noch nicht für sie entschieden habe. Braig fühlte sich von Woche zu Woche mehr zwischen ihrem Drängen und seinen Skrupeln hin- und hergerissen.

Einzig ihrer beider starke berufliche Beanspruchung setzte den Forderungen Barbara Sorgs unüberwindbare Grenzen. Hielt sich seine Arbeitszeit im normalen Bereich, so wurde sie von Elternabenden, Korrekturen oder schulischen Exkursionen über das gewohnte Maß hinaus gefordert. Fand sie freie Zeit, steckte er in dringenden Recherchen.

So hielten auch an diesem Morgen die laufenden Ermittlungen Braig davon ab, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Stattdessen entschuldigte er sich bei ihr für seine berufliche Anspannung, beendete das Gespräch nach nicht einmal zwanzig Minuten und gönnte sich ein kurzes, bescheidenes Frühstück.

Zwei der angeforderten Zeugen warteten bereits, als er wenige Minuten vor zwölf im Landeskriminalamt eintraf. Er bedankte sich für ihr Erscheinen, nahm sie dann wenig später, als auch die dritte Person, die sich an den blonden jungen Mann erinnerte, in seinem Büro aufgetaucht war, mit zu seinem Kollegen, der darauf spezialisiert war, Fahndungsbilder zu erstellen.

Daniel Schiek war eines der Allround-Talente des Landeskriminalamtes. Nach der Ausbildung zum Grafiker und einem erfolgreich absolvierten Studium an der Kunsthochschule in Wuppertal hatte er sich zum Kriminaltechniker ausbilden lassen und war heute sowohl in der Erstellung von Fahndungsfotos als auch in der Spurensicherung tätig. Optimale Verbindung zweier Arbeitsbereiche, wie er erklärte, um jedes Fachidiotentum zu vermeiden.

Schiek begrüßte Braig und die drei Augenzeugen, ließ sich den jungen Mann ausführlich beschreiben. Nach wenigen Minuten hatte er ein Gesicht auf dem Monitor modelliert, das den Ansprüchen der Beobachter weitgehend gerecht wurde. Der gesuchte Mann hatte ein schmales, von einer breiten Nase dominiertes Gesicht, einen dünnen Oberlippenbart und künstlich blondierte Haare – entweder eigene, wie die zwei männlichen Zeugen vermuteten, oder eine Perücke, wie die einzige Frau behauptete. Sein Alter schätzten sie auf 17 bis 20 Jahre.

»Was wird jetzt mit dem Bild?«, fragte Florian Denz, einer der Straßenfestbesucher.

Braig war sich seiner Sache sicher. »Wir lassen nach ihm suchen. Vielleicht haben Sie tatsächlich den Verbrecher richtig gesehen, dann sind Sie ein wichtiger Zeuge.«

Er bedankte sich bei den hilfsbereiten Leuten, ließ das Fahndungsfoto mit der Bitte um Mithilfe an alle Polizeidienststellen und Presseorgane faxen.

Bernhard Söhnle, ein junger Mitarbeiter im Rang des Kriminalmeisters, tauchte genau im richtigen Moment in Braigs Büro auf.

»Hallo, ich soll mit dir nach Backnang.«

Sie kannten sich seit einigen Jahren, hatten schon oft miteinander gearbeitet. Braig schätzte den jungen Kollegen aufgrund dessen Fleißes und schneller Auffassungsgabe.

»Du bist informiert?«

Söhnle nickte. »Ich soll die ganzen Häuser über dem Murrhang abklappern, ob zufällig jemand gestern Abend verdächtige Personen bemerkt hat.«

Braig nickte, nahm ein Glas, füllte es mit Leitungswasser. »Das wird mühsam«, erklärte er, »ich glaube kaum, dass wir viel Glück haben. Erstens waren ohnehin die meisten Leute außer Haus, irgendwo auf diesem Straßenfest, und dann noch der Lärm. Eine Musikgruppe neben der anderen.«

»Ich kenne das«, sagte Söhnle, »vor zwei Jahren war ich dort. Die ganze Stadt schien auf den Beinen.«

Sie liefen zur Nürnberger Straße, nahmen die nächste S-Bahn. Unterwegs studierte Braig die Notizen Roland Buschs über dessen nächtlichen Anruf bei der Ehefrau des Ermordeten, die der Kollege ans LKA gefaxt hatte. Klara Greiling war der Tod ihres Mannes bereits bekannt gewesen, als Busch gegen zwei Uhr in der Nacht bei ihr angeläutet hatte. Bekannte hätten sie mehr als eine Stunde vor dem Anruf bereits informiert, das Gerücht über das Geschehen habe sich minutenschnell in der ganzen Stadt verbreitet. Mit dem Besuch Braigs bei ihr am Sonntag mittag gegen 14.30 Uhr sei sie einverstanden.