Schwarzer Mann - Daniel Holbe - E-Book + Hörbuch

Schwarzer Mann Hörbuch

Daniel Holbe

0,0

Beschreibung

Während die Existenz des Kommissariats in Bad Vilbel auf der Kippe steht, wird das Ermittlerteam Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach auf eine harte Probe gestellt. Ein Mord in der Provinz scheint Ralph persönlich zu betreffen, denn der Mörder hat es offenbar auf seine Familie abgesehen. Plötzlich ist er mit Menschen konfrontiert, von denen er bis dahin nichts wusste und deren kriminelle Vergangenheit ihn zu überrollen droht. Sabine Kaufmann versucht nach Kräften, ihren Partner zu unterstützen. Und dann steht Ralph seinem Feind Auge in Auge gegenüber …

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 31 min

Sprecher:
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Daniel Holbe

Schwarzer Mann

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

 

Sommer in der hessischen Provinz. Ein Toter hängt, an den Füßen aufgehängt, an einem Baum und gibt Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach vom Kommissariat Bad Vilbel Rätsel auf. Was zunächst wie eine normale Mordermittlung beginnt, gewinnt zunehmend an Brisanz, denn der Tote saß die letzten Jahrzehnte wegen des Bombenanschlages auf einen Richter in Haft. Das LKA schaltet sich ein und will die Sache als Lynchmord abtun.

Inhaltsübersicht

MottoProlog1984MontagDienstagMittwochDonnerstagFreitagEinige Tage späterEpilog
[home]

 

 

 

 

Sophie, mein Henkersmädel,

komm, küsse mir den Schädel!

Zwar ist mein Mund ein schwarzer Schlund

– doch du bist gut und edel!

 

Christian Morgenstern

Galgenbruders Lied, um 1905

[home]

Prolog

Veith näherte sich der Anhöhe ohne Hast. Der Galgen schien im Takt seiner Schritte zu wanken, die Luft roch nach gemähtem Heu. Außerdem nach Schafdung. Unterhalb der Kuppe, auf die man die Säulen des Galgens gemauert hatte, stand ein Schäferwagen. Stille lag über der Herde. Der Hund schlug nicht an, witterte keine Gefahr, denn zwischen ihm und der Anhöhe lagen Buschwerk und ein Zaun. Der Pfad führte leicht bergan, gerade, wie mit einer Schnur gezogen. Wie musste es für all jene Verurteilten gewesen sein, die ihren letzten Gang antraten, die baumelnde Schlinge stets vor Augen. Als warte der Knoten auf sie, mit aufgerissenem Maul. Doch Veith dachte nur an das Frühstück. Gebackene Eier, die auf ihn warteten, vielleicht zwei Streifen Speck. Wie auf Kommando krähte zwischen den wenigen Häusern des Dorfes ein Hahn. Er fröstelte. Zog sich das grobe Leinenhemd vor der Brust zusammen. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, die Ernte war längst eingefahren.

Unter seinen Füßen knisterte es, Reisig lag am Wegrand verstreut. Er erschrak, blickte sich um. Die alte Angst. Auch nach so vielen Jahren wurde er sie nicht los. Ein halbes Leben, lebenslang. Als seine Augen keinerlei Bewegung ausmachen konnten, verlangsamte sich der Puls wieder. Seine Gedanken kehrten zu dem Galgen zurück. Sandsteinbrocken von ungleichmäßiger Farbe und Größe, dazwischen Mörtel. Zwei doppelt mannshohe Säulen, sechs Schritt auseinander. Obenauf der Querbalken; junges Holz offenbar, denn die Witterung hatte ihm kaum zugesetzt. Wie viele Männer ihren Tod hier bereits gefunden haben mochten, Veith wusste es nicht.

Er hatte sich vorgenommen, sich nicht allzu tief in das dörfliche Geschehen einzubringen. Nicht auffallen, wenig preisgeben. Beobachten, statt beobachtet zu werden, auch wenn er wusste, dass dies kaum mehr als ein Wunschtraum war. Jeder der eingeschworenen Gemeinschaft wusste um ihn und seine Vergangenheit.

Er war ein Aussätziger.

Manche wechselten die Straßenseite, wenn sie ihm entgegenkamen. Angewidert. Verängstigt.

Als trüge er die Pest in sich.

Ein schwarzer Mann.

 

Aus dem Schatten der Steinsäulen trat eine Gestalt. Dunkel gewandet, ihre Konturen verschwammen in dem unförmigen Stoff. Veith erkannte nicht, ob es ein Hut oder eine Kapuze war. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn. Dann aber trug ihm die Morgenbrise eine freundliche Begrüßung entgegen. Er lächelte verhalten und hob schweigend die Hand. Die Jahre hatten ihn argwöhnisch werden lassen; bitter. Als er sein Gegenüber fast erreicht hatte, musste er gähnen. Er hielt kurz inne, rieb sich die Augen.

»Es ist einfach zu früh für mich.«

Ob es seiner Müdigkeit geschuldet war, dass er die schattenhafte Bewegung nur zeitversetzt wahrnahm? Ein plötzliches Stechen durchfuhr ihn, als sei er von einem Brandpfeil getroffen. Als breitete sich das Feuer von seinem Hals in den Brustkorb aus. Er schnappte nach Luft, taumelte, griff sich an den Hals. Die Arme wurden schwer wie Ambosse, die Knie weich wie frisch gestampfte Butter.

»Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«, dröhnte in seinem Kopf der Kinderreigen. Niemand!, schrie eine weit entfernte Stimme die Antwort. Er verlor die Kontrolle über seine Sinne, spürte es an seinen Fußgelenken kitzeln und seine Hände überhaupt nicht mehr. Dachte impulsartig darüber nach, was wäre, wenn sich nun unkontrolliert seine Blase entleeren würde. Banale Sorgen angesichts seiner Lage. Doch auch das Gehirn verweigerte zunehmend den Dienst. Schien taub zu sein für die Panik, die ein solcher Kontrollverlust instinktiv auslöst.

Ein Ruck durchfuhr seinen Körper. Dann eine Illusion von Schwerelosigkeit. Veith spürte die Hitze in seinen Kopf schießen.

»Wenn er aber kommt?«, sang es höhnisch weiter.

Dann sterben wir.

[home]

1984

Mit ihren Stahlhelmen und den hölzernen Gewehrschäften wirkten die Männer unheilvoll und deplaziert. Ein Außenstehender hätte den Eindruck gewinnen können, dass der Krieg nicht bereits seit fast vierzig Jahren entschieden sei. Eine letzte Bastion der Wehrmacht, verschanzt zwischen hohen Nadelbäumen und moosgrünem Stein. Lauernd auf Iwan, die rote Gefahr. Tatsächlich schien es Parallelen zu geben, zumindest was das Feindbild betraf. Doch unter den olivgrünen Schutzwesten, in schwarzen Uniformen und mit verdunkelten Gesichtern lauerte hier ein Spezialkommando der GSG9. In ihren Händen lagen Maschinenpistolen und Scharfschützengewehre aus dem Hause Heckler & Koch. Die Muskeln bis aufs äußerste angespannt. Aufkommende Nervosität wurde sofort mit eisernem Griff unterdrückt, so als könne man sie ins Metall pressen. Manche standen, andere kauerten. Die Luft roch nach Herbst.

Das Gelände um den alten Bergbauernhof war unübersichtlich. Ungemähte Hänge mit zerschlissener Einzäunung, mittendrin ein eingesunkener Traktoranhänger, auf den Anhöhen ringsum Wald. Einer der Schützen kauerte hinter dem Anhänger, ein anderer hatte Posten auf einem Hochsitz bezogen. Ein Bachlauf durchschnitt das Gelände, in dem Gebäude waren Bewegungen zu erkennen. Einige Fenster entlang der verschindelten Außenwand standen offen. Geblümte Gardinen schwangen sanft. Im Inneren schien alles ruhig.

Otto tastete nach seinen Zigaretten. Ein durchtrainierter, sehniger Mann Anfang dreißig. Tiefe Furchen im Gesicht, glattrasiert, mit einem zentimeterlangen Schnitt auf der Wange. Der Preis des Nassrasierens. Er schob die Kartonpackung wieder zurück. Entschied, dass keine Zeit fürs Rauchen sei, blickte stattdessen auf die Armbanduhr. Der Einsatzbefehl konnte jeden Moment erfolgen. Er prüfte den Sitz seiner Weste, wippte mit dem Kopf. Es lag eine friedliche Stille über dem abgeschiedenen Anwesen. Das nächste Dorf war einige Kilometer entfernt, nicht mehr als eine Siedlung, dahinter wieder Einöde. Eine Bewegung ließ Otto aufblicken. Sein Kollege Wilhelm hob mit zusammengekniffenen Augen den Zeigefinger. Jetzt hörte er es auch. Ein Brummen, nein, eher ein Knattern. Ein Motorrad näherte sich. Gedämpfte Stimmen erklangen, schlugen in Erregung um. Die Zufahrt war gesperrt, doch wenn es eine geländegängige Maschine war, konnte sie praktisch von überall her kommen. Ein Waldarbeiter? Oder war es am Ende einer der Linksextremen, die den Hof in Beschlag genommen hatten? Hatte es nicht geheißen, alle von denen seien im Haus versammelt?

Sie hatten ein verdammtes Problem. Der Einsatz war akribisch geplant. Beobachten, analysieren, Zugriff. Nötigenfalls belagern und Sperrfeuer, wie damals, 1972, in Frankfurt. Tränengas und Ausräuchern. Personenschäden unbedingt vermeiden. So lautete die Devise, und sie war mehr als eine Empfehlung. Sämtliche Bewohner der Kommune sollten lebendig verhaftet werden. Die Erklärung lag auf der Hand. Es musste sich eine V-Person unter ihnen befinden, auch wenn niemand das laut aussprach.

»Verdammte Terroristen«, stieß Otto hervor, und fast zeitgleich wurde der Befehl erteilt. Ein Dutzend Männer eilten in geduckter Haltung auf das Gebäude zu. Scheiben klirrten, gedämpfte Schreie aus dem Inneren. Kümmert sich jemand um den Fahrer des Mopeds?, fragte er sich noch, als er aus dem blendenden Sonnenlicht in den Schatten abbog. Eine wild mit den Armen fuchtelnde Gestalt sprang ihm entgegen, reflexartig riss er den Lauf seiner MP5 nach oben. Freund oder Feind? Es wurde geschossen, vollautomatische Salven. Splitternd, wie in einer Schießbude auf dem Jahrmarkt, flogen Schindeln von der Hauswand. Das Letzte, was Otto sah, war eine junge Frau in einem roten Wickelkleid, das seltsam ausgebeult wirkte. Sie hielt schützend die Hände davor. Dann hörte er das Schreien eines Säuglings, welches die Mündungsfeuer für einen Augenblick verstummen ließ. Er spürte ein warmes Pulsieren in der Brust. Blut füllte seine Lungen, er hustete.

Und starb.

[home]

2013

Montag

Knacksend durchdrang die Messerklinge den hauchdünnen Widerstand. Splitter lösten sich, doch kaum etwas fiel hinunter. Sie drückte die Klinge tiefer, bis mit einem kaum hörbaren Plopp das Innerste erreicht war. Bangend, ob sie die Faktoren Zeit und Größe richtig eingeschätzt hatte, wartete sie auf das, was geschah. Dann ergoss sich ein signalgelber Lavastrom über ihren Daumen, und Sabine Kaufmann fluchte. Nur eine Minute länger. Dann wäre es das perfekte Frühstücksei gewesen.

Kriminalkommissarin bei der Frankfurter Mordkommission. Das war sie in den vergangenen Jahren gewesen. Eine Ermittlerin mit dem scharfen Blick fürs Detail. In der Presse hatte man ihr ein eidetisches Gedächtnis bescheinigt. Fotografische Wahrnehmung. Aber zum einen war diese Fähigkeit nach wie vor ein wissenschaftlich umstrittenes Phänomen, und zum anderen konnte sie es nicht steuern. Doch so oder so war Sabine Kaufmann an einigen vielbeachteten Morduntersuchungen beteiligt gewesen und hatte sich ihre Lorbeeren verdient.

Frustriert schlug sie die Tageszeitung auf. Von draußen drang gleißende Morgensonne in die Küche. Sabines Wohnung lag auf dem Heilsberg in einer hoch gelegenen Siedlung am südlichen Zipfel Bad Vilbels. Frankfurt war nur einen Steinwurf entfernt, wenige Fahrminuten, und doch war alles anders. Ein neuer Job, seit acht Monaten, ein neuer Bezirk, eine neue Mordkommission. Sie war zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Dorthin, wo ihre Mutter Hedwig noch immer lebte. Um geregeltere Arbeitszeiten zu haben und mehr Zeit für sie. Sabines Mutter litt an paranoider Schizophrenie, schubweise, und zuweilen verfiel sie in Alkoholexzesse.

Die Schlagzeilen langweilten die Kommissarin. Lag es am Sommer oder lag es an der Stadt? Nichts geschah, gar nichts. Ihrer Mutter ging es gut wie lange nicht mehr, und die letzte Mordermittlung lag Wochen zurück. Gute Gründe, zufrieden zu sein, wenn man es nüchtern betrachtete. Doch Sabine Kaufmann war eine Frau, die die Herausforderung suchte. Je mehr Tage vergingen, ohne dass etwas passierte, desto frustrierter war sie. Hinzu kam die wachsende Sorge, wie es künftig um ihren Arbeitsplatz bestellt sein würde. Ihren Partner, Ralph Angersbach, hatte man bereits an ein anderes Präsidium verliehen. Und wenn sich am Ende des Jahres herausstellen würde, dass eine Handvoll Gewaltdelikte die Präsenz einer Mordkommission nicht rechtfertigten, bedeutete es das Aus für ihren Schreibtisch in Bad Vilbel. Über das Danach wagte Sabine nicht zu spekulieren.

»Ich habe deinen Vater gesehen.«

Das Klirren des Messers ließ Sabine zusammenfahren. Sie schenkte ihrer Mutter einen entgeisterten Blick.

»Bitte noch mal.«

»Dein Vater«, Hedwig machte ein Allerweltsgesicht, als sei es das Normalste überhaupt, »er ist hier.«

Argwöhnisch musterte die Kommissarin ihr Gegenüber, als befände sie sich in der ernsten Phase einer Vernehmung.

»Papa hat sich vor zwanzig Jahren nach Spanien abgesetzt. Was zum Henker sollte er hier wollen?«

»Ich habe ihn nur gesehen, nicht gesprochen.«

»Wo denn?«

»Hier in der Altstadt.«

»Warum … Was hat er gemacht? Bist du dir ganz sicher?« Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf das Gespräch einzulassen. Einen Bezug zu ihrem Vater hatte Sabine Kaufmann nie gehabt, denn auch vor seinem Ausstieg war er praktisch nie da gewesen. Mit den Hochs und Tiefs, den wechselnden Gefährten ihrer Mutter und der Trunksucht hatte Sabine allein klarkommen müssen. Er hatte den leichten Weg gewählt.

»Ich bin ihm nicht nachgelaufen. Plötzlich war er verschwunden. Doch du darfst mir ruhig glauben, dass er es war.«

»Ist schon gut, Mama.« Sabine griff nach Hedwigs hageren Fingern, die nervös an einem Brötchen spielten. »Es spielt keine Rolle für uns, okay? Es gibt nichts, was er von uns fordern könnte. Im Gegenteil. Sollte er hier aufkreuzen, erinnern wir ihn an die ausgebliebenen Unterhaltszahlungen.«

Sie tauschten ein flüchtiges Lächeln.

»Ich habe kein gutes Gefühl dabei«, sagte Hedwig, nachdem eine Weile verstrichen war.

Sabine Kaufmann schluckte den letzten Bissen ihres misslungenen Eis herunter. Auch ihr Unbehagen verstärkte sich.

 

 

Das Schweigen war das Schlimmste. Johann Gründler zuckte zusammen, als er das Klirren des Schlüsselbunds vernahm. Es schlug einige Male gegen das hölzerne Türblatt. Eine massive Stalltür, zwei Meter unter der Erde. Wie ein Gefängnis des Mittelalters. Gründler kannte sein Verlies besser, als ihm lieb war. Wusste um den getrampelten Erdboden des Kartoffelkellers, die Kriechgänge und Schwachstellen des Gehöfts. Doch all dies half ihm nicht. Sein Fußgelenk wurde von einer kalten, rostigen Eisenschelle umklammert. Die kalte Hand des Teufels. An einer Öse befand sich eine Kette mit fingerdicken Gliedern. Ebenfalls rostig, keine zwei Meter lang. Sie endete in einem Loch in der Steinmauer, und er vermutete, dass auf der anderen Seite der Wand ein schwerer Gegenstand an ihr befestigt war. Der Kerker war muffig und kühl. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, wie viele Tage er sich bereits hier unten befand. Die Tür schwang knarrend auf, greller Lichtschein wanderte über den Boden und fraß die Schatten.

Johann Gründler zuckte zusammen, blinzelte. Sah den halben Laib Brot und die Wasserflasche unter dem Arm des schwarz Verhüllten. Er hatte nie auch nur ein Wort gesprochen. Nicht auf sein Schreien reagiert, sein Wimmern, sein Betteln. Johann hatte verschiedene Phasen durchlebt, für die es mit Sicherheit ausnahmslos psychologische Fachbegriffe gab. Panik, Gleichgültigkeit, Todessehnsucht. Kontrollverlust. Doch am schlimmsten war das Schweigen. Die Ungewissheit, was mit ihm geschehen würde. Was der Entführer mit ihm bezweckte. Warum er ihm das antat. Warum ihm. Suchend wanderte der Blick des Unbekannten durch das Halbdunkel. Die Flasche war noch nicht leer getrunken, dennoch hob er sie auf. Er tauschte stets die Flaschen aus, ließ nie mehr als eine im Raum. Anders beim Brot, doch bis auf eine Ausnahme hatte er hier auch noch nie etwas übrig gelassen. Gründler war sich sicher, mangelernährt zu sein. Fünf Kilogramm leichter, mindestens. Einmal hatte er es gewagt, nach mehr zu fragen. Daraufhin – er war sich dessen absolut sicher – hatte er ein hämisches Kichern vernommen. Die einzige Reaktion, die er dem Fremden bisher entlockt hatte. Und dann hatte es zweimal überhaupt nichts zu essen gegeben.

Er war kein gläubiger Mensch, weiß Gott nicht.

Doch er fand sich immer häufiger betend wieder. Flehend, dass er nicht hier unten sterben müsse.

Nicht auf diese Weise.

 

 

Der forstgrüne Lada schüttelte sich noch einmal, als Ralph Angersbach den Zündschlüssel drehte. Er stieß die Tür auf und stieg aus. Knisternd kühlte der Motor aus, es roch nach verbranntem Öl. Zumindest lag Ralph der Geschmack auf der Zunge. Dann roch er den Räucherqualm und korrigierte sich. Metzger Neifiger hatte Wildschweinwürste im Ofen. Oder etwas in dieser Richtung. Im Grunde hatte er immer irgendeinen Kadaver in der Tenne baumeln, irgendwelche Koteletts neben seiner rasselnden Bandsäge liegen. Denn auch wenn nicht gerade Jagdsaison war, gab es stets etwas zu schlachten. Ralph wäre beinahe über einen Eimer rotstichiges Wasser gestolpert, über dessen Rand ein vollgesogener Lappen hing. Taumelnd gelangte er durch einen schmalen Gang, der das Schindelhaus von der Tenne trennte, zum Zerlegeraum, aus dem das Radio klang. Angersbach war sich sicher, dass es sich um einen Volksempfänger aus den dreißiger Jahren handelte, aber er hatte diese Theorie nie überprüft. Er wand sich durch die fettigen Plastikbänder, die als Fliegenvorhang im Türrahmen baumelten. Von Neifiger fehlte jede Spur. Der Kommissar runzelte die Stirn. Ein Mann, der deutlich über zwei Zentner wog, löste sich nicht einfach in Luft auf. Er ließ seinen Blick wandern, machte den Hals lang und schritt in Richtung des halbdunklen Schuppens. Etwas knarzte, Ralph lugte vorsichtig um die Ecke. Eine Katze reckte sich, machte einen Buckel, scheinbar entrüstet über die Störung. Dann aber wand sie sich von ihrem Holzstapel hinab auf den Erdboden und rieb sich an der olivgrünen Cargohose des Kommissars. Er beugte sich hinab, kraulte ihr den flauschigen Nacken. Das Schnurren hätte kaum lauter sein können, dann flog irgendwo eine Tür, und das Katzentier stob panisch davon.

»Ralph!« Tosend und mit rollendem R posaunte Neifiger seine Freude in die Welt. »Was drückst’n dich hier im Schatten rum?«

»Habe dich gesucht.«

Der Hüne näherte sich erstaunlich behende. Er packte den Kommissar an die Schulter, so kräftig, dass es nicht auffiel, dass ihm ein Finger fehlte. Neifiger – neun Finger. Wenn man den Dialekt verstand, eigentlich logisch. Seinen Realnamen verwendete jedenfalls kaum einer. Der Atem des Metzgers roch nach Alkohol, und Angersbach wusste nun, wo er gewesen war.

»Mirabelle?«

»Pflaume. Neues Rezept. Magst probieren?«

Wer über die notwendigen technischen Mittel verfügte, der brannte Schnaps. Das war in der Wetterau so und im Vogelsberg nicht anders. Angersbach schüttelte den Kopf.

»Bin auf Abruf. Außerdem habe ich keine Lust, blind zu werden. Sag mir lieber, was es so Wichtiges gibt.«

Neifiger rieb sich die Handflächen an seiner Schürze. Rote Schlieren zogen sich darüber. Er wandte sich um in Richtung Zerlegeraum. Darin angekommen, hob er den Deckel einer Tiefkühltruhe an. Eine Feder knackte. Angersbach erkannte obenauf dicke Koteletts, eingeschweißt, darunter mit Reif überwucherte Vakuumbeutel.

»Du weißt genau, dass ich kein Fleisch mehr esse«, brummte er.

Neifiger zuckte die Schultern. »Deine Sache. Aber das Zeugs hier soll seit Tagen abgeholt werden.«

»Und?«

»Der Alte meldet sich nicht. Geht weder ans Telefon noch bekommt man ihn zu Gesicht.« Er räusperte sich. »Ich wäre ja mal vorbeigefahren, aber erstens muckt mein Wagen, und zweitens«, er räusperte sich erneut, »na ja, du weißt schon.«

Angersbachs Augen weiteten sich. »Du bist den Lappen los?«

»Hm.«

Er blickte hilfesuchend zum Himmel. »Dir ist echt nicht mehr zu helfen. Und jetzt?«

»Na ja«, Neifiger verzog den Mund, »Kurzstrecken und so kann ich ja trotzdem …«

»Stopp, ich will’s gar nicht hören!«, unterbrach Angersbach ihn. »Überspann den Bogen nicht, ich bin immer noch Polizeibeamter. Was ist denn mit diesem Typ? Du erwartest doch nicht etwa, dass ich da Privatdetektiv spiele, oder?«

»Ich denk, du jobbst jetzt in Lauterbach? Also kannst du doch mal nachforschen.«

»Wegen eines Kunden, der sein Fleisch nicht abholt?«

»Er ist mehr als zwei Tage drüber. Gilt man da nicht als vermisst?«

Ralph gab auf. »Hast du einen Namen?«

Der Fleischer murmelte eine Antwort, er notierte.

»Was ist mit der Kleinen?«, fragte Neifiger dann unwillkürlich.

»Janine?« Angersbach hüstelte. Er hatte seine Halbschwester sozusagen geerbt. Von der gemeinsamen Mutter, die vor einem Dreivierteljahr gestorben war. Mitsamt einem Haus in der südlichen Wetterau, wo er seitdem lebte. Janine war sechsundzwanzig Jahre jünger, ein Nesthäkchen, und Ralph hatte nicht den blassesten Schimmer, wie viele Halbgeschwister es womöglich noch gab. Janine war der Grund, weshalb er sich gegen den Austausch gesträubt hatte. Weshalb er jeden zweiten oder dritten Tag heim nach Okarben fuhr. Fünfundsiebzig Kilometer pro Strecke. Alles, um zu einem Teenager zu gelangen, zu dem er kaum Bezug hatte. Die ablehnte, was er tat. Rebellierte, wenn er etwas von ihr verlangte.

Angersbach winkte ab. »Frag nicht.«

»Pack ihr was Leckeres ein.« Neifigers Offerte kam von Herzen, doch der Kommissar schüttelte lächelnd den Kopf.

»Vergiss es. Mit Hammelkeule oder Lammkoteletts werde ich ihr wohl kaum imponieren.«

Neifiger machte keinen Hehl aus seinem Unverständnis darüber, dass man kein Fleisch essen wollte. Allerdings hatte er längst begriffen, dass man einem Angersbach nicht hineinreden konnte.

»Ihr seid ja total verkorkst«, murrte er nur, während das Telefon des Ermittlers sich fiepend bemerkbar machte.

 

 

Hedwig Kaufmann mochte die Tagesstätte nicht, und insgeheim konnte Sabine sie gut verstehen. Es gab offene Angebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sozialarbeiter und Therapeuten, die zwischen ihnen umherwuselten. Alle freiwillig, alles zwanglos. Und doch war es ein Ort, an dem sich Irre sammelten. Verrückte Menschen, jeder mit eigenen Marotten, einige von ihnen deutlich mehr neben der Spur als Hedwig.

»Das macht mich erst richtig krank«, hatte sie seinerzeit gesagt. Gute Phasen bedeuteten, dass sie die Tagesstätte total ablehnte und keine Medikamente nehmen wollte. Das kostete Sabine tägliche Überzeugungsarbeit und Beharrlichkeit und ließ sich nur in enger Absprache mit den Mitarbeitern der Tagesstätte bewältigen. Hedwig verstand es geradezu meisterhaft, Ausreden zu finden, um nicht hingehen zu müssen. Kreislauf, Wetter, keine Begründung ließ sie aus. Und wenn der Körperhaushalt ihrer Medikamente nicht ausgeglichen war, zog der Strudel sie abwärts in die Psychose. Mittlerweile war Sabine halbwegs versiert in diesen Dingen, und sie erkannte früh verräterische Signale. Sie beharrte auf dem Besuch der Tagesstätte und scheute sich nicht, ihre Mutter daran zu erinnern, was bei ihrem letzten Absturz geschehen war. Abgedunkelte Wohnung, verschimmeltes Essen. Hochprozentiger Alkohol und undefinierbare Ängste vor allem, was sich außerhalb der eigenen Wände abspielte.

Hedwig Kaufmann nahm ihre Medizin und besuchte die Einrichtung. Diese Punkte standen nicht mehr zur Debatte. Und dennoch …

»Ich möchte heute lieber zu Hause bleiben.«

Sabine stand auf der Fußmatte vor der geöffneten Wohnungstür ihrer Mutter und warf einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. Sie kam nicht gerne zu spät zum Dienst, ob es einen Toten gab oder nicht. »Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.«

Wie eine Mutter, die mit ihrem Vierjährigen darüber sprach, dass er eine Regenjacke anziehen muss. Nur dass sie die Tochter war – und beide erwachsen.

»Du verstehst das nicht. Ich möchte heute nicht gehen …«

»Was ist denn heute anders als sonst?«

Hedwig Kaufmann druckste herum und zupfte an ihren Ärmeln. »Es ist wegen deines Vaters«, gestand sie dann.

Sabine war davon überzeugt, dass ihr biologischer Erzeuger sich irgendwo an der Costa Brava befand. Doch sie musste behutsam sein.

»Was ist mit ihm? Hast du ihn noch mal gesehen?«

Hedwig nickte und reckte den Kopf zur Seite, als wollte sie die Umgebung hinter ihrer Tochter checken. »Er stand gestern auf der anderen Straßenseite.«

»Wo?«

»Na gegenüber der Tagesstätte. Er hat mich beobachtet.«

 

Der Körper war seltsam verrenkt, was wohl darauf zurückzuführen war, dass er kopfüber hing. Der Mann baumelte an einem Seil, das beide Fußgelenke umschlang. Die Schlinge wirkte professionell, das stach Angersbach als Erstes ins Auge. Ein fachmännischer Henkersknoten, wie man ihn aus Western kannte, mit neun Wicklungen. Auch sonst gab es Elemente, die durchaus von Sergio Leone inszeniert hätten sein können. Die steinernen Säulen, der Balken, der Strick. Mittagssonne, unter deren beinahe senkrechtem Stand der Körper einen kreisrunden Schatten warf. Eine außerhalb des Ortes gelegene Kuppe. Pferdegeruch, nein, Schafe. Bist du schon so lange in der Stadt, dass du Gäule mit Pulloverschweinen verwechselst?

Angersbach räusperte sich, zwei Uniformierte traten stumm beiseite. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich, kannte er doch keinen der Anwesenden. Seit seiner Zeit in Lauterbach waren zwanzig Jahre vergangen, die meisten Jahre hatte Ralph in Gießen Dienst geleistet. Präsidium Mittelhessen, nicht Osthessen, dessen Hauptsitz in Fulda war. Es war fast wie römische Besatzungslager. Fulda, Lauterbach, Alsfeld, Gießen, Friedberg, Bad Vilbel. Bogenförmig umspannten die Städte Wetterau und Vogelsberg, auf dessen Kuppen sich unzählige Gemeinden befanden. Aus einem der Dörfer stammte Ralph, in einem anderen hatte er seine Kindheit und in einem dritten seine Jugend verbracht. Kinderheim, Pflegefamilie, die fast zwangsläufigen Krisen im jungen Erwachsenenalter. Doch er hatte es geschafft. War der drohenden Abwärtsspirale, in die so viele Heimkinder gerieten, entkommen. Und nun stand er nach all den Jahren wieder hier; ausgerechnet ein Austauschprogramm hatte das bewerkstelligt, was er selbst stets auf die lange Bank geschoben hatte.

»Angersbach, Mordkommission.«

Unbeeindruckt blickte der Notarzt von seinem Klemmbrett auf, es war verkratzt und abgestoßen. Angersbach fragte sich, wie viele Totenscheine darauf wohl schon unterzeichnet worden waren. Die auffällig großen Nasenflügel des Arztes hoben sich schnaufend auf und ab. »Höchste Zeit, dass mal einer kommt.«

»Was meinen Sie?« Angersbach sah zu den Kollegen der Spurensicherung hinüber. Sie rauchten und schienen nichts Eiliges zu tun zu haben.

»Einer muss den Typ da mal runterholen«, war die gereizt klingende Antwort. »Ich kann so nicht arbeiten.«

Ralph entschied sich, nicht darauf einzugehen. »Was können Sie mir über Todesursache und -zeitpunkt sagen?«

»Der Tod dürfte vor einigen Stunden eingetreten sein. Ich tippe auf sechs Uhr früh, plus/minus eine halbe Stunde. Ohne Gewähr! Die Todesursache kenne ich noch nicht.«

Minimum fünf Stunden, rechnete Angersbach nach und legte den Kopf seitlich. Er bat den Arzt, kurz zu warten, um sich mit den Kollegen der Spurensicherung abzusprechen.

 

 

Der Wind frischte auf, was dem Beobachter guttat. In dem Ford Focus stand die Luft, obwohl die Fenster heruntergelassen waren. Eine Schmeißfliege kroch über die Armaturen, immer wieder fanden Insekten ihren Weg ins Wageninnere. Empfindlich berührt wedelte die Hand umher, ein tiefes Summen ertönte. Er parkte auf einer Anhöhe, verborgen zwischen Buschwerk und niedrigem Gehölz. Gerade so weit entfernt, dass niemand der Beamten seinen Kombi erspähen konnte, und nah genug, um durch den Feldstecher alles beobachten zu können. Kein Detail entging den scharfen Augen. Unter den Tränensäcken zeichneten sich kreisrunde Druckstellen ab, schon seit Stunden beobachtete er den Tatort. Zufrieden schnalzte die Zunge, der Oberlippenbart kitzelte. Ralph Angersbach hatte soeben die Bühne betreten. Kommissar Angersbach. Das Heimkind, das es zu etwas gebracht hatte. Der verlorene Sohn, der in seine Heimat zurückgekehrt war.

Vorhang auf, es war sein Spiel – auch wenn er noch nicht den blassesten Schimmer davon hatte.

 

 

Sabine Kaufmann hatte ihre Mutter gefahren, wie sie das oft tat. Auf dem Weg hatte sie erneut versucht zu ergründen, wie die Sache mit ihrem Vater vor der Tagesstätte zu beurteilen war.

»Wie hast du ihn denn bemerkt?«

»Er stand wohl schon da, als ich hinkam. Zumindest kam mir der Typ bekannt vor. Richtig sicher war ich mir aber erst, als ich aus dem Küchenfenster geblickt habe. Eine ganze Stunde später, nebenbei erwähnt.«

»Und du hast ihn dann eindeutig identifiziert?«

Typisch Polizistin. Hedwig hatte lamentiert: »Glaubst du mir immer noch nicht? Ja, verdammt, ich habe ihn erkannt! Ich war fünfzehn Jahre mit diesem Mann verheiratet.«

»Warum hast du niemanden verständigt?«

»Wenn nicht mal meine Tochter mir glaubt?« Der Vorwurf machte Sabine betroffen, doch Hedwig sprach sofort weiter. »Hinterher hieße es dann wieder, ich habe Wahnvorstellungen.«

Tatsächlich wäre Sabines nächste Frage die nach Hedwigs Medikamenten gewesen.

Hast du sie auch wirklich durchgehend genommen?

Fühlst du dich irgendwie anders als sonst?

Doch sie traute sich nicht. Stattdessen: »Ich möchte dir glauben, und deshalb fahre ich dich auch hin, obwohl es schon ganz schön spät ist. Wenn du möchtest, hole ich dich auch ab.«

»Hmm.«

»Ich laufe auch um den Block und halte nach ihm Ausschau, falls es dich beruhigt.«

»Du kennst ihn doch nur als Kind«, wehrte sich Hedwig, aber Sabine blieb standfest.

»Ich spreche notfalls alle Herren zwischen fünfzig und siebzig an.«

Hauptsache, ihre Mutter ging in die Einrichtung.

Hauptsache, sie schlitterte nicht in eine Paranoia.

Doch was, wenn ihr Vater sich tatsächlich rührte?

Wenn ihm das Geld ausgegangen war, die zwanzigjährigen Bikinischönheiten ihm nicht mehr nachliefen, ihm die Schulden über den Kopf wuchsen? Alles schon vorgekommen.

Rund um die Tagesstätte war weit und breit kein Verdächtiger zu sehen gewesen. Sie hatte die Leiterin informieren wollen, doch diese war noch nicht da. Also hatte Sabine ihrer Mutter das Versprechen abgenommen, sich sofort bei ihr zu melden, wenn sie etwas bemerkte.

 

Wenig später parkte sie ihren Twizy vor der Polizeistation im Riedweg. Ein Neunziger-Jahre-Bau, zweigeschossig, mit türkisfarbenen Fenstern. Es war wie gewohnt ruhig im Gebäude, Bad Vilbel war keine Metropole des Verbrechens.

Als der Kopf von Konrad Möbs, dem Dienststellenleiter, im Türspalt seines Büros auftauchte, tat Sabine so, als sähe sie ihn nicht. Spielte an ihrem Handy und mied Blickkontakt, in der Hoffnung, dass er sie nicht ansprechen würde. Nicht ohne triftigen Grund. Nicht, solange es keine Leiche gab. Denn sie hatte nicht die geringste Lust darauf, Aufgaben zu übernehmen, die Möbs sich ausdachte, um sie in mordfreien Zeiten zu beschäftigen.

»Zum Glück sind Ferien«, hatte Angersbach gesagt, »sonst würden wir am Ende in irgendwelchen Schulen Präventionsprojekte durchführen müssen.«

»Sie sind doch ein Experte für Halbstarke.« Sabine hatte gelacht. Immerhin lebte ihr Kollege mit einem schwierigen Teenager zusammen – zumindest bezeichnete er das Mädchen zuweilen so. Sabine sah in Janine nicht mehr als eine heranwachsende Frau, die eine schwierige Zeit durchlebte. Auch wenn das Ergebnis womöglich das gleiche war. Ralph Angersbach hatte es gut – viel besser als sie. Kein Möbs, keine Machokollegen. Stattdessen vier Wochen Dienst auf Abruf in seiner alten Heimat. Es schien auch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu sein. Ein Tausch von Kollegen zwischen zwei benachbarten Präsidien. Klar, dass man in Gießen und Friedberg da sofort auf einen von ihnen kam. Alle anderen waren ja zu wichtig.

Griesgrämig näherte Sabine sich dem verwaisten Büro. Sie hatte sich den Wechsel von Frankfurt gewünscht, ja, gezielt darauf hingearbeitet, um mehr Struktur zu haben, beständigere Dienstzeiten, ein geordnetes Privatleben. Sie sah den Aufprall nicht kommen. Lief mitten in ihn hinein, quiekte erschrocken, als die Plastikflasche zu Boden klatschte und sich Wasser über ihren Fuß ergoss. Das Handy flog in die Pfütze, ihre Schulter pochte, es gluckerte. Mirco Weitzel. Schönling des Reviers, blond, athletisch und – sie hätte es schwören können – zuweilen gepudert. Doch im Augenblick war er nichts weiter als ein Überfall. Sabine schnellte nach unten, um ihr Handy zu retten, bevor das Wasser ihm zusetzte. Die gleiche Idee hatte auch Weitzel, und prompt knallten ihre Köpfe aneinander. Unerbittlich wie ein Holzhammer, Übelkeit überkam Sabine.

»Verdammt!« Sie richtete sich auf und tastete nach ihrer Stirn. Kniff benommen die Augen zusammen, registrierte aber, dass ihr Kollege das Telefon in seiner Linken hielt.

»Zwei Jahre altes Modell.« Er grinste gequält. »Ich hoffe, das war es wert.«

»Was wert?« Sabine war noch nicht so weit, seinen Gedanken zu folgen.

»Na, das doppelte Schädeltrauma. Du hast einen ganz schön harten Schädel.« Er zwinkerte verstohlen. »Nicht persönlich gemeint.«

Sabine verzog den Mund zu einem Lächeln. »Danke fürs Retten.«

Sie wand sich an ihrem Kollegen vorbei, bevor dieser sie in ein Gespräch verwickeln konnte. Geordnetes Privatleben. Sabine biss sich auf die Unterlippe. Sie hoffte inständig, dass die Bilder im Kopf ihrer Mutter nur Hirngespinste waren. Doch dann fragte sie sich, ob es fair war, sich zu wünschen, dass ein anderer am Rand einer Psychose stand. Soll er doch hier sein, schloss sie grimmig. Ihr Vater, von dem sie nie etwas gehabt hatte. Was sollte er ihr schon anhaben können?

Unser Leben wirst du nicht auf den Kopf stellen, schwor sich die Kommissarin.

 

 

Es mussten mindestens zwei Personen sein. Eine Frau und ein oder zwei Männer. Da er von keinem bisher das Gesicht gesehen hatte und ihre schwarze Einheitskleidung kaum Rückschlüsse zuließ, konnte er sich nur an Körperhaltung und Größe orientieren. Die Mangelernährung schlug ihm zudem auf den Verstand, lähmte seine Synapsen. Auf seinem Arm waren ihm irgendwann Einstichmale aufgefallen. Hatte man ihm Drogen verabreicht? Halluzinierte er? Fieberhaft suchte er den winzigen roten Punkt auf der Haut, doch er fand ihn nicht mehr. Auch der andere Oberarm war unversehrt. Hatte er sich das Ganze am Ende eingebildet? Oder war die Wunde längst verheilt?

Es begann zu rauschen. Die Beklemmungen kehrten zurück, das Denken tat weh. Wie lange würde er noch durchhalten, bevor er dem Wahnsinn verfiel?

Gierig schob Gründler sich einen Bissen Brot in den Mund. Er kaute ihn dreißig Mal. So lange, bis der Speichel die Stärke in Zucker aufspaltete. So lange, bis er die Süße schmecken konnte. Hoffte dabei, dass das Sättigungsgefühl wenigstens für eine Weile andauern würde. Völlig unerwartet flammte das Licht auf, er hatte nicht damit gerechnet, so schnell wieder Besuch zu bekommen. Schweigend zerrten zwei kräftige Hände ihn von der Wand weg und lösten die Schelle. Er wollte die entzündete Haut reiben, doch schon packte man ihn und zog ihn hoch. Als seine Schulter am Oberkörper entlangglitt, spürte er die weiblichen Konturen. War er bereits so schwach, dass sie ihm die Frau schickten? Eine nicht gerade hochgewachsene Person, aber von beeindruckender Härte.

»Warum tun Sie mir das an?«

Wenn überhaupt jemand der Empathie fähig war, dachte er in seiner Panik, dann sie.

Keine Antwort. Stattdessen ein Stoß ins Kreuz, der ihn in Richtung Nebenraum dirigierte.

Ein Halogenscheinwerfer auf fleckigem Stativ hüllte den Raum in grelles Licht und verdunkelte alles, was außerhalb seines Scheins lag. An der schmalen Wand stand ein Holzstuhl. Zweihundert Jahre alt, mit farbenfroher Blümchenlackierung auf der Lehne. Johann Gründler kannte das antike Möbel nur zu gut, denn es gehörte ihm. Hinter dem Stuhl war die Wand mit einem alten, rosafarbenen Laken verhängt. Eine Zeitung lag auf dem Boden, sofort versuchte er, den Aufmacher zu lesen. Doch man gewährte ihm kein Verschnaufen. Bevor er sichs versah, hockte er nach vorn gebeugt auf dem Stuhl. Er knarzte. Es war schon lange wieder eine Behandlung mit Leim nötig. Für eine Sekunde bildete er sich ein, das Huschen einer zweiten Gestalt zu erkennen, dann hob sich ein großer Karton vor seine Augen. Eine Art Sakko legte sich über seine Schultern, man zupfte daran herum und zwang seine Hände in Richtung der Ärmelöffnungen. Dann wurde der Oberkörper unsanft nach hinten geschoben. Geblendet von dem Scheinwerfer, versuchte Johann zu erkennen, was geschah. Doch seine Reflexe folgten der Wahrnehmung nur zögerlich, seine Arme kribbelten, und die Beine waren wie Blei. Zeitungspapier raschelte, irgendwo im Schatten schien jemand nervös auf einen Kugelschreiber zu drücken.

Kugelschreiber. Klicken. Er hörte es nachhallen, als es längst nicht mehr zu hören war. Doch etwas störte ihn. Passte nicht ins Bild.

Minuten später befand sich Johann Gründler wieder in seinem Verlies. Angekettet. Nach dem Flutlicht kam ihm die Schwärze noch finsterer vor. Er vergrub den Kopf zwischen den Händen, als könne er ihr entfliehen. Ein verzweifeltes Schluchzen, dann konnte er seine Tränen nicht mehr halten.

Das Auslösegeräusch der Kamera verhallte in seinem Wimmern.

 

 

Sabines Blick wanderte vis-à-vis, ihre Ego-Wand fing ihn ein. Sie hielt einen Moment inne. Die meisten ihrer Kollegen besaßen so etwas. Eine freie Ecke Wand, bei einigen eher versteckt und zu Hause, bei anderen war sie der Blickfang im Büro. Diplome oder Urkunden, sei es von Sportwettkämpfen oder beruflichen Auszeichnungen. Zeitungsartikel. Sabine Kaufmann hatte während ihrer Zeit bei der Mordkommission eine Handvoll spektakulärer Fälle zur Aufklärung gebracht. Ihr fotografischer Blick war der Presse einen Dreispalter wert gewesen, damals, als ein Killer »Stairway to Heaven« an seinen Tatorten spielen ließ. Oder die Befreiung ihrer damaligen Vorgesetzten, 2007, aus dem Verlies eines psychopathischen Serientäters. Highlights für die Öffentlichkeit. Was danach geschah, was es mit den Beteiligten machte, das interessierte keinen mehr. Neben drei gerahmten Artikeln, die jeweils ihr Foto zeigten, hingen zwei weitere von Angersbach. Sabine atmete pfeifend aus und sah dann auf seinen leeren Platz. Sie seufzte, als ihr Blick auf ein Memo fiel. Konrad Möbs ließ bitten.

»Kommen Sie, wenn es passt, bitte in meinem Büro vorbei«, entzifferte sie seine Sauklaue. Im Klartext bedeutete das, dass sie sofort zu erscheinen hatte. Doch für einen Kaffee war noch Zeit. Immerhin hätte er sie bereits auf dem Gang zu sich rufen können. Sabine Kaufmann war sich sicher, dass er sie vorhin gesehen hatte. Sie und Mirco Weitzel. So viel musste man ihm lassen: Konrad Möbs entging praktisch nichts, am wenigsten die Dinge, die man lieber vor ihm verbergen wollte. Ein Stich zuckte durch ihr Zwerchfell. Sie mochte überhaupt nicht daran denken, welche Phantasien Möbs sich in seinem Kopf über sie und ihren Kollegen zusammenspann. Dabei war da nichts. Und wird auch nie etwas sein, dachte Sabine entschlossen.

Sie betätigte zwei Knöpfe, und das Mahlwerk verrichtete kreischend seinen Dienst. Der Vollautomat, ein Sonderangebot für zweihundertneunundvierzig Euro, war kaum zwei Monate alt. Ein leichter Kalkrand hatte sich am Wassertank abgesetzt, Staub haftete am Deckel des Bohnenbehälters. Zeit für eine erste Grundreinigung, dachte sie, während ihr heißer Röstduft in die Nase stieg. Die Investition hatte sich gelohnt, wenngleich es ein wenig dekadent erschien. Doch das Leben war zu kurz für schlechten Kaffee, darin waren Sabine und ihr kauziger Partner sich einig. Sie zog eine Grimasse. Wer würde die Kaffeemaschine mitnehmen, sollten sich ihre Wege einmal trennen? So weit hatten die beiden nicht gedacht. Nicht denken wollen. Wie gut, dass ich nicht zu Michael gezogen bin, dachte die Kommissarin. Oder er zu ihr. Das würde auch nicht mehr passieren. Warum die Dinge unnötig verkomplizieren?

Als wollte sie den Kaffeeautomaten beruhigen, dass sich Mama und Papa schon nicht scheiden lassen würden, tätschelte Sabine das schwarze Plastikgehäuse. Dann umrundete sie den Schreibtisch zu ihrem Platz. Im Postfach fand sie eine E-Mail vor, die sie stutzig machte. Sie kam von Petra, einer Kollegin aus Friedberg, mit der sie seit einem gemeinsamen Einsatz vor einigen Monaten losen Kontakt hielt. Ein Einsatz, bei dem ein guter Freund gestorben war. Praktisch in Petras Armen. Sie bat um Rückruf, Sabine dachte an Möbs, wählte dann aber die Nummer.

»Petra Wielandt.«

»Hallo, Sabine Kaufmann hier.«

»Ach. Das ging ja schnell.«

»Deine Mail klang so kryptisch«, Sabine gluckste, »und außerdem wartet dieser Giftzwerg Möbs auf mich. Da kommt mir jede Verzögerung recht.«

Petra lachte nicht, sondern räusperte sich nur. Es folgte eine sekundenlange Pause. »Wie fange ich am besten an«, sagte sie dann.

»Worum geht es denn? Ist wer gestorben?« Ein böser Fauxpas, zum Glück reagierte Petra nicht darauf.

»Hier in der Abteilung geht um, dass wir bald Kollegen werden könnten. Direkt, wenn du verstehst.«

Sabine kniff die Augen zusammen, ihre Gedanken rasten.

»Sind wir doch bereits.« Petra gehörte zur Mordkommission der Kripo Friedberg. So wie sie selbst auch, nur dass ihr Dienstort Bad Vilbel war. Verdammt. »Moment. Du meinst doch nicht …«

»Wie gesagt, es ist nur ein Gerücht. Aber es heißt, du würdest bald zu uns kommen.«

»Spinnen die?« Ihre Stimme überschlug sich. »Das können die doch nicht einfach so entscheiden!« Sabines Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals. Wie ein kleiner Boxer, der unaufhörlich ihr Brustbein malträtierte.

»Ich wollte dich nur vorwarnen.«

»Danke.«

Sabine Kaufmann verabschiedete sich, nachdem Petra ihr noch versichert hatte, dass die Kripo Friedberg ein netter Verein sei und es doch auch ein angenehmer Nebeneffekt wäre, direkte Kolleginnen zu sein. Die Kommissarin bejahte höflich, wollte davon jedoch nichts wissen. Bad Vilbel. Das war ihr Zuhause, und zwar nicht, weil sie besonders heimatverbunden war. Aber sie war nicht grundlos hierhergezogen, hatte das Präsidium Frankfurt nicht leichtfertig eingetauscht. Das Risiko, nach einem Jahr versetzt zu werden, hatte man ihr als äußerst gering dargelegt. Sabine schnaufte noch immer vor Erregung. Ihr Blick fiel auf Möbs’ Notiz, und sie schnellte nach oben. Jetzt, genau in dieser Laune, gehe ich zu ihm. Bevor der Frust verflogen ist. Denn wenn das, was er von ihr wollte, auch nur im Entferntesten mit ihrer Versetzung zu tun hatte, sollte er sich besser warm anziehen.

 

Eine Minute später stand Sabine vor dem Büro ihres Chefs.

»Setzen Sie sich doch bitte.«

Seine Stimme war bittersüß. Zynisch und die Überlegenheit ausspielend, die seine Position mit sich brachte. Konrad Möbs war Bad Vilbeler Urgestein, seit vielen Jahren Leiter der Dienststelle. Es war kein Geheimnis, dass er mehr aus seiner Karriere hätte machen können, doch er schien mit dem, was er hatte, vollkommen zufrieden zu sein. Eine Beförderung hätte ihn von Bad Vilbel weggeführt, das wollte er nicht. Man munkelte, er würde am liebsten in seinem Sessel einschlafen, wenn er einst das Zeitliche segnen sollte. Mit der dauerhaften Präsenz einer Mordkommission, die direkt dem K10 der Kripo Friedberg unterstand, hatte er sich bis jetzt nicht anfreunden können. Erst im Frühjahr hatten zwei Morde die Stadt erschüttert, kaum dass Sabine und ihr Kollege ihren Dienst aufgenommen hatten. »Unsere Ressourcen nutzen und dann selbst die Lorbeeren einheimsen«, war sein Kommentar dazu gewesen. Diesen Standpunkt hatte er nicht geändert. Eher verschärft: »Nach der Wahl haben die ihren Zweck erfüllt und werden wieder abgezogen. Bis dahin dulden es die einen, weil sie sich nicht nachsagen lassen wollen, dass ihnen die Sicherheit der Gemeinden egal sei. Und die anderen rühren mit der aufgestockten Polizeipräsenz fleißig die Wahlkampftrommel.«

An dieser Logik mochte zwar nichts grundlegend falsch sein, aber er machte sich das Ganze doch recht einfach. Bad Vilbel zählte im Verbund mit Karben zum bevölkerungsreichsten Gebiet der Wetterau. Dazu kam die unmittelbare Nachbarschaft zu Frankfurt. Spürbar schwappte das Verbrechen aus dem Großstadtsumpf in Richtung Provinz. Wie weit auch immer die Welle rollte: Bad Vilbel bekam stets etwas davon ab.

Möbs räusperte sich und bedachte die Kommissarin mit einem prüfenden Blick. »Das K10 wird aufgelöst.«

»Bitte was?« Die Vorwarnung durch Petra Wielandt schwächte den Schock nur minimal ab. Möbs schien es regelrecht zu genießen, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Wie ihre Kinnlade herunterklappte und die Augenbrauen Richtung Decke schnellten.

»Das K10 ist praktisch am Ende«, wiederholte er. »Punktum.«

»Ich bin nicht taub«, antwortete sie frostig. »Ich möchte wissen, wieso. So eine Entscheidung trifft man schließlich nicht zwischen Tür und Angel.«

»Wir können da ohnehin nichts machen.« Möbs hob die Schultern, Sabine hätte schwören können, ein kurzes Grinsen aus seinen Mundwinkeln flüchten zu sehen. »Es liegt an Friedberg. Dort wird die Politik gemacht. Wir stehen ganz unten und müssen uns fügen.«

»Moment.« Sabine hatte sich einigermaßen gesammelt. Sie rief sich ihren Vertrag ins Gedächtnis. Zwei neue Planstellen, befristet für ein Jahr. Eine davon gehörte ihr. Einsatzort Bad Vilbel, beginnend zum Ersten des Jahres. »Vor Silvester gehe ich nirgendwo hin.«

Der Wandkalender hinter Möbs’ Rücken bekräftigte sie. Es war August. Doch in seinem Gesicht lag dieser gewisse Ausdruck, eine Mixtur aus Allwissenheit und Arroganz, gegen die Sabine machtlos war.

»Warten wir es ab.« Er spielte mit dem Löffel seiner Kaffeetasse und zog Muster in den Schaum. Mitgefühl war bei ihm ebenso wenig zu erkennen wie Loyalität. Warum stellte er sich nicht hinter sie? Für jeden popeligen Beamten hätte er es doch auch getan, so viel war sicher. Sabine kochte innerlich, zwang sich aber, ruhig zu bleiben.

Nach einer unerträglichen Pause blickte Möbs auf. Aber sein Blick ging an ihr vorüber, ins Leere. Als sei sie überhaupt nicht da. Dieser selbstgefällige Saukerl. Sabines Finger gruben sich in ihre Jeans.

»In ein paar Wochen sind Landtagswahlen, bis dahin können Sie hier noch eine ruhige Kugel schieben.«

Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. War es ihre Schuld, dass es keine Amokläufer oder Lynchmobs gab, die Bad Vilbel aufmischten? Sie wollte etwas Entsprechendes sagen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»Womöglich findet Herr Angersbach ja Gefallen in seiner alten Heimat. Dann ist er schon mal versorgt. Und für Sie ergibt sich auch noch eine Verwendung.« Er bleckte großspurig seine Zähne. »Nur eben nicht hier.«

Jetzt reicht es, verdammt!

Für Sabine Kaufmann geschah es ebenso unerwartet wie für ihn. Ihre Handballen schlugen wie Meteoriten auf die Tischplatte. Wutentbrannt feuerte sie Konrad Möbs einen Schrei entgegen. Ein Kugelschreiber wirbelte durch die Luft, wie in Zeitlupe hob sich ein Tsunami aus der randvollen Tasse und ergoss sich über das umliegende Papier. Möbs sprang alarmiert auf, noch bevor die lauwarme Pfütze auf seine Hose regnen konnte. Tropfen platschten auf das graue Vinyl. Vornübergebeugt auf ihre vor Schmerz pulsierenden Hände gestützt, keuchte Sabine erneut: »Es reicht. Eben reicht’s.«

Möbs war kreidebleich, sammelte sich aber schnell. Er war nicht wesentlich größer, aber sicher doppelt so schwer wie die Kommissarin. Doch diesmal gelang es ihm nicht, ihr zuvorzukommen. Kaum dass er zu einem »Frau Kaufmann« ansetzte, schnellte auch schon ihr Zeigefinger bedrohlich vor seine Brust.

»Sie haben jetzt Sendepause!« Sabine zischte die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich lasse mich keinen Tag länger von Ihnen behandeln, als sei ich ein Krebsgeschwür, ein Parasit oder sonst etwas. Sie haben eine Mordkommission im Haus, und das noch für mindestens vier Monate. Finden Sie sich damit ab, verdammt. Keiner pfuscht Ihnen ins Handwerk, dasselbe erwarte ich von Ihnen.«

Ein letztes Auffunkeln ihrer Augen, dann wandte sie sich um. Schritt aus dem Zimmer, ohne eine Reaktion abzuwarten. Kurz bevor die Tür knallte, setzte sie noch einen nach: »Ich nehme heute frei. Das Handy schalte ich aus. Nur damit Sie’s wissen.«

Rums. Ein Wunder, dass es die Tür nicht aus dem Rahmen schlug.

Sollte sich doch ein anderer um den Laden kümmern. Sabine atmete durch und eilte zurück in ihr Büro. Sie schloss die Tür von innen ab, was sie noch nie zuvor getan hatte. Überlegte, ob sie Angersbach anrufen sollte. Ihre Mutter sollte sie besser nicht belasten, auch wenn Hedwig, wenn es ihr gutging, eine sehr gute Zuhörerin war.

Mirco Weitzel war ein Kollege. Vor drei Wochen hatte Sabine mit ihm einen Film im Autokino besucht. Nichts weiter, auch wenn Weitzel sich womöglich mehr von der Sache erhofft hatte. Doch Sabine Kaufmann war mit Michael Schreck zusammen, dem gefragtesten Computerforensiker der Frankfurter Polizei. Zumindest offiziell. Ein Seufzer rollte aus den tiefsten Abgründen Sabines Kehle hoch. Michael.

Warum dachte sie, wenn es ums Reden ging, erst zuallerletzt an ihn? Sie vergrub ihren Kopf zwischen den Händen und sehnte sich nach einer einsamen Höhle. Doch je länger sie verharrte, umso schmerzlicher wurde ihr bewusst, dass es solch eine Höhle für sie nicht gab.

Nie geben würde.

 

 

Die Fakten waren schnell zusammengefasst. Der Tote war männlich, Mitte fünfzig. Ein verbrauchtes Gesicht, das älter wirkte. Vom Leben gezeichnet. Doch der Arzt traf seine Schlussfolgerungen nur äußerst behutsam. Eine Leiche, die über mehrere Stunden kopfüber an einem Strick herabhing, sah nicht unbedingt nach Schema F im Lehrbuch aus.

»Zur Todesursache kann ich nur Vermutungen anstellen«, schloss er seinen Bericht. »Aber dem ersten Anschein nach dürfte er erstickt sein.«

Angersbach legte sich unwillkürlich die Hand auf den Hals. »Erstickt? Ich hätte eher auf Hirnblutungen getippt.«

Der Mediziner machte aus seiner Verachtung gegenüber Laiendiagnosen keinen Hehl. »Natürlich werde ich den Kopf auf Blutungen untersuchen, schauen Sie sich nur mal die Retinae an.« Er verzog den Mund. »Das sind die Netzhäute.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Angersbach unterkühlt. Er wünschte sich Professor Hack herbei, den Leiter des rechtsmedizinischen Instituts in Gießen. Und das sollte etwas heißen. Hack war ein ziemlicher Kauz, doch seine bissigen Kommentare wären dem Kommissar weitaus lieber gewesen als ein lustloser Arzt, mit dem er nicht warm wurde. Durchhalten, sagte er sich im Stillen. Wenn es gut läuft, wirst du ihn nie wiedersehen. Auf wie viele Morde würde die Region um Lauterbach es in drei Wochen schon bringen? Ein blöder Zufall, dass ausgerechnet jetzt einer geschehen war.

Unbeeindruckt von seiner offensichtlichen Unkonzentriertheit, überschüttete ihn sein Gegenüber mit Fachjargon, redete von Hypertonie, Hirnschwellung, Sehverlust und epileptischen Anfällen.

»Ein qualvoller Tod«, sinnierte Angersbach und erntete ein Achselzucken.

»Bevor es zu solcherlei Dingen kommt, ist es durchaus möglich, dass man das Bewusstsein verliert. Das Atmen fällt mit der Zeit immer schwerer, weil das Zwerchfell auf die Lungenflügel drückt. Die schweren Organe, Sie wissen schon. Das dürfte die eigentliche Qual dabei gewesen sein. Atmen gegen Widerstand, dazu noch mit begrenztem Lungenvolumen. Rauschen im Kopf, das Herz hämmert. Wobei Letzteres eine subjektive Wahrnehmung ist.«

»Danke, das genügt.« Angersbach rang sich ein Lächeln ab. Immerhin tat der Doc nichts als seine unangenehme Pflicht.

»Wie Sie meinen. Ich mache die Papiere fertig, dann können Sie ihn mitnehmen. Die Leichenschau darf dann der Kollege in Kassel vornehmen.«

»Kassel?« Angersbach riss die Augen auf. Mal abgesehen davon, dass es bis dorthin eineinhalb Autostunden waren, kannte er dort absolut niemanden. »Ich wollte ihn eigentlich in Gießen haben.«

»Bitte. Ist mir vollkommen wurst.«

Angersbach schritt zurück zur Spurensicherung. Es gab Fuß- und Reifenabdrücke, doch nichts ließ auf einen eindeutigen Anhaltspunkt hoffen. Eine alte Patronenhülse, 9mm. Diese war so angelaufen, dass davon auszugehen war, sie läge dort schon länger.

»Silvestergeballer«, murmelte einer der Kollegen durch seinen Vollbart. Angersbach hatte aufgehört zu versuchen, sich die Namen zu merken. Warum auch? Der Kollege kam aus Fulda. Er würde wohl kaum wieder mit ihm zu tun haben, und wenn, konnte er die Kontaktdaten in der Fallakte finden.

Die Kollegin, noch vermummt in ihren Schutzanzug nebst Mundschutz, widersprach sofort: »Das ist aber keine Schreckschusspatrone.«

»Als würde sich da in der Walachei jeder dran halten.«

Bevor das nächste Argument kam, entschied sich Angersbach, die Diskussion abzukürzen. »Ins Labor damit, bitte. Dann wissen wir’s genau.«

Sie zog den Mundschutz unters Kinn, zum Vorschein kam eine äußerst attraktive Frau. Das Gesicht mit den feinen Zügen passte überhaupt nicht zu der rauhen Stimme. Sie hob ihre Kladde, um sich etwas zu notieren.

»Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Ralph Angersbach.«

»Angersbach?« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. »Wie dieses Nest vor Lauterbach? Mit dem Baumarkt?«

Ralph nickte. »Schreibt sich auch genauso.«

»Kommen Sie von dort?«

»Nein, aus Okarben.«

Das war Blödsinn. Er wohnte nur in Okarben. Angersbach schüttelte den Kopf. »Nein, das heißt, ich komme schon von hier.«

»Ja was denn nun?«

»Ich stamme ursprünglich schon aus der Ecke.« Warum um alles in der Welt ließ er sich überhaupt derart ausfragen?

Sein Gegenüber legte den Kopf schief und grinste. Spöttisch, wie er fand.

»Was ist los? Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«

Tun Sie nicht, verdammt!, schrie es in seinem Kopf. Er hüstelte und verzog das Gesicht.

»Es ist kompliziert. Ich bin zum Austausch hier oben. Eigentlich gehöre ich in die Wetterau.«

Doch im Grunde gehörte Ralph Angersbach nirgendwo so richtig hin. Ihm fehlte der Bezug zum Begriff »Heimat« ebenso wie der zu seinen leiblichen Eltern. In diesem Augenblick wünschte er sich eine schlagfertige Frau an seine Seite. Sabine Kaufmann zum Beispiel. Oder sogar Janine. Jemanden, der ihm Halt gab. Vertrautheit. Oder auch mal Paroli bot.

»Herr Angersbach?«

Ralphs Kopf flog herum, er erblickte einen Uniformierten, der offenbar sehr aufgebracht war. Ein Typ wie ein Elitesoldat, jung, durchtrainiert, kantiges Profil, stahlblaue Augen. Die Ausbildung konnte noch nicht lange zurückliegen. Was brachte ihn derart aus der Fassung?

»Das bin ich. Was gibt’s?«

»Wir haben eine Identifizierung.«

»Machen Sie’s nicht so spannend.« Angersbach wurde ungeduldig. »Ist es ein Promi? Sie zittern ja vor Aufregung.«

»Es ist Veith Gruber.« Er stockte. »Z-Zweifel ausgeschlossen.«

»Veith Gruber.« Angersbachs Gehirn schaltete einen Bruchteil langsamer als das seiner Kollegen.

»Gruber?« Die beiden Forensiker fragten fast monoton, dann klappte auch schon Angersbachs Kinnlade hinunter.

Veith ›Granaten-Gruber‹. Verurteilt in den Achtzigern wegen Mittäterschaft an mindestens zwei Sprengstoffanschlägen. Schießerei mit der Polizei, bei der ein Beamter getötet worden war. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Begnadigt als letzter inhaftierter Terrorist nach fast neunundzwanzig Jahren Gefängnis. Ein Aufschrei in den Medien. Roter März, seine Gruppe, war längst aufgelöst. Eine neue Gefahr sei nicht zu erwarten, auch wenn hin und wieder Gerüchte aufflammten. Gruber war gerade mal zweiundfünfzig, als er die Haftanstalt Schwalmstadt im Frühjahr verlassen hatte.

Geläutert, wie es hieß. Öffentlich Reue hatte er allerdings nie gezeigt.

 

 

Die Meldung hätte ungünstiger nicht eintreffen können. Ein gellendes Glockenspiel, der Signalton, den Sabine in labilen Phasen für ihre Mutter reserviert hatte. Nicht einmal die Polizeiwache hatte einen eigenen Klingelton, und hätte Sabine darüber in diesem Augenblick entscheiden müssen, wären Möbs und Konsorten allesamt auf die Blockierliste gewandert. Ihre Nerven lagen blank, das Glockenspiel ließ sie regelrecht zusammenfahren.

Eine SMS. Nicht das schlechteste Zeichen, folgerte sie. Sabine Kaufmann kannte die Phasen ihrer Mutter. Das Gute an psychotischen Schüben: Sie folgten einem gewissen Schema. Zeitlich konnten die Stufen sich deutlich voneinander unterscheiden, aber der Aufbau war in der Regel gleich. Verdachtsmomente. Unbestimmte Ängste. Diese Signale mussten ihr entgangen sein. Hedwig verließ das Haus ohnehin nur, um zur Tagesstätte zu gehen. Einkäufe erledigte sie, wenn überhaupt, auf dem Heimweg. Oder mit ihrer Tochter. Das stellte die Früherkennung unter einen ungünstigen Stern. Soziale Kontakte außerhalb der Einrichtung hatte Hedwig praktisch keine. Die wenigen Menschen aus ihrer Vergangenheit hatte sie durch ihre Krankheit oder die Alkoholexzesse verprellt. Oder es waren ihresgleichen. Menschen, auf die man ohnehin besser nicht baute, wie Sabine insgeheim dachte. Der ehemalige Lebensgefährte, besser Saufkumpan, ihrer Mutter schoss ihr in den Sinn. Sie verdrängte ihn schnell wieder.

Dann das Formulieren von Ängsten. Ausflüchte, um den Alltag nicht angehen zu müssen. Erste Abkapselung. Symptome, die jeder normal tickende Mensch aufweisen konnte. Sie musste sich nur an die eigene Nase fassen. Der Ärger mit Möbs. Das Fehlen Angersbachs. Die Ungewissheit ihrer Zukunft. Michael. Sabine seufzte. Es war doch vollkommen normal, Tage zu haben, an denen man sich unter die Decke verkriechen und der Welt den Stinkefinger zeigen wollte. Das allein … doch sie musste sich korrigieren. Hedwig Kaufmann igelte sich ein, wenn paranoide Ängste sie heimsuchten. Wenn der Postbote, die Menschen zwischen den Supermarktregalen oder gar das Wetter eine persönliche Bedrohung darzustellen schienen.

Hatte Sabine auch diese Phase verpasst?

Er ist wieder da. Komm schnell.

Die SMS war eindeutig. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ihre Mutter halluzinierte oder die Wahrheit sagte.

 

Der Twizy aalte sich durch den Verkehr, sie hatte sich weder abgemeldet noch anderweitig aufgehalten. Der PC lief, die Kaffeemaschine war angeschaltet, das Licht im Büro brannte. Sabine parkte wenig elegant auf einem halben Parkplatz, prüfte mit einem Auge, ob sie die Einfahrt nebenan nicht blockierte, und eilte dann fluchend weiter. Zwei Autos blockierten drei Markierungen. Der normale Wahnsinn. Wahrscheinlich war sie es, die am Ende das Knöllchen erhielt.

»Frau Kaufmann, auf ein Wort bitte.«

Sibylle Diebacher streckte den Kopf aus der Bürotür. Eine schlaksige Person jenseits der fünfzig, dezent geschminkt, mehr als einen Kopf größer als die Kommissarin. Naturfarbene Kurzhaarfrisur, bei der das Grau das Dunkelblond längst dominierte. Sie trug ein grünes T-Shirt mit dem aufgestickten Logo der Kirche.

Als Frau Diebacher ihr einen Stuhl anbot, schüttelte Sabine den Kopf. »Danke. Ich möchte schnell zu ihr.«

»Es geht wieder los, hm?«

»Halten Sie es für eine Psychose?«

Sabine runzelte die Stirn. Es war etwas grundlegend anderes, ob sie selbst über ihre Mutter urteilte oder ob andere das taten. Die Leiterin räusperte sich.

»Ihre Mutter sprach von einem Mann, der sie beobachte. Ihr Vater, wenn ich das richtig verstanden habe? Kann das denn sein?«

»Ich traue ihm jedenfalls eine Menge zu«, gab Sabine zurück, lenkte dann aber ein. Frau Diebacher konnte schließlich nichts für ihren Frust. »Unter uns gesagt: Ich habe ihn noch nicht gesehen. Es gibt also keine Gewissheit.«

»Was haben Sie vor?«

»Ich habe Mama gesagt, sie solle sich melden. Deshalb bin ich hergekommen. Er ist angeblich wieder da. Das möchte ich gern überprüfen.«

»Tun Sie das. Sagen Sie mir vorher nur bitte, ob sie ihre Medikamente regelmäßig genommen hat.«

»Hat sie.«

»In Ordnung.« Sibylle Diebacher deutete in Richtung der Gemeinschaftsräume. »Sie ist in der Bücherei. Dorthin zieht sie sich hin und wieder zurück.«

Sabine nickte und bedankte sich. Sie wusste, warum Hedwig sich dort gerne aufhielt, wenn es ihr schlechtging.

Keine Fenster.

 

Hedwig Kaufmann lugte aus der hintersten Ecke des Raumes hervor, sie saß auf einem abgenutzten Sitzsack. Ein Buch befand sich nicht in ihrer Nähe.

»Endlich«, wisperte sie.

»Ich bin gekommen, so schnell es ging. Ist alles okay?«

Blöde Frage, dachte sie, und Hedwig quittierte sie mit der passenden Antwort.

»Wie soll alles in Ordnung sein mit ihm vor der Tür?«

»Wo hast du ihn gesehen? Wieder an der Bushaltestelle?«

Hedwig erhob sich kopfschüttelnd. »Hinter dem Haus.«

Eine Seitenstraße, leicht steigend, führte dort vorbei, wie Sabine wusste. Ihre Mutter geleitete sie in die Damentoilette, was ihr unbehaglich war, dann zu dem schmalen Fenster oberhalb der Waschbecken. Hedwig schien erpicht darauf zu sein, sich nicht im Fenster zu zeigen, und verbarg sich in einer der Kabinen. Außer den beiden war zu Sabines Erleichterung niemand da. Sie drehte den Kopf, reckte sich, suchte die Straße ab. Ein Müllauto fuhr gelb blinkend vorbei. Im Schneckentempo. Sie wartete.

»Und?«

»Müllabfuhr. Ich kann noch nicht alles einsehen.«

Der Wagen fuhr an. Angespannt, als rechnete sie tatsächlich mit einem grau gekleideten Geheimagenten mit Kamera oder Fernglas, der sich im Halbschatten verbarg, wartete die Kommissarin. Unwillkürlich streifte ihre Hand die Hüfte, wo bei Einsätzen das Holster zu sitzen pflegte. Das Orange quälte sich weiter bergan. Kein grauer Mann. Kein Voyeur, kein Attentäter. Das einzig Graue, was Sabine zu sehen bekam, war ein parkender Ford Focus.

Den Mann am Steuer kannte sie nicht.

 

 

Der Galgen befand sich auf halbem Weg zwischen den Ortschaften Hörgenau und Hopfmannsfeld. Beschauliche Nester mit Fachwerkhäusern, jeweils um die dreihundert Einwohner. Rundherum die typische Landschaft; Wiesen, Koppeln und bewaldete Kuppen. Mathilde Bellermann öffnete nach einer gefühlten Ewigkeit. Ihre Haltung war gebückt, sie musste um die achtzig sein. Eine dicke Brille grub sich tief in das müde Gewebe ihrer Nase. Das weißgraue Haar war strähnig, sie trug einen dunklen Faltenrock und eine geblümte Bluse. Eine Gemeinsamkeit mit der schönen Frau, die das sepiafarbene Hochzeitsfoto über der Telefonkommode im Flur zeigte, war kaum noch zu erahnen. Das Haus lag am Ortsausgang, der Galgen war von hier nicht zu sehen. Enges Fachwerk, schiefe Räume. Seit Mai hatte sie ihr Obergeschoss an Veith Gruber untervermietet.

Die Nachricht über den Tod ihres Mitbewohners nahm sie mit Bestürzung auf.

»Jescheschmorije!« Das Sudetendeutsch machte aus ihrem Ausruf nach Jesus und Maria ein kaum verständliches Kauderwelsch. »Was ist denn passiert?«

»Wir müssen von einem Mord ausgehen.«

»Diese Welt ist so schlecht«, seufzte sie und lotste den Kommissar in Richtung Küche. Er war heilfroh, dass sie ihm keine Löcher in den Bauch fragte, wie Angehörige oder Sensationslustige das gern taten. Die Details dosierte er mit Bedacht, konnte aber nicht alles verheimlichen.

»Das Erhängen deutet auf ein äußerst persönliches Motiv hin. Kennen Sie jemanden, der Gruber dermaßen gehasst hat?«

Die alte Frau atmete schwer. »Ich weiß von seiner Vergangenheit.«

»Das war nicht meine Frage.«

»Es ist aber womöglich die Antwort.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wir sind gerade mal dreihundert Einwohner. Wie viele von ihnen, glauben Sie, haben nicht gewusst, wer da bei mir wohnte?«

»War das ein Problem?«

»Anfangs ja.« Sie nickte. »Doch mein Mann hatte hier über viele Jahre einigen Einfluss. Ortsvorsteher. Das kommt mir jetzt zugute.« Sie lächelte kurz. »Früher habe ich es oft verflucht. Na, und ganz früher stand ich einmal als Fremde hier. Heimatlos. Daran habe ich mich erinnert, als Herr Gruber bei mir einziehen wollte. Er hat mir persönlich nichts getan, von daher …«

Sie sprach nicht weiter, und schließlich räusperte Angersbach sich. »Veith Gruber hat also kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Terrorist war?«

»Ich habe es drei Tage nach seinem Einzug erfahren. Von ihm. Da wusste ich es aber bereits von meiner Nachbarin. Wie gesagt, für mich kein Grund, ihm wieder zu kündigen.« Sie seufzte. »Wir haben keine Kinder. Ich bin froh … ich war froh, jemanden im Haus zu haben. Er war sehr ruhig. Verbrachte viel Zeit draußen in der Natur und an seinem Kompuhter.«

Sie sprach es tatsächlich so aus, Angersbach schmunzelte. Er hielt es für vermessen, die Frau zu korrigieren. Jemanden, der einen Weltkrieg miterlebt und seine Heimat verloren hatte.

»Darf ich diesen Computer sehen?«

»Ich weiß nicht.« Frau Bellermann wirkte mit einem Mal nervös. Angersbach blieb beharrlich. »Er könnte uns bei der Aufklärung helfen.«

»Aber es wäre ihm vielleicht nicht recht. Er klappte ihn immer zu, wenn ich in seine Nähe kam. Dabei sehe ich ohnehin nicht mehr gut. Er sagte, es seien sehr private Dinge darauf.«

Internetpornos? Bombenpläne? Angersbach schämte sich für seine Gedankenblitze. Doch er wollte diesen Laptop.

»Bei seiner Vergangenheit und dem Hass, der ihm entgegengebracht wurde … Ich bin mir sicher, dass wir etwas Hilfreiches darauf finden werden.«

»Dürfen Sie das denn ohne einen Gerichtsbefehl?«

Scheinbar sah sie Fernsehkrimis. Angersbach lächelte herzlich und nickte dann.

»Wenn Sie ihn mir aushändigen.«

Sie seufzte. »In Ordnung, ich hole ihn. Aber bitte seien Sie nachsichtig, ich bin nicht mehr so flink wie früher.« Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ich war einmal eine richtig gute Läuferin, damals«, das Lächeln erstarb, »vor dem Krieg.«

Angersbach legte seine Hand auf die ihre. »Das glaube ich Ihnen. Bemühen Sie sich nicht mit der Treppe. Das sollen die Kollegen der Spurensicherung übernehmen. Ich werde ihnen deutlich sagen, dass die in Herrn Grubers Zimmer kein Chaos hinterlassen sollen.«

»Danke.« Mathilde Bellermann lächelte wieder, es kam von Herzen, das spürte der Kommissar. Doch dann sagte sie etwas, was ihn irritierte.

»Bitte nehmen Sie das nicht falsch auf«, begann sie.

»Ja?«

»Sie haben einiges von Veith Gruber.«

Angersbach war sich nicht sicher, ob er das gut oder schlecht finden sollte, und sagte erst mal gar nichts.

 

 

Schwärze. Stille. Deprivation.

Johann Gründler wusste um die Gefahren, die ihn umgaben. Schreiendes Schweigen und Wände, die ihm millimeterweise entgegenrückten. Mal schneller, mal langsamer, aber in stetiger Bewegung. Schatten, die ihn aufzufressen drohten, und das selbst dann, wenn alles finster war. Gerade dann. Von irgendwoher drang immer etwas Licht in sein Verlies, gerade ausreichend, um Konturen vor seine brennenden Augen zu zeichnen.

»Was wollt ihr, verdammt?!« Es war ein heiserer Schrei, dem Fausttrommeln folgte. Er warf sich auf den rauhen, kühlen Boden und schlug wimmernd darauf ein. Strampelte wie ein trotziges Kind im Supermarkt. Noch immer stach das grelle Licht hinter seinen Augen, wie Stricknadeln, die tief in sein Gehirn gebohrt worden waren. Dann vernahm er eiliges Trappeln. Sofort war er wieder bei Sinnen, schnellte nach oben. Die Kette rasselte. Es quiekte, dann raschelte es. Ratten. Johann Gründler begann zu keuchen.

Die haben sie dir reingesetzt.

Er lauschte, doch kein weiteres Geräusch drang in sein Ohr. Sofort folgte der Zweifel.

Hast du sie dir nur eingebildet?