Schwarzer Pakt - Florian David Kapus - E-Book

Schwarzer Pakt E-Book

Florian David Kapus

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Beschreibung

Ein dunkler Schatten legt sich über Graz. Unheimliche Symbole auf Gartentoren und Hausmauern künden ihren Bewohnern von einem nahenden Unheil. Eine neuartige Glaubensgemeinschaft scheint dahinterzustecken, die verhasste Menschen mit Flüchen belegt. Stadtpolizist Clemens Haubenwallner glaubt eigentlich nicht ans Übernatürliche, doch die rapide ansteigenden Unfallzahlen belehren ihn rasch eines Besseren. Im hiesigen Fußballklub wird auch seine dreizehnjährige Nichte Lara in die Sache verstrickt. Gemeinsam mit ihren Freundinnen spioniert sie der Sekte hinterher und erkennt dabei zu spät, dass der Feind absolut skrupellos ist und auch vor Mord nicht zurückschreckt. Während Clemens vollauf damit beschäftigt ist, seine Liebsten zu beschützen, bleibt ihm das wahre Übel viel zu lange verborgen. Das grauenhafte Etwas, das von der Sekte angebetet wird, befindet sich längst in der Stadt: Etwas abgrundtief Böses, das sich anschleicht, tötet und wieder verschwindet. Jedes seiner Opfer erfüllt einen Zweck und schon bald hat es sein Ziel erreicht…

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Seitenzahl: 894

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Florian D. Kapus

Schwarzer Pakt

Roman

Impressum

Texte: Copyright © 2022 by Florian D. Kapus

Umschlaggestaltung: Copyright © 2022 by Florian D. Kapus

Verantwortlich für den Inhalt:

Florian D. Kapus

8111 Gratwein-Straßengel

[email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Die vorliegende Geschichte enthält reale Schauplätze, aber die handelnden Personen sind fiktiv. Eventuelle Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zu realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Christine, die für die Bücher gelebt hat, und für Klaus, der mir als Schachspieler und als Mensch ein Vorbild war.

Prolog

Früher, als sie noch nicht berufstätig gewesen war, hatte sich Barbara Lenz oft eingeredet, Probleme mit dem Einschlafen zu haben. Mittlerweile aber konnte sie mit der Klarheit einer erfahrenen Ärztin sagen, dass der damalige Zustand nichts mit einer Schlafstörung zu tun gehabt hatte. Das, was sie jetzt hatte, das war eine Schlafstörung.

Es war schwer einzuschätzen, wann sie sich länger in ihrem Bett wälzte, nach einem harten Arbeitstag, oder wenn ein solcher ihr unmittelbar bevorstand. Ganz klar war nur eines: Am schlimmsten war es, wenn beides zutraf und das war leider oft der Fall – einerseits war es ein Segen, gut in ihrem Job zu sein, andererseits aber auch ein Fluch.

Dabei hatte es ganz schön lange gedauert, bis ihre Qualitäten sich offenbart hatten. Nachdem ihre Eltern Medizin studiert hatten, war irgendwie klar gewesen, dass sie dasselbe machen musste, jedenfalls hatte sie sich das eingebildet; die Gene würden es schon richten, oder so ähnlich. Irrtum! Im Zuge der ersten Vorlesungsprüfungen auf der Uni hatte sie schon mal bitter erfahren müssen, dass ihr zumindest das gute Gedächtnis verwehrt geblieben war. Viele ihrer Kommilitonen schienen eine Art integrierte Minifestplatte besessen zu haben, den Einsern und Zweiern nach zu urteilen, die sie am laufenden Band fabriziert hatten und Barbara hatte sie oft darum beneidet. Als Trost waren ihr stets nur die spöttischen Worte ihres alten Englischlehrers geblieben: „Genügend kommt von genug!“ Vorausgesetzt, sie hatte die Prüfung überhaupt bestanden.

Auf ihre Erfolgserlebnisse hatte sie eine geraume Zeitlang warten müssen, sie hatten sich erst im Laufe ihrer ersten Praktika eingestellt, als sich endlich ihre Talente herauskristallisiert hatten: eine ruhige Hand und ein sehr guter Magen.

Vor allem der ersteren verdankte sie seit ihrem Berufseinstieg ihre schlaflosen Nächte, denn ihr war es geschuldet, dass die haarigsten Fälle stets an sie herangetragen wurden. Heute hatte sie ein Eingriff am offenen Herzen bis nach acht Uhr am Abend an den OP-Tisch gefesselt, morgen stand eine Nierentransplantation bevor. Fast schon ein Routineeingriff, dachte sie mit einem leicht schmerzerfüllten Lächeln auf den Lippen, litte der Patient nicht an AIDS. Das Ansteckungsrisiko stellte natürlich kein Problem dar, selbst ohne Schutzkleidung wäre die Gefahr überschaubar. Die Haut war eine unüberwindliche Barriere, nur wenn das Blut des Infizierten auf ihre Schleimhäute gelangte, konnte das Virus übertragen werden. Nein, die fortgeschrittene Immunschwäche des armen Kerls war es, die ihr Sorgen bereitete. Kombiniert mit diversen multiresistenten Keimen, wie sie in jedem Krankenhaus aller Desinfektionsmaßnahmen zum Trotz immer wieder zu finden waren, stellte sie einen gehörigen Risikofaktor dar.

Neben dem Kommenden hemmte auch das Vergangene ihre Melatoninausschüttung. Jede einzelne Minute der heutigen Operation geisterte in ihrem Hirn herum, wobei sich das Kopfkino auf Superzeitlupe verlangsamte, als ihr jener kleine Fehler unterlief, zweieinhalb Stunden, nachdem sie den OP-Saal betreten hatte. Und im Hintergrund hörte sie die vorwurfsvolle Stimme des Primars: „Wo war nur Ihre Konzentration? Drei großherzige Menschen mussten zusätzlich zum Aderlass, weil Sie danebengeschnitten haben! Dabei haben wir ohnehin viel zu wenige Blutspender!“

Sie hätte als Reaktion darauf die Augen überdrehen können, hatte es aber nicht getan, weil sie sich exakt dieselben Vorwürfe machte, mehr noch: Wäre sie nicht einen Millimeter abgerutscht, sondern stattdessen zwei oder drei, so hätten sie sich jede weitere Blutkonserve schenken können. Aber genau das war es, was das Verhalten ihres Vorgesetzten so unausstehlich machte: Er wusste genau, wie hart sie mit sich selbst ins Gericht ging und das seine Standpauken das Allerletzte waren, was sie brauchte.

Selbstverständlich hatte ihr Beruf auch seine guten Seiten, zumindest sollte es so sein. „Die Freude, wenn man ein Menschenleben gerettet hat, ist mit keiner anderen zu vergleichen“, so hatte sie es damals beim Bewerbungsgespräch formuliert. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen: Wie nett sie sich doch damals unterhalten hatten, ihr zukünftiger Boss und sie! Sogar auf eine gute Zusammenarbeit hatten sie angestoßen, zwar nur mit Wasser, aber immerhin…

Bei der Erinnerung daran stieg ihr die Galle hoch. Eine tolle Zusammenarbeit war das. Anstatt ihr zuzuhören und sie aufzubauen, wenn sie es nötig hatte, schien er nur darauf zu lauern, etwaige mentale Schwächephasen ausnützen zu können. Und wenn sie dann noch an die Blicke dachte, die ihre Kollegin Maya ihr beim Verlassen des Spitals zugeworfen hatte, nachdem sie den Wortwechsel mitverfolgt hatte: „Na sieh mal einer an, unsere perfekte Ärztin ist also doch nicht vor Ausrutschern gefeit!“, schienen sie zu sagen. Das wäre einmal etwas, würde die blöde Zicke eines Tages auf ihrem Tisch zu liegen kommen. Ob sie dann wohl immer noch die perfekte Ärztin wäre?

Plötzlich stellte sie fest, wie alleine sie eigentlich war. Ihre Schwester war ihr auch keine Hilfe. „Sogar Marcel Hirscher hat sich hin und wieder einen Einfädler erlaubt! Auch Christiano Ronaldo hat schon Elfmeter vernebelt!“ Abgesehen davon, dass ihr diese eingebildeten Spitzensportler gestohlen bleiben konnten, könnte sie sich wahrlich einmal etwas Neues einfallen lassen. Sie könnte ihr zum Beispiel versprechen, damit aufzuhören, ihren Ex zu vögeln, das würde ihr tatsächlich helfen!

Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie aus ihrem Bett hoch. Wo kamen nur diese Gedanken auf einmal her? Sie hatte einen Eid geschworen, den sie niemals brechen würde – als Medizinerin würde sie stets ihr Bestes geben, selbst wenn es ihre größte Feindin war, die sie behandeln musste! Sie konnte, nein, sie musste zufrieden sein mit ihrem Beruf, auch wenn er nicht immer nur ein Zuckerschlecken war. Denn sie hatte etwas gefunden, in dem sie gut war und in dem sie sich verwirklichen konnte. Und an ihrem verkorksten Liebesleben zu guter Letzt waren zwar viele Menschen schuld, aber nicht ihre liebe Schwester. Ja, genau das war sie, auch wenn sie an ihrer Rhetorik noch etwas zu feilen hatte. Als jene und ihr Ex-Mann sich näher gekommen waren, war zwischen ihm und Barbara schon fast zwei Jahre lang Sendepause gewesen und trotzdem hatten beide sich nicht nur entschuldigt, sondern sie sogar um Erlaubnis gebeten.

Zwei Jahre? Weißt du das? Glaubst du das? Oder willst du es dir nur einbilden, so wie du dir dein Berufsglück einbildest? Wenn du sagst, du freust dich über gerettete Menschenleben, belügst du dich selbst. Das Glück, das du empfindest, rührt von der Erleichterung, dass du es hinter dir hast, du freust dich nur, dass alles gut gegangen ist! Die negativen Gedanken und Gefühle wollten sie nicht loslassen, obwohl sie dagegen ankämpfte. Fast meinte sie eine finstere Kraft zu spüren, als wäre die Welt in den vergangenen Minuten ein wenig dunkler geworden…

So ein Unsinn, schalt sie sich, der dämliche Mond scheint so hell wie eh und je durch das Fenster, schön wäre es, wenn es anders wäre! Doch das bedrückende Gefühl blieb und nicht nur das, auf einmal wurde es übermächtig. Dies geschah, als drüben im Wohnzimmer eine Fensterscheibe zerbrach, denn damit zersplitterte nicht nur das Glas, sondern auch etwas in ihrem Inneren: der rationale, wissenschaftlich denkende Teil in ihr, der sich dem Offensichtlichen entgegenstemmte. Diese „Dunkelheit“ war kein Mangel an sichtbarem Licht im physikalischen Sinne, hatte nichts mit der Abwesenheit eines bestimmten Typs von elektromagnetischer Strahlung zu tun, auf den die Sinneszellen auf der menschlichen Netzhaut ansprachen. Sie war von rein psychischer Natur. Trauer, Neid, Scham, Zorn, Hass, alles Schlechte, was die Gefühlswelt zu bieten hatte, prasselte auf sie ein und eines ganz besonders: Furcht.

Etwas war hier. Etwas, das nicht in dieses Haus, vielleicht nicht einmal in diese Welt gehörte, etwas abgrundtief Finsteres und Bösartiges. Und es bewegte sich! Sie spürte es mehr, als sie es hörte, trotzdem war das Geräusch am schlimmsten: ein leises Kratzen und Scharren, wie von krallenbesetzten Tierpfoten, die rasch in Richtung Küche und von dort hinaus auf den Flur liefen. Eine aufschwingende Tür krachte gegen die Wand, dann näherte sich das Ding ihrem Zimmer. Eine eisige Faust schloss sich um ihr Herz und der kalte Schweiß brach ihr aus. Ihre verkrampften Finger zogen die Decke über ihren Kopf, so wie sie es vor etwa drei Jahrzehnten das letzte Mal getan hatten, ehe die Monster unter ihrem Bett endgültig das Weite gesucht hatten. Barbara kauerte sich zusammen und verharrte regungslos, als sie das Schaben des Riegels hörte, der seine Ausnehmung im Türstock verließ. Vielleicht sieht es mich nicht, vielleicht verschwindet es wieder…

Durch das gekippte Dachzimmerfenster des Nachbarhauses drang ein markerschütternder Schrei, der das betagte Ehepaar aus dem Schlaf riss, das bis dahin friedlich Seite an Seite im Bett gelegen hatte.

Teil ISymbiose

1.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du das machen willst, dass dies das Richtige für dich ist?“

„Ich war in der Volksschule immer gut in Fußball. Eine bessere Sportart werde ich nicht finden.“

„Die anderen werden schneller sein als du, ausdauernder und geschickter und das für sehr lange Zeit, vielleicht für immer. Das alles muss dir egal sein!“

„Weiß ich und es ist mir nicht egal! Aber genau darum mache ich es.“

„Wir können das Training wegen dir nicht verlangsamen. Alle möchten besser werden, nicht bloß du.“

„Ich gebe mein Bestes. Aber wenn ich nicht mehr kann, dann kann ich nicht mehr.“

Die Frau, die ihr gegenübersaß, runzelte die Stirn, streckte ihr dann aber die Hand entgegen und Lara ergriff sie. „Ich bin Magdalena Walzl, ab sofort deine Fußballtrainerin. Du kannst Magda zu mir sagen. Willkommen bei den Grazer Sportfreunden!“

Wahrscheinlich sagt sie das immer, wenn sie jemanden in die Gruppe aufnimmt, überlegte Lara, aber vermutlich klingt es normalerweise euphorischer.

Drei Wochen waren seit diesem Gespräch vergangen und ihre guten Vorsätze schwankten mittlerweile beträchtlich. Aber das würde sie sich niemals anmerken lassen. „Stehe zu dem, was du sagst und man wird dich respektieren!“, das war einer der Lieblingssprüche ihres Vaters. Also band sie ihre dunkelbraunen Haare, die ihr fast bis zur Taille reichten, zu einem Rossschwanz zusammen, schlüpfte in ihre Stoppelschuhe und begab sich nach draußen aufs Feld.

Das „Warmlaufen“, wie Magda es nannte, war mit das Schlimmste am ganzen Training. Lara litt an Adipositas, wie die Ärzte es zu nennen pflegten, wobei ihr Eindruck war, dass diese medizinischen Fachausdrücke allein deshalb erfunden worden waren, weil sie harmloser und nüchterner klangen. „Du bist fettleibig“, so etwas konnte man einem Patienten nicht sagen, es war unzumutbar, das glaubten zumindest alle. Lara hasste beide Worte in gleichem Ausmaß.

Sie legte noch einen Zahn zu und meinte, den Abstand zu der kleinen Gruppe vor sich für den Moment zumindest halten zu können. Das würde sich zwar ändern, sobald das Seitenstechen einsetzte, aber noch haute es hin. Die Mädchen unterhielten sich über irgendetwas und kicherten zwischendurch, sie strengten sich definitiv nicht an. Trotzdem fiel es ihr immer schwerer, mit ihnen mitzuhalten. Schließlich wuchs die Lücke wieder, aber Lara war schlau genug, nicht über ihre Leistungsgrenze hinauszugehen. Für kurze Zeit könnte sie schneller laufen, aber danach würde sie zusammenklappen.

„Was ist mit euch fauler Bande? Hopp, hopp, hopp!“

Lara stellte erleichtert fest, dass der Ruf nicht ihr gegolten hatte, denn die Clique vor ihr stellte das Gequassel ein und setzte zu einem kurzen Endspurt an. „Schon gut Magda, wir werden schon nicht überholt!“, beschwichtigte eines der Mädchen.

„Bravo Carina, mit dieser Einstellung kommst du bestimmt ins Nationalteam!“, erwiderte die Trainerin. Endlich stieß Lara zu den anderen hinzu. Sie keuchte und der Schweiß rann ihr übers Gesicht. Niemand beachtete sie, dennoch ließ Carinas letzte Bemerkung den Schluss zu, dass sich alle ihrer Anwesenheit bewusst waren.

Magda hatte in der Zwischenzeit Hütchen und Stangen auf dem Platz verteilt, sie würden im Zentrum der kommenden Minuten stehen. Die Mädchenmannschaft lief und sprang durch die verschiedensten Parcours, mal mit, mal ohne Ball, es folgten Übungen zum Passspiel und zur Ballannahme. Lara hielt sich an sämtliche Anweisungen, so gut sie eben konnte – zumindest mit dem Ball war sie nicht gänzlich unfähig, obwohl sie auch in dieser Hinsicht die Schwächste war. In einigen kurzen Atempausen beobachtete sie die anderen: Immer wieder wurden Hütchen ausgelassen, da und dort wurde abgekürzt. Und die neuesten Fernsehserien, die feschen Jungs aus der Burschenmannschaft und die jüngsten Trends auf Instagram waren den Gesprächen nach zu urteilen mindestens genauso Interessant wie Magdas Trainingsprogramm. Diese schaute allen zu und kommentierte das Geschehen: „Etwas mehr Konzentration, wenn ich bitten darf! Sehr schön, Selena! Anna, auch gut, aber das kannst du noch schneller!“

Lara schaute, nachdem sie eine Übung beendet hatte, erwartungsvoll zur Leiterin und diese nickte ihr einmal kurz zu, als ihre Augen sich trafen, sagte aber nichts, so wie fast immer. Laras Blick wanderte weiter zu der einzigen Teamkollegin, die, abgesehen von ihr, jede Aufgabe, die ihr gestellt wurde, exakt gemäß der Vorgaben durchführte. Neben ihr war sie die zweite Außenseiterin in der Gruppe: Sie sagte kaum jemals ein Wort und schien stets nur mit sich selbst beschäftigt zu sein. Ihr Name fiel Lara gerade nicht ein. Er war etwas ungewöhnlich, das wusste sie noch. Das Mädchen hatte dunkelblondes Haar und ein kantiges Gesicht, es war relativ groß, drahtig und athletisch. Sie war mit Abstand die beste von ihnen. Übungen, die jede andere vor unlösbare Probleme stellten, meisterte sie mit geradezu lächerlicher Selbstverständlichkeit. Alle waren neidisch auf sie und Lara schloss sich selbst hier nicht aus. Wahrscheinlich hielt sie sich für etwas Besseres: Sie hielt sich von allen fern und manchmal beobachtete sie die anderen aus der Weite, verzog missbilligend das Gesicht und schüttelte leicht den Kopf, wenn sie glaubte unbeobachtet zu sein.

Magda blies in ihre Trillerpfeife. „Letzte Übung! Wir stellen uns gegenüber in zwei Gruppen auf, dribbeln im Slalom durch die Hütchen und spielen dann insgesamt drei Pässe mit der Ersten in der anderen Schlange. Versucht den Ball direkt zu nehmen, kein Abstoppen! Ihr stellt euch nachher hinten wieder an und die nächste Spielerin läuft mit dem Ball in die Gegenrichtung!“

Sie gehorchten und formierten sich in zwei Reihen, zwischen ihnen, in einiger Entfernung, standen die Hütchen wie in einer Perlenkette aufgefädelt. „Und los!“

Magda warf Frau Über-Drüber-Superperfekt das Spielgerät zu, die sofort losstürmte und mit enger Ballführung die Hindernisse umkurvte. Sie passte zu Anna, das Leder landete exakt vor ihrem Fuß, diese lief los und an ihr vorbei. „Du musst noch einmal zu mir spielen!“, klärte die Blonde sie auf.

„Klappe, du Streberin!“, fauchte Anna.

„So ist das also?“, brauste Magda auf, „Nur, weil mir Trix richtig zuhört, ist sie eine Streberin?“

„‘Tschuldigung“, murmelte Anna und senkte beschämt den Kopf. Richtig, Beatrix, das war der Name.

Nachdem nun alle den furchtbar komplizierten Ablauf kapiert hatten, lief es wie am Schnürchen und bald war Lara an der Reihe. Sie bugsierte den Ball gekonnt durch die ersten drei Lücken, dann sprang er ihr prompt weg. Sie fluchte, rannte ihm nach und spielte ihn zurück zu der Stelle, bei der sie hängen geblieben war. „Jetzt gib endlich her das Teil, wir wollen heute noch ein Match spielen!“, schnauzte Carina sie an. Lara gehorchte nicht, sondern spielte den Slalom fertig. „Du verplemperst doch die meiste Zeit“, erwiderte sie stattdessen, „auf dich Tratschtante müssen wir immer am längsten warten!“ Sie spielte sie an, doch anstatt zurückzupassen lief sie ihr mit vor Zorn gerötetem Gesicht entgegen.

Lara steckte ihre Fausthiebe einfach ein, rang sie mühelos zu Boden und fixierte sie mit Armen und Beinen. Sie war zwar dreimal so fett wie Carina, aber dafür war sie stärker. „Was willst du Bohnenstange eigentlich? Fußball spielen? Oder Prügel kassieren?“

Die Antwort bekam sie nicht mehr mit, denn sie wurde mit erstaunlicher Kraft gepackt und weggezogen. „Hier kassiert niemand Prügel, sapperlot!“, rief Magda. „Wenn ich das noch einmal sehe, fliegt ihr beide aus dem Verein, alles klar?“

„Wir beide?“, empörte sich Lara. „SIE ist auf MICH losgegangen, ich habe sie nur festgehalten. Soll ich mich etwa schlagen lassen?“

„Geh einfach zurück in die Reihe!“

Sie gehorchte erst, als Magda sich noch ein „Bitte“ abrang. „Ein Durchgang noch, dann spielen wir! Auf geht’s!“

Lara spähte kurz zu Trix hinüber. Da war es wieder, das Kopfschütteln.

Während des traditionellen Abschlussspiels versauerte Lara wie üblich auf ihrer Position als Verteidigerin. Beim Spielaufbau wurde sie stets übergangen und wenn die Gegnerinnen einen Angriff fuhren, konnte sie der weiß-schwarzen Kugel nur hinterherschauen. Einmal mehr stürmte Trix auf ihr Tor zu. Lara sah den Haken kommen, aber die Kontrahentin war einfach viel zu schnell und schoss bereits ihr zweites Tor. „Es ist sinnlos, wir sind eine weniger!“, maulte Carina. Sie sprach nur aus, was längst allen klar war, trotzdem schmerzte es.

Sie waren sechzehn Mädchen, Trix wurde ausnahmslos als erste gewählt und Lara als letzte, somit spielten sie immer in getrennten Teams. Magdas spezielles Auswahlverfahren, bei dem zuerst eine, dann abwechselnd jeweils zwei Spielerinnen gewählt wurden, gewährleistete zwar theoretisch, dass die guten Spielerinnen besser aufgeteilt wurden, vermochte aber nichts an jener Tatsache zu ändern.

Es passierte beim Stand von fünf zu null, als sie ihren ersten guten Moment hatte – nach ganzen drei Wochen. Die gegnerische Torfrau führte einen weiten Abschlag aus, um Trix in Szene zu setzen. Die weit aufgerückte Hintermannschaft konnte nur hilflos zuschauen, einzig Lara war hinten geblieben. Mehr aus trotz denn aus Zuversicht mobilisierte sie ihre Kräfte, lief dem Ball entgegen und rutschte hinein. Trix stolperte über ihren Körper. „Ball gespielt, alles korrekt!“, kommentierte Magda. Lara sprang so behände auf die Beine, wie es mit ihrem beachtlichen Körpergewicht nur möglich war, während gleich vier Gegnerinnen auf sie zu rannten. Lara blickte kurz auf und spielte einen akkuraten Laufpass auf Carina. Damit waren nur noch zwei Feldspielerinnen der anderen Mannschaft zwischen Ball und Tor. Ihr Team nutzte die Überzahlsituation und machte den Ehrentreffer.

Zwei laute Pfiffe verkündeten das Ende des grausamen Spiels. „Gut gekickt, Mädels, ab nach Hause!“, ließ Magda vernehmen. Die Fußballerinnen klatschten sich gegenseitig ab und klopften sich auf die Schultern. Einige gingen auch auf Lara zu, aber die meisten wichen ihr aus.

Beim Verlassen des Platzes lief Carina ihr über den Weg und Lara fielen die Worte ihrer Tante ein, nachdem es vor vielen Jahren bei einem ihrer seltenen Besuche zu einer kindischen Rauferei gekommen war, zwischen Lara und ihrem Cousin: „Lass einen Streit nicht auf sich beruhen. Warte, bis sich der Zorn gelegt hat und dann rede mit dem anderen darüber!“ Ein überaus weiser Ratschlag, aus dem letztlich sogar eine Freundschaft hervorgegangen war – regelmäßig stand Lara mit ihm in schriftlichem Kontakt, leider sahen sie sich kaum.

„Carina, können wir kurz reden?“

„Verpiss dich!“

Enttäuscht wandte sie sich ab. Zu einer Aussprache mussten beide Seiten bereit sein, das war der Haken an der Sache. Sie würden wohl keine Freundinnen mehr werden.

Laras Augen trafen jene von Trix, die die Szene offenbar beobachtet hatte, während sie mit ihrem Fahrradschloss beschäftigt gewesen war. Trix wandte den Kopf fast ruckartig ab, schwang sich in den Sattel und radelte wie der geölte Blitz davon. War es ihr etwa so peinlich, von Lara ausgespielt worden zu sein? Na du Supertalent, ganz unschlagbar bist du offenkundig doch nicht!

Einige Mädchen wurden von ihren Eltern abgeholt, ihr wurde dieser Luxus nicht zuteil. Ihr Vater könnte zwar bei der Heimfahrt einen kleinen Umweg machen, aber sie hatten sich darauf geeinigt, dass Lara zu Fuß ging, was eine gewisse Logik hatte – wenn schon Lebenswandel, dann richtig und extra weit war es ja auch nicht. Vielleicht auch nicht für extra lange, wenn sich die Situation nicht bald besserte. Aber was hatte sie sich erwartet? Dass die Gruppe sie jubelnd willkommen heißen würde?

Im Wohnhaus angekommen hörte sie die Tür zur Autogarage. Sie beugte sich über das Treppengeländer und sah einen Mann im Anzug die Stiege hinaufgehen. Den olivgrünen Hut, den er am Kopf trug, würde sie überall erkennen…

„Hi Paps!“, rief sie nach unten und sogleich stürmte jener, dessen Name Richard war, freudestrahlend die restlichen Stufen hinauf und schloss sie in die Arme. „Hey, meine Große! Wie war dein Tag?“

Ihre gute Laune verflog so rasch, wie sie gekommen war. „Scheiße!“

„Immer noch?“

„Immer noch.“

Ihr Vater seufzte. „Gehen wir erst mal nach oben, drinnen redet es sich leichter!“

Beide beeilten sich, aus ihrer Arbeitskluft zu kommen, denn genau als solche betrachtete Lara ihre Sportkleidung. Der Hut, ihres Vaters geliebtes Markenzeichen, landete auf seinem Stammplatz oben auf dem Kasten. Darunter kamen kurz geschorene Haare zum Vorschein, die genau dieselbe Farbe hatten wie ihre. Allerdings fanden sich zahlreiche graue Strähnen dazwischen, zudem machten sich schon Geheimratsecken, sowie eine beginnende Glatze am Hinterkopf bemerkbar. Das Gesicht war breit mit dunklen, freundlichen Augen, der Kinnbart war bereits vollständig ergraut.

Nachdem sie geduscht und er sich in Alltagskleidung geworfen hatte, betraten sie gemeinsam das Wohnzimmer, wo sie sich mit stöhnender Geräuschuntermalung in einer perfekt synchronen Bewegung auf das Sofa fallen ließen. „Sie alle hassen mich, auch die Trainerin“, klagte Lara. „Diese zickige Carina lässt keine Möglichkeit aus, mich runterzumachen und für Magda bin ich nichts als Ballast. Ich ziehe die ganze Mannschaft runter!“

„Schwachsinn“, rief der Vater, der sich jetzt aufsetzte und ihr fest in die Augen schaute. „Runterziehen tust du niemanden! Wie die anderen ihr Training gestalten, liegt nicht in deiner Verantwortung. Nicht, solange du dir Mühe gibst! Das tust du doch, oder nicht?“

„Ich haue alles raus, aber niemand scheint das zu sehen!“

„Sie werden es sehen, warte es nur ab! Du wirst die Anerkennung bekommen, die du verdienst.“

„Das kannst du nicht wissen!“

Er rückte zu ihr hinüber und nahm ihre Hand in seine. „Ich schwöre es dir, Lara Haubenwallner: Ich schwöre es bei meinem Hut!“

Dies rang Lara ein Lächeln ab. Zu einem solchen Versprechen ließ ihr Paps sich nicht leichtfertig hinreißen. Seit dem Ende seines Studiums trug er seine Kopfbedeckung, ging nie ohne sie außer Haus. Damals hatten ihn seine Freunde bedrängt, seine heimliche Liebe – ihre Mutter – zum Essen einzuladen. „Ihr träumt von warmen Eislutschern!“, hatte er gesagt, „Sie ist unerreichbar!“ Aber sie hatten nicht locker gelassen, bis Richard entnervt nachgegeben hatte. „Aber nur um euch zu beweisen, wie sinnlos es ist. Wenn sie mir keinen Korb gibt, das verspreche ich euch, erscheine ich mit einem Hut zu meiner Abschlussprüfung!“

Acht Jahre später hatten Nina und Richard Haubenwallner – frisch verheiratet – ein Kind bekommen. Ein Kind, das seine Mutter nie kennenlernen sollte, denn kurz nach der Geburt war sie auf dem Weg zur Arbeit von einem LKW übersehen worden. „Jedes Mal, wenn ich den Hut aufsetze, denke ich an sie“, hatte Vater einmal erklärt.

„Sag mal, Paps, wo ist die Waage eigentlich hin?“

„Weg.“

„Was soll das heißen, weg?“

„Weg heißt weg. Zum Abnehmen brauchst du keine Waage, mein Schatz. Im Gegenteil, sie stört dich nur dabei.“

„Wenn ich mich schon abschinde, will ich wenigstens wissen, dass es sich auszahlt!“, empörte sie sich. Bisher war diese Bestätigung aber nicht eingetreten und jedes Mal war der Frust noch größer geworden.

„Vergiss die Waage einfach! Zumindest für die nächste Zeit!“

Lara wollte ihn anbrüllen, besann sich aber rasch eines Besseren: „Okay, hast ja Recht. Wie immer.“

„Niemand hat immer Recht, nicht einmal ich. Komm, machen wir uns ein Essen!“

Einige Zeit später saßen sie vor einem dampfenden Gemüseeintopf. Die beiden hatten ihre komplette Ernährung umgestellt und Lara hatte sich nicht nur daran gewöhnt, sondern war mittlerweile sogar auf den Geschmack gekommen. Ein wenig zumindest…

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, dass du meine Diät einfach mitmachst!“

Der Vater machte eine abwehrende Handbewegung. „Ach weißt du, es wird mir sicher auch nicht schaden.“ Er klopfte sich mit der flachen Hand auf seinen beginnenden Bauchansatz, der aber kaum der Rede wert war. Richard hatte diesbezüglich bessere Gene als sie, war immer schon sportlich gewesen und war es immer noch. „Außerdem ist unser Speiseplan jetzt viel abwechslungsreicher: Früher hatten wir jede Woche den gleichen Fraß, ich hatte es schon satt!“ Das war nun eine glatte Lüge. Richard liebte üppiges, fleischreiches Essen, genau wie sie. Und von den Süßigkeiten, Softdrinks und Kartoffelchips, die er strikt aus der Speisekammer verbannt hatte, redeten sie gar nicht erst, auch nicht von den Stunden, die sie gemeinsam in der Küche verbrachten.

„Ich hab dich lieb, Paps“, sagte sie nur.

„Ja“, erwiderte er. „Ich mich auch.“

Lara boxte ihm in gespielter Verärgerung in die Schulter und Richard kicherte in sich hinein.

2.

Clemens, den alle Clem nannten, liebte seinen Job, aber manchmal hasste er ihn. Er saß mit dem Notizblock in der Hand auf der Rückbank seines Streifenwagens, sein Zeuge neben ihm. Es würden noch mehr Leute befragt werden, aber schon jetzt zeichnete sich immer stärker ab, was er von Anfang an vermutet hatte: Niemand war wirklich schuld an diesem schrecklichen Unfall, außer das Opfer selbst. Der Tragik tat das freilich keinen Abbruch.

Julia, sechs Jahre, hatte sich auf dem Weg zur Schule an die Straßenregeln gehalten, die ihre Eltern ihr eingebläut hatten und die Gasse auf dem Schutzweg überquert. Nur ein kleines, aber wesentliches Detail hatte sie wohl vernachlässigt: Sie hatte darauf vergessen, vorher nach links und rechts zu schauen. Wahrscheinlich war zwei Minuten davor und danach kein einziges Fahrzeug vorbeigekommen und das parkende Auto war auch noch in absoluter Idealposition platziert gewesen, um jedweden Blick auf das kleine Mädchen zu verdecken. Der Unglücksfahrer hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt und ob er mit zwanzig, dreißig oder fünfzig unterwegs gewesen war, war zwar strafrechtlich interessant, aber für den Unfallhergang an sich absolut unbedeutend.

„Keine Ahnung“, murmelte der Mann gerade auf eine entsprechende Frage hin. „Ich stehe gerade aus meinem Bett auf und werfe einen Blick aus dem Fenster, da sehe ich das Kind, das einfach auf die Straße rennt. In höre ein Quietschen, auf einmal ist der Wagen da, dahinter die Bremsspur und die Kleine, die Kleine…“ Er stockte. „Ich bin hinunter, im Schlafanzug, habe keine Zeit verloren. Ich habe alles getan, ich…“ Plötzlich schien in dem Herrn etwas zu zerbrechen und er weinte hemmungslos. Clem hatte das schon öfters beobachtet und es war ein gutes Zeichen – es bedeutete, dass Körper und Kopf des Betreffenden wieder auf den Normalzustand umgeschaltet hatten.

Clem legte ihm seine Hand auf den Rücken, mehr konnte er nicht für ihn tun. „Sie haben alles richtig gemacht, aber es war hoffnungslos. Sie hätten genauso gut versuchen können, einen Kopflosen zu reanimieren, bitte glauben Sie mir das“ Es war sein voller Ernst: Anderthalb Tonnen Metall, Plastik und Hartgummi hatten ganze Arbeit geleistet. Die Tote war inzwischen weggeschafft worden und Clem war dafür dankbar, obwohl es in Wahrheit egal war – er hatte es gesehen und die Bilder würden ihn bis an sein Lebensende verfolgen, wie so viele andere auch. Es gab Leute, die behaupteten, die erste Leiche wäre die schlimmste, nach der soundsovielten würde es besser, man stumpfe mit der Zeit ab. Diese Leute waren aus Clems Sicht entweder Ignoranten oder Lügner.

„Okay, das war’s erstmal. Es wird dauern, aber Sie werden die Sache verarbeiten. Sie bekommen auch psychologische Unterstützung. Vielen Dank und alles Gute.“ Er klopfte ihm nochmals sanft auf den Rücken und verließ dann den Wagen. Der Zeuge blieb noch sitzen, nach vorn gebeugt und das Gesicht in seinen Händen vergraben.

„Was spricht er?“, vernahm er die Stimme seiner Partnerin.

Er wartete, bis Michaela bei ihm angekommen war, dann fasste er die Aussage in knappen Worten für sie zusammen. „Und, wie schaut’s bei dir aus?“ Er ließ den Blick über die Szenerie schweifen. Überall blinkten die Lichter der Einsatzfahrzeuge, aber vom Unfalllenker war nichts zu sehen. Michaela schüttelte den Kopf. „Er ist total im Schockzustand. Hat nur ins Leere geschaut und kein Wort gesagt. Er ist schon auf dem Weg ins Spital.“

Clem nickte und deutete auf die beiden Kollegen, die gerade aus einem Haus herauskamen: „Schauen wir noch, was Sepp und Lukas zu berichten haben, dann fahren wir ins Krankenhaus.“

„Wir haben noch vier weitere Zeugen“, eröffnete Lukas, der noch keine dreißig war. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Josef, der bereits auf den Ruhestand zuging, las vor, was er zu den Aussagen der zwei Passanten und der beiden Anrainer mitgeschrieben hatte, aber es gab keine neuen Erkenntnisse.

„Danke Jungs! Wir gehen dann mal und versuchen, etwas aus dem Pechvogel herauszubekommen.“

Auf der Fahrt sagte lange Zeit keiner etwas. Beide waren zu sehr mit ihren düsteren Gedanken beschäftigt.

„Clem, könntest du ihn befragen?“, bat Michaela, während er den Wagen einparkte. „Du kannst das irgendwie besser als ich.“

Clem musterte sie. Es stimmte: Obwohl sie ein durch und durch warmherziger Mensch war, taten sich die Leute oft schwer damit, Vertrauen zu Michaela aufzubauen. Vielleicht lag es an ihrem Äußeren, das so gar nicht ihr Inneres wiederspiegelte. Michaela Binder war Ende dreißig, gertenschlank mit harten Gesichtszügen und dünnen Lippen. Ihr kurzgeschorenes, schwarzes Haar ließ sie wie eine Soldatin aussehen.

Wenn das der Grund war, dann war es ihm aber auch ein Rätsel, was an seinem eigenen Erscheinungsbild so viel Vertrauenerweckenderes sein sollte. Er war ein Mann wie ein Schrank, fast zwei Meter groß, mit einem Körperbau wie ein Grizzlybär. Über hundert Kilo brachte er auf die Waage. „Klar doch!“, sagte er und stellte den Motor ab.

Guten Tag, wir würden gerne zu Herrn Westermayr!“, sagte Clem zu der Dame hinter dem Bildschirm.

„Ach ja, der Unfalllenker, nehme ich an? Sie sollten zuerst mit seinem Arzt sprechen, folgen Sie mir bitte!“

Sie liefen durch einige Gänge, da kam ihnen der Doktor bereits entgegen „Gissing, guten Tag!“ Sie schüttelten sich die Hände, wobei sich Clem wie immer zusammenriss, nicht zu fest zuzudrücken. „Ich nehme an, sie möchten zu Herrn Westermayr?“

„Ja, wenn es möglich ist?“

„Er hatte einen schweren Schock, ist aber mittlerweile stabil und ansprechbar. Sie können ihn vernehmen, gehen Sie aber bitte behutsam mit ihm um!“

„Machen Sie sich keine Sorgen, mein Kollege ist genau der Richtige dafür“, warf Michaela ein. „Ähem, wissen Sie schon, ob er alkoholisiert war?“

„Wie sagt man so schön bei Ihnen? Null Komma null!“

Beide Polizisten atmeten hörbar auf. „Die erste gute Nachricht des Tages“, kommentierte Clem.

„Sie sagen es. Bitte sehr, hier hinein!“ Doktor Gissing öffnete ihnen die Tür. Daniel Westermayr saß aufrecht in seinem Bett, die Füße auf der Matratze. Er war ein jüngerer, etwas rundlicher Mann mit Vollbart, Clem schätzte ihn auf Anfang dreißig. „Guten Tag! Ich bin Clemens, das ist meine Partnerin Michaela.“ Sie setzte sich zu dem kleinen Tisch, Clem schnappte sich den zweiten Stuhl, stellte ihn in etwa anderthalb Metern Entfernung vom Bett ab und nahm darauf Platz. „Es tut mir schrecklich leid, was Ihnen passiert ist. Ich hoffe es geht Ihnen schon ein wenig besser.“

Westermayr sah ihn eine Weile mit geröteten Augen an, dann nickte er leicht.

„Wir wissen schon recht genau, was vorgefallen ist“, begann Clem leise. „Ich weiß, wie viel das verlangt ist, aber wir müssen es auch von Ihnen noch einmal hören.“ Er wartete geduldig ab, saß einfach entspannt da. Meistens dauerte es ohnehin nicht lange, bis der andere das unangenehme Schweigen brach und es gab keinen Grund zur Eile. So war es auch diesmal. Der Unglücksrabe begann mit brüchiger Stimme zu sprechen. Manchmal hielt er an und musste sich kurz sammeln, aber er schilderte ihnen präzise alle Geschehnisse, bis die Rettung eingetroffen war.

Viele Kollegen schwärmten von seiner „Verhörtechnik“, dabei steckte seiner Meinung nach gar nicht viel dahinter. Er hörte einfach nur aufmerksam zu, unterbrach ihn nicht und nickte hin und wieder verständnisvoll.

„Denken Sie, ich … habe mit … Konsequenzen zu rechnen? Ich meine, es tut mir unendlich leid, die Eltern, unvorstellbar…“

„Ich entscheide das nicht, aber nach dem, was Sie gesagt haben, konnten Sie nichts dafür. Sie waren völlig trocken, das hat der Arzt bestätigt, sie haben trotz des Wahnsinnsschreckens sofort die Rettung gerufen und sich an der ersten Hilfe beteiligt. Und Ihre Aussage deckt sich sehr genau mit denen der Zeugen.“ Er rutschte näher zu ihm heran. „Es hätte jedem passieren können, leider ist es Ihnen passiert. Nehmen Sie sich Zeit, lassen Sie sich helfen und…“ Er stöberte in seiner Jackentasche nach einem der rechteckigen Kartons. „…sollten Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich an!“ Er reichte ihm die Visitenkarte und erhob sich. „Alles Gute und Kopf hoch! Das Leben geht weiter.“

„Wiedersehen“, sagte Michaela und lächelte ihm zu, dann verließen sie gemeinsam das Zimmer. Der Arzt stand noch vor der Tür, wahrscheinlich hatte er das Gespräch von draußen beobachtet. „Und?“

Clem schüttelte den Kopf. „Ein Pechvogel, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.“

„Hoffentlich“, fügte seine Partnerin hinzu. „Bist du sicher, dass du ihm keine falschen Hoffnungen gemacht hast?“

Er zuckte die Achseln. „Nein ganz sicher nicht. Aber ich habe auch gemeint, ‚Nach dem, was Sie gesagt haben‘.“

„Und dass man aus der Bremsspur vielleicht auf die Geschwindigkeit rückschließen könnte, ich meine, wegen des Bremswegs, hast du ihm das bewusst nicht gesagt?“

Clem musste lachen. „Ich bin einfach nicht darauf gekommen!“

„Naja, das, was er gesagt hat, das war doch total ehrlich, oder? ‚Ich war bestimmt nicht viel schneller als dreißig‘, so lügt man doch nicht!“

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, erkundigte sich Gissing.

„Nein, vielen Dank!“

Sie verabschiedeten sich voneinander und die Polizisten verließen das Krankenhaus. „Ich brauche jetzt dringend einen Kaffee!“, brummte Clem.

3.

Die Gruppe hatte sich stark zerstreut. Trix schlurfte irgendwo im hintersten Teil der Kolonne durch den Wald und hielt sich von den anderen fern. Es waren Osterferien und der Fußballverein nutzte die Gelegenheit für eine zweitägige Wanderung, wie es offiziell hieß – nur dass diese Veranstaltung nicht viel mit einer Wanderung zu tun hatte. So circa alle zehn Minuten machten sie eine Pause und auch während der Gehzeiten hatte sie den Eindruck, dass sich jede Seniorengruppe schneller fortzubewegen imstande war als sie es jetzt gerade taten. Magda, die das Schlusslicht bildete, schien das ganz ähnlich zu sehen: „Geht’s noch, Lara, oder sollen wir dich tragen?“

Trix‘ Laune wurde noch ein wenig schlechter. Selbst wenn ihr geringes Fortbewegungstempo einzig dem korpulenten Mädchen zuzuschreiben gewesen wäre, was nicht der Fall war, so würden Respektlosigkeiten wie diese auch nichts daran ändern.

„Geht’s noch, Magda, oder sollen wir dich knebeln?“ Laras Antwort kam erst nach ein paar Sekunden, aber das tat der stimmungserhellenden Wirkung keinen Abbruch. Man konnte Lara einiges vorwerfen, Masochismus zum Beispiel, aber auf den Mund gefallen war sie definitiv nicht. Trix musste sich zusammenreißen, sich nicht umzudrehen und die Trainerin schadenfroh anzugrinsen. Magda hatte eine Menge Ahnung von Fußball und auch ihre Übungseinheiten waren alles andere als schlecht, aber seit die Neue dabei war, war sie mit der Situation ziemlich überfordert. Dabei war Lara gar kein Hemmnis, sondern stellte vielmehr eine einmalige Chance dar, dass aus dem zickigen Haufen doch noch so etwas wie eine echte Mannschaft wurde. Warum erkannte Magda das nicht? Man müsste sie nur regelmäßig für ihren tollen Einsatz loben, dann könnte sie alle mitreißen. Einmal mehr ärgerte sie sich über ihre eigene Feigheit: Längst hätte sie die Frau darauf ansprechen sollen und soeben ließ sie eine weitere Gelegenheit verstreichen, denn die Szene war repräsentativ für alles, was im U14-Mädchenteam der Grazer Sportfreunde falschlief. Während die meisten nur Blödsinn im Kopf hatten, bezog Lara verbale Prügel, obwohl sie sich als eine der Wenigen zivilisiert benahm.

Insgesamt vier Teams aus zwei Altersklassen waren an dem Ausflug beteiligt und die Burschen, die ebenfalls dabei waren, trugen zu ihrer wachsenden Gereiztheit bei: Es wurde gestoßen, gerempelt und gegrölt, unflätige Witze machten die Runde, Zapfen und kleine Zweige flogen durch die Gegend und aus einem Lautsprecher dröhnte eine grauenhafte Musik, die kaum diese Bezeichnung verdiente. Erneut verfluchte sie ihre Entscheidung, überhaupt mitgekommen zu sein. Aber als Magda in die Gruppe gefragt hatte, ob jemand daheim bleiben würde, hatte sie sich nicht überwinden können, als Einzige aufzuzeigen. Außerdem hatte sich, obwohl sie solche Großgruppenunternehmungen hasste, ein kleiner Teil von ihr auf die schöne Zeit in der Natur gefreut. Sie hätte es besser wissen sollen, die Ausflüge mit ihrer rüpelhaften Schulklasse waren ja auch nicht anders.

Spät am Nachmittag bauten sie ihre Zelte auf. Immerhin hatte jemand daran gedacht, einen Ball mitzunehmen und die Trainer so schlau gewesen, den Lagerplatz in der Nähe einer größeren Lichtung auszuwählen, auf der sie spielen konnten. Trix war positiv überrascht, dass sich insgesamt ein Dutzend Buben und Mädchen fanden, die den Mannschaftssport ihren Smartphones vorzogen.

Eine Weile war es ein schönes Spiel. Sie genoss es, einmal mit den Burschen mitzumischen, von denen einige wirklich gut waren. Leider wurde die Stimmung mit der Zeit immer aggressiver, weil ein paar Leute offenbar nicht dazu imstande waren, eine normale, freundschaftliche Partie ohne Schiedsrichter auszutragen. Als der erste Junge niedergerempelt wurde, waren noch nicht einmal zwanzig Minuten gespielt.

„Sag mal, geht’s noch, du Prolet?“, empörte sich der Junge, der auf dem Boden lag.

„Jetzt sei nicht immer so ein Weichei!“, grunzte der Kerl, der ihn gestoßen hatte. „Wenn du das bisschen Körperkontakt nicht aushältst, musst du dir eine andere Sportart aussuchen. Ballett zum Beispiel.“ Der Mannschaftskollege neben ihm prustete.

„Wir sind nicht beim Eishockey, du Honk!“, mischte sich ein Mädchen ein. „Bei uns gibt es keinen Bodycheck!“

„Ein Bodycheck? Das hier?“ Entrüstet hob er die Arme. „Was habt ihr eigentlich alle?“

Nun meldete sich Trix zu Wort: „Gib ihnen doch einfach den Ball, dann können wir weiterspielen“, sagte sie zu ihrem Mitspieler.

„Hä? Spielst du jetzt bei uns oder bei denen?“

„Ich spiele bei dir und ich möchte einfach, dass es weitergeht. Es war ein Foul, also gibt es Freistoß. Sieh es ein!“

„Ein feuchter Scheißdreck war das! Sieh du es ein!“

Trix verlor die Geduld. Dieser Streit war so was von sinnlos! „Du nennst ihn ein Weichei und selber flennst du, nur weil du den Ball abgeben musst? Na los, gib her, die Kugel!“

Nichts geschah. Als sie sich umblickte registrierte sie, dass alle sie anglotzten. „Wisst ihr was?“ Ein anderer Junge sprach nun, der bisher nichts gesagt hatte. „Wenn sie gegen uns ist, dann soll sie einfach abhauen.“

„Genau Trix, verschwinde, wenn du keinen Tau hast, was Teamgeist bedeutet!“

Wortlos drehte sie sich um, zuckte die Achseln und ging. Doch auch wenn sie so tat, als wäre ihr das alles egal, kochte sie innerlich. Am liebsten hätte sie einfach alle verprügelt. Sie hatte keine Angst davor, Schläge einzustecken, wahrscheinlich würde es nicht einmal passieren. Wenn sie ihr inneres Biest herausließ, hatte ihr kaum jemand etwas entgegenzusetzen, nicht einmal ältere Jungen, das wusste sie aus guter Erfahrung. Das Problem war, dass sie Ärger mit den Trainern bekommen würde. Sie hatte schon einen Verein verlassen müssen, wenn auch aus anderen Gründen, aber ein zweites Mal hätte sie möglicherweise nicht das Glück, einen Ersatzklub zu finden, der sie mit ebenso offenen Armen aufnehmen würde wie die Sportfreunde, nicht wenn der Grund des Rausschmisses ihre Gewaltbereitschaft wäre. Also beherrschte sie sich. Zorn und Aggression waren ihre steten Begleiter und sie waren ihre wahren Feinde, nicht diese scheinheiligen Vollidioten hier; das hatte sie anhand zahlreicher schmerzhafter Lektionen gelernt.

„Na wer flennt jetzt?“

„Mach, dass du weiterkommst!“

„Schaut, wie sie davonschleicht, die Heulsuse!“

Es juckte sie in den Fingern. Sie könnte sich doch noch umdrehen, zurücklaufen, ihnen so richtig die Fresse polieren, bis sie bluteten, ihnen die Zähne ausschlagen, sie in den Boden treten… Sie hätten es verdient und es wäre so schön, so befriedigend… Ihre Schritte verlangsamten sich, während ihr Herz seine Schlagfrequenz erhöhte und ihr ganzer Körper sich spannte wie ein Drahtseil. Eine Welle aus purer Energie flutete ihren Körper. Es war ein berauschendes Gefühl, sie liebte es, obwohl sie es hassen sollte…

NEIN! Mit einer gewaltigen Willensanstrengung zwang sie ihre Beine, sich weiterzubewegen. Es war ungeheuer schwer, denn es bedeutete Niederlage, Resignation, Schwäche.

Sie entfernte sich weit weg von den anderen, bis sie sicher war, ungestört zu sein, dann ließ sie sich auf den Waldboden nieder und ging in den Liegestütz. Wie von selbst hob und senkte sich ihr Körper in schneller Folge. Eins, zwei, drei,… Wieder und wieder berührte ihre Nasenspitze den von alten Fichtennadeln bedeckten Untergrund. Sie stand so unter Strom, dass sie kaum einen Widerstand in ihren Armen spürte, ihr war, als befände sie sich auf einer Raumstation, in völliger Schwerelosigkeit. Mal sehen, wie weit ich komme, dachte sie grimmig und wurde noch ein wenig schneller. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn, … Im Geiste schlägerte sie sich mit den Idioten, mit jeder einzelnen Stemmbewegung teilte sie einen weiteren Hieb aus. Der Zorn entfesselte Bärenkräfte in ihr, sie hatte das Gefühl, als könne sie das ewig durchhalten. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig… Langsam fühlte sie ein leichtes Ziehen in ihrer Muskulatur. Ihre Rage steigerte sich immer noch. Wäre dies ein echter Kampf, so würde es Verletzte geben. Der Pulsschlag wurde kräftiger, in Brust, Hals und Stirn nahm sie das Pochen war. Und endlich wurde sie langsamer. Fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig… Trix keuchte. Befände sie sich im geistigen Normalzustand, wäre sie längst eingebrochen. Achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig! Schon längere Zeit hatte sie das nicht mehr getan, aber sie konnte es immer noch. Die sechzig schaffe ich!

Ihre Arme wurden taub und zitterten. Siebenundfünfzig, achtund-… Sie stockte mitten in der Bewegung, mobilisierte noch einmal alle Reserven, kam aber nicht mehr hoch. Schwer atmend drehte sie sich auf den Rücken und streckte alle Viere von sich. Sie war komplett entkräftet. So war sie früher oft mit ihren Aggressionen umgegangen. Anstatt auf andere Menschen einzudreschen oder die Einrichtung zu verwüsten, trieb sie sich selbst bis zur Erschöpfung, ein Zustand, in dem alle Emotionen zumindest kurzzeitig verschwanden, weil sie nur noch ihren Körper wahrnahm. Sie ließ sich fallen und gab sich diesem Gefühl hin, hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, spürte die Luft, die ihre Lungen füllte und wieder verließ. Während der Herzschlag sich allmählich wieder beruhigte, begann sie auch den Waldboden unter sich wahrzunehmen, das Gezwitscher der Vögel und den Wind, der sanft durch die Blätter strich…

„Ach du Scheiße, wie viele waren das jetzt gerade?“

Trix brauchte einen Moment für die Erkenntnis, dass dieser Ausruf ihr gegolten hatte. Sie schaute auf und erblickte vier der Spieler aus der gegnerischen Mannschaft. Ihre Augen waren aufgerissen, ihre Kinnladen nach unten geklappt.

„Fuck, kann man denn nirgendwo seine Ruhe haben?“, entfuhr es ihr. „Verzieht euch, aber ein bisschen plötzlich!“ Sie mussten sie schon länger beobachtet haben, der Frage nach zu urteilen.

„Entschuldige, aber wir wollten nach dir sehen. Uns ist die Lust vergangen, mit diesen Ärschen weiterzuspielen!“ Der kleingewachsene Junge, der zuvor umgestoßen worden war, hatte gesprochen. Die meisten Leute aus den Burschenteams kannte sie nicht namentlich und bei ihm verhielt es sich ebenso.

„Na das ist aber lieb von euch!“, knurrte Trix. „Und wenn es sich umgekehrt abgespielt hätte? Wenn ich in eurer Mannschaft gewesen wäre und für die Gegner Partei ergriffen hätte, wie hättet ihr euch dann wohl verhalten?“

Das war der Nachteil an dieser Therapieform. Die schlimmste Wut bekam sie zwar in den Griff, aber Enttäuschung und Verbitterung meldeten sich bei erster Gelegenheit wieder zurück.

Eine Weile herrschte Schweigen, als hätte bisher niemand darüber nachgedacht, dann meldete sich Selena zu Wort, das einzige Mädchen innerhalb der kleinen Gruppe. „Jedenfalls nicht so asozial wie die!“

„Ähä?“, machte Trix verächtlich. „Na Wahnsinn, das war ja mal eine Ansage! Aber gut, ich merke es mir fürs nächste Mal.“ Sie deutete ein Lächeln an. „Und jetzt macht Meter, na los!“

Tatsächlich wandten sie sich zum Gehen. „Tut uns leid, Mann!“, murmelte einer noch.

War das gerecht von mir, überlegte sie, doch dann dachte sie an die Szenen an der Lichtung. Sie hatten eben zwar ernsthaft geklungen, aber als es darauf angekommen war, hatten sie nur blöd danebengestanden. Außerdem waren sie ihr nachgeschlichen, dass konnte sie schon gar nicht gebrauchen!

Um das Gefühl von vorhin erneut heraufzubeschwören, legte sie sich zurück auf den Boden und schloss die Augen, doch die Magie jenes Moments war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ja, auf jeden Fall war es gerechtfertigt!

In einem Zelt zu schlafen fiel ihr normalerweise nicht schwer, aber heute kreisten zu viele Gedanken in ihrem Kopf herum. Die Geschehnisse des vergangenen Tages machten ihr mehr zu schaffen als ihr lieb war, aber noch mehr beunruhigte sie das Problem, dass überhaupt kein Zusammenhalt im Team existierte (besonders ihr gegenüber nicht) und das war fatal im Mannschaftssport. Sie wollte erfolgreich sein, in der Meisterschaft vorne mitmischen, aber alleine ging das nicht. War Fußball überhaupt der richtige Sport für sie? Sie trainierte, seit sie ein kleines Mädchen war, konnte balltechnisch mit den gleichaltrigen Jungen mithalten und war auch körperlich kaum hinten nach. Aber sie war auch selbst keine Teamspielerin, das war offensichtlich und bereitete ihr am meisten Kopfzerbrechen. Sie machte die anderen für die Schwierigkeiten in der Mannschaft verantwortlich, aber trug selbst noch viel weniger zum Teamgeist bei und hatte keine echte Freundin.

Mittlerweile war ihr klar geworden, dass sie sich am Nachmittag komplett danebenbenommen hatte. Endlich war jemand auf sie zugegangen und sie hatte es verbockt. Bravo Trix, damit bist du deinem Ziel wahrlich ein großes Stück näher gekommen! Morgen würde sie sich bei den vier Leuten entschuldigen, die ihr nachgegangen waren. Diesmal würde sie nicht kneifen.

Sie rieb sich ihre schmerzenden Arm- und Brustmuskeln und versuchte doch noch ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Leise Stimmen und Fußgetrappel beendeten ihren Halbschlaf; wie viel Zeit vergangen war, wusste sie nicht. Ein größerer Teil des Lagers schien in Bewegung zu sein. Trix kroch zum Zelteingang und öffnete den Reisverschluss ein paar Zentimeter. Einige Burschen bewegten sich in Richtung des Waldes, wo der Trainer wartete. Er wurde von allen nur Horst genannt, seinen Nachnamen kannte sie nicht.

Die Teenager sammelten sich um Horst, während dieser irgendetwas sagte und mit einer Handbewegung für Ruhe sorgte. Dann deutete er in den Wald hinein und ging los, wobei er eine Taschenlampe anknipste. Die Jungs folgten ihm und ein paar weitere Lichter flammten auf. Was ging denn hier Seltsames ab? Trix spähte kurz zu ihren zwei „Zimmerkolleginnen“, die beide tief und fest schliefen, dann schlüpfte sie kurzentschlossen aus ihrem Nachtgewand und streifte sich hastig die Klamotten vom Vortag über. Auf die Unterwäsche verzichtete sie, ihre Schuhe zog sie sich gleich barfuß an. Der Vorgang hatte nur Sekunden gedauert und sogleich huschte sie aus dem Zelt. Weit konnten sie noch nicht gekommen sein und wirklich: Schon nach ein paar Metern sah sie in der Ferne den diffusen, flackernden Lichtschimmer. Trix verlangsamte ihr Tempo, nicht nur, um der Gruppe fernzubleiben, sondern auch, weil der Wald stockdunkel war. Die Bäume reckten sich als schwarze Schatten gen Himmel und ihre Kronen fingen den größten Teil des Mondlichts ab. Wurzeln, Steine und andere Bodenunebenheiten konnte sie nur über den Tastsinn ihrer Füße ausmachen.

Trix warf einen kurzen Blick nach hinten – vom Lager war nichts mehr zu sehen. Hoffentlich fand sie wieder zurück!

Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren, es waren sicherlich schon mehrere Minuten, aber Horst führte seine Truppe immer tiefer in die Wildnis hinein. Sie würde sich am Rückweg an ihn halten müssen, vermutlich hatte er ein GPS-Gerät dabei.

Schließlich bemerkte sie, dass sie sich den Lichtern annäherte, was wohl daran lag, dass sie innegehalten hatten. Das Ziel war, wie sich herausstellte, eine weitere kleine Lichtung. Trix vernahm ein leises Knistern und eine Gestalt trat vom Schein eines soeben auflodernden Feuers zurück. Die Lampen gingen aus, da die Flammen nun deren Funktion übernahmen. Sie konnte nun mehr erkennen: Es hatte sich bei weitem nicht die gesamte Burschenmannschaft eingefunden, nur eine Handvoll Leute. Horsts Stimme und noch weitere drangen zu ihr hinüber, aber sie konnte kein einziges Wort verstehen. Vorsichtig setzte sie sich wieder in Bewegung, einen Fuß vor den anderen – um herauszufinden, was hier für eine komische Nummer abgezogen wurde, musste sie näher heran. Allmählich wurden die Stimmen deutlicher und sie meinte sogar ein oder zwei Gesichter zu erkennen, die ihr zugewandt waren. Ein kleines Stückchen noch…

Ein Junge hob plötzlich die Hand. „Halt! Habt ihr das gehört?“ Es war der erste Satz, den Trix verstanden hatte. Alle blickten sich überrascht um, während Trix mitten in der Bewegung verharrte. „Gib mir mal deine Taschenlampe!“

Sie erkannte die Stimme. Sie gehörte dem Kerl, der bei ihrem Fußballspiel am Nachmittag das Foul begangen hatte, welches zu dessen Beendigung geführt hatte. Trix unterdrückte einen Fluch, stattessen ging sie rasch in die Knie, streckte die Arme nach vorn, um sich mit den Fingerspitzen möglichst lautlos am Boden abzustützen, bewegte zuerst das eine, dann das andere Bein schnell, aber so umsichtig wie möglich nach hinten und setzte die Zehenspitzen auf. Im selben Moment, in dem der suchende Lichtstrahl aufleuchtete, legte sie sich flach auf den Bauch. Er kam in ihre Nähe, traf sie aber nicht. Einige Jungen murrten unwillig und die Leuchte wurde wieder ausgeknipst.

Trix atmete tief durch. Selbst im Liegen hatte sie direkten Blick auf die Feuerstelle, aber die Bäume hielten ihren schützenden Schatten über sie. Die Gestalten drehten ihre Köpfe wieder den Flammen zu und das mysteriöse Treiben wurde fortgesetzt, doch die Versammelten wirkten jetzt viel vorsichtiger. Nur noch ein undeutliches Gemurmel drang zu ihren Ohren. Ganz kurz loderte etwas auf und wurde gleich danach aufs brennende Holz geworfen. Da geschah es: Kurzzeitig erhellte sich das Feuer und bäumte sich mehrere Meter hoch auf. Vor Schreck sog Trix scharf die Luft ein und die Umstehenden, selbst Horst, sprangen einen Schritt nach hinten. Kurz schlug die Farbe ins Bläuliche um, um schließlich ganz zu verschwinden. Einen Moment lang war die Szenerie in absolute Finsternis getaucht, nur das Knistern war noch da und verriet, dass das Holz immer noch brannte, nur eben farblos und geisterhaft.

Dann war es vorbei, die Flammen wieder ganz normal und friedlich, als wäre alles nur Einbildung gewesen. Die Tatsache, dass sämtliche Gestalten auf der Lichtung wie zu Salzsäulen erstarrt waren und kein einziges Wort gesprochen wurde, war der einzige Hinweis darauf, dass es tatsächlich passiert war, dass sie nicht halluziniert hatte. Horst erwachte als erster wieder aus seiner Reglosigkeit und begann damit, Erde ins Lagerfeuer zu treten, um dieses zu ersticken. Die anderen taten es ihm gleich, das Spektakel schien vorüber zu sein. Und das bedeutete – Trix erschrak heftig, als ihr das klar wurde – dass sie bald zum Lager zurückkehren würden und zwar auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren.

Sachte erhob sie sich und suchte hektisch nach einer Lösung. Einen Moment lang zog sie in Erwägung, einfach zu rennen, verwarf den Plan aber sogleich wieder. Bei Tageslicht wäre sie vielleicht tatsächlich schneller gewesen als ihre potenziellen Verfolger, aber nicht in dieser Dunkelheit, während jene mit Taschenlampen ausgerüstet waren. Was sollte sie tun? Sie war hier auf etwas absolut Geheimes gestoßen, so viel war ihr klar, auch wenn sie keinerlei Ahnung hatte, auf was. War Horst so eine Art Hexenguru, der Geisterbeschwörungen veranstaltete? Jedenfalls durfte sie nicht entdeckt werden. Sie kämpfte die aufkeimende Panik nieder und zwang sich dazu, ein paar Sekunden lang ruhig nachzudenken. Sie musste sich verstecken und darauf hoffen, nicht gesehen zu werden, das war die einzige Option. Also schlich Trix zu einem dicken Baumstamm, betend, dass die Typen soweit mit der Beseitigung des Brandes beschäftigt waren, um die zerbrechenden Zweige zu überhören und kauerte sich dahinter. Niemand hatte sie bemerkt. Ihr Herzklopfen wurde ein wenig schwächer.

Irgendwann vernahm sie näherkommende Schritte und der Puls beschleunigte sich wieder. In ihrer unmittelbaren Umgebung, links und rechts, tauchten Lichtkegel auf und mehrere Füße liefen in nur zwei, drei Metern Entfernung an ihr vorbei. Trix hielt die Luft an, aus Angst, dass ihr Atem gehört wurde und ihre Muskulatur verkrampfte sich vor Anspannung. Sie wartete, bis die tanzenden Lichter beinahe verschwunden waren, dann erst setzte sie ihnen nach.

Zweimal stolperte sie und beinahe hätte sie die Jungen aus den Augen verloren. Doch dann tauchte das Lager auf. Jede Deckung ausnutzend kroch sie auf allen Vieren zu ihrem Zelt zurück.

Am nächsten Morgen war sie völlig verblüfft, dass sie in dieser Nacht noch Schlaf gefunden hatte.

„Hey, ihr drei, könnte ich kurz mit euch sprechen?“

Die Jungen drehten sich zu ihr um und lächelten sie an. „Lange genug allein gewesen?“, fragte der mittlere.

„Ja, ich denke schon. Ich war total daneben gestern und wollte mich entschuldigen. Und ähm…, danke, dass ihr mir nachgekommen seid! Ich bin euch voll angeflogen, dabei war es total nett gemeint.“

Die drei grinsten noch breiter.

„Stimmt, du warst ziemlich angepisst!“

„Hast wie eine Furie ausgesehen!“

„Hab richtig Schiss gehabt vor dir!“

„Im Dunkeln möchte ich dir nicht begegnen!“

Während die drei Burschen lachten, zuckte Trix kurz zusammen. Ob einer der drei bei dem nächtlichen Hokuspokus dabei gewesen war?

„Schon gut, wir machen nur Spaß! Es geht ja jedem einmal so wie dir, oder? High five!“ Alle drei streckten ihr die Hände zum Abklatschen entgegen. Sie mussten die Änderung in ihrer Miene bemerkt haben, hatten sie aber falsch interpretiert. Trix entspannte sich und schlug ein. „Ihr habt super gespielt gestern!“

Sechs Augenbrauen fuhren nach oben. „Du auch, du auch!“

„Solltest bei uns spielen, da wärst du besser aufgehoben!“

Trix stieg ob dieses Kompliments die Hitze ins Gesicht. „Danke!“, stammelte sie. „Ich geh dann mal Selena suchen. Bis später!“

Sie hatte eine Weile gebraucht, um sich zu diesem Gespräch durchzuringen und war nun sehr erleichtert, dass sie es getan hatte. An diesem zweiten Tag hatten sie einen kleineren Gipfel bestiegen, jetzt waren sie schon auf dem Abstieg. Vor ihr schlängelte sich der Weg einen steilen Hang hinunter. Die drei Jungen mussten ab hier hintereinander gehen. „Das Mädchen, das mit uns mitgekommen ist? Das ist weiter hinten, glaube ich.“

Also wartete Trix einfach und wurde wenig später wirklich von ihr eingeholt. Selena befand sich in Begleitung einer größeren Gruppe von Mädchen und war offenbar ziemlich ins Gespräch vertieft. So fiel der Dialog zwischen ihnen beiden sehr kurz und eher einseitig aus, aber immerhin umarmte Selena sie kurz. „Schon okay“, meinte sie, „Wer kann’s dir verdenken?“ Selena blickte im Gehen nochmals kurz über die Schulter, um sie freundlich anzulächeln, da passierte es. Sie stolperte über einen Stein, hakte sich bei ihrem eigenen Fuß ein, stürzte. Als sie die Hände nach vorne riss, um sich abzufangen, griff sie ins Leere, denn vor ihr war kein Weg mehr, sondern nur der Abhang. Hilflos fiel sie kopfüber nach vorne, schrie, überschlug sich, prallte heftig gegen einen Felsen und blieb erst liegen, als sie weiter unten wieder auf den Weg traf. Ein paar Sekunden lang war alles still, es war, als hielte die Welt den Atem an. Die Ruhe wurde von einem erschrockenen Raunen abgelöst, das durch die Menge ging. Trix stand an der Kehre, der Schock saß ihr tief in den Knochen. Sie ließ die Hand sinken, von der sie erst jetzt bemerkte, dass sie sie sich vor den Mund geschlagen hatte.

Selena lag auf dem Bauch, das Gesicht nach unten und rührte sich nicht.

„Platz da, aus dem Weg!“ Magda rannte an Trix vorbei und den Weg hinunter, in geradezu halsbrecherischem Tempo, sodass Trix schon befürchtete, es würde gleich eine zweite Verletzte geben. Auch die übrigen erwachten aus ihrer Starre und bewegten sich jetzt auf die Verunfallte zu. „Weg da, weg mit euch, alle zur Seite!“, befahl Magda.

Doch Selena hatte bereits Hilfe. Eine korpulente Gestalt hatte sich über sie gebeugt und redete beruhigend auf sie ein, derweil ihre Hand sanft über den Kopf des Mädchens strich.

4.

Je länger das Telefonat dauerte, desto verdutzter schaute seine Partnerin drein. „Okay, verstehe“, sagte Michaela schließlich, obgleich ihre Miene das genaue Gegenteil vermuten ließ, „wir sind in ein paar Minuten bei Ihnen!“ Sie legte auf, erhob sich und klopfte Clem auf den Rücken. „Auf geht’s, die Arbeit ruft!“, rief sie fröhlich.

„Worum geht es?“, wollte er wissen. Gemeinsam verließen sie die Polizeistation, Michaela entriegelte den Wagen und Clem manövrierte seinen gewaltigen Leib auf den Beifahrersitz.

„Stalking, gefährliche Drohung, Sachbeschädigung, …“ beantwortete Michaela etwas verspätet seine Frage. „Wahrscheinlich etwas von allem. Ich habe es selber nicht ganz kapiert, der Typ war ziemlich aufgewühlt, aber so ist es immerhin spannender!“

Der Anrufer besaß ein schönes Einfamilienhaus mit perfekt gepflegtem Garten. Der Rasen war frisch gemäht und geschmackvoll angeordnete Ziersträucher flankierten den gepflasterten Weg, der zum Eingang führte. Der Mann wartete bereits vor der Haustür und kam ihnen entgegen.

„Guten Tag!“, grüßte Clems Partnerin, „Michaela Binder, wir haben telefoniert. Mein Kollege Clemens Haubenwallner.“ Sie schüttelten sich die Hände. „Ich fürchte, ich muss Sie bitten, Ihre Geschichte nochmals von Anfang an zu erzählen. Sie waren etwas hektisch am Telefon!“

„Selbstverständlich. Bitte kommen Sie rein!“

Kurze Zeit später saßen sie gemeinsam am Esstisch vor einer Tasse Kaffee. „Vor knapp zwei Monaten musste ich einen Mitarbeiter kündigen“, eröffnete der Gastgeber seinen Bericht. „Ich bin alles andere als stolz darauf, kann ich Ihnen versichern, aber aus den verschiedensten Gründen war er für die Firma nicht länger tragbar.“ Von Michaela wusste Clem, dass der Mann Friedrich Müller hieß und ein führender Manager in einer Firma war. „Der arme Kerl war außer sich und hat einen Riesenwirbel gemacht, ich meine, er hat herumgeschrien, mich wüst beschimpft und mir förmlich den Teufel an den Hals gewünscht!“

„Womit Sie sich wahrscheinlich arrangieren könnten, wäre es dabei geblieben“, vermutete Clem und Müller nickte bestätigend.

„Ich hatte Riesenmitleid mit ihm, habe zwei Nächte lang schlecht geschlafen, ehe ich die Geschichte hinter mir lassen konnte. Und dann hat es begonnen…“

„Sie haben am Telefon von eingeschlagenen Seitenspiegeln und Drohanrufen gesprochen“, erinnerte sich Michaela und wieder wippte er leicht mit dem Kopf.

Nach der Sache mit dem Auto habe ich mir noch nichts gedacht. Es war eben ein dämlicher Streich einer Jugendclique, ärgerlich zwar, jedoch nichts weiter Besorgniserregendes. Bis zu diesem Anruf.“

„Wer war denn in der Leitung? Der entlassene Mitarbeiter? Ein Freund oder Verwandter von ihm? Oder Herr oder Frau Unbekannt? Und was hat er gesagt?“

„Letzterer. Die Nummer war unterdrückt, die Stimme eindeutig männlich. Er hat mir prognostiziert, dass ich die Firma nur noch wenige Male von innen sehen werde, weil mich meine baldige Querschnittslähmung daran hindern würde. Daraus habe ich auch den Schluss gezogen, dass es mit der Kündigung zu tun haben muss.“

„Muss nicht zwangsläufig so sein“, widersprach Michaela, „es könnte sich genauso gut um eine gänzlich andere Person handeln, die sehr gut über Ihr Leben Bescheid weiß. Fällt Ihnen vielleicht noch jemand anderes ein, den sie in jüngerer Zeit vergrault haben könnten?“

Müller dachte einige Sekunden lang angestrengt nach, dann hob er die Hände und stieß die Luft zwischen den Backen aus. „Vielleicht habe ich mal wem einen Parkplatz weggeschnappt.“

Michaela grinste. „Das würde wohl nicht ganz mit der Reaktion korrelieren. Aber sollten Sie sich doch noch an einen anderen Vorfall erinnern, können Sie sich ja jederzeit bei uns melden.“ Sie nutzte die Gelegenheit, um ihm eine ihrer Karten hinüberzuschieben.

„Meinen Sie, Sie könnten herausfinden, wer der Anrufer war?“

„Wem das Telefon gehört hat, können wir herausfinden“, erklärte Clem, „Möglicherweise. Möglicherweise auch nicht. Wir werden jedenfalls tun, was in unserer Macht steht. Trotzdem müssen wir Ihnen raten, in nächster Zeit das Haus nicht zu verlassen.“

Friedrich Müllers Gesicht nahm plötzlich einen seltsamen Ausdruck an. „Das wird mir nichts nützen, das ist es ja! Kommen Sie mal mit, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt!“

Sie wurden nach draußen geleitet. Zielstrebigen Schrittes bewegte sich Müller in seinen Hausschuhen Richtung Gartentor, öffnete es und deutete nach draußen. Leicht verwirrt kamen die Polizisten der Aufforderung nach und der Manager zog die Tür hinter ihnen ins Schloss. Verblüfft starrten sie auf die Kritzelei, die dort knapp neben der Klinke prangte. Mehrere schlampige Linien waren in das Metall geritzt und mit schwarzer Farbe nachgezogen worden. Sie formten ein Gebilde, das entfernt an eine Hand erinnerte, doch entsprangen die Finger unmittelbar dem Handgelenk, was ihnen ein skeletthaftes Aussehen verlieh. Außerdem endeten sie jeweils in einem spitzen Dorn, anstelle einer Kuppe.

„Mich wirft so schnell nichts aus den Socken, aber ein Freund von mir hatte exakt dasselbe Symbol an seiner Hausmauer gefunden und nur einen Tag später hat er beim Basteln drei Finger an seinen Winkelschleifer verloren. Das ist erst ein Monat her.“