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Am Portal der Flensburger Nikolaikirche wird der Kopf eines Mannes gefunden, eingewickelt in ein Tuch, das sich als eine Fahne des IS herausstellt. Kommissar Feddersen kann den Toten als einen Lehrer eines Flensburger Gymnasiums identifizieren. Schnell fällt der Verdacht auf einen Schüler, einen muslimischen Zehntklässler, der sich im Internet radikalisiert und dem Studienrat gedroht hat. Als der Jugendliche nach einer Vernehmung verschwindet, scheint sich der Verdacht zu erhärten und der Fall vor der Aufklärung zu stehen. Feddersen ahnt nicht, welche verheerenden Ereignisse Flensburg bevorstehen und die Stadt und Region erschüttern werden.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Schwarze Fahne
Gottes Sünden – Satans Gaben
Texte: © Copyright by Peter Graf
Umschlaggestaltung: © Copyright by Peter Graf
Verlag:
Peter Graf
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
1
Über dem Südermarkt lag die Ruhe eines frühen Sonntagmorgens. Die prachtvollen Fassaden alter Handelskontore, die den Marktplatz umrahmten und Zeugnisse des einstigen Reichtums der Hafenstadt Flensburg waren, nahmen die Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf und tauchten die Silhouette in sanfte Pastellfarben. Das morgendliche Gezwitscher der Vögel auf den Bäumen und dem Giebel der Nikolaikirche trug zu der entspannten Atmosphäre bei. Zu dieser Uhrzeit, es war noch nicht mal sechs Uhr, war hier noch nichts los. Einige Stunden später würde der beliebte Platz von zahlreichen Touristen, überwiegend aus dem benachbarten Dänemark, und vielen Einheimischen bevölkert sein, die auf den Außenplätzen des Café K bei dem herrlichen Frühsommerwetter ihr Frühstück zu sich nehmen würden.
Um diese Stunde befanden sich nur wenige Menschen, jugendliche Partygänger, auf dem mit Kopfsteinpflaster bedeckten Bereich vorm Grogkeller. Der Grogkeller, in einem mittelalterlichen Gewölbe untergebracht, war eine Institution in Flensburg, in der schon Generationen von Flensburgern die Nächte durchgefeiert hatten und deren Markenzeichen die ungewöhnlichen Öffnungszeiten war. Um Mitternacht ging es am Wochenende los; die letzten Gäste verließen erst dann den Club, wenn gegen neun Uhr die Gottesdienstbesucher zur Nikolaikirche spazierten und dabei den betrunkenen oder bekifften Jugendlichen begegneten, was nicht selten zu Konflikten führte. Aber noch war es zu früh, als dass sich Clubbesucher und Gläubige begegnen konnten.
Wie aus dem Nichts zerriss ein Schrei die Stille des Frühsommermorgens. Ein Schrei, der kein Ende zu nehmen schien, sondern sich eher noch steigerte, bis er in ein fast unmenschliches Keuchen überging. Das war kein Schrei aus unbändiger Wut oder Verzweiflung. Blankes Entsetzen zerfetzte die friedvolle Stimmung am Südermarkt.
Selbst die sonst so coolen Jugendlichen, die in Sichtweite der Kirche vor der Disco standen und eine Zigarette rauchten oder sich für einige Minuten von den wummernden Bässen in der Diskothek erholten, zuckten zusammen. Durch einen weiteren verzweifelten Hilferuf wurden die Jugendlichen aus ihrer Schreckstarre gerissen, und wie auf Kommando rannten sie los, in die Richtung, woher der Schrei kam. Die einen hatten ihr Smartphone gewohnheitsmäßig schon in der Hand, die anderen zerrten es beim Laufen aus ihren Taschen. Alle spürten instinktiv, dass es jetzt endlich mal etwas zu sehen gab, was sich aufzunehmen lohnte, um es dann ins Netz zu stellen.
Elli war wie immer früh aufgestanden. Ihr fiel es auch jetzt noch, wo sie bald 73 Jahre alt wurde, nicht schwer, noch bei Dunkelheit mitten in der Nacht aufzustehen, um ihrem Job nachzugehen. Immer schon hatte sie, lange bevor andere erst aufgestanden waren, um später ins Büro zu gehen, deren Räume geputzt und Fußböden gewischt. Sie mochte es, allein und in Ruhe zu arbeiten und von niemandem angetrieben oder durch albernes Getratsche gestört zu werden. Sie machte sich ihr kleines Radio an, hörte die Morgensendungen des NDR und war mit sich und dem Moderator allein. Sie genoss das Gefühl, den Moderator für sich allein zu haben. Ihre Arbeit als Putzfrau, die offizielle Berufsbezeichnung lehnte sie ab, hatte bei ihr immer Befriedigung erzeugt, die anstehende Rente dagegen, die ihrer Lebensleistung nicht annähernd gerecht wurde und selbst bei großer Sparsamkeit nicht zum Leben ausreichte, hatte ihr erhebliche Sorgen bereitet. So hatte sie auch noch nach dem Renteneintritt mit Freude das Angebot des Pastors angenommen, am Wochenende die Kirche zu putzen. Sie konnte dadurch ihre schmale Rente aufbessern, konnte sich den Tierarzt für ihren achtjährigen Mops Frieda leisten, und zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam sie vom Pastor Blumen und einen Präsentkorb mit ihrem Lieblingslikör überreicht- Zuwendungen, die sie von ihrem verstorbenen Mann Walter nicht kannte. Ja, sie war zufrieden mit ihrer Arbeit, und ein Dienst an der Kirche konnte auch nicht von Schaden sein, wenn sie mal vor ihren Herrgott treten sollte.
Als sie sich um fünf Uhr morgens auf den Weg zur Arbeit machte, wurde es schon hell. Frieda hatte kurz aus dem Körbchen im Flur aufgeschaut, als wollte sie sich verabschieden, aber selbst ihrem kleinen Liebling war es wohl noch zu früh, sie zu begleiten. Ihre Tochter hatte sie immer wieder gefragt, was das denn solle, mitten in der Nacht vor die Tür zu gehen; das sei doch zu gefährlich: eine alte Frau, allein, mitten in der Nacht. Elli war nicht naiv oder blauäugig. Aber sie sah wahrlich keinen Anlass, sich bei ihrem Alter vor einer Vergewaltigung zu fürchten. Und in ihrer Handtasche befanden sich nie mehr als zwanzig Euro. Selbst die Obdachlosen und Alkoholiker, die sich im Sommer schon frühmorgens an der Treppe beim Kirchenvorplatz trafen, machten ihr keine Angst. Wer beachtete schon eine über Siebzigjährige?
Sie hatte es nicht weit zur Arbeit und genoss auf dem Weg den frühmorgendlichen Gesang der Vögel. Vom Hafermarkt, wo sie seit gut dreißig Jahren wohnte, bis zur Nikolaikirche waren es selbst für sie mit ihren schweren Beinen und geschwollenen Waden nur zehn Minuten zu Fuß. Sie würde heute nicht lange brauchen, um in der Kirche zu saugen und zu wischen. Am Abend zuvor hatte zwar ein Orgelkonzert mit vermutlich vielen Besuchern stattgefunden, aber es hatte abends nicht geregnet, so dass wahrscheinlich wenig Dreck in die Gänge getragen worden war und sie die Arbeit lange vorm Gottesdienst beendet haben würde. Nach getaner Arbeit würde sie sich wie gewohnt auf dem Marktplatz im Café K einen Milchkaffee gönnen, als Belohnung für ihr frühes Aufstehen. Der kostete zwar fast so viel, wie eine halbe Stunde Arbeit einbrachte, aber das gönnte sie sich. Unter den jungen Leuten zu sitzen und einen Milchkaffee zu trinken, gab ihr das Gefühl dazuzugehören und Teil dieser gut versorgten Gesellschaft zu sein. Sie überquerte den Südermarkt und nahm aus dem Augenwinkel die jungen Leute wahr, die vor der Diskothek standen. Selbst bei geschlossener Tür konnte sie das Gedröhne aus dem Keller hören, was wohl Musik sein sollte. Abartig! Sie konnte den Pastor nicht verstehen, dass er nicht dagegen vorging, dass in unmittelbarer Nähe zu seiner Kirche die Jugendlichen ihre Orgien bis in den Morgen hinein abhielten und dabei den heiligen Ort der Kirche entwürdigten.
Als sie vom Südermarkt in die Nikolaistraße abbog, sah sie sofort den Beutel an dem Knauf der gewaltigen Tür des Haupteinganges der Kirche hängen. Als vor einigen Jahren so viele Flüchtlinge nach Flensburg gekommen waren und eine Welle von Hilfsbereitschaft die ganze Stadt erfasst hatte, waren fast jeden Tag Spenden am Haupteingang der Kirche vorzufinden gewesen: Säcke mit alter Kleidung, manchmal Möbelstücke, die eher auf den Sperrmüll gehörten, ja sogar Tüten mit ungenießbaren Lebensmitteln. Der Pastor hatte wohl zu Recht vermutet, dass manch Gemeindemitglied die Gelegenheit genutzt hatte, um unbrauchbare Sachen bequem loszuwerden- und das unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. In seinen Predigten und mit einem Anschlag an dem Tor hatte er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass solche Spenden unerwünscht seien. Seitdem waren nur noch selten solche unwillkommenen Gaben angekommen. Vermutlich hatte ein Konzertbesucher des gestrigen Abends seinen unerbetenen Dank in einer Spende zeigen wollen.
Der Beutel bestand aus schwarzem Tuch mit irgendwelchen weißen Buchstaben oder Zeichen, war prall gefüllt und ein ekelhafter Gestank kam aus dem Inneren. Angewidert hob Elli die Schlaufen vom Griff, um ans Türschloss zu kommen. Dabei löste sich der Sack und irgendetwas fiel dumpf vor die Füße der alten Frau. Zuerst wollten ihre Augen nicht wahrhaben, was da vor ihren Füßen lag. Für einen winzigen Moment setzte ihr Verstand aus. Dann ließ der grauenhafte Anblick keinen Zweifel zu.
Elli schrie und schrie und schrie.
Die jungen Leute benötigten nur wenige Sekunden, um dahin zu gelangen, woher der Schrei kam. Das, was sie da sahen, hatten wohl alle schon einmal gesehen: bei YouTube oder auf anderen Kanälen, die umso öfter angeklickt wurden, desto grausamer oder brutaler ihre Inhalte waren. Aber das hier war echt, live. Keine Filmchen aus irgendeiner unbekannten Region. Kein Fake. Die jungen Leute waren erstarrt, erschüttert. Abscheu und Entsetzen zeichneten ihre totenbleichen Gesichter. Nach einem Moment der Schockstarre zückte der erste sein Smartphone. Das war die Gelegenheit, selbst einmal mit Aufnahmen im Netz Aufmerksamkeit zu erregen, vielleicht sogar Geld zu verdienen. Dies war das Signal für alle anderen. Es gab bald kein Smartphone mehr, mit dem kein Foto oder Video gemacht wurde. Und es dauerte keine fünf Minuten, bis jeder Gast aus dem Club herausgerannt kam, um bloß dieses Ereignis nicht zu verpassen und um sagen zu können, dass man dabei gewesen war. Tatsächlich gab es aber auch junge Leute unter den sensationswütigen Gaffern, die daran gedacht hatten, den Notruf der Polizei zu wählen.
Elli, die sich zitternd und schluchzend an die Kirchenwand gedrückt hatte, als wolle sie dort mit dem Gestein verschmelzen, wurde keines Blickes gewürdigt.
2
Jan schrak aus dem Bett hoch, als er sein Handy läuten hörte. Für einen Moment verwirrt, schaute er sich im Zimmer um. Nichts in dem Raum war ihm vertraut und dennoch fühlte er sich wohl. So gut, wie er sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Neben ihm lag die Frau, die er gestern beim Bowling kennengelernt hatte. Anna! Und ausgerechnet an diesem Morgen musste sich sein Handy melden.
Er hatte überhaupt keine Lust gehabt, den Abend mit seinen Kollegen zu verbringen, mit denen er- wie er fand- genug Zeit verbrachte. Aber als ihr Dienstvorgesetzter wollte er ihre Anfrage diesmal nicht, wie so oft vorher, zurückweisen. Schließlich war ihm bewusst, dass zu einem angenehmen Arbeitsklima gelegentliche Treffen außerhalb der Dienstzeit nötig waren. Deswegen hatte er zugesagt, mit ihnen ins Bowling-Center zu gehen. Der Abend entwickelte sich unerwartet gut. Zwar hatte er zu Beginn des Abends den Kollegen gute Laune und Begeisterung für Bowling vorgaukeln müssen, um nicht als Spielverderber und Spaßbremse zu wirken. Nach einer halben Flasche Wein löste sich seine Anspannung, von der er sich nur sehr selten befreien konnte. Auf der Nachbarbahn tobte sich eine Gruppe junger Frauen aus, mit denen sich schnell Kontakte ergaben. Die Kollegen verübelten es ihm nicht, dass er das Bowlen nach einer guten Stunde fast vollständig einstellte, weil er so in ein Gespräch mit einer der Frauen vertieft war. Zwar ersparten sie ihm nicht, alle paar Minuten mit ihnen anzustoßen. Aber ansonsten ließen sie ihn in Ruhe und sie verzichteten sogar darauf, anzügliche Bemerkungen zu machen, wie es sonst so üblich war. Sie alle wussten um das Schicksal seiner Frau, die vor fünf Jahren an Brustkrebs gestorben war. Alle wussten, dass Jan seit dieser Zeit keine Beziehung mehr gehabt hatte und vermeidbaren Begegnungen aus dem Weg ging. Auch wenn es keiner der Kollegen so direkt sagte. Sie freuten sich für ihn.
Trotz des Lärms um sie herum, trotz des Trubels und der vielen Menschen hatte sich ein intensives Gespräch mit der Frau entwickelt. Diese Frau, Anna, hatte ihn dazu gebracht, über seinen furchtbaren Verlust zu reden, über die dunklen Wolken, die ständig über ihm hingen. Über die Angst, vor Kummer und Schuldgefühlen wahnsinnig zu werden und die Kontrolle über sich und sein Leben zu verlieren. Sie hatten Themen angesprochen, die er allzu gern vermied und über die er selbst mit den wenigen Freunden nicht sprechen wollte. Absurderweise musste er erst in ein Bowling-Center gehen, um jemanden anzutreffen, dem er seine wunde Seele anvertrauen konnte. Vielleicht hatte er sich nur deswegen ihr gegenüber öffnen können, weil ihr Kummer möglicherweise noch größer war: der Tod ihres zweijährigen Kindes vor zehn Jahren. Die Hilflosigkeit angesichts der vernichtenden Krankheit, die abgrundtiefe Verzweiflung, der Hass auf die machtlosen Ärzte, die unendliche Trauer. Die qualvolle Stille einer leeren Wohnung, nachdem auch noch ihre Ehe durch die furchtbare Krankheit ihrer Tochter in die Brüche gegangen war. Beide kannten diese verzehrenden Empfindungen, beide teilten sie. Sie mussten sich diese Gefühle nicht erklären. Als ob sie sich schon jahrelang kennen würden, hatten sie sich voller Vertrauen füreinander geöffnet. Dass beide den Mut aufgebracht hatten, die Tür zu ihrer traumatischen Vergangenheit ein Stück zu öffnen, war für sie selbst die größte Überraschung.
Gott sei Dank hatten sie nicht nur über Krankheiten und Tod geredet, sondern auch über Träume und Wünsche, glückliche Momente und über ihre Zweifel, irgendwann jemanden finden zu können, mit dem man gemeinsam die Vergangenheit bewältigen und die Zukunft annehmen konnte.
Sie hatten Stunde um Stunde miteinander geredet, dabei den Lärm und die feiernden Leute ausgeblendet- und ihre Herzen geöffnet - nicht bei Kerzenschein und romantischer Musik im Hintergrund, sondern bei flackernder Diskobeleuchtung und grölenden Kollegen. Unglaublich!
Anna, die offensichtlich auch durch den Anruf geweckt worden war, drehte sich zu ihm um.
Sie schaute ihn leicht spöttisch und doch verängstigt an.
„Ist da doch noch eine Frau, die auf dich wartet?“
Sie blickte auf das Handy.
Obwohl Jan ihre Angst verstehen konnte, getäuscht worden zu sein, war er schwer gekränkt.
„Nein, ich habe dich nicht belogen, als ich dir erzählte, dass sie gestorben ist.“
Er wandte sich von ihrem Misstrauen erschüttert ab.
Anna erkannte sofort, dass ihre Frage den Mann an ihrer Seite schwer verletzt hatte.
„Oh, es tut mir so leid. Es tut mir wirklich leid!“
Sie nahm seine Hand.
„Ich hatte die letzten Jahre eine solche Angst, mich auf jemanden einzulassen, dass ich dadurch misstrauisch geworden bin. Bitte verzeih mir!“
Obwohl Jan Anna verstehen wollte, war der ganze Zauber der vergangenen Nacht mit dieser einzigen Bemerkung verloren gegangen. Wie hatte sie seine Offenheit so in Zweifel ziehen können. Jan löste ihre Hand und zog sich hastig an. Das Handy, das zwischenzeitlich Ruhe gegeben hatte, fing erneut an, sich zu melden.
Ohne auf das Display zu schauen, wusste er, dass es seine Dienststelle war. Wer sollte sonst am Sonntagmorgen um diese Uhrzeit anrufen.
Er nahm das Gespräch an.
„Ich rufe gleich zurück.“
Mit einem enttäuschten Blick verließ er die Wohnung, ohne sich für die Nacht zu bedanken oder sich angemessen zu verabschieden.
Unten auf der Straße erfuhr er, dass er unverzüglich zum Südermarkt kommen sollte.
3
Der Südermarkt, auf dem samstags der Wochenmarkt stattfand und der normalerweise mit Tischen und Stühlen der zahlreichen Cafés vollgestellt war, war großflächig abgesperrt worden. Trotz der frühen Morgenstunde hatten sich zahlreiche Schaulustige um die Absperrung herum versammelt. Viele junge Leute, darunter einige sichtbar betrunken, einige ältere Herrschaften mit ihren Hunden und ein paar von den Obdachlosen, die tagsüber die Treppenstufen zur Kirche für sich in Beschlag genommen hatten und deren Nachtruhe von den Polizeisirenen beendet worden war, hatten sich von Neugier getrieben eingefunden. Die Kollegen von der Nachtschicht standen mit ihren Streifenwagen auf dem abgesperrten Platz und hatten Mühe, die Gaffer zurückzuhalten. Ein Notarztwagen versperrte die Sicht auf den Haupteingang der Nikolaikirche. Sein Assistent Kevin kam ihm mit besorgtem Blick und aschfahl im Gesicht entgegen. Ohne seinen Chef zu begrüßen, stammelte der:
„Scheiße, wie kann sowas in Flensburg passieren!“
Jan hörte sich selbst murmeln:
„Haben sich mal wieder irgendwelche Betrunkenen den Schädel eingeschlagen?“
„Nee, diesmal haben wir richtig Scheiße an den Hacken, fürchte ich.“
Kevin wies mit dem Zeigefinger in Richtung Kirche.
„Dahinten vorm Hauptportal- kein schöner Anblick.“
Jan fragte sich im Stillen, ob er wohl jemals dienstlich an einen Ort kommen würde, an dem ihm ein schöner Anblick geboten werden würde.
Jan war seit fünf Jahren Erster Polizeihauptkommissar bei der Flensburger Polizeidirektion, zuständig für alle Gewaltdelikte in und um Flensburg herum.
Wenngleich Flensburg mit seinen knapp 100000 Einwohnern nicht das Zentrum schwerer Verbrechen war, so hatte es die vergangenen Jahre genug Tötungsdelikte gegeben, die ihn in Atem hielten. Die meisten Gewalttaten geschahen unter Alkohol und Drogen, aus Eifersucht oder durch ethnische Rivalitäten und waren schnell aufgeklärt.
Als er hinter die Sichtschutzwand trat, die einen Teil des Südermarktes zur Kirche hin abtrennte, war ihm sofort klar, dass hier ein Verbrechen stattgefunden hatte, das eine ganz andere Dimension aufwies.
Er starrte auf den Schädel, der vor ihm lag. Die Haare wirr und verklebt, die halb geöffneten Augen starr und ausdruckslos, der Hals eine einzige offene Wunde. Das Körperteil eines Mannes mittleren Alters. Ein Mensch, der vermutlich noch vor einigen Tagen, vielleicht sogar Stunden, ohne sein Schicksal auch nur zu ahnen, hier herumgelaufen war. Und jetzt: nur ein auf einen Kopf reduzierter Leichnam. Unwirklich! Jan schluckte. Natürlich hatte er schon so einige Leichen gesehen. In Flensburg wurden Menschen erschlagen, erstochen oder erwürgt, ganz selten auch erschossen. Aber den Kopf abtrennen! Das brachte selbst ihn aus der Fassung. Dann zog ein anderer Gegenstand Jans Aufmerksamkeit auf sich.
Hinter dem Schädel lag zusammengeknüllt ein schwarzes Tuch. Während er den weißen Overall und Handschuhe anzog, die ihm ein Kollege reichte, fragte er sich, an was ihn das Tuch erinnerte.
Er kniete sich herunter und zog es vorsichtig auseinander. Vor ihm entfaltete sich eine schwarze Fahne mit weißen Schriftzeichen. Innerhalb von Sekunden identifizierte der Hauptkommissar das Tuch und ihm wurde schlagartig die Tragweite dieses Falles bewusst.
Jeder, der in den vergangenen Jahren auch nur gelegentlich die Tagesschau gesehen hatte, kannte diese Fahne als Symbol für unvorstellbare Grausamkeiten. Die Fahne des IS.
Der Terror war in Flensburg angekommen.
Sichtlich geschockt, flüsterte er:
„Ja, ich fürchte, dass wir hier ein richtiges Problem haben.“
Er wandte sich dem jungen Kommissar zu.
„Wer hat den Toten gefunden, wer den Notruf betätigt? Sind Zeugen vorhanden, hat man ihre Personalien festgestellt?“
Kevin teilte ihm mit zittriger Stimme mit, dass die Frau, die den Kopf gefunden hatte, ärztlich versorgt wurde und nicht ansprechbar wäre. Der Notruf wäre vor einer Stunde um fünf Uhr dreißig eingegangen. Zahlreiche Besucher des Grogkellers wären am Auffundort gewesen. Und alle mit dem Smartphone in der Hand.
„Großartig“, fluchte Jan, „dann wird das wohl nichts mit irgendeiner Geheimhaltung.“
Kevin zog sein Handy aus der Tasche und überreichte es einen Moment später seinem Chef, nachdem er darauf herumgetippt hatte.
Bei YouTube waren mindestens zehn Filmsequenzen eingestellt, die in erschreckender Qualität eine schreiende Frau, den abgetrennten Kopf und das schwarze Tuch zeigten, wobei bei einer Aufnahme das Tuch ohne allzu viel Fantasie als IS-Flagge zu erkennen war.
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf.
„Was sind das bloß für Arschlöcher, die ohne einen Hauch von Pietät so ein Elend ins Netz stellen und sich daran aufgeilen. Widerlich.“
Seine Hauptsorge galt jedoch im nächsten Moment, dass solche Aufnahmen eine gesellschaftliche Brisanz bargen. In Ostdeutschland hatte es nach Gewalttaten, die von Geflüchteten begangen worden waren, Krawalle eines rechten Mobs gegeben und nicht wenige bis dahin unbescholtene Bürger hatten sich diesen Extremisten angeschlossen, sodass es zu regelrechten Treibjagden gegen vermeintliche Ausländer und Muslime gekommen war. Seine ostdeutschen Kollegen hatten sich dabei nicht immer mit Ruhm bekleckert und sich nicht der Meute entschlossen entgegengestellt.
Er fragte sich, ob so etwas auch in Flensburg möglich wäre, wenn sich herausstellen sollte, dass irgendwelche irrsinnigen Salafisten für die Tat verantwortlich wären, oder wenn sich bestätigen sollte, dass der IS sein Unwesen auch in Flensburg trieb.
Kevin stand schweigend neben ihm und wartete offensichtlich auf Anweisungen.
„Sind das KTI und die Rechtsmedizin informiert? Weiß Reeder schon Bescheid?“
Kevin nickte. Das kriminaltechnische Institut war in Kiel angesiedelt und für alle Polizeidirektionen in Schleswig-Holstein zuständig. Natürlich dauerte es noch mindestens zwei Stunden, bis die Kriminaltechniker und Dr. Pfahl von der Forensik aus der Landeshauptstadt am Tatort erscheinen konnten, viel Zeit, die den Ermittlungen verloren ging. In einer Kleinstadt wie Flensburg schien eine solche Einrichtung überflüssig. Hier begnügte man sich mit einer Abteilung, deren technische Mittel bei der Spurensicherung nach einfachen Einbrüchen an ihre Grenzen kam.
Solange die Kollegen von der Technik den Tatort noch nicht freigegeben hatten, und das konnte Stunden dauern, musste die Absperrung aufrechterhalten werden. Die Kollegen von der Nachtschicht hatten hier aber offensichtlich gute Arbeit geleistet.
Polizeirat Dr. Reeder, ein gelernter Jurist ohne Stallgeruch, aber sein unmittelbarer Dienstvorgesetzter, würde ihn gleich anrufen und ihm mitteilen, dass das LKA die Ermittlungen übernehmen würde, wie bei schweren Straftaten oder solchen mit extremistischem oder sogar terroristischem Hintergrund üblich.
Jan Feddersen stammte aus einer Familie, die schon seit Generationen Angehörige im Polizeidienst stellte. Alles gute Polizeibeamte, so wurde es erzählt, die aber schon immer Schwierigkeiten mit Obrigkeiten hatten. Reeder würde ihm die Dienstanweisung erteilen, mit dem LKA zusammenzuarbeiten, was in der Praxis bedeutete, dass er dem LKA unterstellt war. Erst einmal war er in einer solchen Situation gewesen: ein Mordversuch im Rockermilieu. Die Herren vom LKA hatten ihm das Gefühl gegeben, deren Lehrjunge zu sein, der ihnen zuzuarbeiten hatte, sich aber ansonsten aus ihren Ermittlungen heraushalten sollte. Das hatte zu erheblichen Spannungen geführt, wobei sich Reeder nicht hinter ihn gestellt hatte. Seitdem war ihr Verhältnis mehr als gestört. Zu seiner stillen Befriedigung hatten diese Oberpolizisten damals solche Fehler begangen, dass diese sogar politische Folgen hatten.
Jans Handy klingelte. Reeder!
Mit knappen Worten wurde ihm mitgeteilt, dass um zehn Uhr im Kommissariat eine Dienstbesprechung stattfinden würde, zu der auch das LKA anwesend sein würde. Das war ja zu erwarten gewesen.
Bei diesen Aussichten sank die Laune des Hauptkommissars auf einen Tiefpunkt.
Erneut blickte er auf den abgetrennten Kopf. Dieser arme Teufel oder das, was von ihm übrig war, würde ihn die nächste Zeit viele Nerven kosten.
„Vielleicht gut so“, dachte er frustriert, „dann wird die Frau von gestern vermutlich nicht mehr in meinem Kopf herumschwirren.“
Das Sieben-Uhr-Geläut der Kirchturmglocken riss ihn aus seinen Gedanken. Diese friedlichen Töne passten überhaupt nicht zu der gespenstigen Atmosphäre.
Er wandte sich wieder dem Kommissar zu.
„Mensch, heute ist ja Gottesdienst! Wir müssen dringend den Pastor benachrichtigen, dass der Gottesdienst abgesagt wird.“
Kevin korrigierte seinen Vorgesetzten:
„Ich glaube, wir müssen ihn nicht nur benachrichtigen, sondern dringend sprechen. Der Kopf, der liegt nicht ohne Absicht an diesem Ort. Die Putzfrau, die ihn gefunden hat, stammelte davon, dass sich der Kopf in einem schwarzen Beutel befand“, er wies mit seinem Finger auf das schwarze Tuch, „der am Knauf des Kirchenportals hing. Das ist doch kein Zufall.“
Der Kopf eines Toten, wahrscheinlich eines Christen, eingewickelt in die Fahne des IS. Eine satanische Trophäe, um eine Kirche zu entweihen. Das war Sprengstoff!
Vielleicht wäre es tatsächlich gut, wenn das LKA die Verantwortung für diesen Fall übernähme.
4
Er hatte kein Gefühl mehr dafür, wie viele Stunden er schon in seinem Zimmer saß, die Gardinen zugezogen, obwohl es draußen schon lange hell war. Stunde um Stunde, immer wieder, war der Tag an ihm vorübergezogen. Ein ums andere Mal fragte er sich, ob er irre geworden war. War es tatsächlich passiert? Oder war es einer dieser Horrorfilme, der so von ihm Besitz ergriffen hatte, dass er nicht mehr Wahn und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Jeden einzelnen Moment des Geschehens hatte er glasklar vor Augen. Ein Film, den er jederzeit anhalten konnte, um sich einzelne Bilder genau anzuschauen: der fassungslose Blick, das Entsetzen in den Augen, der offene Hals, das Blut. So viel Blut! Selbst die Geräusche konnte er wie einen Musikmitschnitt abrufen: das kehlige Stöhnen, die gurgelnden Laute. Der erstickte Todesschrei! Und dann der Geruch! Der Geruch nach Blut, viel Blut. Wie frisches Fleisch im Kühlschrank. Gesehen hatte er Hinrichtungen schon oft, dazu reichten wenige Mausklicks. Die Bilder und Geräusche um den Tod kannte er gut, aber der Geruch! Auf den war er nicht vorbereitet. Unmittelbar nach der Tat hatte er sich übergeben müssen.
Sein Blick fiel auf seine Hände. Tiefrot und verschmiert. Sein Sweatshirt, regelrecht nass, wenngleich das Blut schon überwiegend eingetrocknet und klebrig war. Das war keiner seiner Träume, keine Gewaltfantasie! Er hatte es wirklich getan. Jetzt war er selbst einer dieser Männer geworden, die er sich so gerne nachts auf You Tube in entsprechenden Filmen angesehen hatte und deren Taten ihm einen angenehmen Schauder versetzt hatten.
In den letzten Stunden hatte sich ein Wechselbad von Gefühlen in ihm abgespielt: Erst hatte er überhaupt nicht realisieren können, was geschehen war. Wie in Trance war er vorgegangen. Seine Handlungen gaben das wieder, was er irgendwann mal gefühlt, gedacht oder gesehen hatte. Seine Hände, seine Arme und sein Körper arbeiteten, ohne vom Verstand kontrolliert zu werden. Wäre er bei Verstand gewesen, hätte er das dann auch geschafft? Als er dann langsam zu begreifen begann, was er gemacht hatte, erfasste ihn eine tiefe Verzweiflung. So sehr er sich auch bemühte, sein Verhalten vor sich selbst zu erklären oder zu entschuldigen - er hatte etwas getan, wofür er schwer bestraft werden würde. In dieser verkommenen Gesellschaft würde niemand Verständnis für ihn haben oder ihn für seine Tat entschuldigen. Hier gewiss nicht.
Seine Verzweiflung war keineswegs ein Ausdruck von Reue. Das Schwein hatte es nicht besser verdient. Ihn überfiel aber eine abgrundtiefe Angst bei dem Gedanken, dass nun ein Leben im Gefängnis auf ihn warten würde. Die Angst hatte seinen Brustkorb so heftig umklammert, dass er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Er, eingesperrt mit anderen richtigen Verbrechern, in einem engen Raum, dessen Wände auf ihn zukriechen würden. Der Knast würde ihn zerquetschen und niemand wäre da, um ihn zu beschützen oder ihm beizustehen. War er stark genug, die bevorstehenden Qualen zu ertragen? Er zweifelte daran.
Seine Angst war glücklicherweise nicht von Dauer. Er hatte sie besiegt. Mit Stolz. Er hatte etwas getan, was sich hier kaum jemand traute. Er hatte Mut bewiesen und für Gerechtigkeit gesorgt. Nie mehr würde er gedemütigt werden, niemals würde er sich mehr demütigen lassen. Er, den niemand wahrnahm und den alle für einen Versager hielten, hatte bewiesen, dass er nicht mehr schwach war und er sich nicht herumschubsen lassen würde.
Ein Gefühl allerdings irritierte ihn: Als er die Kehle durchtrennt hatte und auch jetzt noch bei den Erinnerungen daran, spürte er eine heftige sexuelle Erregung.
Er erhob sich vom Stuhl und zog die Gardinen auf.
5
Der Polizeiwagen rollte an die Absperrung heran. Auf dem Beifahrersitz saß ein Herr um die Fünfzig, der Pastor Nolte sein musste, nach dem Feddersen eine Streife geschickt hatte. Jan hatte Mitleid mit dem Mann, der gebeugt wie ein Greis aus dem Auto stieg. Ein Mann Gottes, der für Frieden warb und dessen Kirche so geschändet worden war. Natürlich hatten die Kollegen ihm schon erklärt, was vorgefallen war und weswegen man ihn am Sonntagmorgen vom Frühstückstisch und seiner Familie wegholte. Aber Jan würde ihm nicht den Anblick des abgetrennten Hauptes ersparen können. Das würde auch einen Mann, zu dessen Beruf Krankheit und Tod gehörten, erschüttern.
„Guten Morgen, Herr Nolte, ich bin Hauptkommissar Feddersen. Sie wissen vermutlich, weswegen wir Sie hierhergeholt haben?“
Der Pastor nickte kaum sichtbar.
„Ich muss Sie bitten, einen Blick auf den Toten zu werfen, genau gesagt, auf den abgetrennten Kopf des Toten. Wir hoffen damit, dass sie ihn identifizieren können.“
Jan hob die Folie an, mit der der Schädel mittlerweile abgedeckt worden war.
Die Reaktion des Pastors war erschütternd. Seine Gesichtszüge entgleisten vollkommen und die Beine schienen ihn nicht mehr zu tragen. Jan gelang es gerade noch, ihn zu stützen, bevor er zu Boden stürzte. Wie ein gequältes Tier stöhnte er auf und fing dann an, am ganzen Körper zu zittern und hemmungslos zu weinen. Der Hauptkommissar hatte schon mehrfach Angehörigen eine Todesnachricht überbringen müssen, so dass er jeden Ausdruck von Entsetzen und Fassungslosigkeit kannte. Eine furchtbare Aufgabe auch für hartgesottene Polizisten. Dass dieser Mann neben ihm, der doch täglich mit dem Thema Tod und Sterben konfrontiert war, so heftig auf den Tod eines Menschen reagierte, wunderte ihn schon. Konnte geistliches Mitgefühl sich derart stark ausdrücken?
„Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Ist Ihnen der Mann bekannt?“
Der Pastor zögerte einen Moment, schaute ihm dann mit seinen verweinten Augen ins Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Haben Sie oder die Gemeinde schon einmal Drohbriefe oder irgendwelche Warnungen erhalten?“
Dem Gottesdiener flossen die Tränen nur so über das Gesicht, als er erneut den Kopf schüttelte. Er würde dem Kommissar keine Hilfe mehr sein. Jan winkte einen Sanitäter herbei, der am Rettungswagen stand und der sich um den Pastor kümmern würde.
Der Hauptkommissar spürte instinktiv, dass dieses Verbrechen die größte Herausforderung in seiner beruflichen Laufbahn werden würde. Eine Leiche ohne Identität gehörte zu den schwersten Aufgaben eines Kriminalisten.
Er rief seinen Assistenten herbei.
„Du bleibst bitte hier, bis die Kieler Kollegen von der Spurensuche und der Forensiker da sind, und sorgst dafür, dass die Personalien von all den Zeugen aufgenommen werden.
Die Frau, die den Toten gefunden hat, vernehmen wir später. Ich muss zur Hauptwache, Reeder Bericht erstatten.“
6
Auf dem Polizeiparkplatz vor der Hauptwache an der Schiffbrücke standen bereits zwei schwarze Oberklasselimousinen mit Kieler Kennzeichen.
„Typisch“, fluchte Jan, „während wir hier in Flensburg Streifenwagen haben, die nur noch von der Folie zusammengehalten werden, demonstriert das LKA seine Wichtigkeit, indem es mit Nobelkarossen vorfährt und die letzten freien Parkplätze besetzt.“ Jan hetzte die Treppen hoch, denn er war schon - wie so oft- spät dran.
Im Sitzungsraum erwarteten ihn bereits vier seiner Kollegen und zudem einige Personen, die ihm unbekannt waren.
Reeder, der ihm einen missbilligenden Blick zuwarf, war trotz früher Stunde wie aus dem Ei gepellt und schien die ungewohnt große Kulisse zu genießen.
„So, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie an diesem schönen Sonntagmorgen, auch wenn der Anlass für diese Zusammenkunft besorgniserregend ist.“
Jan fragte sich spöttisch, ob der Chef gleich Sekt ausschenken würde.
Dr. Reeder stellte kurz die Anwesenden vor, darunter eine Mittdreißigerin vom Landesverfassungsschutz, die der Polizeirat offensichtlich zu beeindrucken versuchte.
„Wir haben es hier möglicherweise mit einem Fall zu tun, dessen Tragweite weit über Flensburg hinausgehen könnte. Deswegen ist das LKA eingeschaltet worden, das die Ermittlungen übernehmen wird. Ich möchte, ohne viele Worte zu verlieren, an Herrn Blom vom LKA übergeben.
Herr Blom, dessen schwarzer Anzug einem Bestatter zur Ehre gereicht hätte, trat nach vorn.
„Nun, meine Damen und Herren, die Erkenntnisse sind bislang leider äußerst lückenhaft. Aber Hauptkommissar Feddersen, der gerade vom Auffundort des Toten kommt, wird uns vollumfänglich berichten.“
Jan wäre fast vor Wut geplatzt. „Lückenhafte Erkenntnisse“! Er hatte die unterschwellige Kritik schon verstanden. Gerade zwei Stunden war er mit dem Fall befasst. Erwartete der geschniegelte Typ, dass er den Fall schon hätte lösen sollen? Jan erhob sich energisch von seinem Stuhl und schaute sich in der Runde um. Alle gut gekleidet, die Männer frisch rasiert, die Frau vom Verfassungsschutz, deren Namen er nicht mitgekriegt hatte, in knitterfreiem Kostüm.
Er hingegen hatte seine abgetragenen Klamotten vom gestrigen Abend an, war noch nicht unter der Dusche gewesen und fürchtete, nach Wein und Sex zu stinken.
Entschlossen berichtete er von dem, was er herausgefunden hatte und was tatsächlich äußerst dürftig war.
„Nun gut“, unterbrach ihn der Beamte vom LKA. „Zunächst ist es vordringlich, dass wir die Identität des Toten herausfinden, um dessen Umfeld auf den Kopf zu stellen. Wir müssen klären, wo und wann die Tat stattgefunden hat, den Tathergang ermitteln sowie möglichst bald die Tatwaffe und den Torso auffinden. Das werden meine Kollegen und ich machen. Sie, Herr Feddersen, stellen ein Team zusammen, das sich in den moslemischen Gemeinden hier in Flensburg umhört, ob radikalisierte Gemeindemitglieder bekannt sind. Frau Schönert vom Verfassungsschutz wird Sie dabei unterstützen. Unser Ermittlungsansatz geht davon aus, dass hier ein terroristisches Verbrechen stattgefunden hat, möglicherweise unter dem Einfluss des IS. Wir haben eine Nachrichtensperre erlassen, damit die Bevölkerung nicht in Unruhe gerät. Das heißt, kein noch so vertrauliches Gespräch mit der Presse! Ist das klar? Das nächste Briefing findet morgen um sieben Uhr statt, und damit meine ich nicht neunzehn Uhr. Herr Feddersen, um Punkt sieben!“
Das fing richtig gut an. Gleich eine Zurechtweisung, um zu klären, wer unten und wer oben war. Jan verzichtete angesichts dieser Frechheit darauf zu erwähnen, dass die Presse gar nicht informiert werden musste. Dafür würde schon YouTube gesorgt haben.
Das, was der Kollege vom LKA so zackig und kenntnisreich als Vorgehensweise skizziert hatte, lernte jeder Polizeischüler im ersten Ausbildungsjahr. Davon ließ Jan sich kaum beeindrucken. Dass er seine Ermittlungen auf die Befragung der Gemeinden reduzieren sollte, würde ihn nicht abhalten, seine Arbeit so zu machen, wie er es für richtig hielt.
7
Can konnte nicht auf seinem Stuhl sitzen bleiben. Unruhig lief er in seinem Zimmer hin und her und grübelte über sein Leben. Sein Leben war seit langem eine Abfolge von Misserfolgen und Demütigungen. Aber jetzt würde es erst richtig schlimm werden. Ja, er hatte wahrscheinlich einen riesigen Fehler gemacht, er bereute jedoch nichts. Der Typ war ein Widerling, ein echtes Schwein. Wagner, sein Deutschlehrer, hatte ihm die Schule zur Hölle gemacht, die ohnehin kaum zu ertragen war. Das tolle Alte Gymnasium: Die Schule hatte ihn von Anfang an angewidert, aber mit Wagner war es von Tag zu Tag schlimmer geworden.
Seit bald sieben Jahren war sein Leben ein einziges Desaster. In der Grundschule hatte er noch Freunde gehabt. Seine Eltern hatten ihm alles gekauft, was er wollte. Schließlich war er ihr einziges Kind. Während in den anderen Familien oft drei oder vier Kinder lebten, manchmal sogar mehr, die ihr Zimmer gemeinsam nutzen mussten, hatte er sein eigenes Reich voller Spielzeug, das er mit niemandem teilen musste. Er trug die neuesten Trikots des BVB, seine Freunde dagegen durften die alten Sweatshirts ihrer größeren Brüder auftragen. Schon in der vierten Klasse besaß er eine Playstation, die er für eine gute Mathearbeit geschenkt bekommen hatte. Er wurde von seinen Freunden bewundert, die sich darum rissen, mit ihm zu spielen, denn wer sonst hatte schon eine Playstation. Dann der Wechsel in die weiterführende Schule. Alle seine Freunde, alle Kinder aus der Nachbarschaft, kamen auf die Comenius-Schule. Seine Eltern aber bestanden darauf, dass er aufs Alte Gym ging, ein angesehenes Gymnasium, nicht einfach auf die Gemeinschaftsschule wie alle anderen um ihn herum. Dann könnte er Ingenieur werden oder sogar Arzt. Sein Vater war nur einfacher Arbeiter auf der Werft. Sein Sohn sollte es allen zeigen, dass er etwas Besseres war. Sein Erfolg würde seine Familie ehren.
Am ersten Schultag am Alten Gym, schon vor der ersten Stunde, wurde ihm klargemacht, dass er da nicht hingehörte. Seine Mitschüler kamen von der Westlichen Höhe oder aus Solitüde und wurden mit dicken Landrovern oder Mercedes- Kombis zur Schule gebracht. Er kam aus der Neustadt. Da fuhr man nicht Landrover - und die Mercedesse dort waren 20 Jahre alt. Sein Vater fuhr ihn anlässlich des ersten Schultages mit seinem alten Opel Zafira zur Schule, mit dem er nicht einmal im Sommerurlaub in der Osttürkei Eindruck schinden konnte. Lieber wäre er zu Fuß gegangen, aber sein Vater bestand darauf, seinen Sohn zu begleiten. Neugierig, wie jeder Fünftklässler am ersten Schultag auf seine neuen Mitschüler ist, richteten sich unzählige Blicke seiner zukünftigen Klassenkameraden auf ihn, als er vor der Schule aus dem Auto stieg. Er benötigte keine Menschenkenntnis, um die unverhohlene Verachtung in ihren Augen wahrzunehmen. Ein Kanake aus einer Kanakenkutsche.
In der ersten Stunde sollten die Kinder über sich erzählen. Er war in der Klasse nicht das einzige Kind mit Migrationshintergrund, wie es so schön hieß; es gab da noch einen Jungen, den die Mitschüler bald abfällig den Russen nannten. Can war aber der einzige, der von einem Mitschüler gefragt wurde, ob er richtig deutsch sprechen konnte. Was für eine Frage! In der Grundschule hatte er sogar eine Zwei in Deutsch gehabt. Diese einzige abwertende Frage führte dazu, dass er sich aus Angst, Fehler beim Sprechen zu machen und damit das Vorurteil der anderen Kinder zu bestätigen, immer seltener traute, den Mund aufzumachen, was wiederum dazu beitrug, dass er vom ersten Schultag an von den anderen gemieden wurde. Ja, das hatte die Schule ihm zumindest beigebracht: Schweigen! Beim Reden konnte man Fehler machen oder Schwäche zeigen, beim Schweigen bissen sich Lehrer und Klassenkameraden die Zähne aus. Wenn andere falsche Antworten gaben oder sogar Widerworte, wurden sie schnell zum Gespött der Mitschüler oder wurden von den Lehrern abgefertigt. Gegen sein Schweigen kam keiner an. Einige Klassenkameraden schienen sogar
