Schwarze Magie - Tanja Schüßler - E-Book

Schwarze Magie E-Book

Tanja Schüßler

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Beschreibung

Als sie ihren Ziehvater, einen alten Ritter, verließ, um in die Welt hinauszuziehen, hatte die 19-jährige Kim wahrlich nicht erwartet, bald von einer Horde wildgewordener, schwarzer Ritter mit ihren Streitrössern verfolgt zu werden. Auch hatte Kim nicht damit gerechnet, von einem der Verfolger in ihrem Fluchtversteck entdeckt zu werden - eine Begegnung, die ihr bestimmt so schnell nicht aus dem Kopf gehen würde. Vor allem aber hatte sich Kim nie erträumen lassen, plötzlich bis zum Hals in einem Kampf um Gut und Böse zu stecken, in dem nicht nur sie, sondern auch der geheimnisvolle Krieger eine entscheidende Rolle spielen. Dies ist ein Buch, in dem es um die Prophezeiung und um den immerwährenden Kampf zwischen Gut und Böse und eine nicht unbedingt einfache Beziehung zwischen einer mutigen jungen Frau und einem Krieger geht. Begleiten Sie Kim auf ihrer Reise und seien Sie gespannt auf die Wendungen und Entwicklungen, die Kims Leben nimmt.

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Prolog

1.

Sie spürte ihre Beine kaum noch. Schon seit Stunden lief sie auf diesem Feldweg entlang, der noch immer keine Anzeichen machte, sich zu biegen oder gar zu enden. Zuerst wurde der Weg zu ihrer Rechten von einem schmalen Flusslauf begleitet. Dann führte sie dieser Weg durch einen dichten Hain, um kurz darauf den Blick auf eine freie Ebene freizugeben. Die Felder zu beiden Seiten des Weges waren schon lange abgeerntet worden, nur die tiefen Furchen der Pflüge waren noch ansatzweise erkennbar.

Irgendwann gewahrte sie links von sich die dunkle Linie eines Waldes, der im Verlauf des Weges weiter und weiter an diesen heranreichte und die tiefhängenden Äste der Bäume sich weit über den Pfad herüberbeugten. Damit hatten sich die Änderungen ihrer Umgebung jedoch nahezu erschöpft.

Nun bereute sie es, zu Fuß aufgebrochen zu sein und auf ein Pferd verzichtet zu haben.

Es war Winter, die Sommernachtswende war schon lange vorüber und die Nächte wurden zunehmend länger- und kälter.

Kurz nach ihrer Abreise hatte es zu schneien begonnen. Nun war die Gegend, durch die sie wanderte, über und über mit Schnee bedeckt. Eine reine, weiße Schneedecke, so, als hätte sich die Wiese unter die Decke zurückgezogen, um dort ihren Winterschlaf zu halten. Die Furchen auf dem Feld rechts von ihr waren bereits von Schnee gefüllt. Selbst Spuren von Hasen oder Rehen waren nur vereinzelt zu erkennen. Die Tiere hatten sich vermutlich tief in den angrenzenden Wald zurückgezogen, um dort einen geschützten Unterschlupf zu finden.

Sie musste sich eingestehen, dass die Tiere ihr um einiges an Klugheit voraus waren.

Die Kälte zog langsam durch ihre dicke, zum Teil mit Schafswolle bestehende Kleidung und ließ sie bibbernd mit den Zähnen klappern. Ihre Finger hatten allmählich schon die blassblaue Farbe des Himmels angenommen und die Sonne hatte sich hinter den tiefhängenden Wolken versteckt.

Langsam setzte die Dämmerung ein und sie musste zusehen, dass sie einen Schlafplatz für die anstehende Nacht fand.

Etwas Heißes zu Trinken wäre angesichts der eisigen Kälte auch nicht schlecht.

Kim, die eigentlich Kristin-Minella hieß, war bei einem alten Ritter hinter den Hügeln aufgewachsen.

Er war nicht ihr Vater, ja, er war nicht einmal mit ihr verwandt. Über ihre Herkunft wusste Kim nur das, was der alte Ritter ihr berichtet hatte. Sie soll als Säugling in einem Weidenkorb an einem Bachlauf in der Nähe der Burg gelegen und bitterlich geweint haben.

Das mit dem Weinen konnte Kim zwar nicht wirklich nachvollziehen aber der Klang ihrer Stimme schien den Ritter überzeugt zu haben, ihr ein Zuhause zu geben.

O ja, sie war ihm ewig dankbar, dass er sie bei sich aufgenommen und großgezogen hatte. Sie lebte mit ihm gemeinsam in einer großen, alten Burg mit einem riesigen Eingangstor und zwei Türmen. In einem der Türme war Kims Zimmer gewesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie der eiskalte Wind im Winter um den Turm geheult hatte, während sie in der Burg nach Geistern und anderen Fabelwesen suchte. Stets hatte ihre erfolglose Suche im großen Wohnraum der Burg geendet, der mit einem großen Kamin ausgestattet war, in dem zu ihrem Erstaunen immer ein Feuer brannte. Dort hatte sie zu Füßen des alten Ritters gekauert und seinen Erlebnissen über Könige, Ritter, Märkte und Turniere gelauscht. Manchmal hatte er ihr Rittergeschichten aus seinen Büchern vorgelesen.

Er lehrte Kim das Lesen und Schreiben und auch Rechnen musste sie erlernenauch wenn sie diese Aufgaben von allen am meisten verabscheut hatte.

Schließlich war Kim es, die dem alten Ritter aus seinen Büchern vorlas und viele der Bücher landeten in ihrem Turmzimmer.

Es war eine schöne und behütete Kindheit gewesen aber auch wenn er sie so liebevoll aufgezogen hatte, war sie sich trotzdem noch nicht darüber im Klaren, warum der alte Ritter ihr ausgerechnet den Namen `Kristin-Minella` gegeben hatte.

Kristin-Minella, das klang so weiblich, so vornehm, eben so, wie sie niemals sein wollte. Und auch ihr Ziehvater merkte irgendwann, dass sie nicht so ein zerbrechliches Wesen war, wie man von Mädchen im Allgemeinen annehmen konnte.

Im Gegenteil, im Laufe ihres Heranwachsens wies sie die Kraft und die Schnelligkeit eines Knaben aber auch die Geschicklichkeit und Reaktionsfähigkeit eines Mädchens auf.

Ab ihrem neunten Lebensjahr hörte sie nicht mehr auf den alten Ritter, wenn er sie bei ihrem vollständigen Namen rief und so musste er sich daran gewöhnen, sie mit dem Namen `Kim` anzusprechen.

Und nachdem sie ihm ihre heimlich antrainierten Reitkünste vorgeführt und- zugegeben- ihm zwei ganze Jahre lang mit dem Wunsch, ein richtiger Ritter zu werden, in den Ohren gelegen hatte, ließ er sich erweichen und lehrte Kim die Kunst des Schwertkampfes und des Jagens.

Das Training war hart gewesen und ihr Ziehvater unerbittlich. Kim grinste in sich hinein, wenn sie daran dachte, wie viele Blessuren sie im Zweikampf mit dem Holzschwert davon getragen hatte und wie viele Pfeile sie wahllos in den Wald gefeuert hatte, wenn sie aus dem Galopp mit ihrem Bogen auf eine Zielscheibe hatte schießen sollen.

Doch sie ließ nicht locker, gab nicht auf und im Laufe der Zeit wurden ihre Bewegungen geschmeidiger, ihre Hiebe mit dem Holzschwert kraftvoller und auch die Pfeile fanden ihr Ziel mit nahezu schlafwandlerischer Sicherheit.

Schließlich hatte auch ihr Ziehvater ihrem Durchhaltevermögen im Bogenschießen und ihrem Ehrgeiz, die verschiedenen Angriffe im Zweikampf zu parieren, Anerkennung gezollt und sie mit ihrem eigenen Schwert belohnt.

Jetzt, 10 Jahre später, war aus Kim eine anmutige junge Frau geworden. Wenn man sie nur nach ihrem Äußeren beurteilen wollte, schien sie eine ganz gewöhnliche Frau zu sein, mit schlanker, graziler Figur, ihren langen, fast schwarzen, leicht gewellten Haaren und ihren stechend blauen Augen, indem immer ein neugieriger Ausdruck lag. Doch mit der anmutenden Weiblichkeit hörte es bei ihrer Kleidung auf, sie bevorzugte bequeme Kleidung und lehnte lange, wallende Röcke ab- ganz zu schweigen von den elend engen Korsagen, die einer Frau die Luft abschnürten und ihre Stimme mangels Sauerstoff zu einem Stimmchen werden ließen.

Gottlob war die Burg des alten Ritters weit genug von der Hauptstadt der Lande entfernt gewesen, um ihr die Teilnahme an den Empfängen und Bällen von den Stadthalters Töchtern zu ersparen.

Und nun war sie auf dem Weg in die große weite Welt....

Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an den Tag zuvor dachte.

Ihr Ziehvater war zu ihrer Überraschung kein bisschen verärgert gewesen, als sie zu ihm gegangen war mit dem Wunsch, die Welt außerhalb der Burg und den angrenzenden Ländereien kennenzulernen.

Er hatte nicht versucht, sie zurückzuhalten, sondern bloß geantwortet: „In der Küche steht eine Tasche mit Proviant und vergiss dein Schwert nicht“. Offenbar waren ihm der Wunsch seines Zöglings und die wiederkehrende Sehnsucht in ihrem Blick, wenn sie in ihrem Turmzimmer aus dem Fenster in die Ferne und zu den gleichmäßig am Horizont verlaufenen Hügeln geblickt hatte, nicht verborgen geblieben.

Kim hatte die Tasche genommen, dem alten Ritter einen Kuss auf die Wange gegeben und sich auf den Weg gemacht, ohne Ziel und ohne Furcht.

Ihre Nase war schon nicht mehr zu spüren, ebenso wie ihre Finger und auch in ihre mit Lammfell gefütterten Stiefel war die Kälte mittlerweile gekrochen. Es würde der wohl härteste Winter ihres Lebens werden und langsam machten sich Zweifel in ihr breit, ob sie nicht etwas übereilt losgezogen war. Im Frühling wäre das Vorankommen bestimmt einfacher gewesen und sie wäre nicht auf eine warme Unterkunft unter Menschen angewiesen.

Nein, so hatte sich Kim ihr Abenteuer nicht vorgestellt. Sie fror entsetzlich und erschöpft war sie auch. Zudem hatte sie Angst, in einen Schneesturm zu geraten, was in dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich war.

Zeitweise vermisste sie ihren Wallach schmerzlich, doch in ihren Träumen war sie alleine zu Fuß losgezogen in die weite Welt. Wohlstand, den ein eigenes Pferd bedeutete, wollte sich Kim zunächst verdienen. Egal wo sie ihr Weg auch hinzuführen vermochte, welche Arbeiten sie erledigen musste, sie hatte dieses Abenteuer gewollt und sie wollte unabhängig sein, gleich, was es kosten würde.

Kim war so in ihre Gedanken versunken, dass sie in der Dämmerung gar nicht gemerkt hatte, wie sie sich einem Gehöft näherte, das sich rechts des Feldwegs nach einem sanft abfallenden Hügel befand.

Erleichterung wallte in ihr auf, sie fuhr aber im gleichen Moment zusammen, als sie vom Gehöft her einen Schrei hörte. Wie von selbst tastete sich ihre Hand unter dem Umhang bis zu ihrem Schwert vor. Kim spürte den immerzu warmen Griff unter ihren fast tauben Fingern und sofort machte sich ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit in ihr breit.

Das Schreien erscholl wieder und hielt ein paar Sekunden an, bevor es abrupt abbrach.

Entschlossen verließ Kim den Feldweg und rutschte den Hang hinunter, unter dessen schneebedeckter Oberfläche sich glatte Eisstücke zu befinden schienen. Vorsichtig näherte sie sich den dunkel vor ihr aufragenden Gebäuden. Hier gereichte ihr der Schnee nun zum Vorteil, denn ihre Schritte waren lautlos, der Schnee verschluckte nahezu jeden Laut- außer dem Schrei, der noch immer in ihren Ohren widerhallte.

Der Hof bestand aus mehreren Gebäuden, einer Scheune, in dem sich dem Geruch zu urteilen auch die Ställe befanden, einem kleinen Holzhaus, in dem vermutlich die Vorräte gelagert waren, einer Tränke, einem Gerätehaus, in dessen geöffneter Tür sie Teile von für den Ackerbau notwendige Feldgeräte erkennen konnte, einem Gesindehaus und dem Wohnhaus.

Es war das größte Gebäude, von dem Kim vermutete, dass es sich dabei um das Wohnhaus handelte. Davor standen fünf schwarze Pferde. Ihr reichte ein Blick, um zu erkennen, dass es sich bei den hochgewachsenen Rössern nicht um gewöhnliche Rappen handelte, sondern um solche, die für den Krieg lebten. Es war ihr, als spüre sie einen Hauch von Kälte von diesen Tieren ausgehen, der in ihren Körper einzudringen und ihre Seele zu umschweifen schien. Eines der Tiere drehte sich zu Kim um, es schien, als blicke es sie direkt an.

Kim unterdrückte dieses unheimliche Gefühl, dass die Pferde in ihrer Magengegend auslösten und lief flink um den Innenhof herum, um sich hinter einen Holzstapel zu ducken, der sich unmittelbar neben dem Wohnhaus befand. Sie spähte durch ein Fenster, konnte jedoch nichts erkennen.

Es blieb nur eine Möglichkeit, herauszufinden, wer den Schrei ausgestoßen hatte und was die Pferde damit zu schaffen hatten und so trat sie nach kurzem Zögern auf die schwarzen Kriegsrösser zu. Diese starrten Kim aus dunklen Augen an, ließen es aber geschehen, als Kim einen Sattelgurt nach dem anderen zu lösen begann.

„So, schön still halten, Großer“, flüsterte sie, als sie auch den Sattel des letzten Pferdes löste. Das Tier schnaubte und trippelte leicht auf der Stelle. Es schien zu merken, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, tat Kim allerdings den Gefallen, keinen weiteren Laut von sich zu geben.

Zufrieden betrachtete Kim ihr Werk, drehte sich um und schlüpfte durch die halb geöffnete Tür ins Wohnhaus.

Sie fand sich in einem schmalen Flur wieder, von dem rechts und links mehrere Räume abzweigten. Die Durchgänge zu den Räumen waren mit großen Wolldecken gegen Zugluft abgehängt und nach einem kurzen Blick Kims auch dunkel und leer.

Am Ende des Ganges befand sich eine weitere feste Holztür, hinter der sich Menschen zu befinden schienen. Von dort aus fiel ein flackernder Lichtstrahl in den Flur und Kim hörte Männerstimmen. Mit höchster Vorsicht bewegte sie sich auf diesen Raum zu.

„Wo ist es, wo hast Du es versteckt?“, fragte eine tiefe, grollende Stimme.

„Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Herr“, lautete die ängstliche Antwort.

„Halte mich nicht zum Narren, die Adler des Gedafar haben uns den Weg zu Euch gewiesen, Ihr habt mit der Sache zu tun, habt Euch gegen unseren Herrn verbündet!“ schrie die erste Stimme.

„Nein, so ist es nicht, Herr. Eure Späher müssen sich getäuscht haben“, wimmerte nun die andere Stimme.

„Die Späher irren sich nie!“

Dann vernahm Kim einen erstickten Laut und ein Geräusch, als stürze etwas Schweres zu Boden.

Sie hatte nun die Tür erreicht, hinter der sie die Stimmen vernommen hatte. Die Tür war nur ein Spalt breit offen aber es gelang ihr, sie lautlos noch ein Stück weiter zu öffnen.

Was Kim in der Wohnstube sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

2.

Der Wohnraum war sehr groß. Eine Sitzecke mit Schaukelstuhl stand halbkreisförmig um einen Kamin herum, in dem ein Feuer brannte. Links neben dem Kamin befand sich ein Regal, voll mit schriftlichen Werken, rechts, unterhalb der Fenster stand eine schmucke Kommode, an die sich mehr in den Raum hineingerückt ein runder Esstisch mit passenden Stühlen anschloss.

Über dem Kaminsims hing ein Spiegel, er war leicht geneigt angebracht, so dass er es für Kim möglich machte, auch den Rest des Raumes zu erblicken. Erschrocken sog Kim die Luft zwischen den Zähnen ein.

Alles in allem erschien der Raum recht gemütlich, wären da nicht die Toten gewesen.

Es waren zwei, vermutlich der Hofherr und seine Ehefrau.

Die Frau saß zusammengesunken in dem Schaukelstuhl, auf ihrem Schoß lag eine Handarbeit, an der sie offensichtlich zum Zeitpunkt des Überfalls gearbeitet hatte.

Kims Blick glitt über die Leichen, ihre Augen brannten und ihre Hände zitterten gewaltig. Sie musste sich beherrschen, um nicht Hals über Kopf aus dem Gebäude zu laufen.

Der Mann, der vermutlich bei Kims Betreten des Hauses noch am Leben gewesen war, lag zu Füßen eines ganz in schwarz gekleideten Kriegers. Unter dem Körper des Bauern breitete sich langsam eine Blutlache aus.

Halb unter dem Esstisch vergraben gewahrte Kim die Leiche eines Knaben, der sich vermutlich unter dem Tisch vor den Eindringlingen hatte verstecken wollen. Der Junge lag in seltsam verdrehter Körperhaltung da, als seien ihm sämtliche Knochen gebrochen worden.

Außer den Opfern und dem Wortführer befanden sich noch vier weitere Krieger in diesem Raum. Sie waren alle in schwarze Rüstungen mit einem schwarzen Umhang gekleidet. Der Wortführer trug einen Helm aus schwarzem, glänzenden Eisen, auf dessen Haupt zwei gewundene Hörner prangten.

Die anderen Krieger trugen kleinere Helme.

Während Kim mit wachsendem Schrecken die Krieger und die Toten betrachtete, begannen diese auf Zuruf ihres Wortführers den Wohnraum zu durchsuchen.

„Orson! Sieh mal, ich glaube, ich habe etwas gefunden“, sagte der Krieger, der vor dem Bücherregal stand.

Der Wortführer trat mit energischen Schritten zu ihm und nahm ein Buch in die Hand. Nach kurzem Ansehen, begann er zu lachen und schollt den Krieger „Lephto, hast Du immer noch nicht lesen gelernt? Da steht alles drin aber nicht das, was wir suchen!“

Die anderen Kumpane unterbrachen ihre Suche, um schallend zu lachen.

Dieses Lachen klang so tief, dass es Kim durch Mark und Bein drang. Sie beschloss, das Haus zu verlassen, ehe die Männer auf die Idee kamen, auch noch die anderen Räume zu durchsuchen.

Leise zog sie sich zurück. Doch leider hatte sie den Stapel Holzscheite, der hinter ihr an der Wand stand, vergessen und schon polterte einer der Scheite zu Boden.

„Hey! Was war das?“, hörte sie einen der Krieger schreien.

Das „Da hat uns jemand beobachtet!“ und „Bringt mir diesen Kerl!“, hörte Kim schon nicht mehr. Blindlings stürmte sie aus dem Wohnhaus auf den Hof hinaus und rannte in Richtung des Feldwegs und somit auch in Richtung des nahegelegenen Waldes.

Nun war Kim dankbar ob der tiefhängenden Wolken, die das Licht des vollen Mondes verdeckten, denn sonst wäre sie eine optimale Zielscheibe gewesen. Allerdings, so war Kim bewusst, war sie auch so vor dem schneebedeckten Untergrund leicht zu erkennen.

Hinter ihr erklang ein wütendes Brüllen, als die Krieger die gelösten Sättel vorfanden. Doch viel zu kurze Zeit später vernahm Kim ein Dröhnen und meinte, das Vibrieren des Bodens zu spüren, als die Krieger auf ihren Rössern die Verfolgung aufnahmen.

Kim spurtete weiter auf den Wald zu, den Hügel hinauf. Umdrehen konnte sie sich nicht, aus Angst, in dem Schnee den Halt zu verlieren und zu stürzen.

Der Schnee dämpfte den Klang der Hufe, doch Kim klingelte er in den Ohren, so holten ihre Verfolger doch unbarmherzig auf.

Dann war der Wald heran und Kim stürzte sich kopfüber ins Dickicht. Sie überschlug sich, doch der Schnee dämpfte ihren Aufprall auf den Boden. Ohne Zeit zu verlieren, rappelte sie sich auf und rannte blindlings weiter. Sie brauchte ein Versteck und sah sich gehetzt um.

Vor sich gewahrte sie eine große Eiche, deren Wurzeln, umgeben von hohen, schneeverhangenen Pflanzen, groß genug waren, um einen Menschen zu verbergen.

Das war die einzige Chance, denn ein Rennen gegen die Pferde würde sie mit Sicherheit verlieren und dieser Gedanke spornte sie zu noch höherer Geschwindigkeit an.

Hinter ihr krachte es und dann schien der Wald zu explodieren, als fünf Reiter mit ihren Rössern gleichzeitig in den Wald eindrangen.

Mit einem Sprung, der mehr Verzweiflung beinhaltete als gezielt war, warf sich Kim in Richtung der Wurzeln. Sie prallte mit dem linken Bein gegen eine der Wurzeln und nahm schützend die Hände vor ihr Gesicht. Ein Glück, denn sie schrammte hart über den nicht mit Schnee bedeckten, dafür aber hart gefrorenen Boden unter den Eichenwurzeln.

So weit sie konnte, robbte Kim innerhalb des Wurzelgeflechts von dem künstlichen Eingang fort, bis sie zwar einen schmalen Streifen der Umgebung erhaschen konnte, vor den Blicken der Krieger aber weitestgehend geschützt war. Die dunkle Nacht begünstigte ihr Versteck.

Nach einem erleichterten Seufzen, es geradezu in letzter Sekunde geschafft zu haben, erstarrte Kim und presste ungewollt ihre Tasche fest an sich.

Seichter Schneestaub rieselte auf sie herab, als die Krieger in ihrer Suche ausschwärmten.

„Weit kann er nicht gekommen sein, er muss sich hier irgendwo verstecken“, hörte sie den Anführer sprechen. „Sucht ihn!“, befahl er seinen Kriegern.

Kim hielt die Luft an, als sie das gedämpfte Geräusch von Pferdehufen im Schnee hörte. Ein dunkler Schatten, dunkler als die Umgebung, ragte über ihr auf. Sie traute sich nicht, zu atmen und spannte alle Muskeln an, um bloß kein verdächtiges Geräusch zu verursachen.

Der Krieger ließ sein Pferd unmittelbar über Kims Versteck halten und suchte die Umgebung ab. Kim rührte sich nicht. Der Krieger ließ seinen Blick nicht nur in die Wipfel der Bäume und die Weite schweifen, sondern richtete ihn auch hinab zu Boden- und schien sie direkt anzusehen. Kim erstarrte.

Plötzlich lichteten sich die Wolken über ihr und das gleißende Licht des Mondes schien direkt auf Kim herab.

Der Krieger zuckte unmerklich und Kim war sich sicher, dass er sie gesehen hatte, er musste sie gesehen haben, denn das Mondlicht war so gleißend, dass ihre Augen schmerzten. Sie konnte die Augen jedoch nicht schließen, wollte sie doch vollends auf einen Angriff vorbereitet sein.

Bevor sie ihr Schwert greifen konnte, zog eine Wolke vor den Mond und die schützende Dunkelheit umgab Kim.

Ein kurzer Lichtstrahl- metallischen Ursprungs- huschte über das Gesicht des Kriegers über ihr. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Kim unter dem schwarzen Helm die Augen des Kriegers.

Es waren nicht, wie man bei der übrigen Erscheinung annehmen könnte, schwarze oder harte Augen, sondern die schönsten Augen, die Kim je gesehen hatte. Sie waren von weicher, brauner Farbe und enthielten nichts von der Härte und Kälte aus, die die Rüstung ausstrahlte.

Außer den Augen und den sanft geschwungenen Augenbrauen waren unter dem Helm noch der sinnliche Mund und das markante, mit dunklen Bartstoppeln überzogene Kinn des Kriegers zu erkennen.

„Alaris, hast du was entdeckt?“ Ein anderer Krieger gesellte sich hinzu.

Kim stockte der Atem, als sie der Krieger über ihr- Alaris- noch einmal direkt anzusehen schien, doch dann wandte er den Kopf zur Seite und sagte: „Nein Lephto, hier ist niemand.“

Die beiden Krieger ließen ihre Pferde wenden und ritten langsam davon. Das Blut begann in ihrem Kopf zu pochen und Kim erkannte, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte.

Sie blieb jedoch noch lange regungslos in ihrem Versteck unter den Eichenwurzeln liegen, lauschte in die Dunkelheit hinein und erst als sie sicher war, nirgends in der Nähe Pferdehufe zu vernehmen, wagte sie sich aus ihrem Versteck hervor.

Langsam und bedacht, keinen Laut zu verursachen, begab sich Kim zurück zum Gehöft. Dabei achtete sie peinlich darauf, sich verborgen im Wald den Gebäuden zu nähern, um nicht doch noch entdeckt zu werden. Immer wieder blieb sie stehen, und lauschte regungslos auf die Laute ihrer Umgebung doch es blieb alles ruhig.

In dem Gebäude der Stallungen wollte Kim ihr Nachtlager einrichten. Auch hier traf sie auf getötete Menschen, es handelte sich dabei wohl um das Gesinde. Tiere fand Kim nicht, sie waren vermutlich vertrieben worden.

In einem weiteren Gebäude waren Nahrungsmittel für Mensch und Tier untergebracht. Eine schmale Leiter führte hinauf auf den Scheunenboden, auf dem sich Heu und Stroh für das Vieh fand.

Dort bereitete Kim ihr Nachtlager, sie hatte Hunger und doch konnte sie ihren Proviant nicht anrühren, so schrecklich war der Anblick all der Leichen um sie herum.

Warum nur mussten diese einfachen Menschen sterben?

Was hatten Orson und die Schwarzen Krieger gesucht und was viel wichtiger war: hatten sie es gefunden?

Was waren das nur für Menschen- wenn man überhaupt von Menschen sprechen konnte- die solche Gräueltaten vollbrachten, bloß weil sie etwas suchten?

Doch einer von ihnen war nicht so. So kalt und unbarmherzig. Sonst hätte er Alarm geschlagen, als er Kim im Wurzelgeflecht der Eichen entdeckt hatte. Und er hatte sie entdeckt, dessen war sich Kim sicher.

In der Wärme des Heus lag sie auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und dachte an die braunen Augen, die so gar nicht zu der düsteren Erscheinung des Ritters passen wollten und an den Grund, warum er sie nicht verraten hatte. Darüber schlief sie ein.

3.

Alaris und Lephto ritten Seite an Seite durch den immer dunkler werdenden Wald zurück zu Orson, ihrem Anführer.

Lediglich der Schnee erhellte die Umgebung ein wenig. Dort, wo die Wolken aufrissen und das blasse Mondlicht auf den schneebedeckten Waldboden traf, glitzerten die winzigen Eiskristalle wie tausende Diamanten.

„Wir haben in der Dunkelheit niemanden ausmachen können“, erstattete Lephto ihrem Anführer Bericht. Auch die anderen Krieger kehrten mit der gleichen Meldung zu Orson zurück.

„Nun denn, lasst uns zum Lager zurückkehren, den Hof brennen wir morgen nieder. Es hat ohnehin niemand überlebt und der Eindringling kann ohne Pferd morgen nicht so weit gekommen sein, wenn nicht schon der Winter sein Übriges tut „, sprach Orson.

Bereits während des Ritts durch den Wald zum Lager der Schwarzen Krieger dachte Alaris über den Sinn seines eigenen Handelns nach.

Er hatte den Flüchtenden bemerkt, versteckt unter den Eichenwurzeln. Nun ja, sehr viel mehr als ein Augenpaar hatte er nicht erkennen können. Doch waren dort diese strahlend blauen Augen gewesen, erfüllt mit Angst und noch etwas, dass er nicht in Worte fassen konnte.

So etwas hatte er noch niemals zuvor in seinem Leben gesehen. Und doch war es nur ein Augenpaar. Warum hatte er nicht Alarm geschlagen und die anderen zu dieser Stelle geführt, um den Eindringling zu stellen und zu töten?

Vielleicht hatte er sich auch getäuscht und die anderen nicht darauf aufmerksam gemacht, weil er sich nicht sicher war, ob er wirklich einen Menschen gesehen hatte oder doch nur ein verängstigtes Tier.

Nein, es kann kein Tier gewesen sein, denn Alaris hatte noch nie ein wildes Tier mit blauen Augen gesehen. Solch wunderschönen blauen Augen, dass sich bei diesem Anblick ein wohlig warmes Gefühl in seiner Magengegend ausgebreitet hatte. Ob es eine Frau war? Eine Frau vom Hof, den sie überfallen hatten? Oder ein Knabe oder ein Bediensteter des Hofs, der vor dem Überfall hatte flüchten können? Er entsann sich noch eines Gesichts, schemenhaft und konturlos ob des strahlenden Mondlichts, jedoch war es ein Gesicht, ein eindeutig menschliches Gesicht gewesen, erhellt vom gleißenden Licht des Mondes und umrahmt von dunklen Haaren.

Er schalt sich in Gedanken und schüttelte leicht den Kopf. Es konnte nicht sein. Sie hatten alle Menschen auf diesem Hof gestellt. Es war niemand entkommen, es hatte ihnen niemand entkommen können.

Sie erreichten das Lager, die Feuer dort waren bis auf kleine Häufchen Glut herabgebrannt und gaben ein unheimliches, glühendes Licht von sich. In diesem Schein sattelten die Krieger wortlos ihre Pferde ab und banden sie bei langer Leine an die Zweige der umstehenden Bäume.

Alaris betrat sein Zelt, entledigte sich der schwarz glänzenden Rüstung und legte sich auf sein Lager. Das Zelt hielt die eisige Kälte nur bedingt ab, schirmte allenfalls Wind und Schneeböen ab. Gegen die Kälte schützten sich die Krieger mit weichen Lamm- und Schafsfellen, die aufgeschichtet ein bequemes Nachtlager boten. Doch heute brauchte Alaris keine zusätzlichen Felle, um seinen Körper zu bedecken, in ihm war eine nie da gewesene Wärme, die sich von seinem Kopf bis hin zu seinen Füßen erstreckte.

Er starrte an den Zelthimmel und dachte an das helle Gesicht mit den blauen Augen.

Er musste etwas tun, zurück zu der Eiche reiten, im Wald allein nach dem Wesen aus den Wurzeln suchen. Vielleicht sollte er auch zum Gehöft reiten und dort seine Suche beginnen. Es wäre gegen Orsons Befehl und der Anführer war für seine harten und teils unmenschlichen Strafen bei Nichtbeachtung seiner Befehle bekannt. Nein, Alaris hatte kein Bedürfnis danach, sich dem Zorn Orsons auszusetzen.

Dennoch weigerte sich etwas in ihm, diese Erscheinung als ein Hirngespinst abzutun. Das gleiche Gefühl, das ihn überkommen hatte, als er in diese Augen sah. Ein fremdes Gefühl, das noch immer in ihm zu schweben schien, nicht unangenehm, wohl aber unbekannt und warm.

Was, wenn sie am morgigen Tage diese Gestalt antreffen? Sie würden sie gefangen nehmen und- wenn es eine Frau war, eine schöne Frau- würden sie sie zum Schloss bringen, damit man sich mit ihr begnügte. Vermutlich jedoch würde Orson nicht bis zu ihrer Rückkunft im Schloss warten. Dieser Gedanke gefiel Alaris ganz und gar nicht.

Daher hoffte er inständig, am nächsten Tag niemanden mehr anzutreffen und doch empfand er plötzlich eine Sehnsucht nach den Augen, die ihn über alle Maßen erschreckte.

4.

Beim Morgengrauen erwachte Kim durch das Geschrei von Hühnern.

Sie kleidete sich an und blickte von ihrem Nachtlager auf dem Heuboden der Scheune hinab. Dort fanden sich mehrere Hühner, die aufgeregt und gackernd im Kreis liefen. Kim sah ihnen eine Weile zu und musste bei diesem Anblick schmunzeln- bis eines der Hühner den Kopf in ihre Richtung wandte und zu ihr sprach: „Du musst dich beeilen. Sie kommen wieder und setzen alles in Brand. Du willst doch nicht entdeckt werden, oder?“

Kim traute ihren Ohren nicht. Ein Huhn sprach zu ihr. Sie fixierte das sprechende Huhn mit ihrem Blick doch es sagte nichts mehr, sondern lief stattdessen weiter gackernd seine Kreise.

Beunruhigt und verunsichert entschied sich Kim, den Worten des Huhns Glauben zu schenken und raffte ihre Sachen zusammen. Bepackt mit ihrer Tasche und ihrem Schwert kletterte sie die Leiter zum Boden der Scheune hinab.

Wenn auch mit starkem Widerwillen beugte sie sich zu den Hühnern hinab und sagte: „Ich werde Eurer Warnung Folge leisten aber ich muss herausfinden, was die Schwarzen Krieger gesucht haben und wofür all die Menschen hier sterben mussten. Bitte warnt mich, sollten diese Männer zurückkehren.“

Dann wandte sich Kim wieder dem Wohnhaus zu.

Sie beschloss, im Erdgeschoss mit ihrer Suche zu beginnen und betrat den Wohnraum. Das Feuer im Kamin war mangels nachgelegter Holzscheite erloschen und die Kälte war deutlich spürbar. Kleine Atemwölkchen tanzten vor Kims Gesicht, als sie fröstelnd über den am Boden liegenden Bauern hinweg trat und die Titel der im Wandregal stehenden Bücher las. Die Titel sagten ihr allesamt nichts und auch das Herausziehen einzelner Bücher brachte sie zu keinem Ergebnis. In dem gesamten Wohnraum fanden sich keine Hinweise auf den Grund des Todes der Bauersfamilie und ihrem Gesinde. In der Küche durchsuchte Kim jeden Winkel und auch im Schlafraum des Hofherrn fand sie keinerlei Anhaltspunkte. Als sie den Schrank öffnete, in dem die Frau des Bauern ihre Kleidung aufbewahrt hatte, fiel ihr ein kleines, in dunkelgrünen, samtigen Stoff geschlagenes Bündel auf. Vorsichtig öffnete Kim das Bündel und fand mehrere Schriftrollen, in die ein Dolch eingewickelt war. Der Dolch war aus Gold, sein Griff war mit filigranen Mustern und vier Edelsteinen versehen, zwei rote und zwei grüne Steine. Das Metall fühlte sich in Kims Hand warm an, obwohl die Temperatur im Wohnhaus kaum über dem Gefrierpunkt liegen konnte.

Kim umwickelte den Dolch mit einem herben Stoffstreifen und steckte ihn in ihre Tasche.

Dann wandte sie sich den Schriftrollen zu. Die Schrift war verblichen und in stark verschnörkelten Buchstaben verfasst, offensichtlich waren diese Dokumente schon sehr alt. Vielleicht war das der Hinweis, nachdem die Krieger gesucht hatten. Durch Kims unvorsichtiges Verhalten waren die Männer von ihrer Suche abgelenkt worden.

Sie sah sich die Schriftrollen genauer an.

Es schien sich um verfasste Nachrichten zwischen unterschiedlichen Personen zu handeln, denn die jeweiligen Papiere unterschieden sich in Schrift und Form. Oder es war eine Art Tagebuch, verfasst über mehrere Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte. Womöglich hatte es mit dem Vorwurf zu tun, den der Anführer dem Hofherrn gemacht hatte.

Kim schüttelte den Kopf, wie um die aufkeimenden Vermutungen abzuschütteln. Sie musste sich in Ruhe mit den Schriftrollen beschäftigen, denn die Krieger konnten jederzeit zurückkehren. Also ließ sie auch diese Dokumente in ihrer Tasche verschwinden.

Draußen, auf dem Hof wurde Hühnergeschrei laut. Kim vernahm aus der Ferne Hufgetrappel und hörte die Hühner aufgeregt durcheinander gackern.

„Lauf, Kim! Sie kommen!“, vernahm Kim eine Stimme- die des Huhns?!?- von außen und rannte aus dem Wohnhaus.

„Folge mir“, rief eines der Hühner und lief mit den Flügeln schlagend auf einen schmalen Durchgang zwischen der Scheune und den Stallungen zu.

Kim konnte das durch den Schnee gedämpfte Geräusch der Pferdehufe nun deutlicher hören. Nur das Huhn, das zu ihr gesprochen hatte, lief vor Kim her. Ein Blick über die Schulter zeigte Kim, dass die anderen Hühner in Richtung des Waldes liefen, jedoch befand sie sich bereits auf der rückwärtigen Seite der Scheune und konnte nur einen schmalen Strich des Geländes vor dem Hof ausmachen.

Hinter dem Gehöft schlängelte sich ein breiter Fluss entlang, Kim schätzte ihn auf eine halbe Meile Breite. Der Fluss war zugefroren und nur die ebene Schneeschicht wies auf das Eis hin, das den Fluss überdeckte. An die gegenüberliegende Flussseite grenzten verschneite Bäume und Buschwerk.

Kim folgte dem Huhn einen kleinen Hügel hinab auf den Fluss zu. Das Huhn rief „Komm! Folge mir! Du musst über den Fluss.“

Das klang vernünftig, jedoch war Kim sich unsicher, ob das Eis ihr Gewicht tragen würde. Doch sie musste es versuchen, denn sie war eindeutig leichter als die Reiter in ihren schweren Rüstungen.

Hinter sich vernahm Kim das bedrohliche, knisternde Geräusch von Feuer. Sie hörte die Pferde wiehern und die Hühner schreien. Offenbar versuchten sie, die Krieger aufzuhalten. Dann ertönte ein wütender Aufschrei. Sie war entdeckt worden!

„Folge mir Kim, tritt nur dorthin, wo ich entlanglaufe“, rief das Huhn und sprang mit einem großen Satz auf das Eis. Kim sprang vorsichtiger, jedoch nicht minder schnell- und rutschte prompt aus. Mit rudernden Armen, versuchte sie, einen Sturz zu verhindern. Dieser hätte ihr Todesurteil sein können.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Kim in einen Laufrhythmus verfiel und wieder ein Stück zu dem Huhn aufholen konnte.

Leider holten auch die Krieger mit ihren Pferden auf. Sie waren am Hügel aufgetaucht und schickten sich an, hinunter zum Fluss zu reiten.

Kim rannte, so schnell sie konnte und achtete darauf, genau dem Huhn zu folgen. Dieses war erstaunlich schnell und ganz gleich wie schnell Kim ausschritt, der Abstand zu dem Huhn blieb unverändert.

Die Krieger hatten das Flussufer erreicht und der erste ließ sein Ross mit einem großen Satz auf das Eis springen. Der eisige Boden unter Kims Füßen vibrierte, ein lautes Krachen ertönte und Kim erkannte, dass der Krieger mit seinem Pferd zur Hälfte im Eis steckte.

Die Erschütterung der Eisfläche setzte sich fort und brachte Kim zum Taumeln, durch das Umsehen während des Laufens konnte sie ihr Gleichgewicht nicht halten und schlitterte bäuchlings über das Eis. Kim schrie überrascht auf und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Erst nach einigen Versuchen gelang es ihr. Das Knacken und Bersten des Eises breitete sich aus, und es dauerte kaum den Bruchteil einer Sekunde, dass Kim kleine Verästelungen im Eis vor sich gewahrte. Dieser Anblick gab ihr noch einmal neue Kraft.

Noch ein paar Schritte und das andere Flussufer war heran. Das Huhn warf sich in die Büsche und Kim sprang hinterher.

Keine Sekunde zu früh, wie sich herausstellte, denn dort, wo sie nur einen Atemzug zuvor im Geäst verschwunden war, schlug plötzlich ein Pfeil ein und blieb sirrend in einem kleineren Ast stecken.

Kim folgte dem Huhn weiter, dass sich nach links wandte und mittlerweile etwas langsamer und vorsichtiger durch das Dickicht lief.

Nach etwa einer Minute blieben Kim und das Huhn stehen und Kim spähte vorsichtig durch das Gebüsch am Flussufer. Die Schwarzen Krieger standen noch immer auf der anderen Seite. Zwei von ihnen versuchten, ihren Kameraden aus dem Fluss zu ziehen, ein weiterer begann, sich zu entkleiden, während der fünfte gerade einen neuen Pfeil auf seinen Bogen legte.

Hinter den Kriegern brannte das Gehöft lichterloh, das Feuer schien im Wohnhaus und in der Scheune gelegt worden zu sein und griff nun nach und nach auf die übrigen Gebäude über.

Traurig beobachtete Kim die Szene eine Weile und wandte sich dann dem Huhn zu. Das Huhn stand ruhig vor ihr und blickte zu ihr auf. Offenbar wartete es, bis Kim etwas sagte. „Danke für deine Hilfe“, waren die einzigen Worte, die Kim einfielen. Das Huhn senkte sein Haupt, als nehme es den Dank an. Dann sprach es „Wir können hier nicht lange verweilen, ein paar Meilen in anderer Richtung führt eine Brücke über den Fluss und mit Pferden werden die Krieger diese schnell erreicht haben. Du brauchst ein Versteck, in dem du sicher bist, Kim“.

„Woher kennst du meinen Namen? Und wer bist Du? Wie kommt es, dass du sprechen kannst?“, sprudelte es aus Kim heraus.

„Nicht jetzt, wir können später reden. Erst einmal musst du in Sicherheit sein“, antwortete das Huhn und setzte den Weg fort. Kim blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Ein letzter Blick durch das Dickicht zeigte, dass es den Kriegern gelingen würde, ihren Kumpan aus dem Eis zu befreien. In ihr wuchs die Hoffnung, es möge nicht der Krieger sein, den sie nachts zuvor im Wald gesehen hatte. Alaris.

Der Krieger mit dem Bogen hatte aufgegeben, Pfeile blindlings in das Geäst am anderen Ufer zu schießen und starrte wütend vor sich hin.

5.

Der schmale Streifen von Bäumen und Büschen wurde breiter, je mehr sie sich von der Stelle ihrer Flussüberquerung entfernten. Das Laufen fiel so leichter, peitschten nun nicht mehr sämtliche kleineren Äste und Dornengewächse in Kims Gesicht. Ein Hindernis, das dem Federvieh mit seiner geringen Größe nichts ausmachen konnte, Kim aber umso mehr Mühe bereitete.

Das Huhn vor ihr änderte die Richtung und sie entfernten sich allmählich vom Flussufer und drangen tiefer in den Wald hinein.

Nach einer halben Ewigkeit begann es erneut zu schneien und Kim verlor jegliches Gefühl von Zeit und Entfernung. Ganz zu schweigen von dem Gefühl in ihren Händen und Füßen.

Sie hatte seit ihrer ersten Ankunft auf dem Gehöft keine Nahrung mehr zu sich genommen und die Flucht am vergangenen Tag und an diesem forderten nun langsam ihren Tribut. Die Tasche über Kims Schulter wurde schwerer und auch ihr Schwert schien nun Tonnen zu wiegen.

Doch Kim war auch klar, dass sie keinen Schritt mehr weitergehen würde, wenn sie erst einmal stehen blieb. Also konzentrierte sie sich darauf, gezielt einen Fuß vor den anderen zu setzen- möglichst ohne zu stolpern oder gar zu stürzen- und wandte ihre Gedanken ihrem ungewöhnlichen Führer zu.

Sie wunderte sich noch immer, dass sie sich von einem Huhn leiten ließ und mehr und mehr begann sie sich zu fragen, wohin es sie wohl führen mochte.

Das Huhn sah aus, wie alle gewöhnlichen Hühner. Es war weder besonders groß oder kräftig, noch hatte es auffällige Federn. Es war überhaupt nichts Auffälliges an diesem Tier und doch hatte es zu ihr gesprochen und führte sie zu einem ihr unbekannten Ziel.

Und- abgesehen davon, dass es sprechen konnte, hatte das Huhn Kim bei ihrem Namen genannt. Kim betrachtete das Huhn eingehender, wie es leise gackernd vor ihr her schritt. Es hatte ein braun-gelb gemustertes Federkleid und einen dunkelroten Kamm. Nichts Besonderes eben.

Kim würde sich in Geduld fassen müssen, wenn sie Antworten auf ihre Fragen haben wollte. Und in ihrer momentanen Verfassung schien es auch durchaus sinnvoll, auf das Federvieh zu hören und ihre ohnehin stark strapazierten Kräfte nicht noch mit Gerede zu vergeuden.

Die Umgebung veränderte sich allmählich. Hier und da sah Kim ein paar Steine und auch mal einen Felsen im Unterholz aufragen. Der Boden wurde unebener und ein paar Mal stolperte Kim über eine unter dem Schnee versteckte Wurzel. Sie kam aus dem Tritt, stürzte jedoch nicht. Dennoch kostete es Kim große Überwindung, wieder in den gewohnten Tritt zu finden.

Die Dämmerung setzte ein und noch immer schneite es stetig. Im Wald konnte es kaum windig sein und doch war es Kim, als würde eine eiskalte Brise immerzu in ihr ungeschütztes Gesicht wehen, egal in welche Richtung sie den Kopf drehte.

Kim und das Huhn waren den ganzen Tag über ohne Rast gelaufen. Kims Gesicht war taub, sie konnte ihre Nase nicht mehr fühlen und fragte sich, ob sie noch in der Lage sein würde, ihren Mund zu öffnen, und wenn, ob sie überhaupt jemals wieder ein Wort sagen könnte. Jeder Atemzug durch ihre Nase schien es, als würde sie spitze Nadeln einatmen, die sich ausgesprochen wohl in ihrem Körper fühlten.

Kurz bevor Kim dachte, dass sie niemals mehr ankommen würden und sie die letzten Kräfte verließen, gelangten sie auf eine kleine Lichtung. Eine Lichtung direkt war es nicht, vielmehr erhob sich vor ihnen eine aufgetürmte Ansammlung von Felsen, die die umstehenden Bäume verdrängt hatten. Kim schaute erschrocken zu den Gesteinsbrocken hinauf, die sie um etwa drei Manneslängen überragten.

Durch den Schnee und das Gestöber um sie herum fielen die grauen Felsen kaum auf. Das Huhn schritt ohne zu zögern auf die Felsen zu und war kurz darauf in einem Spalt verschwunden. Kim vernahm ein nachhallendes Gackern aus dem Felsen und das Huhn erschien wieder. „Willst du hier Wurzeln schlagen oder kommst du nun?“ fragte es schnippisch und verschwand erneut.

Kim folgte dem Huhn, doch den Spalt gewahrte sie erst, als sie schon fast hindurchgetreten war. Sobald sie die Schwelle in die Felsen überschritten hatte, wurde es wärmer. Aber auch dunkel. Kim wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und erkannte, dass der Geröllhaufen von innen her hohl war, mit einem Durchmesser von dreißig Schritten erschien er ihr von innen höher und größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte.

„Wir sind noch nicht da, Kim. Aber bald“, sagte das Huhn und trat durch einen weiteren Felsspalt, der in einen leicht abschüssig verlaufenden Gang führte. Sie gingen den Weg, der Kim an einen schmalen Stollen erinnerte, hinab. Hier und da waren Nischen seitlich in den Stollen gegraben und ein schwacher Lichtschein der aus der Richtung zu kommen schien, in die sie sich bewegten, spendete gerade genügend Helligkeit, dass Kim ihre Umgebung schemenhaft erkennen konnte.

Wenn sich der Weg noch einmal die gleiche Strecke ausdehnte, die sie bereits hinter sich gebracht hatten, würde sie auf der Stelle zusammenbrechen.

Sie bogen links um eine Ecke und Kim fand sich in einem von seitlich an den Wänden angebrachten Fackeln hell erleuchteten Gang wieder.

Der Gang verlief noch immer leicht abschüssig und mündete in eine Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Obwohl Kim glaubte, nicht eine Stufe mehr bewältigen zu können, umso mehr war sie überrascht, dass die Treppenstufen sehr angenehm zu gehen waren. Neidisch blickte sie auf das Huhn vor sich herab, das mit einem kurzen Flattern der doch eigentlich unnützen Flügel immer sechs Stufen auf einmal nehmen konnte.

Die Wände veränderten sich, sie wurden ebenmäßiger und auch die Fackelhalter waren hier aufwändiger verarbeitet.

Die Treppe endete abrupt in einem kleinen, runden Raum, der außer über einen breiten Lehnstuhl über keine Möbel verfügte. Kim unterdrückte mit aller Macht den Wunsch, sich auf dem Lehnstuhl niederzulassen. Es war noch wärmer geworden und sie spürte schmerzlich, wie das Gefühl in ihre Glieder zurückkehrte. Dennoch fröstelte sie, denn ihre Kleidung war nach dem langen Fußmarsch bei Schnee vollständig durchnässt.

Sie durchschritten den kleinen Raum, gingen durch einen Torbogen und fanden sich in einer riesigen Höhle wieder.

Kim stockte der Atem.

Die Felskuppel war nicht zu erkennen und auch die gegenüberliegende Wand der runden Höhle konnte Kim nur erahnen. Es herrschte hier keine Dunkelheit, obwohl keine Fackeln an den steilen Höhlenwänden angebracht waren. Staunend suchte Kim eine Quelle für das grün-gelbliche Licht, denn hier, tief unter der Erdoberfläche musste es einfach dunkel sein. Es schien, als würden die Felswände von innen heraus leuchten, kein unangenehmes Licht, wenn es dem Tageslicht allerdings nur entfernt ähnlich war.

Die Höhlenwand war nicht eben, es befanden sich mehrere Felsöffnungen wie diese, durch die Kim und ihr federner Führer geschritten waren, auf halber Höhe in der Höhlenwand. Von den Öffnungen führten in den Felsen geschlagene Stufen hinab auf den Höhlenboden. Dort gewahrte Kim eine Stadt aus Steinhäusern, zwischen denen spinnennetzartig Wege angelegt waren. Und in der Mitte der Höhle stand ein Schloss. Es erhob sich auf einer leichten Anhöhe und wuchs zum Höhlenhimmel empor. Das Schloss war so hoch, das Kim die Fensteröffnungen kaum erkennen konnte. Es schien aus einem Stück Felsen geschlagen zu sein und doch verfügte es über mehrere kleinere und größere Balkone und eine unübersichtliche

Anzahl von Türmen in unterschiedlicher Größe. Kim blinzelte mehrmals, zu fantastisch war der Anblick auf diese unterirdische Stadt von enormer Größe.

Sie hatte noch niemals eine richtig große Stadt gesehen doch all ihre Vorstellungen erschienen ihr plötzlich lächerlich. Sie öffnete den Mund vor Erstaunen und schloss ihn erst wieder, als das Huhn zu gackern begann.

Auf einmal flog ein runder Gegenstand in ihre Richtung, er wurde rasch größer und hielt unmittelbar vor Kim und dem Federvieh an der Felskante an.

Kim war so überrascht, dass sie gar nicht reagieren konnte. Der Gegenstand entpuppte sich als ein nach oben hin offenes Fass, das an einem kaum wahrnehmbaren Draht hing. „Los, öffne die Tür“, wies das Huhn Kim an. Kim starrte das Fass und ihren gefiederten Begleiter einen Moment unschlüssig an, bevor sie sich besann und tat wie ihr geheißen. Kim öffnete die mit einem Riegel geschlossene, in das Holz eingebrachte Tür des Fasses und beide traten in den hölzernen Behälter. Ehe Kim sich versah, flogen sie auf das Schloss zu. Der abrupte Halt schleuderte Kim gegen den Fassrand und sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Die Einstiegstür wurden von außen geöffnet und Kim fiel mehr aus dem Fass, als das ausstieg.

Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, sah sie sich einer Ansammlung ausgesprochen kleiner Menschen gegenüber. Vorne an der Spitze stand ein älterer Mann von kleinem, kräftigem Wuchs, der Kim kaum bis zur Brust reichte. Er trug einen langen grauen Bart, ebenso lange graue Haare und auf dem Kopf eine Krone. Gekleidet war er in ein hübsches Gewand aus grünem und braunem Samt und trug einen langen Umhang in gleicher Farbe. Ein König.

Hinter dem König standen etwa sechs weitere Personen, darunter eine Frau mit gütigem, rundem Gesicht, die Kim aus besorgt dreinblickenden Augen musterte. Das Huhn trat auf den König zu, verneigte sich und schritt nach einem leichten Kopfnicken des Königs gackernd von dannen, ohne sich noch einmal nach Kim umzusehen.

Der König ergriff das Wort: „Ich bin Theophin, König des Zwergenvolks, und heiße Euch in meinem Reich willkommen.“

Kim konnte keinen klaren Gedanken fassen, sie starrte den König nur an, dieser starrte zurück, Dann entsann sich Kim ihres Verhaltens und verneigte sich.

„Ihr müsst erschöpft sein und doch ist es von größter Wichtigkeit, dass wir uns umgehend unterhalten. Ihr habt dort oben etwas erlebt und gefunden, worüber wir dringend sprechen müssen, Kim. Danach erhaltet Ihr Essen und Trinken und einen Platz zum Schlafen.“

„Mhm“, war das Einzige, was Kim zu entgegnen im Stande war.

„Nein, Theophin. Das einzig wirklich Wichtige im Moment ist, dass sie sich erholt.“ warf die Zwergenfrau mit dem gütigen Gesicht hinter dem König ein. „Siehst du nicht, dass das arme Ding kaum noch auf seinen Beinen stehen kann?“

„Nein, wir müssen erst sprechen.“ Der König wandte sich Kim zu. „Könnt Ihr noch ein wenig durchhalten?“

Kim schluckte schwer, nickte den König an und fiel diesem ohnmächtig zu Füßen.

6.

Sie träumte von schwarzen Kriegern mit leuchtenden roten Augen, von verbrannten Menschen und abgeschlachtetem Vieh. Von schwarzen, schnaubenden Kriegsrössern mit ebenso schwarzer Panzerung, die jedes Licht in ihrer Umgebung aufsog. Sie rannte und rannte, flüchtete vor einer Bedrohung, die ihr unbarmherzig folgte. Um sie herum drehte dann und wann ein gackerndes Huhn fliegend seine Runden.

Sie wusste, sie wäre verloren, wenn sie sich zu den Verfolgern umsehen würde. Das Laufen fiel ihr schwerer und immer öfter strauchelte sie, konnte sich doch im letzten Moment auf den Beinen halten. Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden.

Dann stürzte sie schwer und fiel hinab in die Erde. Sie fiel und fiel und wurde von herabsausenden Pfeilen beinahe durchlöchert. Nach einem schier endlosen Fall prallte sie rücklings auf dem Boden auf und vor ihren Augen tanzten wilde Blitze. Doch dann klärte sich ihr Blick und aus den Blitzen über ihr wurden die braunen Augen, die sie nie mehr vergessen würde....

Kim schlug ihre Augen auf. Sie befand sich in einem runden Raum, lag auf einem runden Bett, zugedeckt mit einer warmen anschmiegsamen Decke.

Sie zitterte und bemerkte, dass ihre Haut schweißnass und heiß war, als habe sie Fieber. Sie war außer Atem, als verfolge sie der Traum bis in die Wirklichkeit.

Es dauerte einen Moment, bis Kim den Alptraum abschütteln konnte und sich erinnerte. Sie war dem König des Zwergenvolks begegnet, ehe sie ohnmächtig geworden war.

Kim setzte sich im Bett auf und sah sich im Zimmer um.

Es war rund. Gegenüber ihrem Bett brannte in einem rund gemauerten Kamin ein Feuer leise knisternd vor sich hin, aus einem kleinen runden Fenster konnte sie von ihrer Position aus die Umrisse mehrerer Turmspitzen erkennen.

Ihr Zimmer selbst musste sich hoch oben in dem Schloss in einem der vielen Türme befinden.

Ein sachter Lichtschein schien von außen durch das Fenster herein. Doch ob es Tag oder Nacht war, konnte Kim nicht ausmachen.

Rechts neben ihrem Bett befand sich ein kleines, rundes Tischchen, daneben stand ein bequem aussehender, aber ebenso runder Sessel mit dunkelrotem Polster. An der linken Wand des runden Raumes befand sich eine runde Kommode neben der ebenso runden und niedrigen Eingangstür.

So musste ein typischer Raum für Zwerge aussehen, dachte sie schmunzelnd bei sich.

Kim fühlte sich ausgeruht und frisch, nur Hunger hatte sie, großen Hunger. Man hatte ihr die Kleider ausgezogen und sie in ein dunkelrotes, weiches Gewand gesteckt. Als sie mit ihrer rechten Hand über den Stoff glitt, bemerkte sie, dass es trotz ihres nächtlichen Schwitzens trocken war. Und es duftete. Kim runzelte die Stirn und roch an dem Stoff. Sofort fühlte sie sich an eine saftige Wiese mit duftenden Frühlingblumen erinnert und Bienen und Insekten, die sirrend umherschwirrten…

Kim schüttelte ärgerlich den Kopf, wie konnte sie jetzt bloß an eine Frühlingswiese denken? Sie musste sich auf das Wesentliche besinnen und sah sich suchend nach ihren mitgeführten Gegenständen um. Ihre Kleidung konnte sie nirgends entdecken, wohl aber ihre Tasche und ihr Schwert.

Erleichtert atmete sie auf, da klopfte es leise an der Tür.

Die Zwergenfrau, die sie bereits bei der Begrüßung durch den König gesehen hatte, trat ein. Sie trug einen Stapel sauberer Kleidung über den Armen. „Hallo Kim“, begrüßte sie die Zwergin freundlich lächelnd „Wie fühlst du dich? Hast du gut geschlafen?“

„Danke, ich fühle mich sehr ausgeruht, wenn ich auch nicht nur angenehme Träume hatte.“

„Das wundert mich nicht, schließlich hast du zwei volle Tage und Nächte geschlafen, ohne einmal aufzuwachen“, entgegnete die Zwergenfrau.

Dann lachte sie auf, als sie Kims erschrockenen Gesichtsausdruck sah. „Das ist nicht schlimm, du hast viel durchgemacht. Oh, aber entschuldige, dass ich mich dir noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Gulanda.“

„Hallo Gulanda. Wer ich bin, wisst ihr ja offenbar Alle schon“, antwortete Kim. „Ich vermute, der König war sehr verärgert, dass ich zu seinem gewünschten Gespräch nicht imstande war.“

„Ach, mach dir deshalb keine Gedanken. Würde er öfter auf mich hören, hätte er so manches graue Haar nicht bekommen“, erwiderte Gulanda schmunzelnd. „Aber nun will ich dafür sorgen, dass du etwas anständiges zu Essen bekommst. du musst ja halb verhungert sein.

Ich habe bereits angewiesen, dass man dir gleich nach deinem Aufwachen etwas zur Stärkung bringt.“ „Das ist sehr freundlich von dir“, bedanke sich Kim.

„Das gebührt die Gastfreundschaft“, stellte die Zwergin lächelnd klar „Und hier“, sie reichte Kim die Kleidungsstücke, die sie noch immer auf den Armen trug „hast du frische Kleidung. Deine ist noch immer völlig durchnässt und klamm.“

Kim bedankte sich und Gulanda verließ den Raum mit der Ankündigung bald wieder zurückzukehren.

Kim betrachtete die Kleidungsstücke. Sie fühlten sich warm an und sahen schön aus, wenn auch etwas fremdartig. Noch immer hatte Kim den Duft einer Frühlingswiese in der Nase.

Es war ein langes, dunkelgrünes Gewand aus Samt mit zum Abschluss hin weiter werdenden, langen Ärmeln und einer golden glänzenden Kordel, die sich Kim um die Hüfte schlang.

Neben dem Bett standen ein Paar Lederschuhe, in die Kim schlüpfte. Das Gewand und auch die Schuhe passten zu ihrem Erstaunen wie gesondert für sie angefertigt.

Fertig angezogen trat Kim zum Fenster und schaute hinaus. Das Licht schien ähnlich hell wie in dem Moment, als Kim die Höhle zum ersten Mal betreten hatte, doch Kim bemerkte, wie es langsam an Kraft verlor. Es war, also ob es Nacht in der Höhle werden würde.

„Bewundernswert, nicht?“ ertönte Gulandas Stimme hinter Kim. Sie hatte gar nicht gehört, dass jemand das Zimmer betreten hatte.

Die Zwergenfrau trug ein Tablett mit dampfenden Speisen zum Bett. Kim lief buchstäblich das Wasser im Mund zusammen und ihr Magen knurrte laut. Peinlich berührt schaute Kim die Zwergin an, doch diese lächelte nur gütig, machte eine auffordernde Geste zuzugreifen und nahm auf dem Sessel Platz.

Kim aß eine Weile schweigend und genoss die köstlichen Speisen. Gulanda schaute ihr mit einem warmen Lächeln zu.

„Wo bin ich hier?“ fragte Kim sie, nachdem sie ihren ersten Hunger gestillt hatte. Auf dem Tablett sah es aus, als hätte Kim keinen Bissen gegessen.

„Du bist im Zwergenreich. Wir leben weit unter der Erde und nur jemand, der unser Gast oder Freund ist, findet den Weg zu uns.“

„Aber, kommt ihr niemals an die Erdoberfläche?“

„Natürlich“ lachte Gulanda „Wir sind nur ein sehr eigenwilliges Volk. Weißt du, es heißt, Freundschaft mit einem Zwerg zu schließen, gehöre zu den schwierigsten Dingen im Leben und es werde nur wenigen Menschen zuteil. Doch wenn es dir gelungen ist, dauert diese Freundschaft auf ewig.“

„Und warum habt ihr mich bei euch aufgenommen? Ich bin eine Fremde für euch.“

„Nein, Kim. Wir kennen dich schon, seit du ein Säugling warst.“

Das wunderte Kim. Sie war bislang noch nie einem Zwerg begegnet. Ihre einzige Berührung mit Zwergen hatte sie in den Büchern ihres Ziehvaters gefunden, die von einer fernen, längst vergangenen Zeit handelten und von den verschiedenen Fabelwesen, die in dieser gelebt hatten.

Kim hatte diese Geschichten immer für das gehalten, was sie zu sein vermochten, ausgedachte Geschichten eben, die die Menschen sich Wort für Wort weitererzählten und aus denen schließlich geschriebene Zeilen und Abenteuer geworden waren. Hatte sie sich da so getäuscht und waren es vielleicht die Wesen selbst, die die Leute dazu brachten sich Geschichten über die seltsamen Wesen zu erzählen?

„Woher kennst du mich?“ fragte sie.

„Das ist eine lange Geschichte und dafür haben wir im Moment keine Zeit“, erklärte Gulanda bedauernd. „Doch du wirst alle Antworten erhalten. Wenn du dich gestärkt fühlst, bringe ich dich zu Theophin. Er wartet bereits auf dich.“

7.

Alaris kontrollierte den Kragen seines Fellumhangs. Er schmiegte sich dicht an seinen Hals. Wenn er ihn noch ein wenig fester zöge, würde ihm der Kragen die Luft abschnüren. Schon jetzt spürte er, wie sich sein Pulsschlag am Hals in den Fellkragen fortsetzte.

Nein, das war keine Witterung für eine Verfolgung. Zumal sie nicht einmal wussten, welches Wesen sie eigentlich verfolgten. Alles Getier hatte sich einen warmen Unterschlupf gesucht und verharrte dort sehnlichst auf den Frühling wartend. Nur Orson und seine Krieger, so schien es, waren auf der Suche nach einem Wesen, von dem sie nicht einmal wussten, wie es aussah.

Nun ja, eigentlich war das nicht ganz richtig, Alaris war der Einzige, der dieses Wesen gesehen hatte- zumindest Augen und ein schemenhaftes Gesicht.

Es waren nun schon mehrere Tage vergangen, seit Alaris und seine Mitstreiter am Ufer des zugefrorenen Flusses einer Gestalt nachgeblickt hatten, die gemeinsam mit einem Huhn (einem Huhn!!!) im Dickicht des gegenüberliegenden Ufers verschwunden war.

Während drei seiner Kumpane versucht hatten, ihren Anführer und dessen Pferd aus den eisigen Fluten zu retten, nachdem dieser bei der Verfolgung in das Eis eingebrochen war, und Lephto mehr schlecht als recht ein paar Pfeile in das Dickicht des anderen Ufers verschossen hatte, war Alaris still im Sattel seines Pferdes sitzen geblieben und hatte dem Flüchtenden nachgeblickt.

Es hatte sich bewegt wie ein Mensch. Wie ein Mensch, der einem Huhn über die Eisfläche folgte. Doch, dass es sich bei dem Wesen, das sich in der Nacht zuvor unter den Eichenwurzeln versteckt hatte, bestimmt nicht um ein Tier gehandelt hatte, zu diesem Entschluss war Alaris bereits gekommen.

Ihm waren diese Augen im Traum erschienen, das Antlitz noch immer verschwommen, ebenmäßig und doch mit unscharfen Konturen. Der Moment, in dem der Mond das Gesicht erhellt hatte, war zu kurz gewesen, um mehr erkennen zu können.

Und obwohl ein Teil seiner selbst bis zu diesem Augenblick am Fluss noch immer nicht so recht an die Entdeckung im Wald hatte glauben wollen, war Alaris in dem Moment, in dem die flüchtende Gestalt im Unterholz des anderen Ufers verschwunden war, ein plötzliches Gefühl des Verlusts überkommen. Ein Gefühl, als trauere eben der andere Teil in ihm, der diese Gestalt sehr wohl zwischen den Wurzeln gesehen und wahrgenommen hatte, um die vertane Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.

Alaris versuchte, die Gedanken- und plötzlich wie aus dem Nichts aufkommenden Gefühle- zu unterdrücken und streckte seine Glieder.

Mittlerweile hatte es zwar aufgehört zu schneien, doch dem Schnee war ein eisiger Wind gefolgt. Dieser Wind sorgte nicht nur dafür, dass sich alle Reiter tief nach vorne über die Hälse ihrer Pferde beugten, sondern auch dafür, dass sich um sie herum im Wald von den Ästen Eiskristalle lösten und wild durcheinanderstoben, ehe sie auf der Erde zu liegen kamen.

Alaris drehte sich leicht im Sattel um und blickte seine Begleiter an. In allen Gesichtern sah er den gleichen mutlosen und resignierten Ausdruck. Es waren schon zu viele Monde vergangen, seit sie zuletzt ein warmes Lager und eine warme Mahlzeit genossen hatten. Ihn verwunderte das. Zuerst waren sie Orson, ihrem Anführer, zu dem weit abgelegenen Gehöft gefolgt mit der Aufgabe, eine Schrift über Entstehung und Untergang der Welt zu finden und nun ritten sie durch diese trostlose, weiße Gegend ohne eine Vorstellung von ihrem Ziel zu haben.

Mehr und mehr Felsbrocken fanden sich nun links und rechts ihres Weges, doch durch den immerzu herabrieselnden Schnee war diese Veränderung kaum wahrzunehmen.

Gerade, als Alaris den Entschluss gefasst hatte, nach vorne zur Spitze des Trupps zu Orson zu reiten, um ihn zu fragen, wann sie rasten würden und was sie eigentlich verfolgten, hob der Anführer die linke Hand.

Der Trupp stoppte und Orson wendete sein Pferd, um zu seinen Kriegern zu sprechen: „Wir rasten hier, baut das Lager auf und macht ein großes Feuer, damit es weithin zu sehen ist. Wir sind auf dem richtigen Weg und werden warten, bis andere Krieger eintreffen.“ Orson deutete auf eine vor ihnen aufragende Felsengruppe und dort richteten die Krieger ihr Lager ein.

Keiner der Anwesenden sprach ein Wort. Nicht, als sie ihre Zelte und ihre Lager errichteten. Auch nicht, als sie ein großes Feuer entfachten und von ihren mitgeführten Vorräten aßen. Und auch nicht, als ein Krug mit am Feuer gewärmtem Honigwein umhergereicht wurde.

Doch im flackernden Schein des Feuers erkannte Alaris die Müdigkeit und Sorge in den Augen seiner Kumpane und er fragte sich zum ersten Mal, seit er im Dienst der Armee Gedafars stand, welches Ziel der ewige Herrscher wohl verfolgen mochte.

8.