Schwarze Elbe - Heike Denzau - E-Book

Schwarze Elbe E-Book

Heike Denzau

4,8

Beschreibung

Verletzt und verwirrt wird eine vermisste Itzehoerin an einer Landstraße aufgefunden. Ihre Erinnerungen an dramatische Tage in Gefangenschaft sind nur bruchstückhaft. Wer ist die rätselhafte Frau, der sie in den Wochen vor ihrer Entführung immer wieder begegnet ist? Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, was der Täterin nicht verborgen bleibt. Währenddessen tut Lyn Harms alles, um das Puzzle rechtzeitig zusammenzusetzen und eine fürchterliche Tat zu verhindern.

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Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Diverse Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Ihr Kriminalroman »Die Tote am Deich« war nominiert für den Friedrich-Glauser-Preis 2012 in der Sparte Debüt. Im Emons Verlag erschienen außerdem die Kriminalromane »Marschfeuer« und »Tod in Wacken« sowie der Mysterythriller »Todesengel von Föhr«. Mehr über die Autorin unter www.heike-denzau.de.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/marieanne Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-771-0 Originalausgabe

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Die Zukunft des Kindes ist das Werk seiner Mutter.

Napoleon

EINS

Carola von Ahren setzte die Marzipanrose auf den letzten freien der zwölf Buttercremekleckse und trat einen Schritt vom Tisch zurück. Zufrieden betrachtete sie das süße Kunstwerk. Auf der Marzipandecke der Torte prangte eine Siebzehn aus Schokolade, darüber der Namenszug »Pauline«.

Zwei warme Hände legten sich auf ihre Schultern, und sie lächelte, als ihr Mann sagte: »Line wird begeistert sein. Eine Geburtstagstorte, perfekt wie ihre Mutter.« Er küsste zärtlich ihren Hals. »Manchmal finde ich deine Perfektion fast beängstigend.«

Carola drehte sich herum und gab ihrem Mann einen Kuss. »Nein, du genießt sie, weil du dich dann zu Hause um nichts kümmern musst.«

»Wie recht du hast«, lachte er. Dann wurde er ernst. »Ohne dich an meiner Seite wäre ich nicht da, wo ich heute bin.« Er nahm ihre Hand und zog sie aus der offenen Küche zu der dreiflügligen Terrassentür im Esszimmer und deutete nach draußen. Sanft abfallend zog sich die Rasenfläche hinunter an die Grundstücksgrenze und offenbarte einen Panoramablick auf die Elbe, die graublau Richtung Hamburger Hafen floss. Wie Miniaturen wirkten zwei Segelboote auf dem Wasser. An den Seiten wurde das weitläufige Grundstück von lichten Büschen begrenzt. Verschiedene Beete, in denen Sommerstauden ihrer Blüte noch entgegenwuchsen, boten mit Schwertlilien und Pfingstrosen bunte Farbtupfer.

Robert von Ahren legte seinen Arm um Carolas Schulter. Sein Blick ruhte auf dem langhaarigen blonden Mädchen, das mit einem Hund auf dem Rasen herumtollte. »Du und Pauline seid die Ruhepole in meinem Leben. Mir ist bewusst, dass es manchmal nicht einfach für euch ist. Die langen Zeiten, in denen–«

»Ich wünschte, Pauline wäre momentan ein Ruhepol«, unterbrach Carola ihn. Robert hatte oft genug um Entschuldigung für seine langen Abwesenheitszeiten gebeten. Aber das musste er gar nicht. Sie hatte gewusst, auf welchen Lebensstil sie sich einließ, als sie ihn heiratete.

Robert von Ahren war Anwärter auf den höheren Auswärtigen Dienst an der Bonner Akademie, als sie ihn auf einer Gartenparty bei Freunden in Hamburg kennengelernt hatte. Liebe auf den ersten Blick war es gewesen, als der damals Vierunddreißigjährige sie, die acht Jahre Jüngere, am Büfett versehentlich anrempelte und sein Krabbencocktail auf ihrem Seidenkleid landete und es ruinierte. Innerhalb eines Jahres hatten sie geheiratet.

Vier Jahre hatte Robert als Abteilungsleiter bei der niedersächsischen Senatskanzlei gearbeitet, bevor die Ernennung zum Botschafter in Malawi erfolgte. Carola war mit ihm nach Afrika gegangen. Nach drei Jahren Malawi folgten weitere Jahre in Togo. Als Sozialpädagogin hatte sie selbst sich in den Armenvierteln engagiert. Zehn Ehejahre, in denen sie sich sehnsuchtsvoll ein Kind gewünscht hatten, aber von Monat zu Monat enttäuscht wurden, ohne dass medizinische Gründe bei einem von ihnen vorgelegen hätten. Als Carolas Regel mit siebenunddreißig ausblieb, hatte sie im ersten Moment an eine früh einsetzende Menopause gedacht. Die Freude, schwanger zu sein, war schließlich unermesslich gewesen.

Carola schluckte. Heute vor siebzehn Jahren, am zweiten Mai, hatte sie Pauline geboren.

Robert winkte seiner Tochter, die auf ihre Eltern aufmerksam geworden war, durch die Scheibe zu. »Gönn ihr den Spaß, mit Fidus zu toben. Sie hat schließlich die ganze Woche gelegen, und es scheint ihr doch besser zu gehen.«

»Nein«, widersprach Carola. »Die Gliederschmerzen wollen nicht verschwinden. Ich hätte ihr den Ausritt auf Fengur gestern Abend verbieten müssen. Ihr Gesicht war wieder ganz heiß, aber sie wollte ja partout kein Fieber messen… Das Antibiotikum scheint überhaupt nicht anzusprechen. Ich werde Montagmorgen mit ihr zu Joachim gehen. Er soll sie vernünftig durchchecken. Das ist doch keine normale Halsentzündung.«

»Die Übermutter sieht wieder Gespenster«, lästerte Robert, und Carola ärgerte sich darüber. Sie ging zurück zum Küchentresen und arrangierte siebzehn Geburtstagskerzen in der Torte. Dann stellte sie die Torte auf dem Mahagoni-Sideboard im Esszimmer ab, auf dem verschiedene mit großen Schleifen versehene Geschenkpakete aus buntem Glanzpapier lagen. Die beiden hölzernen afrikanischen Skulpturen hatte Carola beiseitegeschoben. Andenken aus ihrer Zeit in Afrika, die lange zurücklag. Ihr Zuhause war seit nun fast achtzehn Jahren diese Villa an der Elbchaussee in Blankenese.

Robert trat neben Carola. »Was sie wohl zu ihrem Hauptgeschenk sagen wird?« Dann deutete er zur Zimmerdecke. »Ist das da oben eine Spinne?«

Carola blickte hoch, aber die Decke erstrahlte in reinstem Weiß. Keine Spinnwebe war auszumachen. Frau Klottmann leistete gründliche Arbeit.

 »Wie kommst du…?« Sie stockte, weil sie Robert mit einem Grinsen im Gesicht kauen sah. Ihr Blick glitt zur Torte. »Robert!« Eine Marzipanrose fehlte. »Das ist Lines Geburtstagstorte. Und ich hab kein Röschen mehr. Wie sieht das denn jetzt aus!«

»Sie war so makellos, dass Line denken könnte, du hättest sie gekauft.« Robert strich zärtlich über Carolas Nase. »Aber du hast recht«, sagte er, »so sieht es komisch aus.« Bevor Carola es verhindern konnte, pulte er die gegenüberliegende Rose von dem Cremespritzer und ließ sie in seinem Mund verschwinden. »Jetzt ist die Symmetrie wiederhergestellt.«

Carola schüttelte lachend den Kopf. »Du bist unmöglich. Wehe, du machst das nächste Woche, wenn der Minister aus Togo mit seiner Frau zum Abendessen kommt.«

»Würde ich das jemals wagen?« Robert nahm Carolas rechte Hand in seine. »Willst du denn wirklich das ganze Dinner wieder allein zubereiten? Lass uns doch einen Caterer anrufen und–«

Carola legte ihm ihren Finger auf den Mund. »Du weißt doch, dass ich mir niemals ein Lob entgehen lasse. Und bisher waren alle Gäste begeistert von meiner Kochkunst. Frau Klottmann geht mir zur Hand. Zum Servieren wird eine Hilfe da sein.«

Robert von Ahren nickte. »Wenn du meinst. Mein Sekretariat hat die Infomappe für dich übrigens schon zusammengestellt. Montagabend bringe ich sie mit. Schließlich weiß ich, wie sehr du es hasst, wenn du dich erst im letzten Moment auf Gesprächsthemen vorbereiten kannst. Auf jeden Fall aber solltest du diesmal das Thema Menschenrechte ausklammern.«

Carola schob ihren Mann lächelnd Richtung Terrassentür. »Mit Ebola haben wir momentan genug Gesprächsstoff. Aber ich möchte heute nichts mehr aus dem Büro hören. Auch nicht, wenn es mich betrifft. Geh und hol das Geburtstagskind. Line brennt darauf, ihre Geschenke auszupacken.«

Sie nahm das bereitliegende Feuerzeug und zündete die Kerzen an. Dann ging sie zur Tür und sah Robert hinterher, wie er die Rasenfläche herunterging, die Arme weit ausgestreckt. Deutlich schallten seine Worte ins Haus. »Line-Maus, komm zu Papi! Mama hat den Geschenketurm im Esszimmer aufgebaut. Er wartet darauf, zum Einsturz gebracht zu werden.«

Carola atmete tief durch und presste eine Hand auf ihr pochendes Herz, als Pauline sich in die Arme des Vaters warf und von ihm herumgewirbelt wurde. Eng umschlungen, von dem Cockerspaniel begleitet, kamen Vater und Tochter zum Haus hinaufgelaufen.

»Gott, wie ich euch liebe«, flüsterte Carola, bevor sie die Terrassentür aufriss und rief: »Tadaaaa! Bitte eintreten, Geburtstagskind. Hier warten ein paar Kleinigkeiten auf dich.«

Pauline von Ahren sah zu dem Sideboard und umarmte Carola. »So viele Geschenke! Danke, Mamutsch. Und danke, Papa.«

Carola lächelte. Mamutsch. Diesen Kosenamen hatte Pauline aus einem Kinderbuch übernommen, aus dem sie ihr vor vielen Jahren vorgelesen hatte. Ab und an gebrauchte sie ihn noch, und Carola gefiel es. Sie drückte einen Kuss auf Paulines Haar, das nach ihrem Lieblingsshampoo duftete. Limette und Vanille.

»Und die Torte ist toll. Auch mit weniger Marzipanröschen.« Pauline lächelte ihrer Mutter zu. »Papa hat gebeichtet.«

Carola verdrehte schmunzelnd die Augen, während sie nach Paulines Hand griff. »Möchtest du erst auspacken, Schatz, oder wollen wir zuerst frühstücken?« Sie deutete auf den großen ovalen Esszimmertisch, der festlich eingedeckt war. Kleine gläserne Marienkäfer lagen um den Teller verteilt auf Paulines Platz. Gekochte Eier, Schinken und Melone, eine mit dunklen Trauben dekorierte Käseplatte, frische Brötchen, Croissants und verschiedene Marmeladen füllten den Tisch.

Carola betrachtete Paulines blasses Gesicht. »Ich habe dir einen frischen Obstsalat gemacht, damit du wieder fit wirst. Du gefällst mir heute gar nicht, Line. Deine Augen glänzen schon wieder fiebrig. Du hättest nicht mit dem Hund toben sollen.«

Pauline erwiderte nichts, sondern nickte nur. Ein Umstand, der Carola mehr erschreckte, als die erwartete patzige Antwort es getan hätte. Es ging ihr wirklich nicht gut.

»Drama-Mama hat natürlich recht«, bemerkte Robert von Ahren. »Aber vor dem Frühstück packst du zuerst dein Hauptgeschenk aus.« Er zwinkerte Pauline zu. »Ich kann sonst das Frühstück nicht genießen. Ich bin schon ganz hibbelig.«

Drama-Mama! Carola kniff die Lippen zusammen. Sie hasste es, wenn Robert ihre Fürsorge ins Lächerliche zog. Um den Geburtstag nicht zu verderben, schluckte sie eine scharfe Antwort hinunter.

»Komm, Maus, dazu müssen wir hinausgehen.« Robert zog seine Tochter hinter sich her. Carola folgte den beiden aus dem Esszimmer über die mit glänzenden dunklen Marmorplatten ausgelegte Eingangshalle zur doppelflügligen Haustür.

Carola war sich sicher, dass Pauline von dem cremefarbenen Mini Cooper, dessen Dach eine riesige rote Schleife schmückte, begeistert sein würde. Sie rechnete nicht mit einem eigenen Auto, obwohl sie seit zwei Wochen ihren Führerschein besaß. Robert und sie waren immer darauf bedacht gewesen, Pauline nicht über Gebühr mit käuflichen Dingen zu verwöhnen, trotz des vorhandenen Vermögens. Hanseatische Bescheidenheit hatte von jeher im Hause von Ahren gegolten.

»Überraschung!«, rief Robert fröhlich, während er die edle Holztür aufriss.

Als Pauline ihre Hand in Roberts Arm krallte, glaubte Carola im ersten Moment, dass es vor Aufregung um das Auto war, aber das geflüsterte »Papa, ich…« erschreckte sie.

Robert konnte gerade noch zugreifen, bevor der Körper seiner Tochter auf den Fliesen aufschlug.

»Pauline!«, schrie Carola und ging neben ihrer Tochter, die Robert langsam auf den Boden gleiten ließ, in die Knie.

»Line-Maus!« Erschrocken patschte Robert von Ahren leicht Paulines Wange.

Sie schlug die Augen auf. »Mir… mir geht’s nicht gut. Kannst du mich in mein Bett bringen, Papa?« Sie richtete sich mit Hilfe von Carola und Robert langsam auf.

»Nein.« Carolas Stimme hallte laut durch die Eingangshalle. »Es reicht jetzt! Geburtstag hin oder her. Wir fahren sofort zu Joachim. Du wirst jetzt vernünftig durchgecheckt. Basta!«

***

»Und wenn er jetzt stirbt?« Sophie hockte im Schneidersitz auf der Terrasse und presste den zitternden Hund an sich. »Von einem Trauma kann man bestimmt sterben.«

Der Blick, der Lyn dabei traf, war ein einziger Vorwurf.

»Ein Wort zu Opa, und du kannst dir die Außer-der-Reihe-Chucks von B&H abschminken. Für die nächsten hundert Jahre!« Lyn steckte das Ende des Verlängerungskabels in die Außensteckdose neben der Terrassentür, ging vor Sophie und dem Boxer in die Knie und stellte den Föhn auf Höchststufe an.

»Nicht auf Stufe drei«, fauchte Sophie ihre Mutter an, als der Hund zu winseln begann und versuchte, der heißen Luft zu entkommen.

Lyn wedelte mit dem Föhn hektisch über das Fell. »Für Wellness ist keine Zeit. Opa trudelt jeden Moment ein… Boah!« Lyn ruckte mit der Nase näher an den Hund heran. »Riecht Sabbermaul etwa nach…?« Sie stellte den Föhn ab und grölte Richtung Fenster im Obergeschoss: »Charlotte Hollwinkel! Hast du den Hund mit meinem neuen Duschgel abgeseift, das Hendrik mir zum Geburtstag geschenkt hat?«

Charlottes Kopf tauchte im Dachfenster ihres Zimmers auf. »Das Dolce & Gabbana? Kann sein. Ich hab einfach irgendeins gegriffen. Wenn dir das nicht passt, hättest du Barny selbst abduschen können. Ich hab schließlich noch eine Verabredung und muss mich sputen. Ich verschwinde jetzt unter der Dusche.«

»Ich hatte wohl mit der Autoreinigung genug zu tun«, giftete Lyn zurück. »Und beeil dich im Bad. Krümel und ich müssen auch noch duschen, bevor Opa kommt und blöde Fragen stellt.« Sie stellte den Föhn wieder an. Im selben Moment wand sich der Hund mit freudigem Winseln aus Sophies Armen, warf Lyn um und stürmte auf den Mann zu, der hinter Lyn um die Hausecke bog.

Sophies gequältes »Hallo, Opa!« erklang, noch bevor Lyn sich wieder aufgerappelt und den Föhn abgestellt hatte.

Henning Harms streichelte mit der Linken seinen Hund, der wild an ihm hochsprang. Seine rechte Hand war mit den Fingern einer blonden Frau um die sechzig verschränkt, die ein »Hallöchen, meine Lieben« flötete.

Meine Lieben? Lyns Hals zog sich zusammen. Salvatore durfte sie so nennen, weil sie Stammkunden waren und drei-, viermal pro Woche zu seinem Eiswagen eilten, wenn die Hupe in der Schulstraße quäkte. Aber nicht diese dauerlächelnde Tubenblondine, die ihr Vater ihr in der vergangenen Woche als seine neue Freundin vorgestellt hatte. »Hallo, Vera«, gab sie daher kurz angebunden zurück.

Henning Harms musterte mit zusammengezogenen Augenbrauen Tochter und Enkelin. »Da stelle ich doch mal gleich die erste blöde Frage: Was ist hier los? Wart ihr zur Wattolympiade in Brunsbüttel? Oder warum seht ihr aus wie die Schweine?«

»Das waren drei Fragen«, murmelte Lyn, den Blick von der perfekt gestylten Vera abwendend, die sie von oben bis unten musterte.

 Sie zupfte an ihren strähnigen Haaren, dann an dem feuchten Laufshirt. Die kurze Laufhose gab den Blick auf ihre elbschlickverschmierten Waden frei. Die dreckigen Sportschuhe lagen auf der Terrasse.

Henning Harms löste die Hand aus Veras Fingern und ging vor Barny in die Knie. »Ja, mein Junge! Jaaa, ist ja gut! Herrchen ist zurück aus dem Urlaub. Jaaa!« Mit einem unterdrückten Ächzen richtete er sich wieder auf. »Also, Sophie, welche blöden Fragen soll ich nicht stellen?«

Sophie vermied es, Lyn in die Augen zu sehen. »Wenn ich es erzähle, krieg ich die neuen Chucks nicht.«

»Herrje, so ein Drama war es jetzt auch nicht«, stieß Lyn genervt aus. »Wir sind zum Joggen an die Elbe gefahren. Der Hund war schwimmen. Und dabei sind wir alle ein bisschen nass und dreckig geworden.«

Henning Harms verzog das Gesicht. »Aber Anfang Mai ist das Wasser doch noch viel zu kalt. Barny wird sich erkälten.« Er legte dem Boxer die Hand auf die Stirn, als wolle er seine Temperatur erfassen.

»Hallo, Opa!«, erklang es im selben Moment an der Terrassentür. Charlotte trat aus dem Wohnzimmer und umarmte ihren Großvater. »Hast du schon gehört, dass Barny fast ertrunken wäre?«

Aufstöhnend ließ Lyn sich auf die Gartenliege fallen.

Sophie sprang auf. »Dann darf ich es jetzt erzählen, oder, Mama? Also: Wir sind mit dem Auto an die Elbe gefahren. Mama ist gejoggt, Lotte und ich haben mit Barny am Strand gespielt. Wir haben Stöckchen geschmissen. Er war schon ganz aus der Puste, als Mama wiederkam und sich in den Sand gesetzt hat. Die war auch aus der Puste. Und dann ist Barny zu ihr gelaufen und hat sich geschüttelt, und sein Sabber ist auf Mamas Shirt gelandet. Und dann…« Sie warf einen kurzen Blick zu Lyn, die nur apathisch mit der Hand in der Luft wedelte. »Dann hat Mama den Stock genommen und ihn in die Elbe geworfen. Aber viel zu weit. Barny ist hinterhergeschwommen, und dann… hat ihn die Strömung erwischt.«

»Mein Gott!« Henning Harms ging wieder in die Knie und tätschelte seinen Hund.

»Ich bin ins Wasser gelaufen«, fuhr Sophie fort, »aber Mama hat mich zurückgeholt. Und dann haben wir zugeguckt, wie Barny immer weiter die Elbe runtergetrieben ist. Nur sein Kopf war noch zu sehen. Ich hab voll geheult, Charlotte hat geschrien. Und Mama hat ihre Kollegen von der Wasserschutzpolizei angerufen.«

Ungläubig starrte Henning Harms seine Enkelin an. »Die Wasserschutzpolizei hat Barny aus der Elbe gefischt?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Nein. Die hatten einen Einsatz und wären erst in zwei oder drei Stunden da gewesen. So lange hätte Barny bestimmt nicht durchgehalten. Aber Lotte hatte eine tolle Idee. Sie hat Tjark angerufen. Der ist aus ihrer Clique. Und der hat im Wewelsflether Hafen seinen Jetski zu Wasser gelassen und ist zur Elbe gebraust. Es war ablaufendes Wasser, und Barny war schon fast in Brokdorf. Dass er ihn überhaupt im Wasser entdeckt hat, ist ein Wunder, sagt Mama.«

Sophie legte die Arme um den Hund und zog ihn an ihre Brust. »Und dann bist du das erste Mal in deinem Leben Jetski gefahren, nicht wahr, Barny? Tjark hat gesagt, er hat noch nie einen Hund gesehen, der so doll gezittert hat.« Sophie sah ihren Großvater an. »Über eine Stunde ist Barny geschwommen. Das war bestimmt sein Rekord, oder? Beim nächsten Aufpassen werfen wir aber kein Stöckchen mehr ins Wasser.«

Lyn hob den Kopf von der Liege und sah ihren Vater an. »Ich vermute, es wird kein nächstes Mal geben?«

»Eher schreibt Goethe im Jenseits vampirpornografische Lektüre, als dass ich dir meinen Hund noch einmal anvertraue, Gwendolyn Harms.«

»Hendrik Wolff, nimm die Finger aus meinem Ausschnitt!« Lyn zerrte – mit panischem Blick zur offenen Bürotür– Hendriks Hand aus ihrer Bluse und drehte ihren Bürostuhl so, dass er nicht mehr hinter, sondern neben ihr stand.

Oberkommissar Hendrik Wolff nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küsste sie. »Das sind Entzugserscheinungen. Schließlich habe ich dich eine ganze Woche nicht gesehen. Und: Ich habe noch nie einer zukünftigen Hauptkommissarin in die Bluse gefasst. Das musste ich nachholen.«

Lyn verdrehte die Augen. Seit Hendrik glaubte, aus einem Gespräch mit ihrem Chef Wilfried Knebel herausgehört zu haben, dass der Lyn für eine Beförderung zur Hauptkommissarin vorschlagen wolle, ließ er das Thema nicht ruhen.

»Erstens: Noch bin ich nicht Hauptkommissarin«, sagte Lyn. »Zweitens: Es beruhigt mich, dass Kollegin Karin noch nicht in den Genuss gekommen ist.«

»In welchen Genuss bin ich noch nicht gekommen?«, erklang eine fröhliche Stimme in der Bürotür. Hauptkommissarin Karin Schäfer hatte ihren Kaffeebecher mit dem »Oma ist die Beste«-Aufdruck in der Hand.

Lyn fühlte, wie ihre Wangen sich färbten. Wehe, du sagst ihr das mit der Bluse, signalisierte der Blick, den sie Hendrik zuwarf.

Hendrik blieb gelassen. »In den Genuss von Birgits Kaffee. Sie hat heute aromatisierten Kaffee mitgebracht. Bio und irgendwas mit Nüssen. Schmeckt so, wie die Pullis vom Kollegen Bernhard von der Sitte riechen. Ich habe ihn umgehend in den Ausguss befördert und eine neue Kanne aus dem Altbestand gekocht. Jetzt muss es uns nur noch irgendwie gelingen, den Inhalt der Kaffeedose auszutauschen.«

»Ich mach es aber nicht«, winkte Karin ab. »Ich hab mir letzte Woche schon einen Anschiss eingefangen, als ich Birgit einen Tipp gab, wie ihre Haferflockenkekse lockerer werden. Die waren ja ungenießbar.« Sie sah zur Uhr. »In zehn Minuten beginnt die Frühbesprechung, ihr Lieben. Bis dann. Ich bin heute allerdings nur ein Viertelstündchen dabei. Ich muss noch zu Dr.Helbing in die Rechtsmedizin.« Mit einem Winken verabschiedete sie sich.

»Oh, apropos Doktor!«, stieß Lyn aus. »Ich hab um halb zwölf meinen Krebsvorsorgetermin in Heiligenstedten. Das darf ich nicht vergessen.«

»Gehen wir danach zusammen mittagessen?«, fragte Hendrik. Er küsste sie und ging zur Tür. »Dann kannst du mir berichten, wie du dich entschieden hast. Schließlich hattest du eine Woche Bedenkzeit.« Er sah sie an, als erhoffte er bereits eine schnelle Antwort, aber diesen Gefallen konnte Lyn ihm nicht tun.

Vor zehn Tagen hatte er sie mit seinem Wunsch, so schnell wie möglich zusammenzuziehen, überrascht. Im Grunde hatte er sie damit sogar kalt erwischt. Zusammenzuziehen war eine Option, die Lyn für sich überhaupt noch nicht in Erwägung gezogen hatte. Für sie lief es so, wie es war, perfekt.

Die gemeinsame Zeit verbrachten sie zum größten Teil in Lyns Haus in Wewelsfleth. Zwangsläufig, weil die Kinder dort waren. Nur wenn die Mädchen in den Ferien bei ihrem Vater in Franken waren, übernachteten sie in Hendriks Itzehoer Wohnung. Seine Argumente für eine gemeinsame größere Wohnung in Itzehoe waren nicht von der Hand zu weisen. Sie arbeiteten beide in Itzehoe, die Mädchen gingen dort zur Schule. Und natürlich wäre es schön, ein Arbeitszimmer zu haben. Sie verstand sogar seinen Unmut über das kleine Bad, das bei drei Frauen, dusch-, föhn- und schminktechnisch betrachtet, dauerbelegt war.

Lyn seufzte. Sie liebte ihr gemütliches kleines Heim am Wewelsflether Friedhof. Und auch Charlotte, die die morbide Atmosphäre – die Leichenhalle grenzte direkt an den Garten– anfangs verflucht hatte, hatte sich eingewöhnt und Freunde in Wewelsfleth gefunden. Sophie war von Anfang an begeisterte Friedhofsanhängerin gewesen.

Ein Umzug, das musste Lyn sich selbst eingestehen, war allerdings nicht der Hauptpunkt auf ihrer Bedenkenliste. Es war vielmehr ein Gefühl in ihrem Inneren, ein Ziehen in der Bauchdecke, ein nicht zu definierendes Unwohlsein bei dem Gedanken, die momentane Situation zu verändern. Sophies Abneigung gegen Hendrik hatte sich zwar deutlich abgeschwächt, tendierte aber im Moment eher im Bereich Gleichgültigkeit als zu freundschaftlicher Zuneigung.

Lyn war froh, als ein Blick zur Uhr verriet, dass es Zeit war, in den Besprechungsraum zu gehen, denn sie durfte sich nicht vormachen, dass es nur Sophies pubertäre Befindlichkeiten waren, die sie als Argumente anführen konnte.

Sie selbst hatte immer wieder an der Tatsache zu knabbern, dass Hendrik neun Jahre jünger als sie war. Ihr vierzigster Geburtstag hatte sie in ihrem Bemühen zurückgeworfen, diese Tatsache entspannt zu betrachten. Sie wusste, dass Hendrik sie liebte, und sie spürte bei jeder seiner Berührungen, wie sehr er sie begehrte, und dennoch steckte dieser Stachel in ihr. Klein, aber eisig. Wochenlang konnte er unbemerkt bleiben, um dann in irgendeiner Situation mit einem Pikser zu sagen: Hier bin ich, und du wirst mich niemals loswerden. Wenn die winzigen Fältchen um ihre Augen bei Stress tiefer wirkten und sie sich alt und müde fühlte, wenn Hendrik alberne Bemerkungen machte, die sie nicht witzig fand, wenn er mit Charlotte in ihrem Zimmer Musik hörte, bei der es Lyn gruselte.

»Na, du eine meiner beiden Lieblingskolleginnen«, begrüßte Kriminalhauptkommissar Thilo Steenbuck sie, als sie ihr Büro verließ. Kameradschaftlich legte er seinen Arm um ihre Schulter und grinste, während sie über den Flur Richtung Besprechungsraum gingen. »Dich und Hendrik brauche ich wohl nicht zu fragen, ob ihr heute Abend mit in die Lauschbar kommt, um ein Feierabendbierchen zu zischen. Klein-Wölffchen kann es bestimmt nicht erwarten, nach einer Woche Arrest aus dem Zwinger gelassen zu werden.«

»Thilo Steenbuck!« Lyn schüttelte seinen Arm ab. »Du bist doch krank.«

»Ganz im Gegenteil. Bei meinem letzten Arztbesuch hatte ich Werte wie ein Zwanzigjähriger. Die Chancen stehen für Tessa also eher schlecht, dass sie frühzeitig mit Witwenrente auf Malle die Sau rauslassen kann.«

»Ja, wunderbar, Frau Harms.« Mit geübtem Griff tastete die Frauenärztin Lyns linke Brust und die Lymphknoten der Achselhöhle ab. Sie wechselte zur rechten Seite. »Alles weich, alles, wie es sein soll«, kommentierte sie weiter, während sie drückte und tastete.

»Schön«, sagte Lyn dankbar. Auch wenn sie keine großen Ängste bezüglich eines Knotenfunds verspürt hatte, war die Mitteilung, dass alles in Ordnung war, doch erleichternd.

»Dann dürfen Sie sich obenherum wieder anziehen und unten frei machen«, sagte die Ärztin mit einem Lächeln und deutete zur Kabine.

Die anwesende Arzthelferin assistierte, als Lyn auf dem Untersuchungsstuhl Platz genommen hatte. »Das sieht alles gut aus«, kommentierte die Ärztin und nahm einen Abstrich. »Wir machen jetzt noch die Sonografie, dann sind Sie schon fertig.«

»Das ging flott«, sagte Lyn lächelnd, »da kann ich in meiner Mittagspause tatsächlich noch etwas Schnelles essen gehen.«

Bevor die Ärztin die Sonde einführte, drehte sie den Bildschirm so, dass Lyn ihren Ausführungen folgen konnte. »Da haben wir die Blase. Und das ist die Gebärmutter. Und…« Sie stockte. »Moment, was haben wir denn da?« Sie bewegte die Sonde, um dann an einer Stelle zu verharren.

Lyns Herz begann schneller zu schlagen. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie und versuchte, im Gesicht der Gynäkologin zu lesen.

»Das würde ich so nicht sagen«, sagte die Ärztin nach einem weiteren Moment der Konzentration auf den Bildschirm. Sie sah Lyn an. »Sie sind schwanger. War Ihnen das noch nicht bekannt?«

Die Worte der Ärztin klangen sirrend in Lyns Kopf nach. Ihr Mund war schlagartig so trocken, dass sie glaubte, würgen zu müssen, als sie zu sprechen versuchte. »Schw… Schwanger?« Sie wollte schlucken, aber es misslang. Sie starrte auf das Sonografiebild, das für sie nur aus Schatten bestand. »Das… das kann nicht sein. Ich nehme die Pille.«

»Aber Sie haben mir doch angegeben…«, schaltete die Assistentin sich ein und griff nach dem Patientenblatt auf dem Beistelltisch, »dass Ihre letzte Regel sieben Wochen zurückliegt.«

»Ja, aber doch nur, weil ich die Pille durchgenommen habe. Aus… äh… privaten Gründen.« Lyn spürte, wie ihre Wangen sich röteten. Sie hatte keine Pillenpause gemacht, weil sie eine Regelblutung vermeiden wollte, denn sie hatte zu der Zeit mit Hendrik ein langes Wochenende im Harz verbracht. »Und darum hatte ich keine Regelblutung.«

Die Ärztin musterte Lyn. »Tja, da konnten Sie natürlich keine Schwangerschaft vermuten. Aber das hier«, sie deutete auf den Bildschirm, »zeigt uns einen winzigen Embryo. Fünfte bis sechste Woche, würde ich sagen.«

»Aber ich habe doch gerade Urin abgegeben«, stammelte Lyn. »Sie haben gesagt, er sei in Ordnung. Sie hätten doch sehen müssen, dass ich schwanger bin.«

»Auf Schwangerschaft testen wir nur, wenn dafür Anhaltspunkte bestehen, Frau Harms. Also, herzlichen Glückwunsch.«

***

Carola von Ahren hatte weder einen Blick für den Marco-Polo-Tower zu ihrer Rechten noch für die ferne Sicht auf den Hamburger Hafen, als sie im Büro ihres Bruders vor den schmalen, hohen Fenstern auf und ab lief. Ihre Finger strichen fahrig über die Rückenlehne des Sessels, in dem ihr Mann saß, ohne dass sie das feine schwarze Leder unter ihren Fingerkuppen wahrnahm. Der Duft des Leders lag noch in der Luft, weil das Mobiliar gerade erst in das vor wenigen Monaten bezogene Gebäude in der Überseeallee geliefert worden war.

»Wo bleibt Joachim?« Carola blieb stehen und sah Robert an. Ihre Stimme klang zittrig. »Ich habe Angst, Robert.« Sie atmete tief durch.

Seit drei Tagen lag Pauline jetzt in Joachims Privatklinik in der Hamburger Hafencity. Er hatte noch keine konkrete Diagnose gestellt, hatte rumgedruckst, dass noch ein Testergebnis ausstehen würde. Und anscheinend war es jetzt da. Vor zwei Stunden hatte er sie angerufen und gebeten zu kommen. Dass Joachim sich geweigert hatte, ihr die Diagnose am Telefon mitzuteilen, hatte sie in höchste Alarmbereitschaft versetzt.

Als ihr Handy klingelte, zuckte sie zusammen. Sie nahm es aus der Handtasche und sah auf das Display. »Das Flüchtlingszentrum«, murmelte sie auf Roberts fragenden Blick. Sie stellte das Handy aus. »Ich kann jetzt nicht telefonieren. Sie müssen sich jemand anderen suchen.«

Carola hatte einige Jahre für das Flüchtlingszentrum Hamburg gearbeitet, bevor sie sich vor drei Jahren entschieden hatte, ihre ehrenamtliche Tätigkeit neu auszurichten. Doch ab und zu wurde sie vom Flüchtlingszentrum als Dolmetscherin um Hilfe gebeten.

»Joachim wird bestimmt jeden Moment hier sein. Trink einen Schluck Tee, Liebling.« Robert von Ahrens Stimme klang wie immer, aber Carola sah am Zittern seiner Finger, als er mit der kleinen Zange Kluntjes in Carolas Tasse gab, dass er ebenfalls unruhig war.

Joachims Assistentin hatte ihnen den schwarzen Assamtee vor einer Viertelstunde serviert. Mit einem Lächeln und dem Hinweis »Professor Ballmer ist in einer Minute bei Ihnen« hatte sie die feine Porzellankanne auf dem Stövchen abgestellt.

Carola setzte sich. Sie musste die Teetasse mit beiden Händen halten, weil sie so stark zitterten. Sie setzte die Tasse klirrend ab, als ihr Bruder mit einem »Entschuldigt, dass ihr warten musstet« den Raum betrat. Seine Stimme verriet den Hanseaten.

Professor Dr.Joachim Ballmer küsste seine Schwester auf die Wange, seinem Schwager gab er die Hand, zusätzlich klopfte er ihm mit der anderen Hand auf die Schulter.

»Was ist mit Pauline?« Carola versuchte, im Gesicht ihres Bruders zu lesen. Es war ein kantiges Gesicht mit einem eckigen Kinn und schmalen Lippen. Das Blond seines Haars war einen Tick dunkler als ihres und lichtete sich über der Stirn. Joachims Brille steckte in der oberen Tasche seines gestärkten weißen Kittels. Was sie in seinen hellblauen Augen sah, ließ sie schlucken.

Joachim Ballmer setzte sich Carola und Robert gegenüber. Er atmete tief aus, lehnte die Unterarme auf seine Schenkel und faltete seine Finger ineinander. »Es sind leider keine guten Nachrichten, die ich für euch habe… Carola, bitte bleib ruhig und hör mich an«, sagte er, als Carola ein Wimmern nicht unterdrücken konnte. »Pauline leidet an einer akuten myeloischen Leukämie. Die Knochenmarkpunktion, die ich bei ihr durchgeführt habe, hat meine Befürchtungen leider bestätigt.«

Carolas Aufschrei mischte sich mit dem »Mein Gott!« von Robert, dessen Hautfarbe milchig wurde.

»Das ist ein Schock, und ich kann ihn euch nicht abnehmen.« Joachim Ballmer sprach mit ruhiger Stimme, der aber die eigene Erschütterung anzumerken war. Er stand auf und setzte sich auf die Armlehne von Carolas Sessel. Er nahm ihre Hand in seine Hände und streichelte sie. »Aber ich verspreche euch, dass alles gut werden wird. Ihre Behandlung läuft bereits an. Wir schöpfen sämtliche uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aus. Ich habe mich bereits mit einem Kollegen in Köln abgestimmt, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Leukämiebehandlung bei Kindern und Jugendlichen.«

Joachims Worte flossen wie Stromschnellen an Carola vorbei. Klar, aber rasend, beißend, das Glück verschlingend. Ihr Magen verkrampfte sich. Mit vorgebeugtem Oberkörper presste sie die Arme auf den Unterleib. »Sie wird sterben, oder?« Sie sah ihren Bruder an und schrie. »Oh Gott, Achim, sag, dass sie nicht sterben wird!«

»Carola!« Joachim Ballmers Stimme blieb ruhig, aber er wurde eine Nuance lauter. »Sie wird nicht sterben! Ich verspreche es dir. Euch verspreche ich es«, fügte er mit Blick auf seinen erschütterten Schwager hinzu.

»Oh Gott, was sagen wir nur Pauline?«, flüsterte Carola unter Tränen. »Wir… wir sagen ihr noch nichts. Oder, Joachim?« Ein flehender Blick traf ihren Bruder. »Das… das würde sie nicht überstehen!«

»Ach, Carola, es war mir klar, dass du das sagen würdest.« Joachim schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Aber Pauline weiß es bereits. Und selbstverständlich werden wir nichts vor ihr verbergen. Ganz im Gegenteil. Ich habe sie genauestens aufgeklärt über das, was mit ihr geschieht. Sie ist die Betroffene. Es ist ihre Krankheit, und es ist ihre Gesundheit, um die wir gemeinsam kämpfen werden.«

Weinend sprang Carola auf. »Meine Kleine. Ich muss sofort zu ihr.«

Joachim stand auf und zog Carola zurück zum Sessel. »Pauline hat es mit bewundernswerter Ruhe aufgenommen, Carola. Natürlich hat sie geweint, aber sie hat eine so starke Natur und einen eisernen Willen… Setz dich noch einen Moment, bevor ihr zu ihr geht. Lasst mich die Situation genauer erklären. Bitte.« Er drückte Carola in den Sessel.

»Was… was passiert jetzt mit Line?« Robert von Ahren knetete seine Finger ineinander. »Leukämie… das kann man nicht operieren. Welche Behandlung schlägst du vor? Wir müssen sie in diese Klinik nach Köln bringen. Zu deinem Kollegen, der darauf spezialisiert ist. Du musst alles tun, Joachim, damit sie gesund wird! Egal, was es kostet. Wenn sie ins Ausland muss, dann veranlasse das! Ich könnte auch meine Kontakte spielen lassen, wenn du mir sagst, wo die Behandlung stattfinden soll.«

Carola griff nach der Hand ihres Mannes und nickte bei jedem seiner Worte. Jeden Cent würden sie hergeben, um Pauline zu retten.

»Ihr Lieben!« Joachim Ballmers Stimme klang ruhig und fest, als er sich wieder in seinen Sessel setzte. »Ich habe Pauline den Vorschlag unterbreitet, in die Kölner Klinik zu wechseln, aber das hat sie – wie erwartet– vehement abgelehnt. Sie will auf jeden Fall hier in Hamburg bleiben. Und ich kann das auch gutheißen. Letztendlich liegt die Entscheidung natürlich bei euch. Trefft sie in Ruhe, gemeinsam mit Pauline.«

Robert sah seinen Schwager an. »Wir werden das befolgen, wozu du uns rätst. Wenn nicht dir, wem sonst würden wir Paulines Leben anvertrauen. Wenn du sagst, dass hier alles für sie getan wird, dann…« Die Stimme brach ihm weg.

Joachim nickte zuversichtlich. »Pauline ist bei mir in den besten Händen. Sämtliche Behandlungsmethoden können wir hier in der Onkologie durchführen. In einer anderen Klinik würde nichts besser und nichts anders gemacht werden. Und hier in Hamburg hat sie euch und ihre Freunde. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt, der der Heilung dienen kann. Zeit dürfen wir allerdings keine verlieren. Sobald die behandlungsvorbereitenden Untersuchungen zur Gänze abgeschlossen sind, muss umgehend mit der Chemotherapie begonnen werden. Sie ist unsere zentrale Waffe gegen die bösartigen Zellen. Wir werden in verschiedenen Schritten vorgehen. Da bei Pauline die Zahl der Leukämiezellen im Blut sehr hoch ist, beginnen wir mit einer medikamentösen Vortherapie, um Komplikationen zu vermeiden, bevor wir mit der intensiven Chemotherapie beginnen.«

»Sehr hoch, sagst du? Sie hat mehr von diesen Leukämiezellen als andere?« Carola presste ihre Hände auf die Sessellehne, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen.

»Ja«, beantwortete ihr Bruder die Frage ehrlich. »Wenn wir es uns als Pyramide vorstellen, bildet Pauline nicht die Spitze, aber weit davon entfernt ist sie nicht. Aber das soll uns jetzt nicht mehr schrecken als nötig, denn es kommt nur darauf an, dass die Chemotherapie anschlägt. Und da stehen die Chancen gut. Laufende Blutuntersuchungen werden uns sehr schnell Aufschluss darüber geben, dass die bösartigen Zellen sich den Zytostatika ergeben.«

Carolas Stimme war dünn. »Und wenn nicht?«

»Sollte all das nicht anschlagen, wovon wir nicht ausgehen, gibt es die Möglichkeit der Stammzelltransplantation. Ein Spender muss in den meisten Verträglichkeitsmerkmalen des Gewebes mit dem Empfänger übereinstimmen. Zu einem großen Teil findet man Spender in der Familie. Aber es gibt auch eine weltweite Datenbank. Ihr habt bestimmt schon von der DKMS, der Deutschen Knochenmarkspenderdatei, gehört. Dort haben sich Millionen Menschen typisieren lassen. Das heißt, wir können sehen, ob irgendwo auf der Welt ein Mensch Paulines Gewebemerkmale hat und ihr somit Stammzellen zur Verfügung stellen kann.«

Robert sprang auf. »Transplantation? Ich lege mich sofort auf deinen Tisch. Nimm, was du für Pauline brauchst.«

In Carolas Kopf begann es zu sirren. In ihrem tiefsten Inneren begann sich etwas zu regen. Etwas Monströses, das in siebzehn langen Jahren zu einem Nichts geschrumpft war. In einem Teil ihrer Seele, in den sie gehofft hatte, niemals wieder blicken zu müssen.

 Sie presste die Handflächen an die Schläfen und stöhnte. Das Monster war vielleicht geschrumpft, aber es war da. Und jetzt und hier begann es, sich den Weg aus ihr herauszufressen.

»Wir müssen nicht in Panik verfallen, Robert.« Joachims Stimme klang beruhigend. »Wir schöpfen zuerst alle anderen Möglichkeiten aus. Aber euer Blut werden wir schon testen. Dann wissen wir, ob eure Gewebemerkmale mit Paulines übereinstimmen.«

»Unser Blut?« In Carolas Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Und… wenn die Merkmale übereinstimmen, was… was passiert dann?«

»Dann gibt man für einen Bestätigungstest noch einmal Blut ab, und es wird eine virologische Untersuchung vorgenommen, um alle Risikofaktoren für Empfänger und Spender auszuschließen. Bei einem positiven Befund kann dann die Transplantation der Stammzellen erfolgen.«

Joachim strich über die Hand seiner Schwester. »Aber die Einzelheiten dazu müssen euch jetzt nicht interessieren. Dazu wird es mit Sicherheit nicht kommen. Trotzdem können wir die Blutentnahme bei euch vorsorglich in den nächsten Tagen durchführen.… Geht jetzt erst einmal zu Pauline. Sprecht mit ihr, weint mit ihr, und dann tröstet sie und sprecht ihr Mut zu. Ich verspreche euch, dass alles gut wird.«

***

»Hallo? Captain Kirk an Enterprise, jemand da?« Hendrik wedelte mit seiner Hand vor Lyns Gesicht herum. »Du hörst mir gar nicht zu, oder? Und Appetit scheinst du auch nicht zu haben.« Er deutete auf ihren Teller. »Was ist denn los, Liebling?«

Sie saßen an einem Zweiertisch im Itzehoer Prinzeßhof-Restaurant, vor sich die bestellte Pizza. Hendrik hatte seine Calzone schon zur Hälfte aufgegessen, Lyns Funghi war fast unberührt.

»Bei Ihnen alles in Ordnung?«, fragte im selben Moment die Bedienung. Ihr Blick blieb ebenfalls an Lyns Pizza hängen.

Lyn setzte ein Lächeln auf. »Alles bestens, danke. Mein Appetit ist heute nur nicht der größte.« Sie schluckte. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Etwa: Nein, bei mir ist gar nichts in Ordnung! Mir bleibt das Essen im Hals stecken, weil ich gerade erfahren habe, dass ich ein Kind bekomme!

Als die Bedienung mit einem freundlichen Nicken ging, legte Lyn das Besteck zur Seite und sah Hendrik an. »Mir geht es nicht gut. Vielleicht brüte ich eine Grippe aus. Ich werde gleich nach Hause fahren.«

»Heute Morgen war doch noch alles in Ordnung.« Hendrik musterte ihr Gesicht.

»Du weißt doch: So etwas kommt angeflogen.« Lyn quälte sich. Sie hatte das Gefühl, aufspringen und hinausrennen zu müssen. Um vor ihren Gedanken zu fliehen. Vor Hendrik.

»Schade.« Enttäuscht sah er sie an. »Ich hatte mich so auf heute Abend gefreut.«

Dann strich er kopfschüttelnd über ihre Hand. »Ich bin ein grässlicher Egoist. Dir geht es schlecht, und ich bedaure mich. Entschuldige.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber nach einer Woche mit den Handballkumpels freut Mann sich auf das Weib zu Hause.« Seine Stimme wurde leiser. »Ich hab dich wahnsinnig vermisst, Lyn.«

In Lyns Kopf begann es zu dröhnen. »Lass uns bitte bezahlen, Hendrik. Ich muss hier raus.« Sie griff nach ihrer Tasche, sprang auf und stürmte die Treppe hinauf nach draußen. Tief atmend blieb sie auf dem sandigen Vorplatz zum Restaurant stehen.

Sie konnte es Hendrik einfach noch nicht sagen. Sie begriff es ja selbst noch nicht. Sie hätte nicht einmal sagen können, welchen Weg sie vom Polizeihochhaus bis hierher genommen hatten. Es war nur noch wattiger Nebel in Lyns Kopf. Sie wusste weder, wie sie von der Heiligenstedtener Arztpraxis in ihr Büro zurückgekommen war, noch hätte sie ein einziges Wort von dem wiedergeben können, was Hendrik auf dem Weg zum Restaurant gesagt hatte. Sie war nur dankbar gewesen, dass er ihr »Ich bin gesund« auf seine Frage, was die Ärztin gesagt habe, ohne ein weiteres Wort hingenommen hatte.

Als Hendrik kam, versuchte Lyn ein Lächeln. »Entschuldige, ich musste einfach raus.«

Er legte den Arm um ihre Schulter, als sie losgingen. Besorgt musterte er ihr blasses Gesicht. »So hab ich dich ja noch nie erlebt. Kannst du überhaupt fahren? Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Nein, es geht schon.«

»Ich komme heute Abend zu dir und verwöhne dich ein bisschen. Heiße Zitrone und ein warmes Bad wirken Wunder, sagt meine Oma immer.«

»Nein!« Lyn fühlte sich noch schlechter, als sie in Hendriks Augen blickte. Ihre laute Ablehnung hatte ihn verletzt. »Bitte nicht. Ich möchte einfach nur schlafen«, schob sie sanft hinterher. »Aber wenn es mir morgen noch nicht besser geht, musst du natürlich vorbeikommen.« Sie legte ihren Kopf für einen Moment an seine Schulter.

»Morgen Abend bin ich der Sitte zugeteilt«, sagte Hendrik. »Die brauchen Verstärkung. Muschi-Manni hat mächtig Stress mit den Bulgaren vom Kiez, weil er seine Nutten jetzt über die Rumänen bezieht. Letzte Nacht wurde versucht, seine Villa in Ecklak in Brand zu stecken. Die Abhöranlagen laufen heiß. Und dann scheint auch noch eine Mädchenlieferung aus Bulgarien bevorzustehen, aber die Bulgaren kommen nicht so richtig mit Auskünften rüber. Die Arschgeigen werden immer vorsichtiger am Telefon. Scheinen zu ahnen, dass sie abgehört werden.«

»Okay.« Es gab nichts, was Lyn im Moment weniger interessierte als die hausgemachten Probleme von Manfred Lebschies alias Muschi-Manni. Aber sie war nicht undankbar, dass sie Hendrik auch morgen nicht in die Augen sehen musste.

Auf der Heimfahrt nach Wewelsfleth hielt Lyn am Hotel Adler und kaufte in der Adler-Apotheke einen Schwangerschaftstest, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass außer ihr niemand im Laden war. Zu Hause nahm sie sich nicht die Zeit, die Jacke auszuziehen. Sie warf nur die Handtasche neben die Kommode im Flur und ging schnurstracks ins Bad. Mit zitternden Händen fingerte sie das Stäbchen aus der Hülle, zog Jeans und Slip herunter und urinierte auf das Stäbchen.

Mit zusammengepressten Augen blieb sie auf der Toilette sitzen, wartete die Minuten ab, bis der Test sein Ergebnis präsentierte. Sie hatte jeden Abend die Pille genommen. Es konnte einfach nicht sein, dass sie schwanger war. Die Schatten auf dem Ultraschallbild waren vielleicht gar kein Kind.

Zehn Minuten später lag sie auf ihrem Bett. Weinend, das Teststäbchen in der verkrampften Hand, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie durfte nicht schwanger sein! Sie hatte ihr Leben als alleinerziehende Mutter gerade erst in den Griff gekriegt. Hatte verdaut, dass Bernd Hollwinkel, mit dem sie geglaubt hatte, nach sechzehn Jahren immer noch eine glückliche Ehe zu führen, sie für eine andere Frau verlassen hatte, mit der er mittlerweile verheiratet war. Und sie war so froh, dass Hendrik und Sophie sich ein wenig nähergekommen waren.

Hendrik.

Lyn drehte sich auf den Rücken und strich mit ihrer Rechten über den flachen Bauch. Hier drin sollte sein Kind sein? Wieso hatte sie es nicht gespürt? Wieso war ihr nicht übel? Ihr war immer übel gewesen. Bei Charlotte und bei Sophie.

»Mama, du bist ja schon da.«

Lyn schrak hoch, als sie Charlottes Stimme im Hausflur hörte. Fußgetrappel auf der Treppe folgte. Hektisch strich Lyn über Augen und Wangen, um die Tränenspuren zu entfernen. Wieso war Charlotte schon zu Hause? Sie hatte doch nachmittags noch Unterricht!

Der Hauch eines Klopfens erklang gleichzeitig mit dem Aufstoßen der Schlafzimmertür. »Hi, Mama, was ist los? Bei mir ist Bio ausgefallen.«

Lyn schwang sich vom Bett hoch, ohne Charlotte anzusehen. »Sag mal, spinnst du?«, fauchte sie und drehte ihr den Rücken zu. »Kannst du nicht warten, bis ich Herein sage?« Sie begann in der Nachttischschublade nach einem Päckchen Papiertaschentücher zu wühlen.

»Na, das sagt ja die Richtige! Wer platzt denn gern in Zimmer, in denen die Tochter mit dem Freund rummacht? Mit dem Exfreund«, verbesserte sie sich sofort.

Unter anderen Umständen hätte Lyn jetzt laut gelacht. Die Szene mit Charlottes halb nacktem langmähnigen Exfreund Max stand deutlich vor ihren Augen. Aber ihr war nicht nach Lachen. Ganz im Gegenteil. Sie schluckte und versuchte, die Tränen, die sich ihren Weg wieder suchten, zurückzuhalten. »Ich bin krank«, murmelte sie nur.

»Sag mal, weinst du?« Charlotte trat ans Bett und zog Lyn an der Schulter herum. Sie erschrak. »Mama, was ist denn? Ist was passiert? Mit Krümel? Oder Papa?«

Lyn schüttelte nur den Kopf. Die Tränen flossen wieder. »Alles gut, Lotte. Ich hab nur–« Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Charlotte griff mit einem Aufschrei nach etwas auf Lyns Bett.

»Mama!« Sie starrte auf das Schwangerschaftsteststäbchen, das Lyn in der Hektik auf die Bettdecke gelegt hatte, dann sah sie Lyn ungläubig an. »Ist das das, wofür ich es halte?«

»Gib das her!«, schrie Lyn auf, riss Charlotte das Stäbchen aus der Hand, warf es in die offene Nachttischschublade und schob sie lautstark zu.

»Ich dreh durch! Du kriegst ein Kind?« Auf Charlottes Gesicht dehnte sich ein breites Grinsen aus. »Das ist ja… das ist ja…«

»Der Horror«, beendete Lyn den angefangenen Satz ihrer Tochter, presste ihr Kopfkissen vor das Gesicht und weinte hemmungslos. Sekundenlang hörte Lyn nur ihr eigenes Weinen, dann spürte sie Charlottes Hand auf ihrem Rücken, ihrem Arm.

»Mama! Das… das ist doch nicht so schlimm. Das… das… Was sagt denn Hendrik?«

»Der weiß es noch nicht«, schluchzte Lyn in das Kissen. »Ich weiß es doch selbst erst seit heute Morgen. Durch Zufall bei der Krebsvorsorge. Es ist noch ganz am Anfang.«

»Mama, hör auf zu weinen, bitte! Du musst keine Angst vor Hendrik haben. Glaub mir. Der wird vor Freude ausflippen! Ich sag dir, der dreht durch.«

Lyn riss sich das Kissen vom Gesicht. »Das ist es ja, Lotte. Ich… wir… wir wohnen noch nicht einmal zusammen. Und ich muss arbeiten. Ich bin alleinerziehend. Ich kann kein Kind kriegen.« Sie brach verzweifelt ab.

»Oh.« Charlotte starrte ihre Mutter an. »Aber, wie konnte das denn passieren? Hast du die Pille vergessen?«

»Nein, das ist es ja! Ich habe sie nicht vergessen.« Lyn war sich sicher. »Und ich hatte auch keine Magen-Darm-Grippe. Dann hätte ich schon andere Vorsichtsmaßnahmen getroffen.« Sie schniefte. »Das kannst du mir glauben.«

»Magen-Darm nicht«, sagte Charlotte nach einem Moment des Überlegens, »aber gekotzt hast du trotzdem. Ich weiß ja nicht, ob das zeitlich passt, aber als du vor ein paar Wochen zu dieser Leiche von der Oma in Hohenlockstedt gerufen wurdest, hast du doch dein Abendbrot wieder ausgekotzt.«

Lyn nickte. Während einer Bereitschaft hatte sie die Wohnung einer alleinstehenden Frau durch einen Schlüsseldienst öffnen lassen, weil der aus dem Urlaub zurückkehrende Untermieter einen unerträglichen Geruch im Haus bemerkt hatte. Zwei Wochen lang hatte die Leiche der Vierundachtzigjährigen im Bad gelegen. Niemand hatte die alte Dame vermisst. Lyn hatte es nicht einmal mehr nach draußen geschafft. Noch im Hausflur hatte sie sich übergeben.

»Das muss ungefähr fünf Wochen her sein«, murmelte sie und zählte an den Fingern die Wochen zurück. »Und es war zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr, als wir dort eintrafen.« Sie sah Charlotte mit weit aufgerissenen Augen an. »Und ich nehme die Pille immer gegen zwanzig Uhr. Oh Gott! Ich hab sie wieder ausgekotzt!«

Charlotte nickte vorsichtig. »Und nun? Ich meine, was… was nun, Mama?«

Lyn presste die Handflächen gegen die Schläfen. »Ich kann nicht klar denken, Lotte. Ich bin wie betäubt.« Sie nahm die Hände runter und sah Charlotte an. »Ich weiß nur eins: noch kein Wort davon zu irgendjemandem! Das musst du mir versprechen, Lotte. Nicht zu Krümel, nicht zu Papa oder Opa. Und auf keinen Fall zu Hendrik. Ich muss das erst verdauen. Ich brauche ein, zwei Tage, um es… um es zu realisieren. Versprich es mir, Lotte!«

Charlotte nickte zögerlich. Sie deutete auf Lyns Bauch. »Du… du würdest es doch nicht… ich meine, du wirst es doch nicht…« Sie brach ab.

Lyn ließ ihren Oberkörper auf das Bett zurückfallen und starrte an die Decke. »Ich war noch in meiner Ausbildung zur Kommissarin, Lotte, als ich mit dir schwanger wurde. Dein Vater und ich waren, nett formuliert, wenig begeistert, aber nicht einen Moment ist mir der Gedanke gekommen, das Kind in mir, dich, abzutreiben.«

Sie schloss die Augen und legte beide Hände auf ihren Unterleib. »Mach dir keine Sorgen, Lotte. Es wird schon alles gut. Ich habe keine Ahnung, wie, aber es wird schon werden.« Sie zog die Bettdecke über sich. »Und jetzt möchte ich einfach nur eine Weile hier liegen. Allein.«

ZWEI

Carola von Ahrens Kopf ruhte an der Schulter ihres Mannes. Sie saßen auf der karamellfarbenen ledernen Wohnlandschaft und starrten auf den Fernseher, der an der gegenüberliegenden Wand angebracht war. Judith Rakers moderierte die Tagesschau, aber Carola hätte nicht sagen können, welche Themen sie bisher angesprochen hatte. Dass auch Robert mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war, obwohl er auf den Bildschirm sah, bewiesen seine Worte.

»Du hast noch kein Blut abgegeben, Carola. Mach es bitte. Es würde mich beruhigen, wenn wir die Ergebnisse zeitnah haben. Ich muss wissen, ob wir als Spender für Pauline in Frage kommen. Wenn nicht, muss Joachim umgehend mit der Suche nach einem passenden Spender beginnen. Sollte Pauline die Stammzellen nicht benötigen, weil die Therapie anschlägt, umso besser, aber ich möchte einfach keinerlei Verzögerungen.«

Carolas Herz begann zu rasen. Abrupt löste sie sich von ihrem Mann und sah ihn an. »Du hast bereits dein Blut abgegeben? Wann?« Sie versuchte, die Panik aus ihrer Stimme zu bannen.

»Als du heute Nachmittag mit Line Karten gespielt hast und ich mit Joachim gesprochen habe.« Er schaltete den Fernseher aus und sah seine Frau mit einem Stirnrunzeln an. »Ist eine Blutentnahme so ein Drama für dich? Du bist doch sonst nicht so empfindlich.«

»Natürlich ist es kein Drama.« Carolas Stimme klang hölzern. »Ich mag es einfach nur nicht, wenn wir… Dinge… nicht besprechen, die Pauline betreffen. Du hättest es mir gleich sagen können, dass du Blut abgegeben hast.«

»Herrje, ich wollte nicht davon sprechen, als ich in Paulines Zimmer zurückkam. Ihr wart gerade so vergnügt. Ich habe es dir jetzt gesagt, drei Stunden später. Ich weiß also nicht, warum du so gereizt reagierst, Carola.« Er schwang sich aus der Sitzlandschaft hoch. Seine Stimme hatte einen schärferen Ton angenommen. »Nicht nur du bist in Sorge um unser Kind, Carola. Auch ich leide. Aber ich versuche, es mir nicht zu sehr anmerken zu lassen.«

Er atmete tief durch und setzte sich wieder. Er griff nach Carolas Hand und presste seine Lippen darauf. Als er seinen Mund löste, sagte er: »Entschuldige. Wir sollten uns versprechen, es uns nicht übel zu nehmen, wenn wir in der kommenden Zeit das eine oder andere Mal gereizt miteinander umgehen. Wir sind keine Übermenschen.«

Carola nickte, während ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie presste ihren Kopf an die Brust ihres Mannes. »Ich habe Angst, Robert.«

»Ja, Liebes, ich auch.«

Carola lauschte seinem Herzschlag, der in seiner Regelmäßigkeit Geborgenheit versprach. Sie presste die Augen zusammen. Deine Angst ist nichts gegen meine.

»Ich werde meine Reise nach Gabun absagen«, murmelte Robert in Carolas Haar. »Die Delegation muss nächste Woche ohne mich fahren. Das ist zwar denkbar ungünstig, aber der Außenminister muss Verständnis für unsere Situation aufbringen.«

Carolas Gedanken überschlugen sich. Nach einem weiteren Moment des Überlegens sagte sie, weiterhin an seine Brust gelehnt: »Weißt du, Robert, ich denke, du solltest fahren. Es sind nur zehn Tage. Und in dieser Zeit wird Pauline weiterhin bei Joachim im Krankenhaus therapiert. Du kannst im Grunde nichts tun… Außer natürlich, da zu sein«, fügte sie schnell hinzu, als er aufbegehren wollte.

Sie setzte sich auf und nahm seine Hand in ihre. »Aber vielleicht brauchen Line und ich dich zu einem späteren Zeitpunkt mehr als jetzt. Und darum wäre es besser, wenn du nach Gabun fährst und danach bei uns sein kannst.« Sie strich über seinen Arm. »Wir können jeden Tag telefonieren. Und wenn etwas Unvorhergesehenes – wovon wir wirklich nicht auszugehen brauchen– eintritt, kannst du innerhalb weniger Stunden zurück sein.«

»Hmm.« Robert musterte seine Frau. »Ich hatte den gleichen Gedanken, aber ich habe nicht erwartet, dass du es befürwortest. Andererseits möchte ich jetzt bei Pauline und dir sein.«

»Ich weiß.« Carola strich zart über seine Wange, auf der die Bartstoppeln leicht zu spüren waren. »Ich werde dich auch unendlich vermissen, aber wir sollten bei aller Angst doch die Vernunft walten lassen. Und Pauline würde es vielleicht erschrecken, wenn du nicht fährst. Es würde ihrer Krankheit ein Gewicht verleihen, das sie nicht spüren sollte. Was meinst du?« Carola lächelte zuversichtlich, während sie angespannt auf seine Antwort wartete. Fahr! Bitte fahr!

Robert von Ahren griff nach der Teetasse auf dem Tisch und trank den kalt gewordenen Tee in einem Schluck aus. Als er die Tasse absetzte, seufzte er. »Also gut, wenn du dir zutraust, die Tage so durchzustehen, werde ich fahren.« Er legte seine Hand auf Carolas Bein. »Bist du denn wirklich sicher, Liebes, dass du allein mit der Situation fertigwirst?«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Wie sagst du doch immer? Aus jeder Prüfung kommt man stärker heraus, als man hineingegangen ist.«

Als er traurig lächelte, wandte Carola den Kopf ab und schenkte Tee nach. So beiläufig wie möglich stellte sie die Frage, die in ihr bohrte. »Hat Joachim dir gesagt, wie lange es dauert, bis dein Blutergebnis vorliegt?«

»Frühestens Anfang bis Mitte nächster Woche. Er musste es ja nicht – wie bei Pauline– dringlich machen.« Robert stand auf. »Ich geh ins Bad. Kommst du auch gleich ins Bett?«

Carola nickte stumm.

Hand in Hand lagen sie nach einem zärtlichen Gute-Nacht-Kuss eine halbe Stunde später stumm nebeneinander im Ehebett. Carola war dankbar, dass Robert kein Gespräch mehr zu führen versuchte. Er hoffte wahrscheinlich, dass sie schnell einschlafen würde. Sie versuchte, ruhig zu atmen. An seinen Atemzügen merkte Carola, dass er selbst auch noch nicht schlief.

Sie starrte an die dunkle Decke, während sie sich mühte, den Hauch einer Ordnung in ihre wirre Gedankenwelt zu bekommen. Hier und jetzt, in der Dunkelheit des Schlafzimmers, erschreckte der Gedanke sie, der seit Tagen ihr Denken bestimmte. Der jetzt, wo sie wusste, dass Roberts Blutergebnis in Kürze vorliegen würde, so präsent war wie nie.

Sie schloss die Augen. Vielleicht würde alles gut werden. Bestimmt sogar. Bestimmt würde die Therapie bei Pauline anschlagen. Ihre Augen öffneten sich wieder.

Und dennoch: Es war besser, vorbereitet zu sein. Sie musste einen Plan entwickeln für den Fall der Fälle. Und es musste ein perfekter Plan sein. Es ging um… alles.

Fidus sprang vom Rücksitz, nachdem Carola den Audi in der Garage geparkt und die hintere Wagentür geöffnet hatte. Sie hatte den Hund mitgenommen, als sie heute Morgen zum ehemaligen Klinikgelände ihres Bruders in Wedel gefahren war. In dem leer stehenden Gebäude waren mehrere Räume mit ausgedienten Krankenhausbetten, Nachttischen und diversen anderen Utensilien und Kleinmaterial vollgestellt. Joachim hatte Carolas Wunsch, das Mobiliar einem Krankenhaus in Afrika zu schenken, gern zugestimmt. Sie kümmerte sich um die Abwicklung. Die Sachen würden in Containern verschifft werden.

Der Termin mit der Firma, die die Verschiffung übernehmen würde, hatte nicht lange gedauert. Sie hatte ihn nicht absagen wollen, obwohl ihre Gedanken ständig um Pauline kreisten.

Ihr Blick fiel auf Roberts Wagen, den er bereits aus der Garage gefahren und auf der breiten Auffahrt geparkt hatte. Er würde gleich zu Pauline fahren. In diesem Moment öffnete sich auch schon die Eingangstür. Robert winkte, als er sie mit dem Hund näher kommen sah.

»Wie lief die Krankenhausaktion?«, fragte er und trat zur Seite, um sie hereinzulassen.

Carola legte ihren Schlüsselbund auf das Sideboard im Flur, den Krankenhausschlüssel in die Schublade. »Alles läuft perfekt. Zwei Container werden ausreichen, um die Sachen nach Togo zu bringen. Allerdings wird die Verschiffung erst im Spätsommer oder Herbst stattfinden.«

»Das spielt doch keine Rolle«, sagte Robert und tätschelte Fidus. »Der Abriss des Gebäudes ist sowieso verschoben. Da kann das Zeug ruhig noch eine Weile im Keller rumstehen.«

Carola nickte. Die ehemalige Klinik lag in Wedel an einem brachliegenden Grundstück an der Grenze zu Hamburg. Der Businesspark Elbufer würde dort in Kürze entstehen. Für Joachim, der schon seit mehreren Jahren mit dem Gedanken gespielt hatte, die Klinik zu verlegen, war das Angebot der Investoren des Businessparks wie gerufen gekommen. In einem halben Jahr würden Gebäude und Grundstück an die zukünftigen Eigentümer übergehen.

»Ich fahre dann mal.« Robert schlang die Arme um seine Frau und küsste sie zärtlich.

»Bis später, Liebling.« Mit einem weiteren Kuss verabschiedete Carola ihren Mann an der Haustür. »Sag Line, dass ich ihr Milchreis koche.«

»Da wird sie sich freuen. Ihr Appetit scheint ein wenig mehr zu werden. Das ist ein gutes Zeichen.«

Genauso wie sie Robert mit positiven Äußerungen aufzumuntern versuchte, handhabte er es. Carola sah ihm nach, als er zu seinem silberfarbenen BMW7er ging.

 Ob ihre Aufmunterungsversuche ihn genauso wenig überzeugten wie die seinen sie? Seufzend schloss sie die Tür. In den vergangenen Tagen hatten sie ihre Besuche bei Pauline aufgeteilt. Robert fuhr morgens, sie nachmittags. So war ihre Tochter selten allein und verfiel nicht in Grübeleien.

Im Flur fiel Carolas Blick auf die Anrichte. Ein in Glanzpapier gewickeltes Päckchen lag dort. Sie griff danach und riss die Haustür wieder auf. »Robert! Du hast Lines Geschenk vergessen.« Sie lief ihm hinterher und gab ihm das Päckchen. »Es ist der sechste Teil von Harry Potter. Die ersten vier hat sie verschlungen, den fünften liest sie gerade.«

»Du hättest es ihr doch heute Nachmittag mitnehmen können.«

»Hätte ich«, lächelte Carola. »Aber ich weiß, wie du dich freust, wenn sie sich freut.«

Robert sah Carola an, während er nach dem Buch griff. Er schluckte. »Ich habe in meinem Leben nichts weniger bereut, als dir mit einem Krabbencocktail ein Kleid versaut zu haben.« Ohne ein weiteres Wort stieg er ein und fuhr los.

»Oh Liebling…«, kam es gequält über Carolas Lippen, während sie dem Wagen hinterhersah, bis er auf die Straße abbog. Die weißen Kiesel knirschten unter ihren Schuhen, als sie langsam zum Haus zurückging. Ihre Brust war ein einziger Schmerz, und als sie im Haus war, ging sie an der geschlossenen Haustür in die Knie und ließ den Tränen ihren Lauf. Sie weinte laut, fast schreiend. Was hatte sie verbrochen? Was gestattete dem Schicksal immer wieder, diese filigrane gläserne Blüte, die Glück hieß, mit einer Keule zu zerschmettern?

Sie rappelte sich hoch, als im hinteren Teil des Hauses Geräusche zu hören waren. Frau Klottmann war durch die seitliche Tür hereingekommen und pfiff im Hauswirtschaftsraum ein Lied. Carola flüchtete die Treppe hinauf ins Bad. Sie musste sich erst beruhigen, bevor sie ihrer Haushälterin unter die Augen trat.

Sie kühlte ihr Gesicht mit einem feuchten Waschlappen und starrte sich im Spiegel an. Der am Morgen aufgetragene Mascara und der Lidschatten waren unter den Augen zu einer grauen Masse verlaufen. Sie strich über ihre geschwollenen, geröteten Lider, dann über die blassen Wangen hinunter zu den perfekt geschwungenen Lippen, die Robert so gern küsste.

Carola wusste um ihre Wirkung. Sie war mit ihren vierundfünfzig Jahren immer noch eine schöne Frau. Das verdankte sie zu achtzig Prozent ihren Genen. Die restlichen zwanzig teilten sich die Kosmetikerin, das Fitnessstudio und ihre Disziplin. Sie ernährte sich gesund, trank kaum Alkohol, rauchte nicht und joggte jeden Tag vor dem Abendessen an der Elbe.

Seufzend griff sie in den Behälter mit den Wattepads und nahm ihre Reinigungslotion zur Hand. Nachdem sie sich komplett neu geschminkt und das halblange blonde Haar gebürstet hatte, ging sie hinunter, um Frau Klottmann zu begrüßen. Anweisungen für die Hausarbeit musste sie der Angestellten nicht erteilen. Frau Klottmann war seit fünfzehn Jahren bei ihnen und wusste, wann was zu erledigen war.

Die Haushälterin war dabei, die Fenster im Wohnzimmer von innen zu putzen, als Carola hinunterging und ihr einen guten Morgen wünschte.

Frau Klottmann ließ die Hand mit dem Putztuch sinken. »Guten Morgen, Frau von Ahren. Nun sagen Sie mir bloß: Wie geht es dem Mädel? Hat das Paulinchen meinen Apfelkuchen gemocht?«

»Sie hat sogar ein zweites Stück genommen, Frau Klottmann«, sagte Carola und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Und ich soll Ihnen einen herzlichen Gruß ausrichten.«

Frau Klottmann nickte und ließ das Putztuch in den Wassereimer fallen. »Das arme Mädel. So jung und dann diese schreckliche Krankheit. Aber der Herr Professor wird sie uns schon quietschfidel zurückbringen.« Sie sah Carola mit einem aufmunternden Lächeln an.

Carolas Miene versteinerte sich. Sie hatte heute nicht die Kraft, mit ihrer Perle über Pauline zu sprechen. Und Frau Klottmann schien es zu registrieren, denn ihr Lächeln verschwand. Leider machte sie sich nicht wieder an die Arbeit, sondern kam näher. Sie legte ihre Hand auf Carolas Arm.

»Nun malen Sie sich mal nicht immer aus, was Schlimmes passieren kann, Frau von Ahren. Haben Sie ein bisschen Vertrauen. Der liebe Gott sorgt schon dafür, dass unser Paulinchen gesund wird.«

Carolas Hand glitt über die Hand der Haushälterin. »Natürlich, Frau Klottmann. Und jetzt werde ich in mein Arbeitszimmer gehen. Kochen Sie sich später nur Ihren Kaffee. Ich werde heute nicht zum Plaudern dazukommen.«

Ihre Mundwinkel rutschten nach unten, während sie die Treppe hinauf Richtung Arbeitszimmer ging. Gott? Der hatte seine Chance gehabt und auf ganzer Linie versagt. Sie würde sich nicht auf Gott verlassen, sondern nur auf sich selbst. Mit aufrechtem Rücken setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Laptop an.

»To-do-Liste«, tippte sie in das Worddokument. Ihre Finger glitten wie von selbst über die Tasten und ließen die nächtlichen Gedanken in Form von Buchstaben Gestalt annehmen. Als sie fertig war, lehnte sie sich im Bürostuhl zurück und las, was sie geschrieben hatte. Eine Gänsehaut jagte von ihrem Nacken bis in die Arme. Schwarz auf weiß das geschrieben zu sehen, was sie vorhatte zu tun, falls…

»Falls! Es ist nur, falls, Carola. Du wirst es nicht tun müssen. Ganz bestimmt nicht«, murmelte sie, speicherte das Dokument ab und drückte den Deckel des Laptops hastig hinunter. Sie stand auf und legte eineCD in den Player auf dem Sideboard ein. Als Puccinis »La Bohème« erklang, öffnete sie die Balkontür, die zum seitlichen Garten lag. Ihr Blick wanderte über die bunte Blumenpracht und blieb an dem Rosenbusch hängen, dessen dunkle Blüten sich bald öffnen würden. Abrupt wandte sie sich ab.

Mit wenigen Schritten war sie am Schreibtisch und klappte den Deckel des Laptops wieder auf. Jetzt und sofort würde sie Punkt eins der Liste abarbeiten. »Perücken«, gab sie in die Suchmaschine ein und wartete auf die Ergebnisse. Es musste Echthaar sein. Keine dieser künstlichen Dinger, denen man sofort ansah, dass es eine Perücke war. Sie scrollte sich durch verschiedene Anbieter und blieb schließlich an einer dunkelbraunen Perücke hängen– ein kinnlanger Bob mit langem, leicht gefranstem Pony.

»Frau von Ahren, wegen diesem Afrikaner, der da mit seiner Frau zum Essen kommen soll… Findet das denn jetzt statt?«

Carola schrak so heftig zusammen, als die Stimme der Haushälterin neben ihr erklang, dass ihr Herz einen Takt aussetzte. Sie fuhr herum. »Frau Klottmann! Sie haben mich erschreckt.«