Schwarze Liebe, Schwarzes Meer - Zülfü Livaneli - E-Book
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Schwarze Liebe, Schwarzes Meer E-Book

Zülfü Livaneli

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Beschreibung

Eigentlich will die junge Journalistin Pelin nur für einen Promi-Mordfall in dem kleinen Küstendorf am Schwarzen Meer recherchieren. Dann lernt sie den Eigenbrötler Ahmet kennen, der vor jeder Berührung zurückschreckt. Mit dem Erzählen von Geschichten gelingt es ihm jedoch, die junge Frau an sich zu fesseln. Der Ingenieur Ahmet glaubt, alles mit dem Verstand lösen zu können. Doch beim Wiedererzählen der Lebensgeschichte seines Zwillingsbruders Mehmet erwacht auch in ihm die Sehnsucht nach der Liebe. Gemeinsam arbeiteten sie vor vielen Jahren in Russland, wo sein Bruder sich in eine traumhaft schöne Frau verliebte. Zu Beginn einer gemeinsamen Reise wurde Mehmet aus rätselhaften Gründen verhaftet. Er würde seine Geliebte nie wiedersehen ... Erneut gelingt dem gefeierten Autor und Musiker ein betörend sinnlicher Liebesroman mit kunstvoll ineinander geschachtelten Geschichten voller Sehnsucht und kluger Einsichten ins Leben.

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Seitenzahl: 339

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Zülfü Livaneli

SchwarzeLiebe,SchwarzesMeer

Roman

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Kardeşimin Hikâyesi« im Verlag Doğan Kitap, Istanbul.

© 2013 by Omer Zülfü Livaneli

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München

Unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/bildhaft

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98020-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10829-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Der Mensch

Ein Tropfen Blut und tausend Sorgen

Saadi, im 13. Jahrhundert

Mein König, du hast mir das Leben geschenkt, dafür aber meine Geschichten gestohlen. Nur in ihnen jedoch konnte ich leben. Nun, wo sie zu Ende gehen, ist auch meine Geschichte vorbei.

Intizar Husain, Scheherazades Tod

Ich

1Ein seltsamer Morgen, die junge Journalistin, Kerberos

Es mag sich unwahrscheinlich anhören, doch schon beim Aufwachen wurde mir klar, dass ich gleich etwas Besonderes erfahren würde. In dem einsamen Dorf am Schwarzen Meer verlief ein Tag wie der andere, und kaum einmal geschah etwas, worüber die Leute sich aufregten. So hätte auch jener Tag still vergehen können, doch nein, ich fühlte, es würde etwas passieren. Dass ich von einem Mord hören würde, wusste ich natürlich nicht. Ich war noch nicht aufgestanden und sah mit geschlossenen Augen den violetten Kaninchen zu, die blitzschnell hin und her sausten und dabei Leuchtspuren hinter sich herzogen.

Die Kaninchen waren noch flinker als sonst. Sie flitzten von Felsen zu Felsen und hielten es nirgends eine Sekunde lang aus, und eigentlich sah ich nur noch diese Lichtstreifen, die mich an die Krimis erinnerten, in denen der Tresor einer Bank mit Infrarotstrahlen geschützt ist, die der Filmheld nur mit einer Spezialbrille sieht. Die Spuren der Kaninchen aber waren violett, das weiß ich noch genau.

Da klingelte das Telefon. Als ich abhob, plärrte mir Hatice ins Ohr, die Frau, die ein paarmal pro Woche bei mir den Haushalt besorgte. »Es ist furchtbar! Ganz ganz furchtbar!«

Wenn jemand mit furchtbarer Stimme »Furchtbar!« ruft, gibt es etwas zu fürchten, so viel war mir klar, und als Erstes fiel mir mein Zwillingsbruder Mehmet ein. Eine Weile hörte ich der Frau zu, und als sie sich beruhigt zu haben schien, fragte ich, was denn so furchtbar sei.

»Ja haben Sie denn das mit Arzu nicht gehört?«, fragte sie schluchzend.

»Was denn?«

Erst wollte sie es gar nicht erzählen, aber dann sah sie wohl ein, dass es Unsinn war, etwas als furchtbar zu bezeichnen und dann nicht mit der Sprache herauszurücken. Beinahe flüsternd sagte sie: »Arzu ist umgebracht worden!«

Ich überlegte, wie man in so einem Fall reagiert. Normalerweise taten Menschen ihr Bedauern kund, wenn sie vom Tod eines Bekannten erfuhren. Irgendetwas in dieser Richtung musste ich also sagen, nur hatte ich meist Schwierigkeiten mit der Dosierung.

Ich war mit Arzu näher bekannt und hatte sie sogar vor sieben, acht Stunden zum letzten Mal gesehen. Sollte ich also losweinen, entsetzt aufschreien, lamentieren? Womöglich war es angezeigt, alles zugleich zu tun? Aber wie, und wie lange?

Aus meinem Schweigen rettete ich mich erst einmal heraus, indem ich einen Seufzer von mir gab. Das schien mir noch nicht genug, und so ließ ich ein »Entsetzlich!« folgen. »So etwas von entsetzlich! Wie ist es denn passiert?«

Neugierde ist schließlich auch ein Gefühl, und wenn Menschen gewöhnlich von einem Mord erfahren, sind sie auf Details aus.

»Gestern Abend war eine Party bei ihr …«, fing Hatice an. Das wusste ich, ich war ja selbst den ganzen Abend dort gewesen, mit Arzu in ihrem roten Trägerkleid, das die braungebrannten Schultern freiließ, mit ihrem Mann Ali und den Gästen aus Istanbul. Es war ein Sommernachtsfest und der Jasminduft im Garten so intensiv, dass er uns auf der Haut haften blieb.

»Und als die Party zu Ende war, ist Ali den Gästen bis zur Straße vorausgefahren.«

Auch das wusste ich, denn ich war kurz danach heimgegangen und hatte mich sofort schlafen gelegt. Von Podima, unserem Dorf also, hinauf zur Straße nach Istanbul zu finden, ist für einen Ortsfremden in der Nacht eine ziemliche Herausforderung. Da kann es passieren, dass man bis in den Morgen hinein auf verzweigten Wegen an dunklen Feldern vorbeikurvt und sich irgendwann in Ufernähe im Sand festfährt. So ließ es sich Ali in der Regel nicht nehmen, seinen Gästen nach dem Abschied vorauszufahren und sie bis zur Hauptstraße hinaufzubegleiten.

»Als Ali eine halbe Stunde später zurückgekommen ist, war noch überall Licht an. Er hat im Garten ein paarmal nach Arzu gerufen und ist dann ins Haus. Und da hat er dann … mein Gott …«

Meines Erachtens gab die Frau recht seltsame, röchelnde Geräusche von sich, doch es wäre nicht statthaft gewesen, darüber zu lachen. So wartete ich einfach ab.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin noch ganz mitgenommen …«, brachte sie schließlich heraus. »An der Treppe hat er sie gefunden, blutüberströmt. Sie ist erstochen worden, die arme Frau. Bis ins Wohnzimmer ist ihr Blut gelaufen. Wer konnte ihr bloß so etwas antun? Gott möge ihn strafen und in der Hölle braten lassen!«

»Wer war es denn?«

»Das weiß man noch nicht. Die Polizei hat einige verhört, und auch ein Staatsanwalt ist da, glaube ich. Und es wimmelt von Journalisten. Ich bin ja nur eine einfache Frau, ich verstehe von alledem nichts.«

Diese Geschichte begann am Morgen des 11. Juni 2011.

Nach dem Telefongespräch mit Hatice streckte ich mich wie eine Katze und machte mir einen Kaffee. Zum Frühstück hörte ich Melody Gardot, die mir wie jeden Morgen mit ihrer rauchigen Stimme zuraunte »Your heart is as black as night«. In dem Bestreben, die Gefühle der Menschen zu begreifen und zu erlernen, höre ich viel Musik, doch ertrage ich kaum etwas anderes als Alben im Stil von Melody Gardot, denn der Rest ist mir zu schmalzig. Irgendwo hat meine Geduld für die Gefühlsduselei der Menschen ihr Ende.

Abgesehen von der Küche gab es in meinem Haus nur ein einziges Zimmer, das nicht als Bibliothek gestaltet war. Neben einem breiten, bequemen Bett stand dort ein Schrank, in dem Hatice meine Kleider nach sorgfältigem Bügeln in einer ganz besonderen Ordnung verstaute. Nicht nur für Unterwäsche und Socken, sondern auch für Hosen, Hemden, Gürtel, Krawatten, Jacken und Anzüge gab es entsprechende Schubläden und Fächer, in denen die Kleidung danach eingeteilt war, wie viel Wolle oder Baumwolle sie enthielt und inwieweit sie einen vor Kälte oder Hitze schützte. Jeden Morgen blickte ich als Erstes auf das Display, das mir die Außentemperatur anzeigte, und wählte demgemäß meine Kleidung aus. Wenn es etwa 22° hatte, zog ich etwas anderes an als bei 19°. Meine Garderobe war in Fünf-Grad-Schritten organisiert, sodass ich immer wusste, was ich zu wählen hatte. An den Hosen etwa waren von 0° bis 30° reichende Etiketten angebracht, und mit dem Rest meiner Kleidung verhielt es sich ebenso. Das bedeutete keineswegs, dass ich reich gewesen wäre, denn als Ingenieur in Rente musste ich ziemlich haushalten. Meine Kleider waren alt, aber durch gute Pflege noch immer in Schuss.

Die Bibliothekszimmer waren mit Stühlen, Sesseln und Tischchen möbliert; in einem stand eine Bettcouch, in einem anderen der »Liebling«. Auf der Bettcouch hatte bisher nur mein Bruder Mehmet geschlafen, andere Gäste hatte ich noch nicht gehabt. Was es mit dem »Liebling« auf sich hatte, einem nach Plänen aus dem Internet von mir gebauten Gerät, erklärt sich später.

Als mir an jenem Morgen eine Temperatur von 25° angezeigt wurde, zog ich ein dünnes blau-graues Hausgewand an, setzte mich im Obergeschoss in einen Sessel und dachte nach. Dass eine Bekannte von mir umgebracht wird, war mir noch nie passiert, in all den Jahren nicht, seit ich in diesem Dorf an der Küste ein neues Leben führte.

Ich holte das Heft hervor, in das ich mir hin und wieder Gedanken notierte, und schrieb Folgendes hinein:

Da wir den Menschen nicht nur als rein biologisches Wesen ansehen, sondern seine Existenz mit allerlei hohen Begriffen überfrachten, begreifen wir nicht, dass mit dem Blut auch das aus dem Körper tritt, was wir »Seele« nennen, und dass der Mensch damit ganz einfach tot ist. Die Tiere begreifen den Tod, der Mensch begreift ihn nicht. Die sogenannte Seele entweicht dem für jegliche Verwundung anfälligen Menschenkörper innerhalb einer Sekunde, und das erschüttert die Mitmenschen ganz und gar. »Mein Gott, vor ein, zwei Stunden war er noch quicklebendig und hat gelacht, wie kann es da plötzlich mit ihm aus sein?« Das übersteigt unseren Verstand und ist mit nichts von dem zu vereinbaren, mit dem wir unser Dasein überhöhen. Soll denn alles sinnlos sein? Meiner Ansicht nach ja! Da ist nämlich nichts. Wir mühen uns ab, dem Menschen eine Bedeutung zu verleihen, die über seine biologischen Funktionen hinausgeht, denn das Nichts kommt uns hart an.

Dann warf ich Heft und Stift auf das Tischchen. Was mir gerade noch blendend erschienen war, verlor auf dem Papier seinen Glanz, ja wirkte geradezu klischeehaft. Ich strich es trotzdem nicht, denn lesen würde es ohnehin keiner.

In dieser Verfassung war ich, als es klingelte. Ich sah auf die Uhr: 11.14 Uhr. Seit ich von dem Mord erfahren hatte, waren knapp zwei Stunden vergangen, in denen ich nur gegrübelt und mir Fragen gestellt hatte, die ich nie würde beantworten können.

Wieder klingelte es.

Wer konnte das sein? Die Gendarmerie? Der Staatsanwalt? Trat der bei Mordfällen sofort in Aktion, oder wurden die ersten Verhöre von der Polizei durchgeführt? Da ich am Vorabend in dem Haus gewesen war und das Opfer als einer der Letzten gesehen hatte, würde ich wohl auch vernommen werden. Nun, falls mir jemand irgendwie gefährlich werden sollte, würde mich Kerberos warnen, mein Hund, der draußen angekettet war.

Mir fiel auf, dass ich die als »schön und aufreizend« geltende Frau im Geiste schon nicht mehr »Arzu« nannte, sondern »das Opfer«. So würde sie auch in den Gerichtsakten genannt werden.

Ich nahm das zerfledderte Notizheft wieder an mich und schrieb hinein, wir wüssten alle, dass wir sterben müssten, aber keinem käme in den Sinn, einmal ermordet zu werden. Millionen von Babys werden bei der Geburt freudig begrüßt, doch denken die Eltern nie daran, dass ihr Kind ab jenem Augenblick schon altert und zum Tode verurteilt ist. Und erst recht fällt niemandem ein, sein Baby könne einmal umgebracht werden, bei einem Unfall sterben, hingerichtet werden oder im Krieg umkommen. Dabei sind dies alles Dinge, die Menschen passieren. Im Lauf der Geschichte sind Milliarden von Menschen nicht auf »normale« Weise gestorben, sondern umgebracht worden, und dazu gehörte nun auch Arzu.

An meiner Tür wurde noch immer geklingelt, aber ich machte nicht auf. Zu mir ins Haus durften nur wenige Leute. Dazu zählte vor allem die aus dem Dorf stammende Hatice. Ihr Mann arbeitete bei Arzu als Gärtner, und ihr vierzehnjähriger Sohn Muharrem, ein riesiger Kerl, ging mal dem Vater, mal der Mutter bei der Arbeit zur Hand. Ihn hatte ich als Zweiten ins Haus gelassen, denn ich sollte ihm unbedingt Englisch beibringen. Darauf ließ ich mich notgedrungen ein, denn eine Haushälterin, die meine penible Ordnung so anstandslos respektierte wie Hatice, würde ich so schnell nicht wieder finden, und so kam er nun einmal in der Woche zu mir.

Mit dem Lernen tat er sich schwer, denn von dem, was man gemeinhin Intelligenz nennt, hatte er nicht viel mitbekommen. Daher war er auch von der Schule geflogen. Er war mit irgendeiner Gehirnkrankheit geplagt; ganz genau wollte ich es nicht wissen. Trotz seiner Grobschlächtigkeit machte er einen gutmütigen Eindruck, doch sein seltsam fliehender Blick war ehrlich gesagt nur schwer zu ertragen.

Das Klingeln war äußerst hartnäckig. Da wollte jemand wirklich nicht lockerlassen, aber mich brachte das keineswegs aus der Ruhe.

Als ich vor Jahren auf der Flucht vor dem Istanbuler Trubel zum ersten Mal nach Podima gekommen war, hatte ich ein zweistöckiges Haus gesehen, das zum Verkauf stand. Es war so billig, dass ich es auf der Stelle kaufte. Dem Vorbesitzer hatte genau wie mir der Sinn danach gestanden, möglichst allein zu sein. Er wäre liebend gern Schriftsteller gewesen, hatte es aber anscheinend lediglich geschafft, einen Band mit Erzählungen auf eigene Kosten herauszubringen. Wie es um ihn stand, war leicht an den zu Hunderten in einer Ecke gestapelten Ausgaben seines Buches Meine Träume und ich zu erahnen, auf deren Umschlag die ungelenke Zeichnung einer Meerjungfrau prangte. So ganz allein mit seinen Träumen hatte er jede Wand seines Hauses mit Bücherregalen ausgestattet und unter Tausenden von Büchern bis zu seinem Tod dahingelebt, ohne sein Heim öfter als nötig zu verlassen. So schlug mir denn, als ich das Haus zum ersten Mal betrat, der modrige Geruch alter Bücher entgegen. Das bestärkte mich erst recht darin, das Haus zu kaufen, denn ich hatte nichts anderes vor, als den Rest meines Lebens lesend und schreibend zu verbringen. Trotz meiner bescheidenen Mittel vermochte ich es jedoch, die Bücherregale in meinem Sinne umzugestalten.

Fast das ganze Hausinnere wurde durch Stahlregale in einzelne türlose Räume aufgeteilt. Lediglich ein Zimmer im Erdgeschoss ließ ich für die Besuche meines Bruders Mehmet mit einer Tür, einer Bettcouch und einem Bad versehen. Die Bücher, fast durchgehend literarische Werke, wurden nach einer strengen thematischen Ordnung auf die Räume verteilt. An jedem Eingang hing ein Schild, auf dem ich mit einem Architektenstift fein säuberlich das jeweilige Thema geschrieben hatte:

Rachezimmer

Eifersuchtszimmer

Liebeszimmer

Geschlechtszimmer

Kriegszimmer

Selbstmordzimmer

Mordzimmer

Zu meinem täglichen Training gehörte es zu lesen. Unter Literatur verstand ich allerdings nicht jede Art von Werk, und so standen im Mordzimmer etwa keine Krimis, sind diese doch nicht auf die Ergründung der menschlichen Seele ausgelegt, sondern nur auf die Neugier, die man einem Verbrechen entgegenbringt, sodass sie mich in ihrer Eindimensionalität nicht interessierten. Mir kam nur ins Haus, was die Innenwelt des Menschen und seine Lebensumstände betraf.

Ich wollte erfahren, was Menschen in bestimmten Situationen empfinden. Was fühlen sie, wenn sie jemanden lieben, das alles musste ich wissen, denn wenn ich auch fort von Istanbul war, lebte ich doch noch immer unter Menschen, was nicht möglich war, ohne sie zu verstehen. Und solche Erkenntnisse konnte ich einzig durch die Literatur erlangen.

Zu Anfang hatte ich mir Beistand von Psychologie, Philosophie und Wissenschaft erhofft, doch vergebens. Auch Filme waren mir zu oberflächlich. Schließlich erkannte ich, dass nur eine Gattung die Seele des Menschengeschlechts zu ergründen vermag: die Literatur. Von da an kaufte ich zu dem schon vorhandenen Bestand noch Hunderte von Büchern hinzu und füllte damit die Regale. Ich stellte mir ein umfangreiches Programm zusammen und widmete mich, um mit Flaubert zu sprechen, der Erziehung meines Herzens.

Seit damals hat neben Hatice und Muharrem nur eine weitere Person mein Haus betreten, und zwar, auf ihr beharrliches Drängen hin, keine andere als Arzu. Doch, ein Mensch war da schon noch, mein Bruder Mehmet. Er ist aber ein Sonderfall, von dem ich berichten werde, wenn es an der Zeit ist.

Wer immer das an der Tür sein mochte, musste ein sehr hartnäckiger Mensch sein, denn er klingelte noch immer.

Fast hätte ich es vergessen: Früher versuchte ich den Gefühlen der Menschen auch über die Musik näherzukommen. Denn wenn ein Buch von Heldentum sprach, konnte die Eroica nützlich sein, und wenn es um Schmerz ging, ein Adagio. Bald aber merkte ich, wie sinnlos das war. Anders als die Literatur zielt die Musik nämlich nicht darauf ab, von Gefühlen zu erzählen, sondern sie will sie einen erleben lassen. Das hilft mir aber nicht weiter, denn erleben möchte ich sie nicht, sondern nur begreifen. Nach vielerlei Versuchen weiß ich nun, dass ich einzig und allein leise dahinfließenden Jazz hören kann. Jede andere Art von Musik sucht Streit mit dem Zuhörer.

So, nun klingelte es nicht mehr, der Besucher musste weg sein.

Ich ging ins Mordzimmer und überlegte, was ich auf die Ermordung Arzus hin wohl am besten lesen sollte. Ich ließ meinen Blick über die Buchrücken schweifen, aber nach einer Weile fiel mir auf, dass nichts so recht passte, da es in jedem dieser Werke für den Mord einen Grund gab. Liebe, Eifersucht, Konkurrenz, ein Überfall … Solange ich das Motiv für den Mord an Arzu nicht kannte, hatte Lesen wenig Sinn. In allen Büchern ging es vor allem um den Mörder, das heißt vom Opfer wurde bis zur Tat erzählt, danach ging das Interesse auf den Mörder über, beziehungsweise auf die Menschen, die den Fall aufzuklären suchten. Ich aber kannte nur das Opfer.

Außerdem kam ich nun doch nicht von dem Gedanken an den Menschen los, der so lange geklingelt hatte. Da Hatice und Muharrem es nicht sein konnten und auch Arzu naturgemäß ausschied, blieb nur noch die Möglichkeit, dass mich jemand zu dem Mord befragen wollte, ein Gendarm oder ein Staatsanwalt etwa. In diesem Fall hätte ich besser öffnen sollen, um mir spätere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Aber Kerberos hatte nicht angeschlagen.

Da klingelte es wieder. Diesmal ging ich zur Tür.

Draußen stand ein junges Mädchen, so jung, dass es weder eine Polizistin noch eine Staatsanwältin sein konnte. Sie trug eine an den Knien abgewetzte Jeans und eine weiße Bluse, die eine Schulter freiließ. Sie war groß und schlank, hatte glatte schwarze Haare und auffallend große Augen. Zwar lächelte sie mich an, doch klagte sie auch sogleich, dass ich so lange nicht aufgemacht habe. Sie habe zuvor schon geklingelt und schließlich aufgegeben, aber beim Krämer habe sie erfahren, dass ich praktisch nie aus dem Haus gehe, und da habe sie es eben noch einmal probiert.

Sie erwartete wohl eine Reaktion von mir, einen Kommentar. Nach einer Pause fragte sie: »Sie sind doch Ahmet Aslan, oder?«

»Nein.«

»Ach so?«, erwiderte sie erstaunt. »Ja, wohnen Sie denn nicht hier?«

»Doch.«

»Dann sind Sie doch Ahmet Aslan!«

»Nein, bin ich nicht.«

»Sondern?«

»Ahmet Arslan.«

»Na, das sage ich doch!«

»Nein, Sie haben Ahmet Aslan gesagt, aber ich heiße Ahmet Arslan.«

»Und wegen diesem einen r sagen Sie, Sie sind das nicht?«

»Ja.«

»Sie sind sonderbar.«

»Keineswegs«, entgegnete ich kühl. »Wenn Sie wüssten, was ein einziger Buchstabe alles auslösen kann … Aber nun gut, was wollen Sie von mir?«

»Sie sollen Arzu Kahraman gekannt haben?«

»Ja.«

»Und Sie waren gestern Abend auch auf ihrer Party?«

»Ja, aber was geht Sie das an?«

Die Hand, die sie mir entgegengestreckt hatte, zog sie nun verwundert zurück, denn ich hatte sie nicht ergriffen. Journalistin sei sie, aus Istanbul. Sie nannte mir den Namen einer jener Zeitungen, die ich nie lese. Sogar ihren Ausweis wollte sie mir zeigen, aber ich winkte ab und fragte sie, warum sie zu mir gekommen sei.

»Um mit Ihnen zu sprechen.«

»Worüber?«

Aus ihren großen schwarzen Augen starrte sie mich an.

»Na, über den Mord.«

»Über den weiß ich nichts.«

Sie lachte. »Keine Angst, ich bin nicht von der Polizei. Ich möchte nur ein paar Fragen stellen. Wie die Frau so war. Sie wissen ja, Zeitungsleser sind immer versessen auf Details.«

»Jung war sie, voller Leben, und alle fanden sie schön. Sie lachte viel, und wenn sie das tat, regte sich bei Männern so einiges. Aber jetzt ist sie tot. Das ist alles.«

Sie trat einen Schritt zurück und blickte mich verwundert an. Eine Weile sahen wir uns in die Augen.

»Sie sind aber komisch!«

»Kann schon sein. Sind Sie fertig mir Ihren Fragen?«

»Damit werde ich also hinauskomplimentiert?«

»Weiß ich nicht. Ihre Fragen habe ich beantwortet.«

Unschlüssig stand sie da. Dann beugte sie sich zu ihrer großen Tasche hinunter, die sie auf den Boden gestellt hatte. Dabei spitzte aus dem weiten Ausschnitt ihrer Bluse ein schneeweißer Brustansatz hervor.

»Na, wenn Sie mich nicht reinlassen, gehe ich eben wieder«, sagte sie gekränkt.

»Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben.«

»Was gesagt zu haben?«

»Dass ich Sie nicht reinlasse.«

Sie strahlte wie ein Kind.

»Dann darf ich also reinkommen?«

Ich trat beiseite und wies ihr mit ausladender Geste den Weg.

So kam mir also der vierte Mensch ins Haus. Mit Ausnahme, wie gesagt, von Mehmet. Ich ging ihr voraus in Richtung Wohnzimmer. Auf einmal merkte ich, dass sie mir nicht mehr nachkam, und drehte mich um. Sie war im Eingangsbereich stehengeblieben und starrte die Bücherwände an.

»Was ist denn das?«

»Hier wohne ich.«

»Wohnen? Das ist ein Bücherwald!«

»Kein Angst, wir finden schon was zum Sitzen für Sie. Und die Büchersäulen werden auch nicht einstürzen und Sie unter sich begraben. Zumindest nicht, solange ich das nicht will. Dahinter steckt nämlich Ingenieurskunst.«

Sie war sichtlich verwirrt. Um sie zum Bleiben zu bewegen, war es wohl das Beste, etwas über Arzu zu erzählen.

»Arzu hat so ähnlich gestaunt, als sie zum ersten Mal bei mir war.«

Sofort glomm in ihren Augen Neugier auf.

»Sie kam also hierher?«

»Ja, tagsüber, und sie blieb nie länger als eine Stunde.«

»Und was taten Sie in dieser Stunde?«

»Wir lasen Bücher«, sagte ich und sah sogleich einen Anflug von Enttäuschung über ihr Gesicht huschen. »Ach was, glauben Sie mir nicht, das ist ja keine Bücherei hier.«

Ihre Verblüffung wurde immer stärker. Vergebens versuchte sie sich auf meine widersprüchlichen Reden einen Reim zu machen. Und während ich ihre Mimik beobachtete, fiel mir auf einmal auf, was für ein schönes Gesicht sie hatte, ein klares, helles Mädchengesicht, in dem sich alles, was in ihr vorging, augenblicklich widerspiegelte. Mir war, als würde ich sie erst jetzt so richtig wahrnehmen. Waren ihre Verblüffung und ihr Interesse mir nur deshalb recht, weil das hieß, dass sie wohl bleiben würde? Merkwürdig, erst wollte ich gar nicht, dass sie hereinkam, und nun …

»Wenn Arzu also nicht zum Lesen hier war, haben Sie wohl Kaffee getrunken und geplaudert, oder?«, fragte die Journalistin und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Ja. Sie hatte hier im Dorf nicht viele Leute, mit denen sie reden konnte, also kam sie zu mir.«

Bestimmt wollte sie es als Journalistin möglichst weit bringen, und ohne diese Karotte vor ihrer Nase wäre unser Gespräch wohl schon beendet gewesen. Nun aber schien sie etwas Vielversprechendes zu wittern.

»Und mit Reden meinen Sie …«, sagte sie in der Hoffnung, ich würde darauf anspringen und ins Detail gehen. Das nutzte ich aus, um sie erst recht zu verunsichern.

»Und mit Reden meine ich, dass wir uns Geschichten erzählt haben.«

Wie erwartet, stutzte sie und verzog die Unterlippe zu einer Unschuldsmiene.

»Also …«

Wieder überließ sie es mir, den Satz zu vervollständigen.

»Und mit also meinen Sie …«, machte ich sie erneut nach.

Sie war mit ihrem Latein am Ende. Ungeduldig spielte sie mit dem Heft, in das sie sich eigentlich Notizen machen wollte. Schließlich gewann doch wieder ihre Journalistenneugier die Oberhand. Herausfordernd sah sie mir in die Augen.

»Also war Arzu Ihre Geliebte?«

Sie wähnte sich schon einem Triumph nahe. Von all den Journalisten, die nach Podima gekommen waren, hatte ausgerechnet sie den Geliebten der Ermordeten ausfindig gemacht und war dabei, ihn zu befragen.

»Nein«, sagte ich.

»Wie, nein?«

»Arzu und ich hatten kein Verhältnis.«

»Aber gerade … da haben Sie doch gesagt …«

Wie ein schmollendes Kind sah sie nun drein.

»Was habe ich gesagt?«

Sie verzog wieder die Unterlippe, nun aber wütend. Streng sah sie mich an und sagte: »Machen Sie sich über mich lustig?«

Es war hochinteressant, wie sich bei diesem anscheinend sehr stolzen Mädchen der Seelenzustand von Minute zu Minute änderte. Noch dazu wurde sie dabei immer schöner, denn ihre Blicke und ihr ganzes Mienenspiel hatten etwas vom ständig wechselnden Schwarzmeerwetter, das einen immer wieder verblüffte.

»O nein«, erwiderte ich. »Aber Sie sprechen so komplizierte Dinge an, dass es mit kurzen Fragen und Antworten nicht getan ist. Bleiben Sie doch auf einen Kaffee, dann können Sie mich fragen, was Sie wollen.«

Damit hatte ich ihren Panzer durchbrochen. Besänftigt willigte sie ein.

Als sie kurz darauf in einem der kleinen Sessel im Eifersuchtszimmer saß und ich den Kaffee servierte, fragte sie mich, ob ich über Arzus Tod denn gar nicht traurig sei. Ich gab keine Antwort, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

»Verstehe«, sagte sie. »Das hatte ich mir schon gedacht.«

Ich wusste zwar nicht, was sie sich gedacht hatte, aber nachfragen wollte ich auch nicht. Mit einer Mischung aus Neugierde und Scheu sah sie mich an, als inspizierte sie ein unbekanntes Insekt.

Alles an ihr sah gut aus, die schwarzen Augen, die Brauen, das ganze Gesicht, die Schultern, der schmale, energiegeladene Körper, doch wie ich schon festgestellt hatte, faszinierte mich am meisten ihre Unterlippe. Nicht dass ich in dieser Hinsicht Fetischist wäre, aber diese Unterlippe schien ein Instrument zu sein, um alles auszudrücken, was in dem Mädchen vorging. Momentan wirkte die Unterlippe ziemlich gleichgültig, doch ich war mir völlig sicher, dass sie bald wieder etwas anzeigen würde.

Da holte das Mädchen aus seiner sackartigen schwarzen Tasche ein Aufnahmegerät, eines von diesen schmalen, metallfarbigen Dingern. »Ich möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen und Ihre Antworten aufnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Ich habe nichts dagegen, aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Dass ich Ihnen genauso viele Fragen stellen darf wie Sie mir.«

»Aber ich bin doch die Journalistin.«

»Muss man Journalist sein, um Fragen zu stellen?«

»Nein, aber das ist meine Arbeit … Ich meine, die Leser haben schließlich ein Recht auf …«

»Versuchen Sie nicht abzulenken. Das ist nun mal meine Bedingung.«

»Aber wozu eine Bedingung? Auf Fragen, die Ihnen unlieb sind, brauchen Sie ja nicht zu antworten.«

Daraufhin schwiegen wir uns eine Weile an, als hätten wir gewettet, wer das Schweigen als Erster brechen würde. Sie wusste nicht, dass ich so ein Spielchen ewig lang aushalten konnte.

Irgendwann deutete sie mit einem Nicken ihr Einverständnis an und drückte auf den Knopf des Aufnahmegeräts. Dann fragte sie mich, wer ich eigentlich sei, warum ich nach Podima gezogen sei, was ich beruflich mache und wie ich Arzu kennengelernt hätte. Und ich gab auf alles offen und ehrlich Antwort.

2Ein Gespräch über Liebe und Eifersucht und über die Strafe, sein Schicksal schon im Voraus zu kennen

»Ich bin Bauingenieur«, sagte ich, »oder vielmehr war ich es. Achtundfünfzig Jahre bin ich alt. Angeblich sind wir echte Istanbuler, aber den Stolz, der darin mitschwingt, finde ich immer ein wenig lächerlich. Da wir keine Byzantiner sind und auch nicht Palaiologos heißen, muss auch unsere Familie irgendwann einmal zugewandert sein, bloß ist eben seither so viel Zeit vergangen, dass die ersten Ankömmlinge längst vergessen sind. Meinen Eltern, die selbst nicht mehr am Leben sind, mache ich daher keinen Vorwurf wegen dieses Stolzes.«

»Ach, Ihre Eltern leben beide nicht mehr?«

»Nein. Ich habe nur noch meinen Zwillingsbruder Mehmet.«

»Ahmet und Mehmet? Die zwei geläufigsten Namen? Das passt für Zwillinge.«

»Finde ich auch. Das haben meine Eltern sich gut überlegt. Aber alles lässt sich eben doch nicht planen. Dass sie sterben würden, ohne ihre Zwillinge aufwachsen zu sehen, hätten sie sich bestimmt nicht gedacht. Ist aber auch besser so, oder? Denn was könnte furchtbarer sein, als sein Schicksal schon im Voraus zu kennen? Würde man nicht jede einzelne Minute als einen Sargnagel empfinden? Allein der Gedanke lässt einen schon erschauern. Vor allem, wenn jemand sehr jung stirbt. Hätte Arzu während der Vorbereitung auf ihr grandioses Fest von einem Todesengel die Stunde ihrer Ermordung erfahren, wie hätte sie ihre Gäste noch so munter empfangen können? Kennen Sie die Geschichte von dem Hirten, der sich frecherweise in die Mondgöttin verliebt und dafür bestraft wird?«

»Nein.«

»Die Götter verdammen ihn dazu, im Voraus zu wissen, was jeden Tag geschehen wird. Diese Strafe ist schlimmer als der Tod, und genau deshalb wurde sie von den Göttern verhängt. Der Mensch ist schwach und sterblich und ständig Unbillen wie Krankheit, Unfall und Schmerz ausgesetzt, doch darüber tröstet er sich durch das Vergessen hinweg. Genau darin liegt der Schlüssel zum Geheimnis des Lebens: im Vergessen. Ohne zu vergessen, könnte der Mensch nicht leben.«

»Wie sind Ihre Eltern denn gestorben?«

»Wozu wollen Sie das wissen?«

»Na, Sie haben doch akzeptiert, alle Fragen zu beantworten. Also, wann haben Sie Ihre Eltern verloren? Ist es schon lange her?«

»Als Mehmet und ich zehn waren, sind wir mit dem Auto auf Besuch zu unseren Großeltern nach Ankara gefahren. Mein Vater saß am Steuer. Auf einmal ist ein entgegenkommender LKW auf unsere Fahrbahn geraten und hat uns gerammt. Später haben wir erfahren, dass der Fahrer seit Tagen unterwegs und völlig übermüdet war. Mein Vater war auf der Stelle tot, meine Mutter ist im Krankenhaus gestorben. Mehmet und ich haben überlebt, weil wir hinten saßen. Nach dem Unfall haben wir bei meinen Großeltern in Ankara gelebt, und deshalb haben wir auch dort studiert. Ich bin wie gesagt Bauingenieur geworden, mein Bruder Elektroingenieur. Mein ganzes Berufsleben habe ich auf Baustellen verbracht, doch ich bin früh in Rente gegangen.«

»Was ist Mehmet für ein Mensch?«

»Ach, wie soll ich sagen … Ein Sonderling. Aber eigentlich möchte ich diese Frage lieber nicht beantworten. Ich will über Mehmet nicht reden.«

»Doch, bitte, Sie haben zugesagt, dass Sie auf alles antworten.«

»Nein, bitte lassen Sie das, das Thema Mehmet ist beendet.«

»Na gut«, sagte sie. »Dann fahren Sie eben mit Ihrer Geschichte fort.«

»Vor einiger Zeit schon habe ich mich in diesem Dorf niedergelassen, von dem die meisten Istanbuler noch nicht einmal gehört haben. Das Leben ist leicht hier, denn keiner mischt sich in die Angelegenheiten des anderen ein. Und wenn einem danach ist, kann man in zwei Stunden in Istanbul sein. In Richtung Norden erreicht man in einer Stunde die Grenze zu Bulgarien. Hier leben nur einheimische Fischer, die sich mit den Schwarzmeerstürmen herumplagen, und ein paar Künstler und Rentner, die von Istanbul die Nase voll haben.«

»Haben Sie ein gutes Verhältnis zu den Leuten im Dorf?«

»Außer Hatice und ihren Sohn kenne ich so gut wie niemanden. Und die beiden kenne ich im Grunde genommen auch nicht wirklich. Arzus Ehemann Ali habe ich hier im Dorf kennengelernt. Er hatte an der Kunstakademie studiert und nach seinem Abschluss dort eine Stelle als Dozent bekommen. Daneben machte er sich auch als Maler einen Namen. Als die beiden vor zwei Jahren hierherzogen und hörten, dass da ein seltsamer Ingenieur aus Istanbul völlig zurückgezogen lebt, wollten sie mich unbedingt kennenlernen. Erst sträubte ich mich gegen eine Bekanntschaft mit ihnen, aber sie ließen nicht locker, vor allem Arzu. Ein Einsiedler in einem Haus voller Bücher übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Arzu ist eine Studentin von Ali gewesen, und der hat sich unsterblich in das hübsche Mädchen verliebt und um ihretwillen seine Frau verlassen. Nach ihrer Heirat sind die beiden in eine zweistöckige Villa in Podima gezogen, vermutlich um nicht mehr den missbilligenden Blicken ihres Umfelds ausgesetzt zu sein. Letztes Jahr haben sie einen Sohn bekommen, Emir. Ali hatte bereits drei Kinder aus erster Ehe, zwei Söhne und eine Tochter, die schon erwachsen sind.«

»Also waren sie altersmäßig ziemlich weit auseinander?«

»Ja. Grob geschätzt so an die dreißig Jahre.«

»Dann ist es ja kein Wunder«, sagte das Mädchen und nickte wissend.

»Was ist kein Wunder?«

»Na, dass sie auf ein Abenteuer aus war. Ist sie nicht auch deswegen zu Ihnen gekommen?«

»Was reden Sie da? Außerdem sind Ali und ich im gleichen Alter. Und sie ist nun mal nicht meine Geliebte gewesen.«

»Was war sie denn für eine Frau?«

»Tja, wie war sie? Voller Leben. Es fiel so einiges an ihr auf, aber am meisten ihre Energie. Wie sie lachte und wie sie ging, das hatte schon fast etwas Animalisches an sich. Sie war sehr attraktiv.«

»War sie schön?«

»Ja, sehr schön sogar«, erwiderte ich fast schuldbewusst.

Von der Schönheit anderer Frauen zu hören, scheint für junge Mädchen irgendwie interessant zu sein, denn eine Weile sah die Journalistin mich sinnierend an.

»Dieser Junge«, sagte sie schließlich, »wie hieß er gleich wieder, Emir, ja? Könnten Sie nicht der Vater von ihm sein?«

»Nein! Wie kommen Sie darauf?«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher.«

»Und wie können Sie so sicher sein?«

»Weil wir keine solche Beziehung hatten, wie Sie mir das unterstellen.«

»Das ist die Lösung! Eifersüchtiger Ehemann wird zum Mörder.«

»Wie bitte? Was soll die Lösung sein?«

»Der Mann hat von Ihrem Verhältnis mit seiner Frau erfahren und …«

»Würden Sie Ali kennen, so würden Sie gleich einsehen, was für ein Unsinn das ist. Der Mann würde einen anderen nicht mal mit einem Pinsel berühren, geschweige denn mit einem Messer.«

»Sie brauchen gar nicht zu spotten«, sagte sie gekränkt.

»Na, jetzt seien Sie nicht gleich eingeschnappt. Sie haben etwas vermutet, das völlig abwegig ist, da musste ich eben lachen.«

»Es kann aber auch umgekehrt sein.«

»Was meinen Sie jetzt wieder?«

»Statt des eifersüchtigen Ehemanns könnte es auch ein eifersüchtiger Liebhaber gewesen sein.«

»Unterstellen Sie mir einen Mord?«

»Möglich wäre es doch?«

Darauf herrschte wieder kurze Stille.

»Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte ich dann. »Wer sind Sie, was machen Sie, sind Sie verheiratet, aus was für einer Familie kommen Sie?«

»Muss dass sein?«

»Ja. Versprochen ist versprochen. Ich habe Ihnen alles erzählt, jetzt sind Sie dran.«

Sie leckte sich über die Lippen, als wüsste sie nicht so recht, wo sie anfangen sollte. Um die Sache hinter sich zu bringen, rasselte sie ihren Werdegang herunter. Sie habe an der Marmara-Universität Journalistik studiert, dann bei einer Zeitung als Reporterin angefangen und nebenbei noch einen Master gemacht. Verheiratet sei sie nicht, sie wohne auch noch daheim, der Vater sei Zahnarzt mit einer Praxis in Kadıköy, die Mutter Hausfrau. Keine Geschwister. Der »Podima-Mord« (so nannte sie das) sei ihre erste größere Geschichte, und sie könne damit bei der Zeitung groß herauskommen.

»Haben Sie einen Freund?«

Damit hatte ich sie kalt erwischt. »Was?«, fragte sie mit aufgerissenen Augen. Und gleich noch einmal: »Was?«

»Ob Sie einen Freund haben?«

Daraufhin zog sie ordentlich vom Leder. Wie ich es wagen könne, sie so etwas zu fragen; was mich das eigentlich angehe; was ich doch für ein seltsamer Kauz sei, etc. Irgendwann merkte sie, dass das Aufnahmegerät die ganze Zeit mitgelaufen war. »Mensch, jetzt habe ich mich selbst aufgenommen. Sehen Sie, was Sie mit mir angestellt haben?«

»Womit habe ich Sie denn so aufgebracht?«, fragte ich lächelnd zurück.

»Der kostet mich noch den letzten Nerv«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir, stopfte ihr Aufnahmegerät in die Tasche, stand auf und ging in Richtung Tür. Ich folgte ihr und öffnete ihr höflich die Haustür. Sie hielt mir (zum Glück) nicht die Hand hin und huschte grußlos hinaus. Als sie ein paar Schritte entfernt war, rief ich ihr nach: »In dem Haus ist noch jemand.«

Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

»In welchem Haus?«

»Im Haus von Ali und Arzu. Vielleicht ist das die Person, die zu Ihrem Liebes- und Eifersuchtsmord passt.«

Jetzt drehte sie sich doch um. Ihre Augen funkelten.

»Wer soll das sein?«

»Versuchen Sie es herauszufinden. Wenn es Ihnen nicht gelingt, dann kommen Sie einfach wieder.«

»Wiederkommen? Das hätte mir gerade noch gefehlt! Sie sind ja verrückt. Nie wieder setze ich meinen Fuß da hinein.«

Lachend wandte ich mich meinem Hund zu. »Da, Kerberos, sag Auf Wiedersehen zu der wütenden Dame. Heute Nachmittag kommt sie wieder.«

Kerberos bellte fröhlich und wedelte mit dem Schwanz.

»Bei Ihnen ist wohl alles antik, sogar der Name von Ihrem Hund. Das ist also Kerberos?«

»Ja.«

Damit hatte ich die beiden einander offiziell vorgestellt.

3Die kupierten Ohren von Kerberos, Swetlana und Vorzeichen von Wut

Kerberos, der schon lange mein Haus hütete, war zwar nicht drei-, fünf- oder siebenköpfig wie sein Namenspatron, aber der eine Kopf war so furchtbar hässlich, dass ein einziger Blick genügte, um Menschen, die ihm nicht passten, in die Flucht zu schlagen. Überhaupt war es ein Riesenvieh, das in keine handelsübliche Hundehütte passte, sodass ich mir für ihn eine regelrechte Hundevilla hatte schreinern lassen.

Er war so groß, wie ein Hirtenhund nur sein kann. Seine Ohren waren kupiert, damit sie ihm von Wölfen nicht abgebissen werden konnten.

Als ich mich von der Journalistin verabschiedete, warf er mir neckende Blicke zu, als wollte er sagen: »Na, da hast du ja wieder eine …« Für junge Frauen hatte er etwas übrig, auch hatte ihm gefallen, dass Arzu immer wiederkam. Hatice dagegen würdigte er keines Blickes. Wahrscheinlich nahm er sie nicht einmal als Frau wahr, der Mistkerl.

Er bleckte die Zähne, was bei ihm einem Lächeln gleichkam. Das wusste nur ich, andere Leute hielten es für ein Zeichen von Angriffslust. Dann ließ er den Kopf hängen und legte sich auf den Boden. Es war ein durchtriebenes Biest, das mich in- und auswendig kannte.

Ich ging ins Eifersuchtszimmer und dachte eine Weile nach. Sollte ich mich an den Tatort begeben? Dort wimmelte es vermutlich von Polizisten, und die würden über kurz oder lang ohnehin zu mir kommen und mich verhören.

Ich durfte meinen Tagesablauf nicht durcheinanderbringen, aber vorsichtshalber wollte ich mich anständig anziehen, um für den nächsten Besuch gewappnet zu sein. Aus dem Bereich »ab 25°« meines Kleiderschranks holte ich eine graue Hose und ein weißes Baumwollhemd. Dazu wählte ich bequeme Mokassins, die ich ohne Socken anzog. Sie waren bestimmt an die zwanzig Jahre alt, denn mein knapp bemessenes Geld investierte ich lieber in Billigausgaben von Büchern, und auch die waren oft aus zweiter Hand. Außerdem liebe ich meine alte Kleidung, und neue kaufe ich mir ganz ungern. Und neue Schuhe drücken mich grundsätzlich.

Dann ging ich in die Küche und machte mich an die Zubereitung von Fleisch und Salat. Ich achtete sehr auf meine Ernährung. Von Kohlehydraten in Brot und Nudeln hielt ich mich fern, doch jeden Morgen genehmigte ich mir ein Mandelgebäck. Daher nahm ich auch nicht zu. Ohnehin war ich von langem, schmalem Körperbau und unternahm dreimal in der Woche einen Strandspaziergang. Allerdings wurde es immer schwerer, mein Gewicht zu halten.

Zwar ging es mir nicht darum, irgendjemandem zu gefallen, aber schlank zu sein war nun mal gut und gesund, und so hoffte ich, noch recht lange zu leben, ja stellte mich sogar darauf ein, bei bester Gesundheit hundert zu werden. Dazu hielt ich einen strengen Diätplan ein und las im Internet Studien zu dem Thema. Denn es war doch die Hauptpflicht des Menschen, auf sich zu achten und möglichst alt zu werden. Oder?

Den Gedanken musste ich mir sofort aufschreiben. Ich las ihn aber nicht gleich wieder durch, sondern wollte abwarten, ob er mir ein paar Tage später noch immer so glänzend vorkommen würde. Dann griff ich nach dem Buch, das aufgeschlagen auf dem Tischchen lag, und verbrachte ein paar Stunden lesend. Aus dem Ort war keinerlei Geräusch zu vernehmen, und auch das Telefon klingelte nicht. Als ich mir gegen drei Uhr etwas Obst herrichtete, meldete Kerberos, dass die Journalistin wieder da sei. Ich musste schmunzeln. In dem Moment, als ich an der Tür war, läutete es. Das Mädchen war verblüfft, dass ich ihr so schnell öffnete.

»Haben Sie hinter der Tür gewartet?«

»Nein. Kerberos hat mir schon gemeldet, dass Sie kommen.«

»Dass genau ich komme …«

»Ja.«

»Und nicht jemand anders?« Spöttisch sah sie mich an. »Ihr Hund mit dem komischen Namen hat gesagt: ›Die Journalistin ist wieder da‹?«

»Ja, genau so war es.«

»Dann behaupten Sie also, dass Sie mit Tieren sprechen können?«

»Sprechen kann man es vielleicht nicht nennen, denn natürlich verwenden wir keine Worte. Aber es ist ein Verständnis da, eine Art Dialog in unseren Köpfen. Doch lassen wir das. Haben Sie herausbekommen, wer noch in Arzus Haus wohnt?«

»Ja, anscheinend eine Kinderfrau, die meinen Sie doch?«

»Swetlana.«

»Bitte?«

»Sie heißt Swetlana und ist Bulgarin.«

»Das hat man mir nicht gesagt.«

»Möchten Sie ihre Geschichte hören?«

»Ja.«

Ich öffnete die Tür ganz und machte eine einladende Geste.

»Ich richte gerade Obst her, das können wir zusammen essen, dann erzähle ich Ihnen alles.«

»Erzählen Sie es doch hier.«

»Ich bitte Sie, doch nicht an der Tür.«

Resigniert ließ sie die Arme sinken und gab einen Ton von sich, der sich in etwa wie »Pffff!« anhörte. Es war ihr gewiss schwergefallen, überhaupt wiederzukommen. Eigensinnige Mädchen nehmen nur ungern etwas zurück, doch die Neugier hatte wohl zu sehr an ihr genagt.

»Na gut, aber ich bleibe nur ganz kurz, höchstens eine halbe Stunde, dann fahren meine Kollegen nach Istanbul zurück, mit denen muss ich mit.«

»Ich werde so schnell erzählen wie möglich.«

Wir setzten uns wieder in dasselbe Zimmer. Auf einem kleinen Teller servierte ich ihr Honigmelone. Geistesabwesend griff sie zu.

»Swetlana ist Anfang dreißig«, fing ich an, »und hat in ihrer Heimat Krankenschwester gelernt. Sie ist eine dunkelblonde hochgewachsene Frau, die immer ganz aufrecht geht und sehr diszipliniert wirkt. Anders als in ihrer Krankenschwesterkluft habe ich sie nie gesehen.«

»Warum ist sie in der Türkei?«

»Sie war anscheinend in Bulgarien lange mit einem Mann zusammen, den sie sehr liebte, aber der Kerl hat sie Knall auf Fall verlassen und eine andere geheiratet, noch dazu ein ziemliches Dummchen. Daraufhin wollte sie so weit wie möglich weg. Ihre beste Freundin war türkischer Herkunft, und als