Schwarze Wasser - Victor Serge - E-Book

Schwarze Wasser E-Book

Victor Serge

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Beschreibung

»Hör zu, Bruder, ich habe ein mulmiges Gefühl. Wir sind fünf - und kein Spitzel! Hältst du das für möglich? Und wenn dem so ist, welche Überraschung bereiten sie uns vor, die Drecksäcke, mit ihren zigtausend Akten? Schließlich versammeln sie uns nicht ohne Hintergedanken aus Wohlgefallen am Ufer der Schwarzen Wasser. Bestimmt nur, um uns durch einen Trick mit einem Stein um den Hals baden gehen zu lassen.« Victor Serges ergreifender Roman über Revolution, Liebe und Verbannung, geschrieben 1936-38, liegt nun in der Übersetzung von Eva Moldenhauer erstmals auf Deutsch vor.

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Victor Serge

Schwarze Wasser

Victor Serge

Schwarze Wasser

Roman

Aus dem Französischenvon Eva Moldenhauer

Die Originalausgabe ist 1939 unter dem Titel

S’il est minuit dans le siècle bei den

Éditions Grasset & Fasquelle erschienen.

© 1939/2009 Éditions Grasset, Paris© 2014 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Éditions du Chêne

ISBN: 978-3-85869-638-01. Auflage 2014

Inhalt

Über dieses Buch

Vorwort

I Das Chaos

II Die Schwarzen Wasser

III Die Botschaften

IV Die Direktiven

V Der Anfang

Über dieses Buch

Michail Iwanowitsch Kostrow, Professor für »historischen Materialismus« in Moskau, wird wegen falscher Gesinnung verhaftet. Er durchläuft die verschiedenen Stationen des stalinistischen Repressionsapparats und landet schließlich in dem entlegenen Ort Schwarze Wasser im Ural in der Verbannung. Hier stößt Kostrow auf eine Gruppe von Oppositionellen, die wie er an die Revolution geglaubt haben.

Wie Rodion, Jolkin, Galja, Warwara, Aveli, Ryschik sich unter trostlosesten Bedingungen eine menschliche Würde bewahren, wie sie gegen den Machtapparat und die Bürokratie Stalins opponieren, für ihre Überzeugungen kämpfen und einstehen, das hat Serge in diesem wunderbaren, atemlos geschriebenen Roman nachgezeichnet: eine Fiktion, aber genährt durch fürchterliche Realitäten, aus dichten Erfahrungs- und Erinnerungsbruchstücken der deportierten linken Opposition. Trotz der Hoffnungslosigkeit der Situation überdauern die Protagonisten dank einer menschlichen Wärme im Grauen der Denunziationen, dem Sternenhimmel, der Weite der Landschaft und der kurzen Liebe.

Victor Serge gelingt eine ungeheuerliche Authentizität, er beschreibt in einer kraftvollen Sprache ein Kapitel finsterster Menschheitsgeschichte und erfindet einen Schluss, der dem Leben eine letzte Chance eröffnet.

Vorwort

Victor Serge, bürgerlich Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch, wurde am 30. Dezember 1890 in Brüssel geboren. Er hätte auch in London oder Paris zur Welt kommen können, je nach den Reisen seiner Eltern, die politische Emigranten waren. Sein Vater, ein russischer Offizier, der sich im Exil zum Arzt ausbilden ließ, war Sympathisant der anarchistischen Bewegung Narodnaja Wolja (»Volkes Wille« – die sogenannten Volkstümler). Seine Mutter stammte aus einer Familie des polnischen Kleinadels.

Serge hat eine schwere, vom Elend geprägte Kindheit. Er kennt alle Entbehrungen. Mit fünfzehn Jahren wird er Fotografenlehrling, dann Bürogehilfe. Er ist bereits Mitglied der belgischen sozialistischen Jugendorganisation Jeunes Gardes. Zusammen mit einigen Genossen redigiert er ein Bulletin, Communiste. In Paris, wo er sich der anarchistischen Szene anschließt, wird er Mitarbeiter bei diversen Publikationen: beim Libertaire, bei der Guerre sociale. Für seinen Lebensunterhalt arbeitet er als Korrektor und Übersetzer.

Es ist die Zeit der von Ravachol beeinflussten anarchistischen Banditen. Die Bonnot-Bande lässt die Bourgeois erzittern. Mit seiner Lebensgefährtin Rirette Maîtrejean gibt Serge die Zeitschrift L’Anarchie heraus. Er wird angeklagt und, obwohl unschuldig, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe, einer schmerzhaften Erfahrung, siedelt er 1917 nach Barcelona über, wo er den Namen Serge annimmt. An der Seite der Syndikalisten beteiligt er sich am Generalstreik im August.

Als die russische Revolution ausbricht, kehrt er, im Wunsch, nach Russland zu gelangen, nach Frankreich zurück, muss jedoch, als »unliebsamer Ausländer«, noch zwei Jahre in einem französischen Konzentrationslager verbringen. Im Februar 1919 trifft er endlich in Petrograd ein. Er tritt den Bolschewiki bei, trotz seiner Vorbehalte gegenüber deren Vorgehen, und wird Mitglied der Exekutive der Kommunistischen Internationale. 1920 heiratet er Ljuba Russakowa, die aus einer jüdischen Familie stammt. Man betraut ihn mit der Herausgabe der Zeitschrift Die kommunistische Internationale. 1921 ist er in Berlin, um heimlich eine Edition der Internationalen Korrespondenz zu veröffentlichen. Die Bewegung wird zerschlagen. Serge begibt sich nach Wien. Er kritisiert das Vorgehen der Roten Armee gegen den Aufstand der Kronstädter Matrosen im Jahre 1921, bleibt aber bei den Bolschewiki, weil die Alternative dazu die Konterrevolution gewesen wäre. Die Haltung zu Kronstadt ist mit ein Grund seines Zerwürfnisses mit Trotzki.

Nach Lenins Tod im Jahre 1924 beginnt er über seine Besorgnis angesichts der Politik des Regimes zu schreiben. Er kritisiert den Dirigismus, die Bürokratie, die polizeiliche Repression. 1927 wird er aus der Partei ausgeschlossen. Er wird festgenommen und nach vierzig Tagen Haft freigelassen, ohne die Möglichkeit zu arbeiten. Er darf das Land nicht verlassen und kann nur mit Mühe überleben. 1933 wird er ein zweites Mal verhaftet und deportiert. In Frankreich organisieren Romain Rolland, André Gide und André Malraux eine Kampagne für seine Befreiung. Nach einer Intervention Romain Rollands bei Stalin wird er freigelassen und kehrt mitten in der Euphorie der Volksfront nach Paris zurück. Er veröffentlicht Schicksal einer Revolution. Von Lenin zu Stalin (Destin d’une révolution – De Lénine à Staline) sowie einen Roman, Schwarze Wasser (S’il est minuit dans le siècle), den er zwischen 1936 und 1938 verfasst hat.

Auf der Flucht vor der Gestapo und der GPU geht Serge 1940 nach Marseille, wo es ihm mit der Hilfe von Varian Fry gelingt, ein Einreisevisum nach Mexiko zu bekommen. Am 25. März 1941 besteigt er mit rund 350 weiteren Passagieren – unter ihnen André Breton, Wifredo Lam, Alfred Kantorowicz, Anna Seghers und Claude Levy-Strauss – die »Capitaine Paul Lemerle«, einen schäbigen, hoffnungslos überbelegten Frachter.

In Mexiko gründet er die Zeitschrift Mundo, an der Anarchosyndikalisten und kommunistische Flüchtlinge mitarbeiten. Er schreibt Essays, Leo Trotzki. Leben und Tod (Vie et mort de Léon Trotsky), Portrait de Staline sowie Romane, unter anderem Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew (L’Affaire Toulaév), Les Derniers Temps. Er stirbt am 17. November 1947 an einem Herzanfall; Gerüchte, er sei vergiftet worden, konnten allerdings nie vollständig ausgeräumt werden.

Schwarze Wasser wurde bei seinem Erscheinen mit Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus verglichen. Noch vor Koestler und Solschenizyn und noch bevor der Begriff des »Gulag« geprägt wurde, beschreibt Serge hier eine Maschinerie, die die Menschen physisch und seelisch zerstört. Noch nie hatte Stalins Russland einen inspirierteren, schonungsloseren Denunzianten gesehen.

In diesem Flecken im Norden, den Schwarzen Wassern, leben und leiden die Gegner des Regimes, zusammengedrängt und schlecht behandelt, und sterben in der Anonymität. Serge, der einer von ihnen war, hat ihnen wieder Namen gegeben: Ryschik, Rodion, Jolkin, Galja, Warwara, Aveli und viele andere.

In der Übersetzung von Eva Moldenhauer liegt Victor Serges Roman über Revolution, Liebe und Denunziation, mehr als siebzig Jahre nach seinem Erscheinen, nun erstmals auf Deutsch vor.

Rotpunktverlag, im August 2014

Foto: Corbis

Victor Serge, 1890–1947

Dieses Buch widme ich

Kurt Landau, Andrés Nin, Erwin Wolf,

die in Barcelona verschwunden sind

und deren Tod uns sogar geraubt wurde,

Joaquín Maurín,

in einem spanischen Gefängnis,

Juan Andrade, Julian Gorkin,

Katia Landau, Olga Nin

und mit ihnen all jenen,

deren Tapferkeit sie verkörpern.

I

Das Chaos

Michail Iwanowitsch Kostrow, in keiner Weise abergläubisch, spürte in seinem Leben die Dinge auf sich zukommen; sie kündigten sich durch kaum wahrnehmbare Zeichen an. Zum Beispiel seine Verhaftung. Da hatte es den eigenartigen Tonfall des Rektors gegeben, als er zu ihm sagte:

»Michail Iwanowitsch, ich habe beschlossen, Ihre Vorlesung vorübergehend auszusetzen … Sie sind gerade beim Direktorium, nicht wahr?« Angst, natürlich, vor den Anspielungen auf die neue politische Wende. »Bereiten Sie mir doch«, fuhr der Rektor fort, »eine ganz kurze Vorlesung über Griechenland vor …«

Eine Zeitverschiebung von etwa zweitausend Jahren. Hier spürte Kostrow, dass er einen Fehler machte, aber er beging ihn fröhlich, um des Vergnügens willen, den Rektor ein wenig zu beunruhigen, diesen fest im Sattel sitzenden Hasenfuß, der immer eine besondere Stimme bekam, wenn er mit dem Sekretariat des Komitees telefonierte.

»Ausgezeichnete Idee«, antwortete er. »Schon seit Langem habe ich eine Reihe von Vorträgen über die Klassenkämpfe in der antiken Polis im Kopf … Da ist Raum für eine ganz neue Theorie der Tyrannei.«

Der Rektor mied seinen Blick, den Kopf über seine Papiere gebeugt. Sein kahler Scheitel glich einer Tonsur.

»Aber nicht allzu viele neue Theorien«, murmelte er zwischen seinen dicken Lippen. »Auf Wiedersehen.«

Und in dem Moment, als Michail Iwanowitsch die Tonsur bemerkte, spürte er, wie er Ereignissen entgegensteuerte …

Er verließ den Raum in der festen Überzeugung: »Jemand hat mich denunziert. Wer?« Dann tauchte in seinem Gedächtnis das Bild einer gedrungenen kleinen Frau mit etwas starkem Busen auf, in ihren Regenmantel aus den Armeeläden gezwängt. Niedrige Stirn, breiter Mund, kalter Blick, im ganzen Gesicht etwas von einem Nagetier – er mochte sie nicht. In ihrer Hand die Aktentasche der Aktivistin, ganz bestimmt bereits mit wichtigen Papieren vollgestopft. Thesen vom Rayonskomitee für die Agitatoren, Liste der Aktivisten und so weiter … »Genosse Professor, was die linken Thermidorianer betrifft, waren Sie nicht sehr klar … oder ich habe Ihren Gedankengang nicht verstanden … Es waren, sagten Sie, ich habe es notiert, schlechte Thermidorianer, die, indem sie Barras und Tallien unterstützten, auf ihren eigenen Untergang hinarbeiteten … Ich begreife den Unterschied nicht ganz, den Sie zwischen guten und schlechten Thermidorianern machen …« Du kleine Kanaille, du überwachst mich, du bist es, die mich denunziert … In diesem Augenblick kam sie aus dem Büro des Diamat – des dialektischen Materialismus –, die Aktentasche vor sich hertragend und diesen schauderhaften Busen, während sie sehr laut redete mit ihrer leicht rauen Stimme, die wie geschaffen war für die Tribünen aus schlecht gehobelten Brettern mit den roten Transparenten … Natürlich sprach sie von der Wandzeitung.

»Das ist nicht erlaubt«, sagte sie gebieterisch, »es ist sogar inakzeptabel! Das Redaktionskomitee …« Beim Wort inakzeptabel bestand für Kostrow kein Zweifel mehr. Denunziantin. Er ging schneller, um sie nicht grüßen zu müssen, sie aber grüßte ihn beschwingt, und hinter ihr zeigte sich der Lockenkopf von Irina, einer kleinen Syrjanin aus dem Hochland der Kama, die er reizend fand mit ihrem glatten Gesicht, ihren großen Augen, ihren hervortretenden Wangenknochen und ihren schmalen Lippen, wie von einem Miniaturmaler aus dem Zeitalter des Rentiers gezeichnet … »Na«, fragte er sie, »klappt es mit Ihrer Dissertation, Genossin?« Sie nickte mehrmals, ernsthaft und munter: munter nur in der Tiefe ihrer Augen: jene winzigen Goldkörner in der Ferne wie auf dem Grund des Wassers. Sie sprachen einen kurzen Moment, dann wurden sie von einer Flut Studenten getrennt, denn es schlug elf.

Am Abend bei Tisch, Ganna saß gegenüber, zwischen ihnen Tamarotschka hoch auf ihrem Stuhl mit der bemalten Rückenlehne, fragte er:

»Und was würdest du sagen, Ganna, wenn man mich verhaftete?«

Ganna hörte nicht auf, der Kleinen den Teller zu füllen. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, ihre Schildpattbrille schien ein wenig verrutscht zu sein, als sie schlicht sagte:

»Glaubst du wirklich?«

Die Kleine lauschte, eine Maus auf der Lauer. Heutzutage ist es unerlässlich, dass die Kinder verstehen. Dass die Kinder wissen. Sie vorzubereiten, ist besser, als sie endlos zu belügen. Vor vierzehn Tagen erst hat man Wanil Wanilitsch von unten verhaftet, und seine Swetlana, der man gesagt hatte: »Weißt du, Papa ist nach Leningrad gefahren, in die Akademie der Wissenschaften«, hat sich schließlich beklagt, dass sie getäuscht werde. »Aber ich weiß, dass Papa im Gefängnis ist, ich weiß es, ich weiß es! Und ich bin traurig, dass Papa im Gefängnis ist, aber warum lügt ihr alle?« Der Jude aus dem dritten Stock war im Gefängnis. Der Schwager von Marussia ebenfalls. Swetlana, sieben Jahre, sagte zu Tamarotschka, sechs Jahre: »Und ich habe gesehen, wie man einen Mann erschossen hat: er kam immer zu meiner Tante, er hatte eine große Nase, er war hässlich, ich bin froh, dass man ihn erschossen hat.« Ihr Großvater schimpfte mit ihr: »Swetlana, so redet man nicht, man muss an den Schmerz der andern denken.« (Ein alter Schwätzer, dieser Großvater, der insgeheim mit der Sekte der Tschurikowzy sympathisierte). Die schmollende Swetlana blieb dabei, schaute von unten auf seine große gewölbte Stirn: »Und ich, Großvater, ich sage, er ist hässlich, und es geschieht ihm recht, dass man ihn erschossen hat …« Sie hüpfte auf einem Fuß und wiederholte: »Es geschieht ihm recht.« Erst als sie sah, dass Großvaters Augen feucht wurden und seine Lippen leicht zu zittern begannen, merkte sie, dass er sie liebte und dass er schwach war. Tamarotschka beobachtete dieses Treiben, lauschte allem. Wie er sie liebt, der Großvater, und wie sie ihn quält! Wie böse du bist, Swetlana!, dachte sie. Und sie hüpfte zur Seite, klopfte Swetlana auf die Schulter und flüchtete hinter die Bank, damit sie ihr nachlief … Und dann betrachtete Großvater die kerzengerade, sich aus grauem Stein vom bleichen Himmel abhebende ausgemergelte Gestalt eines hageren, strengen Mannes. So gerade. So hart. So schön. Der Inquisitor. Großvater seufzte. Dabei war es nur der Naturforscher Timirjasew, denn die Kinder gingen frische Luft schnappen auf dem Twerskoi-Boulevard an der Kreuzung der Malaja Nikitskaja. Dort, in dieser ruhigen Straße, eine banale weiße Kirche: Hier hatte vor hundert Jahren Puschkin geheiratet:

Kein Glück hienieden, doch Ruhe und freier Wille.

Großvater liebte diesen Vers, er, der weder Ruhe noch freien Willen gekannt hatte. Wie Puschkin selbst. Wie fast alle Menschen hienieden. Aber dieser Vers barg eine Harmonie, eine wunderbare Lüge. Nein: eine jenseitige Wahrheit. Wahrer als die Wahrheit, höher. Ruhe und freier Wille existieren nicht; sie beherrschen alles; unerreichbar und erhaben, real und irreal. Niemand kann es verstehen, niemand … Der Kirche gegenüber eine niedrige kleine Villa, umgeben von einem Gitter und einem Bretterzaun gegen die Indiskretion. Hier lebte Maxim Gorki. Der brauchte nichts. Weder Ruhe noch Glück noch freien Willen! Unerbittlich schrieb er süßliche und empörende, fast seelenlose Dinge … Vielleicht litt er darunter, denn man muss doch leiden, wenn man an der Schwelle des Todes so wenig Seele in sich spürt. »Ich würde ja für dich beten, Alexei Maximowitsch«, dachte Großvater, »aber deine Schriften nehmen mir die Lust dazu …« Das ganze Universum, noch sehr viel größer, viel komplizierter, lag in diesem Augenblick in der Seele von Tamarotschka, sechs Jahre, einer kleinen Maus auf der Lauer, die mit weit offenen Augen bei Tisch etwas knabberte. Über ihren Kopf hinweg erforschten der Mann und die Frau ihre Zukunft.

»Glaubst du wirklich?«, wiederholte Ganna.

Kostrow merkte, dass er es wusste. Vorahnung, Vorgefühl sind Wörter von Unwissenden, die genau besagen, was sie sagen. Man addiert eine Fülle unterbewusster Beobachtungen und Berechnungen, und heraus kommt plötzlich eine sicherlich nicht ganz rationale, jedoch völlig zutreffende Gewissheit.

»Natürlich. In den letzten sechs Wochen hatten wir in Moskau immerhin dreihundert Festnahmen, denk daran. Lauter Männer meiner Generation, Aktive des Bürgerkriegs, Oppositionelle von 26–27, die sich alle arrangiert hatten, um Ruhe zu haben …«

Ganna dachte nach, Ganna, die erstaunlicherweise einem fleißigen kleinen Mädchen glich mit ihren rosigen Wangen, einer leichten Stupsnase, straff zurückgekämmtem Haar. Sogar im Bett zur Stunde der Zärtlichkeit wollte er, dass sie ihre Schildpattbrille aufbehielt, weil das ihrem Kindergesicht einen amüsanten Ernst verlieh. Dann errötete sie reizend. »Nein, erlaube mir, sie abzunehmen, sie stört mich …« Das Lachen des Mannes schockierte sie, sie wurde puterrot, und Michail wiederholte: »Ich verbiete es dir, Liebste, Liebste …«, während er sich nackt über sie beugte. Er mochte sie, er wusste nicht genau, ob er sie liebte. So lebt man, unwissend.

»Wenn man dich verhaftet«, fragte sie, »meinst du nicht, dass man mich dann in die Statistik abschiebt?«

Möglich, in der Tat.

»Du verkaufst das Sofa … Und meinen braunen Anzug …«

Sie lachten. Dieses Sofa, dieser braune Anzug als letzte Rettung! Sie waren bereit. Am übernächsten Tag wurde er verhaftet. Ganz einfach auf der Straße, vor der Trambahnhaltestelle. Ein Typ tauchte neben ihm auf dem Trottoir auf, der im selben Schritt ging wie er und schräg auf ihn zukam. Schäbige Mütze und schäbiger Mantel, das junge Gesicht eines ungebildeten Menschen. »Genosse Kostrow, ich bitte Sie, mich zu begleiten …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Michail Iwanowitsch, fast erleichtert. Der andere wunderte sich über nichts. »Hier entlang.« Sie betraten einen Hof mit schadhaftem Pflaster. Er war voller Pfützen, und ein über und über mit Schlamm bespritztes Auto parkte vor einer offenen Tür, hinter der ein dunkler Flur lag … Den Kellern entstieg ein fader Fäulnisgeruch. Kostrow watete durch eine Pfütze, ärgerte sich über den Gedanken, dass der Saum seiner Hose dreckig würde, und ärgerte sich noch mehr, als er merkte, dass er an etwas so Törichtes dachte. Der Typ öffnete ihm die Wagentür.

»Steigen Sie ein, Bürger.«

Das Komitee der Wohnungsgenossenschaft bittet die Mieter, die mit ihrer Miete in Rückstand sind … unter Strafe eines Vermerks auf dem schwarzen Brett … Wohnungsgenossenschaft Nr. 6767, Lenin lebt ewig. Kostrow las diese auf dem bröckelnden Gips angeschlagenen Zeilen … Ewig! Idiotenbande! Das Auto holperte durch die Pfützen, bog unter dem panischen Bimmeln der Trambahn ab, brauste auf den viereckigen, massiven Turm aus rotem Backstein des Dreifaltigkeitstors zu, raste an den Zinnen des Kremls und der hohen weißen Kolonnade des Bolschoi-Theaters vorbei, wurde langsamer unter einem riesigen Porträt des Chefs, das die gesamte Fassade eines im Bau befindlichen Kaufhauses bedeckte, blieb abrupt auf dem Dserschinski-Platz in Höhe einer Tür stehen, die ebenso wie eine andere von einem Grenadier mit einer Art spitzem Helm aus Stoff bewacht wurde. Über dieser Tür lächelte ein Gesicht aus oxidierter Bronze böse in seinen Bart. »Grüß dich, Marx!«, sagte Kostrow zu sich selbst. »Irritiert dich dieses Bajonett? Du tust gut daran, dich nicht unter uns zu zeigen, sogar du müsstest durch diese Tür gehen, alter Bruder, und wärst schnell bedient …« Nur kindische Gedanken schossen ihm kreuz und quer durch den Kopf, den ein kalter Wind durchpustete. Aber keine Angst: eine Art Erleichterung, eine Art Spottlust …

Dann versank er in der Langeweile eines sinnlosen langen Wartens in einem leeren Büro; von dort aus wurde er mit einem Aufzug in einen banalen Raum des Chaos hinuntergebracht; vom Chaos stieg er in aller Ruhe wieder an die Oberfläche der Stille; und dann kamen diese Herzschmerzen. So dreht sich auf der andern Seite der Tür ein Schlüssel in einem Schloss, und hinter dieser Tür liegt ein weites unbekanntes Land der Trostlosigkeit. Nachsichtig mit sich selbst hätte Kostrow zu einem anderen gesagt: »Wissen Sie, mir macht es nichts aus, im Loch zu sitzen. Ich habe schon ganz anderes erlebt. Zum Beispiel in Lusów, in Polen, 1920, haben mich die Gendarmen bei einer Razzia von Verdächtigen mitgenommen, also da, mein Freund, da wurde es mir mulmig. Hätten die sich meinen tschechischen Pass ein bisschen näher angesehen, dann wäre ich mindestens gehängt worden. Und 21 eine andere Geschichte in Tiflis, natürlich weniger gefährlich, da die georgischen Sozialdemokraten sehr gut unterrichtet waren. Noah Agaschwili hat mich vorher im Gefängnis von Metek aufgesucht, wir hatten uns in Paris kennengelernt. ›Eure Revolte?‹, sagte er. ›Aber, mein Lieber, ich ziehe doch die Fäden. Ich bringe dich bloß in Sicherheit, in deinem eigenen Interesse. Willst du eine Partie Schach mit mir spielen?‹ Dazu muss ich sagen, dass Agaschwili nie das Matt vergessen hat, das ich ihm nach dem Juliaufstand in Petersburg angetan hatte, wo wir an der Ecke der Millionnaja gegeneinander kämpften. Ich selbst habe ihn kurz nach der Sowjetisierung verhaftet; er muss jetzt nach Usbekistan deportiert worden sein … Dann 24 in Rustschuk, in Bulgarien, ein schlimmer Augenblick … Und 28 in Moskau, aber damals hatte ich gute ideologische Diskussionen mit meinem Untersuchungsrichter. Nicht ohne Folgen, denn es ist ihm schlecht ergangen oder vielmehr gut: Er befindet sich auf den Solowezki-Inseln, fünf Jahre, five years, Sir, wegen Linksabweichung …

Hier fühle ich mich immerhin im Familienkreis, zu Hause. Man buchtet uns ein, die Politik will es so. Das Einlagern des Getreides rückt näher, natürlich wird es ein Fiasko, die Kontrollzahlen der Plankommission zeigen es zur Genüge. Also hat man Angst vor uns, obwohl wir geschwiegen haben …«

Das Chaos war eine rechteckige Gemeinschaftszelle mit sechs Liegen und dreißig Gefangenen. Der Atemdunst rann die Wände herab, der Tabakrauch war so dicht, dass man sich in einer erstickenden Wolke bewegte. Es war sehr warm, die Haut war immer feucht, man litt unter Migräne, Übelkeit. Ständig musste sich irgendjemand übergeben, man pisste und schiss in den Kübel, und die Neuankömmlinge, die hier einquartiert wurden, mussten inmitten des Gestanks und der ekligen organischen Geräusche leben. Man schlief auf und unter den Betten; indem alle, kauernd oder stehend, zusammenrückten, hielt man einvernehmlich entlang der hinteren Wand einen schmalen, Boulevard genannten Raum frei. So konnte reihum jeder ein wenig herumgehen. Abends spielte irgendwo, mehrere Stockwerke weiter oben, die übereinanderliegende, abgekapselte Welten waren, eine Blaskapelle mitreißende Melodien, um im Club des 4. Sonderbataillons Burschen in Uniform und Blondinen, Brünette oder Rothaarige, ja, sogar Rothaarige, tanzen zu lassen, viel zu stark gepuderte Mädchen, deren Schultern mit jenen hübschen auffallenden Schals bedeckt waren, die für einundzwanzig Rubel in der Genossenschaft der Politischen Abteilung verkauft wurden. Ein Gespenst mit Spitzbart erzählte, im Nebel des Chaos stehend, er habe solche Schals weiterverkauft, »und da oben wackeln sie mit den Hüften, diese kleinen Huren, und ich bin hier wegen sechs Schals, ah, wenn so das Leben ist, Scheiße«, der Fluch tropfte aus seinem Mund, die Blechinstrumente gerieten in Ekstase. Dreißig Gespenster mit vom Reglement gedämpfter Stimme, die es schafften, zusammengepfercht zu leben, sich zu kratzen, ohne den Nachbarn allzu sehr zu stören, das lauwarme Wasser, das Schwarzbrot und winzige Zuckerstücke gerecht zu teilen, die Zeit totzuschlagen, die Angst totzuschlagen. Man könnte eine ziemlich vollständige Liste möglicher – niederträchtiger und ehrenhafter, eingebildeter, fiktiver, realer und unvorstellbarer – Verbrechen aufstellen, wenn man ihre Geschichten festhalten würde, die sie im Übrigen aus Angst vor Spitzeln nur hauchend erzählten. »Da, der Alte dort, rechts neben dem Sabbernden, der die meiste Zeit liegt, der ist einer. Man hat ihm irgendwas versprochen, damit er lauscht, er hört alles und schmückt es aus. Wohin er auch geht, man verfehlt ihn nie, das kannst du mir glauben.« Man könnte eine noch vollständigere Liste aufstellen, eine Liste der sinnlosen Leiden und unbewussten Schuldlosigkeiten, wenn man ihre Gespenster-Gewissen ein wenig prüfen würde. Der Altgediente war der hochgewachsenste, hagerste und weiseste der Chaos-Bewohner: bei jeder Schwierigkeit tauchten seine buschigen Augenbrauen und sein gemeißeltes Kinn aus dem Tabaknebel und sorgten für Ordnung und Frieden. »In meinem Chaos Nr. 16 habe ich den ganzen Dostojewski«, sagte er stolz, »und mehr als das! Einunddreißig Missgeschicke heute Morgen.« Zwei Trotzkisten, ein echter und ein fragwürdiger, diskutierten – der echte unter dem Bett, der andere darauf – mit leiser Stimme über Radeks Einwände gegen die Theorie der permanenten Revolution. Michail Iwanowitsch wurde auf sie aufmerksam, aber er selbst hatte im Jahr 29 widerrufen und zugegeben, dass die Kollektivierung … Sie zeigten sich wenig leutselig. Ratlos suchte und gewann Michail Iwanowitsch die Sympathie eines bleichen Buckligen, der illegal Seife hergestellt hatte. Das zerlumpte Gespenst, das langsam den Boulevard abschritt – vier Meter achtzig von einem Ende zum andern –, blieb plötzlich stehen und sagte ziemlich laut:

»Bürger und Genossen! Verzeiht mir meine große Freiheit. Ich kann nicht mehr. Ich bitte um die Erlaubnis zu weinen. Hörst du, Altgedienter? Die Erlaubnis zu weinen.«

Die feste Stimme des Altgedienten kam aus der Schattenzone hervor, unter der hellen Fläche des Fensters.

»Weine, Alter, so viel du willst, so viel du kannst. Das ist hier dein einziges Bürgerrecht. Ich verbiete, dass darüber gelacht wird, Genossen. Nur versuche, keinen Lärm zu machen. Das Reglement ist oberstes Gesetz.«

Man schaute auf. Die Würfel- und Schachspiele wurden unterbrochen. Würfel und Figuren aus getrockneter Brotkrume verloren augenblicklich ihr Dasein. Der Mann (er war kein Gespenst mehr) hatte ein entsetzlich hohlwangiges Gesicht, mauerfarben, erdfarben, von der Farbe der Bitterkeit und des Wahnsinns. Es gibt keine Worte für diese Farbe des menschlichen Gesichts, das niemand je gemalt hat. Voll aschgrauer Haare war dieses Gesicht, und die Augen waren Löcher mit einem Schimmer in der Tiefe. Der Mann sagte:

»Ich bin wegen Spionage angeklagt. Und bin bloß ein armer Teufel, Bürger und Genossen, ich schwöre euch, bloß ein armer Teufel!«

Seine Rede wand sich wie ein Schluchzer, doch sein Gesicht blieb trocken. Er hatte einen vorstehenden Adamsapfel, einen sehr mageren, von Sehnen durchzogenen Hals. Nach einer Pause erwiderte der Altgediente aus seiner Ecke:

»Weswegen du angeklagt bist, geht uns nichts an. Ich würde sogar sagen, dass es nicht mal dich selbst was angeht. Die Macht weiß, was sie tut, wenn sie uns in den Knast steckt. Arme Teufel sind wir alle, das ist das Bedauerlichste an dieser Geschichte …«

Der Spion sah mit einer Art Verdruss um sich. Seine dürren, schmutzigen Finger fuhren ihm von oben bis unten übers Gesicht. Trocken, ganz und gar.

»Und jetzt kann ich nicht weinen. Ich kann nicht, Bürger, verzeiht mir. Es ist vorbei. Hundeleben, wenns doch ein Ende nähme.«

Schulmeisterlich sprach der Altgediente weiter:

»Die permanente Sitzung des Chaos Nr. 16 wird fortgesetzt. Wir gehen zur Tagesordnung über.«

Michail Iwanowitsch lebte sieben Wochen im Chaos, die mit banalen Vorkommnissen ausgefüllt waren, die Tage vergingen sehr schnell, obgleich die Stunden langsam und drückend waren – in der Erinnerung völlig leer. Die Männer existierten dort zwar, mit einer mächtigen Befestigung über sich, die Dauer erdrückte sie, aber die eigentliche Zeit existierte nicht. Michail Iwanowitsch erhielt ein Päckchen von seiner Frau: ein gutes Zeichen, bei schwierigen Fällen war das nicht erlaubt. Das Dutzend harte Eier – die die Wärter brutal aufgeschlagen und mit einem dreckigen Messer zerschnitten hatten – bewies ihm, dass Ganna am 15. nicht in die Statistikabteilung abgeschoben worden war. Doch am folgenden Mittwoch wartete er vergebens, jedes Mal in banger Erwartung, wenn Schritte sich der Tür näherten. Tatarew, ein Spekulant und matter Wiederkäuer, dessen Beleibtheit nach und nach dahinschwand, erhielt Leckereien, die er teilte: einen Anteil für die Zelle, den andern für sich. Den seinen legte er auf seine graue Decke und betrachtete ihn. Die kleinen Brotscheiben wirkten golden, strahlten Licht aus. Tatarew betrachtete sie bis zum Abend und aß sie in der Nacht, unter ausgiebigem Schniefen und zermürbenden Kaugeräuschen. Ekelhafter Wiederkäuer. Zwei Männer bekamen die Ruhr. Man beließ sie mehrere Tage im Chaos, wo sie die Luft verpesteten. Zusehends entwich ihnen das Leben im blutigen Stuhlgang, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Ein der Sabotage angeklagter Mechaniker und ein des Betrugs angeklagter Kleinhändler. Zweimal am Tag erklärte der Altgediente dem Aufseher:

»Ich sag Ihnen, dass sie krepieren, Genosse Chef, und dass es gegen das Reglement ist wegen der Hygiene.«

»Schon gut«, sagte der Aufseher, »die werden schon nicht heut Abend krepieren. In der Quarantäne ist kein Platz, wartet bis morgen.«

Vermutlich wartete man darauf, dass der Tod in der Quarantänestation zwei Betten freimachte, um diese stinkenden Moribunden dorthin zu schaffen. Oben spielte die Kapelle von neun bis elf ihre Bravourstücke; die Brünetten, die Blondinen, sogar die Rothaarigen mit ihren mit grellen Schals bedeckten Schultern drehten sich im Arm der Soldaten … Der Tunte Dicker Furz wurde ein Hemd gestohlen; ein des Okkultismus angeklagter, ordentlicher junger Mann, der von Natur aus mit einem etwas überproportionierten Hintern geschlagen war. Eine Tunte versorgte ihn mit Esswaren: daher sein doppelter Spitzname. Die allgemeine Durchsuchung, die der Altgediente vorschlug, lehnte er als würdelos ab, aber es führte zu langen Debatten, zu einer regelrechten Gewissenskrise im Chaos, wo schließlich die Diebe, die unter der Leitung von Knirpsen-Malysch vom Markt in Smolensk eine organisierte Fraktion bildeten, kundgaben, dass sie die Rückgabe des in der Nacht gestohlenen Gegenstands forderten, andernfalls würden sie sich verpflichtet fühlen, den Schuldigen zu finden und ihm jede Lust zu nehmen, es noch einmal zu tun. Am Morgen fand Tunte Dicker Furz zu Füßen seiner Matratze sein Hemd wieder, dem ein ziemlich großes Stück Stoff fehlte. Etwas ganz und gar Unerhörtes, Geheimes, Unwahrscheinliches geschah, als Malysch aus der Toilette, in die man sich zweimal am Tag begab, um sich auf eine Reihe von Löchern zu hocken, während die Kumpel der zweiten und dritten Schicht stehend vor ihnen warteten, die der zweiten bereits mit heruntergelassenen Hosen, denn die Aufseher kläfften beim Eintreten: »Schneller, mach schneller, Bürger!« – etwas ganz und gar Unerhörtes geschah, als Knirpsen-Malysch für die Fraktion der Diebe einen halben Liter Schnaps von dort mitbrachte. Man trank diesen wundersamen Alkohol unter Eingeweihten. Auf diese Weise offenbarte sich im Chaos eine Elite. Kostrow war gerührt, als um ein Uhr morgens ein Bursche aus der Fraktion ihm in einem Becher einen Tropfen dieser göttlichen Stärkung reichte. Grundlos dachte er gerade an Tamorotschkas Tod, und dieses bisschen Schnaps ernüchterte ihn, und er war sicher, dass Tamorotschka zu dieser Stunde mit der geschlossenen Faust unter ihrem Kinn und dem Teddybären neben sich rosig schlief.

Die beiden Trotzkisten der ersten Tage waren fort, ersetzt durch andere, Arbeiter der Amo-Fabrik, von denen jedenfalls der eine nichts von Ideen verstand. Es kam auch ein extrem reinlicher sozialdemokratischer Buchhalter, der unerklärlicherweise schon am nächsten Tag völlig verdreckt war. Er sprach mit Kostrow über die Arbeiterdemokratie. »Mit zwölf Jahren Verspätung kommen Sie dahin, werter Genosse.« Michail Iwanowitsch wurde beinahe ärgerlich. »Wir haben nichts, gar nichts mit den Menschewiki gemein. Zwischen Kautskys Konterrevolution und uns …« Sie diskutierten viel, überaus feindselig und dennoch freundschaftlich. Der Sozialdemokrat schien Jude zu sein, er kannte die Gegend von Ufa, von Semipalatinsk, von Kansk, von Schenkursk, weil er sieben Jahre lang dort in der Verbannung gewesen war. Diesmal wollte er gern nach Kasachstan geschickt werden. Später sollte es Michail Iwanowitsch nie gelingen, sich an sein Gesicht zu erinnern: denn es war ein banales Gesicht, und sie unterhielten sich im Allgemeinen unter einer Pritsche liegend im Dunkeln. Dagegen hätte Michail Iwanowitsch seinen Gesprächspartner unter Tausenden an seinem schalen Atem wiedererkannt und an einem Tick der Lippen, die hin und wieder plock-plock machten. Es gab wenige schwere Fälle in diesem Chaos, nicht wie im Chaos 18, wo die Hälfte der Gefangenen darauf gefasst sein konnte, vor Ende des Quartals umgelegt zu werden. Hier gab es nur einen Postbeamten (Diebstahl von Päckchen) und einen Fuhrmann (Diebstahl von zwei Sack Korn), die Gefahr liefen, dass ihnen aufgrund des Gesetzes vom 7. August 1932 über die Heiligkeit des Kollektiveigentums eine Nagant-Revolverkugel den Schädel zertrümmerte. Der Fuhrmann sagte es ohne sichtliche Erregung: »Ich bin rückfällig, verstehst du? Einmal haben sie mir verziehen, ich glaube nicht, dass sies noch mal tun …« Er verbrachte die Zeit liegend, die Hände unter dem Nacken, beobachtete alles, sprach wenig; sein Innenleben äußerte sich etwa einmal in der Stunde lediglich durch einen Schwall gemurmelter Flüche. »O Scheiße, o ihr Dreckskerle, verdammt nochmal.« (In Wirklichkeit war es sehr viel stärker, eintönig.) Der Postbeamte, jung und blond, Mitglied der kommunistischen Jugend, schien unbesorgter zu sein. Knirpsen-Malysch, der es auf den ersten Blick erkannte, hatte vor allen anderen auf dem Boulevard zu ihm gesagt:

»Du bist kein schlechter Junge, aber du bist eine ausgemachte Kanaille. Was deinen Hinterkopf angeht, kannst du beruhigt sein: du bist für eine ehrenhafte Karriere in den Konzentrationslagern bestimmt. Du wirst zuschauen, wie die andern mit der Hacke arbeiten, und wirst kleine Karteikarten ausfüllen und zur Stoßbrigade gehören. Sag nicht Nein, das steht fest, so wie es feststeht, dass du alle deine Kumpel verpfiffen hast. Sag nicht Nein, Bruder, ich besteh nicht drauf.«

Der kleine Postler wurde puterrot. Man sah den Altgedienten kaum, aber seine Stimme ließ sich immer rechtzeitig hinter einem Vorhang herben Rauchs vernehmen. Sie beendete den entstehenden Streit.

»Schnauze, Malysch. Keiner hat das Recht, die unbedingte Ehrlichkeit der Bürger des Chaos in Zweifel zu ziehen.«

Der Altgediente gab Michail Iwanowitsch Rätsel auf. Zweimal pro Woche vom Wärter mit ein paar Blatt Klopapier versorgt, pflanzte er sich auf dem Boulevard auf und schlug vor:

»Möchte jemand den proletarischen Behörden schreiben?«

Mit langem glattem Haar, einem kompakten schwarzen Bart, bleicher Haut unter tief liegenden Augen, hohen, breiten Schultern, auf seinen gespreizten langen Beinen stehend, sagte er das in einem undefinierbaren spöttischen Ton. »Konterrevolutionär?«, fragte sich Michail Iwanowitsch. Eines Tages sprach er ihn an, nachdem er ihm seinen Teil Suppe geschenkt hatte (an jenem Tag hatte er ein wenig Fieber):

»Und Sie, Altgedienter, welcher Gesetzesartikel führt Sie hierher?«

Gewöhnlich sagte man es sich bereitwillig. Mehr sagte man übrigens nicht, es sei denn, es bestand der Wunsch, sich anzuvertrauen, und stets blieb es bei einem sehr vagen Hinweis. Der Alte blinzelte bizarr und antwortete:

»Das sage ich Ihnen nicht, mein Lieber. Vielleicht weiß ich es selber nicht. Es gibt solche Fälle, ja, die gibt es. Sehen Sie, im Chaos lügt die Hälfte der Brüder, die andere Hälfte weiß nicht, was sie sagt, weil weder die einen noch die andern wissen, was ihnen widerfährt. Ich muss Ihnen sagen, dass ich ans Schicksal glaube. Ganz gewiss hat jeder von uns sein Schicksal, und außerdem gibts noch ein Schicksal für alle, wo alles sich ausgleicht, gewissermaßen wie bei der Revision der Kontrollzahlen durch die Plankommission … Nur kann man nicht ohne Geheimnis leben, das müssen Sie zugeben. Im Chaos muss es ein Rätsel geben. Nun, das bin ich. Niemand weiß, wer ich bin. Ich werde es niemals sagen. Niemand. Nicht mal denen …«

Das Wort denen nahm in seinem Mund und in seinen Augen merkwürdige Ausmaße an. Es umfasste die fünfzehn Stockwerke aus Zement, die zweihundert Büros, die Sonderbataillone, das Geheimkollegium, alles, was man nicht weiß über dieses ungeheure, mächtige und komplizierte Gebilde, in dem die Menschen ebenso unerbittlich fortgerissen werden wie das Korn in der Schwinge.

»Sie können mich bis zum jüngsten Gericht festhalten, Genosse. Ich werde ihnen nichts sagen. Nichts. Hörst du. Sie möchten alles wissen, hahaha! Und sie wissen vielleicht nicht mal, was sie von mir wollen. Und ich schweige. Das ist es, das Geheimnis. Vielleicht ist da nichts. Vielleicht aber alles.«

Das Wort alles enthielt die Drohung, das Geständnis, das Entsetzen, die Nacht, die Ironie – alles. Der Altgediente lachte. Sein mit gelben Zähnen bestückter Mund war gesund, ein winziges Leuchten der Augen schimmerte unter seinen Brauen – sehr weit entfernt.

Dann beugte er sich ernst fast bis zu Michail Iwanowitschs Ohr.

»Du hast recht, ihnen alle drei Tage Zettel zu schreiben. Das muss sein.«

»Warum?«, fragte Michail Iwanowitsch.

»Wegen all der Kästen, die sie haben. Sie nummerieren die Zettel und stecken sie in kleine Kästen, und die kleinen Kästen stellen sie in Schränke, und es gibt fünfzehn Etagen mit Schränken, Bruder. Das ist wichtig.«

Michail Iwanowitsch meinte, dass der Alte sich über ihn lustig machte; jedenfalls ließ er sich nichts anmerken. »Nein«, sagte sich Michail Iwanowitsch, »er ist verrückt.« Doch von nun an hatte er noch größeren Respekt vor ihm. Und er fuhr fort, alle drei Tage Zettel zu schreiben:

An den Genossen Untersuchungsrichter der Politischen Angelegenheiten, Beschwerde von … Parteimitglied seit 1917.

… An den Genossen Staatsanwalt, beauftragt mit der Kontrolle der Politischen Abteilung … Beschwerde von … Parteimitglied seit 1917.

… An den Genossen Präsident der zentralen Kontrollkommission der Partei, Beschwe …

Kleine, mit Anilinstift beschriebene Rechtecke aus Klopapier; entrüstete, demütige, flehende, präzise, kindliche, nebulöse, gewundene, falsche und wahre Zeilen.

Da etwa zwanzig Bürger des Chaos schrieben, übergab der Alte zweimal in der Woche dem Oberaufseher ein ganzes Bündel davon.

Als Michail Iwanowitsch sich plötzlich aus dieser unterirdischen Welt an die Oberfläche der Erde ins Licht des Alltags zurückgebracht sah, fand er sich in einem kleinen, ziemlich ordentlichen Büro wieder, in dem, einem Stadtplan von Moskau gegenüber, ein Porträt des Chefs hing. Durch das Fenster sah man sonnenbestäubte Dächer: Türmchen von wunderbarem Grün zogen den Blick auf sich. Es war beruhigend, dass das Leben so friedlich weiterging. Reste von rauchverschmutztem Schnee schmolzen auf den nach Norden gelegenen Dächern. Der regungslose Wärter wartete an der Tür, das kleine Büro war leer. Als Michail Iwanowitsch den Kopf wandte, erkannte er sich – mit Mühe und einem unangenehmen kleinen Schock – in der Scheibe eines Schranks voller Akten. Sein ausgemergeltes Spiegelbild schwankte vor einem Hintergrund von Papierkram. Er war abgemagert, gealtert und bleich. Seine Nase kam ihm härter, aber gleichsam hohl vor: eine befremdliche Haltlosigkeit lag in diesem Landstreichergesicht mit dem wirren Bart. Michail Iwanowitsch erkannte in sich den Bewohner des Chaos wieder. »Bürger des Chaos«, sagte er sich mit bitterer Ironie, denn er hatte gerade gedacht: »Teufel noch eins, diese Diät zerstört einem schnell den Organismus.«

»Guten Tag, Michail Iwanowitsch!«, sagte eine herzliche Stimme hinter ihm.

Der Untersuchungsrichter, ein etwa dreißigjähriger gut aussehender Militär, betrachtete ihn, die Pfeife im Mund, wie einen alten Bekannten.

»Setzen Sie sich. Zigarette?«

Das Gespräch war sinnlos. Im Grunde hatte man Michail Iwanowitsch nichts vorzuwerfen. Nur: er sollte selbst sein Gewissen prüfen. Dann würde man sich unter Genossen aussprechen. Man zweifelte nicht an seiner Ergebenheit: gerade deshalb appellierte man bei dieser Gelegenheit an sie. Die beiden einander gegenüber am Tisch sitzenden rauchenden Männer schienen mittels doppeldeutiger Sätze voll versteckter Drohungen und aalglatter Rügen ein kompliziertes Spiel zu spielen; sein väterlicher Ton wurde offiziell.

»Nun ja, wie Sie wollen!«, sagte der Untersuchungsrichter schließlich. »Entschuldigen Sie mich, ich habe wenig Zeit …«

In diesem Augenblick explodierte Michail Iwanowitsch:

»Also wirklich, nein! Was soll dieses üble Spiel? Halten Sie mich zum Narren? Ich will wissen, was hier los ist, verstehen Sie! Und ich will, dass Sie wissen, unter welchen Bedingungen Sie mich festhalten. Dass es im fünfzehnten Jahr der Revolution noch solche Gefängnisse gibt, ist ein widerlicher Skandal. Ich bezweifle, dass die faschistischen Gefängnisse …«

»Oh, oh«, sagte der Untersuchungsrichter leise, »was für ein unglücklicher Vergleich; das riecht meilenweit nach Konterrevolutionär …«

Michail Iwanowitsch wurde rot. Im Übrigen hatte ihn der kurze Wutausbruch ermüdet. Seine Herzschläge füllten ihm die Brust mit einem bedrückenden Geräusch. Er wollte eine Zigarette nehmen: aber seine zitternden Hände griffen in der Schachtel des Richters unter einem Seidenpapier ins Leere.

»Beruhigen Sie sich«, sagte dieser gleichmütig. »Ich wusste nicht, dass Sie so schlecht untergebracht sind. Ein informierter Aktivist wie Sie müsste doch verstehen, dass wir überlastet sind. Ich verbringe meine Nächte mit Arbeit, werter Genosse, und ruhe keinen Tag. Wenn die Haftanstalten überfüllt sind, ist nicht die Diktatur des Proletariats daran schuld, sondern die Konterrevolution, die uns von allen Seiten angreift. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen diese Grundwahrheiten in Erinnerung rufen muss. Trinken Sie ein Glas Wasser. Ich werde Ihnen eine Einzelzelle geben. Auf Wiedersehen, Michail Iwanowitsch. Denken Sie nach.«

Sanft, herzlich schob er den Gefangenen an den Schultern hinaus. In dem langen dunklen Flur, dem Michail Iwanowitsch hinter seinem Wärter folgte, waren alle nummerierten Türen geschlossen. Mit einem Mal ging eine Tür auf, und eine blonde junge Frau mit wildem Haar und großen umschatteten Augen kam so heftig herausgestürmt, dass sie den Vorbeigehenden beinahe umgerannt hätte.

»Nicht so schnell, Bürgerin«, sagte irgendwo eine autoritäre tiefe Männerstimme.

Und schon war es Vergangenheit, nie mehr würden diese umschatteten großen Augen, diese wilden Haare auftauchen. Michail Iwanowitsch fluchte im Stillen: »Oh, verdammt noch mal! Es ist wirklich das Chaos – und dieser Schweinehund, der, dieser Schweinehund mit seinen Zigaretten, seiner Heuchlervisage …«

… Aufzug. Wieder zwei Männer, einander gegenüber, sich fast berührend: der eine dick, kräftig gebaut, mit durchgedrücktem Kreuz in seinem Uniformrock. Der andere schwankend, von einem Jucken unter der Achsel geplagt, Opfer eines Übelkeit erregenden Wutanfalls.

»Treten Sie ein, Bürger« (höflich).

Michail Iwanowitsch hörte, wie die Zellentür geschlossen wurde. Der Mann im Aufzug war gesichtslos gewesen: ein Standardoval anstelle des Gesichts, ein Oval … Michail Iwanowitsch war auf das Chaos gefasst, und plötzlich war da die Stille, die Ordnung, gedämpftes Licht, die Einsamkeit. Er drehte sich um sich selbst: die Tür. Noch einmal: das Fenster. Gitterstäbe. Eiserne Schraube draußen. Das Feldbett. Er setzte sich. Unerklärlich: eine jähe Traurigkeit, zum Heulen. All die Gefährten der vergangenen Augenblicke – für immer verschwunden. Und diese Einsamkeit, diese Zweisamkeit mit seinem anderen Selbst, das ihm nicht mehr ähnelte, struppig und verdreckt, aufgewühlt vor Zorn, beschädigt sein kühler Verstand. Den Kopf in Händen schloss er die Augen mit hängenden Schultern. »Ich hatte unrecht, mich über das Chaos zu beschweren … Ah!« Vielleicht wäre es genauso gewesen, wenn er sich nicht beschwert hätte. Ah! Die Stille war drückend. »Ich hätte um Bücher bitten sollen …« Der Tisch war leer. Welch sonderbarer Trennungsschmerz! Die ernste, spöttische Stimme des Altgedienten, das Augenzwinkern von Knirpsen-Malysch, die zerknitterten Wangen von Tatarew, der Geruch nach menschlichen Tieren und grobem Tabak im Chaos … Die Wehmut packte ihn an der Gurgel. Getrennt – für immer – von diesem Elend, nun allein, allein, allein, allein …

Die erste Nacht war bleiern, trotz der Befriedigung über die saubere Wäsche und die Laken. Ganna, Tamarotschka – was machten sie in diesen Augenblicken? Er war am Einschlafen, ein Gesicht näherte sich dem seinen. Wirres blondes Haar um die Stirn, ein bodenloser Blick aus tief liegenden blauen Augen, der schwarze Mund – der schwarze Mund murmelte: »Man foltert mich, hören Sie? Ich kann auf all diese Fragen nicht antworten, auf Fragen die ganze Nacht, alle dieselben, immer andere. Ich werde verrückt, hören Sie? Also gut!« (Die Stimme wurde flehend, nahm Gannas Tonfall an.) »Helfen Sie mir doch, Michail Iwanowitsch …« Und mit einem Mal waren ihre Augen nicht mehr blau, sondern braun, von dünnen Schildpattringen umrandet, und es war Ganna, die gefolterte Ganna. »Mischa«, sagte sie, »Mischa, machen wir Schluss. Wehre dich nicht mehr, ich bin es, die nicht mehr kann, Mischa, hab Mitleid mit uns …«

Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, als er aus diesem Albtraum erwachte; er sah sich im Schein der Glühbirne liegen, die Stille der Nacht, die Einsamkeit, außerhalb der Zeit. Und die Tage und Nächte vergingen friedlich im Leeren.