Schweben, fallen, verglühen - Krystyna Baal - E-Book

Schweben, fallen, verglühen E-Book

Krystyna Baal

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Beschreibung

Paula braucht dringend einen Plan für ihr Leben! Seit dem Schulabschluss hangelt sie sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten, bis ihre Eltern endgültig genug haben und sie vor die Tür setzen. Zufällig erfährt sie von einem Trainingsprogramm für Astronauten und schummelt sich mit ein paar Notlügen kurzerhand hinein. Am ersten Tag trifft sie auf Jonathan, einen ehemaligen Schwimmtrainer. Er hat seine beste Athletin verloren und sucht selbst einen Neuanfang. Zwischen Paula und ihm funkt es sofort. Doch Paula trägt ein Geheimnis mit sich: Sie hat panische Angst. Wird sie ihre größte Herausforderung meistern oder daran zerbrechen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Schweben, fallen, verglühen

Krystyna Baal

1

Emily

Vom Küchenfenster aus sah Emily, wie ein unbekannter blauer Kleinbus an der Straße hielt. Er war alt, verbeult und die vordere Stoßstange hing schief. Offenbar war er aber noch nicht aufgegeben worden, denn jemand hatte halbherzige Reparaturversuche an ihm vorgenommen und die losen Karosserieteile mit Gewebeband fixiert. Das Gefährt erinnerte Emily an die Kuchen ihrer Mutter. Manchmal, an Weihnachten, Ostern, oder zuletzt, zu Emilys fünfzehntem Geburtstag, wurde ihr erziehendes Elternteil von Pflichtgefühl gepackt und entschied, etwas richtig Schönes zu backen. Doch diese Versuche gingenzuverlässig schief. Entweder verbrannten die Kuchen oder sie fielen auseinander, weil die Eier fehlten. Die Lösung von Emilys Mutter war dann, Vanillekuvertüre darüber zu kippen und das Elend großflächig mit Streuseln zu verzieren.Auf der linken Seite des Kleinbusses hatte man eine neue Schiebetür in knalligem Rot eingesetzt. Das Auto schien zu rufen: Hey, ich musste schon einige Unfälle erleiden und bleibe wahrscheinlich gleich liegen, aber mein Besitzer hat noch genug Vertrauen in mich, um in Ersatzteile zu investieren. Komm, steig ein, das wenigstens geht noch.

Die Fahrer, die Emily und ihre Klassenkameradinnen zur Schule brachten, benutzten dafür häufig ihre eigenen Autos. In dieser Gegend wohnten die Schüler verstreut und es lohnte sich nicht, große Busse einzusetzen. Stattdessen wurden die Mädchen und Jungs mit dubiosen Privatfahrzeugen aus allen Himmelsrichtungen zum Unterricht kutschiert. Eine Weile lang war Emily mit der Juniorchefin vom Bestattungshaus Knie gefahren. Nachdem die ihre Fahrgäste abgeliefert hatte, entfernte sie die hinteren Sitzreihen, setzte eine Trennwand ein und transportierte für den Rest des Vormittags Leichen. Wegen ihres angenehmen Fahrstils war sie trotzdem eine von Emilys Lieblingschauffeurinnen gewesen. Kamikazetouren hatte Emily schon einige überlebt und sie war vorbereitet. In ihrem Schulrucksack steckten Tabletten gegen Reiseübelkeit, ein Fläschchen mit Vanilleduftöl (brauchte man in dieser Gegend, wenn der Wind aus Richtung der Schweinemastbetriebe wehte) und Visitenkarten von ihrem YouTubeChannel (vielleicht würde sie ja mal einen Erwachsenen erwischen, der über etwas Anderes sprechen wollte als das miese Wetter, die Baustelle auf der Bundesstraße und Hannover96).Die Fahrerin hupte ungeduldig.

„Ich komm ja schon“, rief Emily.

Sie lief den Gartenweg hinunterlief und überwand eine Sperrholzkulisse. Wieder einmal hatte ihre Mutter bis spät in die Nacht draußen gewerkelt und alles liegen lassen. Wahrscheinlich plante sie ihr nächstes Kleinkunstfestival oder ein anderes Happening. Da Emily im Moment nicht mit ihr sprach, wusste sie das nicht. Sie steuerte die Beifahrertür an. Auf der Strecke war sie die erste und konnte sich daher den Platz vorne schnappen, wo einem am wenigsten übel wurde. Mit Schaudern dachte sie an den Studenten aus dem letzten Jahr der gerade erst seinen Führerschein gemacht hatte, mit dem Kuppeln und Schalten noch nicht klargekommen war und seinen alten Volvo zu regelrechten Bocksprünge gezwungen hatte.

„Moin, moin!“, rief Emily fröhlich.

Nett sein war wichtig, denn wenn man es sich mit der Fahrerin verscherzte, wurde man gern mal mittags an der Schule „vergessen“ und konnte sehen, wie man nachhause kam. Bei einer Mutter, die für Stunden in ihrem Atelier verschwand und das Telefon nicht hörte, bedeutete das, seine Hausaufgaben mit knurrendem Magen auf den Stufen der Turnhalle zu erledigen, bis Madame ihren künstlerischen Rausch für eine Toilettenpause unterbrach und ihr auffiel, dass das Töchterlein noch nicht da war.Das Wesen hinter dem Lenkrad winkte Emily. Wegen des pinken Lippenstifts vermutete Emily, dass es weiblich war. Auf dem Kopf trug die Neue eine grüne Badekappe.

„Steig ein“, rief die Fahrerin.

Ja, auch die Stimme klang nach Frau. Misses Badekappe beugte sich hinüber und öffnete Emily die Tür.

„Kleinen Moment“, sagte Emily.

Sie drehte sich zum Haus um. Alle Fenster waren dunkel. Wenn sie ihre Mutter weckte, wäre die schlecht gelaunt und würde Emily später Vorwürfe machen, weil sie aufgrund des Schlafmangels den ganzen Tag lang keine Inspiration gefunden hatte. Und sowieso war unsicher, ob sie sich an eine Nachricht der Schule wegen einer neuen Schulbusfahrerin erinnern würde. Dergleichen fiel für sie in die Kategorie „unwichtige Details“, wie Geld für die Klassenfahrt überweisen, Milch kaufen und den Schornsteinfeger ins Haus lassen.

Emily zog ihr Handy aus dem Rucksack und wählte die Nummer des Sekretariats. Dort nahm niemand ab. Es war kurz nach sieben Uhr und meist kam die Sekretärin erst um 7:30. Solange konnte Emily nicht warten. Der Unterricht begann um 7:45 Uhr, und die Fahrt dauerte eine halbe Stunde.Emily spähte durch die hinteren Fenster. Der Bus hatte zwei Bänke, die quer zur Fahrtrichtung angeordnet waren, darüber Einbauschränke und hinter dem Fahrersitz einen kleinen Küchenblock mit Mini-Waschbecken und einer Kochplatte. Anscheinend war das ein Camping-Ausbau. Praktisch. Wenn sie liegen blieben, konnten sie sich etwas zu Essen machen, während sie auf den Abschleppdienst warteten.

Aber wollte Emily mit dieser Frau liegen bleiben? Bis auf die Badekappe sah die Fahrerin gewöhnlich aus. Sie trug eine Fleecejacke und Jeans. Allerdings würde Emily auch versuchen, harmlos zu wirken, wenn sie verrückt wäre. Bevor sie rausging, würde sie sich unauffällig anziehen, vor dem Spiegel Entspannungsübungen machen, bis das irre Grinsen verschwand, und dann würde sie losziehen, um vertrauensvolle junge Mädchen einzusammeln. Doch während sie sich anstrengte, normal zu sein, würde ihr eine Sache entgehen: Sie trug immer noch Schwimmzubehör.

Hinten im Bus standen zwei Umzugskartons. Eine Sporttasche entdeckte Emily nicht. Was sollte sie tun? Sie wollte wirklich gern glauben, dass es für die Kappe eine logische Erklärung gab.

„Mein Name ist Paula“, sagte die Frau.

Sie schien jung zu sein, noch keine dreißig. Doch vielleicht hatte Emily diesen Eindruck auch nur, weil die straff sitzende Kappe alle Falten aus dem Gesicht zog.

„Steigst du ein?“, fragte Paula.

Ihre Augen waren geschminkt, mit Wimperntusche und einem Lidschatten, der farblich zur Badekappe passte. Paula erinnerte an ein Alien. Nach Fahrten im Leichenwagen, diversen Kleintiertransportern und einem ausrangierten Feuerwehrfahrzeug sollte Emily eigentlich nichts mehr schocken. Aber diese Außerirdische in ihrem Raumschiff machte ihr Angst.

 

2

Jonathan

Jonathan war bei Glas Nummer vier, als der Anruf kam. Arbeitslos zu sein und sich schon nachmittags mit billigem Rotwein zu betrinken hatte er vorher für ein Klischee gehalten, doch als er selbst vor dem Nichts stand, musste er sich in den langen Stunden zwischen Aufstehen und Schlafengehen, wenn eingekauft und gekocht war, und er nichts mehr zu tun hatte, betäuben, um nicht durchzudrehen. Es war ja auch egal. Niemanden interessierte, was er tat, solange er morgens um sieben Uhr wieder einsatzfähig war, und das hatte er bis jetzt immer geschafft.

Auf dem Display sah er die Münchner Vorwahl, und für einen kurzen, glücklichen Moment glaubte er, Frau Kaiser wolle ihn bitten, wieder mit ihrer Tochter zu arbeiten. Aber dann nahm er ab und hörte die Schluchzer und seine Hoffnung verwässerte wie ein Blutstropfen in einem Fünfzigmeterbecken. Nur sein früherer Schützling war in der Leitung und die kleine Kaiser hatte leider gar nichts zu melden.

„Ich bring mich um!“, heulte Viv.

„Nein, lass das“, sagte Jonathan.

Beim Sprechen merkte er, wie schwer seine Zunge war. Die Tatsache, dass ihm das vorher nicht aufgefallen war, weil er während seiner täglichen Besäufnisse noch nie mit einem anderen Menschen gesprochen hatte, deprimierte ihn zusätzlich.

„Meine Zeit über Hundert Meter Brust ist schon wieder eine Sekunde schlechter geworden“, sagte Viv. „Damit schaffe ich nicht mal mehr die Qualifikation für die Landesmeisterschaften.“

„Dann eben 2019“, sagte Jonathan.

„Da schaffe ich es erst recht nicht mehr. Unter dem neuen Trainer werde ich immer schlechter. Mama sagt, ich müsste mich jeden Monat um mindestens eine Zehntelsekunde verbessern.“

Das waren meine Worte, dachte Jonathan düster.

„Du bist 14“, sagte er. „In der Wachstumsphase können die Hormone verrücktspielen.“

„Aber was, wenn ich es nie an die Spitze schaffe? Dann war alles umsonst. Ich hab doch sonst nichts.“

„Na, na“, sagte Jonathan.

Allerdings fand er, dass Viv recht hatte. Ihr Leben bestand aus Training, Schule, Hausaufgaben und wieder Training. Abends ging sie früh ins Bett um zu regenerieren und beim Morgentraining wieder fit zu sein. Jonathan wusste genau, wieviel sie ihrem Sport opferte. Immerhin war er drei Jahre lang ihr Trainer gewesen. Bis zu diesem unglückseligen Mittwoch.

Er erinnerte sich noch genau, wie er mit Viv die Brustwende geübt hatte. Viel zu früh streckte sie jedes Mal die Arme aus, um den letzten Meter zu gleiten. Da war locker noch ein Zug drin.„Beinarbeit“, rief Jonathan, als Viv sich dem Beckenrand näherte. „Mehr aus den Oberschenkeln arbeiten.“

Als sie es endlich machte, wie er wollte, klatschte er in die Hände und drehte eine Pirouette. Dabei entdeckte er die beiden Menschen, die im Eingangsbereich des Schwimmbads auf Plastikstühlen vor der Scheibe saßen. Die eine war Vivs Mutter, Frau Kaiser. Wenn sie keine wichtigen Termine hatte, holte sie ihre Tochter vom Nachmittagstraining ab, allerdings kam sie normalerweise keine zwanzig Minuten zu früh. Jonathan hätte das verdächtig vorkommen müssen, doch er wurde von der zweiten Gestalt abgelenkt, einem feisten Mann in einem leuchtendblauen Anzug, etwa Anfang dreißig, in Jonathans Alter. Jonathan kannte den Mann, er erinnerte sich nur nicht, woher.

„Nimm das Brett und mach 200 Meter Beine“, sagte Jonathan zu Viv. „Achte auf die Spannung im unteren Rücken.“

Der Mann in Blau winkte. Jonathan deutete auf seine Schuhe und krempelte sich pantomimisch die Hosenbeine hoch. Sollte der Typ doch reinkommen, wenn er etwas wollte.

Wer Jonathan googelte, fand eine Internetseite, auf der zu lesen war:

Jonathan Menke*1987Vize-Europameister 2008TrainerSie finden mich in der Schwimmhalle an der Bardowickstraße:Mo-Fr: 6:30-8:00 (Triathlon Training) und 15:00-18:00 (Gruppen- und Einzeltraining Kinder und Jugendliche)

Keine Postanschrift, keine E-Mail-Adresse, keine Telefonnummer. Wer etwas von ihm wollte, sollte ihn in der Halle aufsuchen. Auf diese Weise sparte Jonathan nicht nur Zeit, sondern testete gleichzeitig, wieviel es den Leuten bedeutete, mit ihm zu sprechen.

Einmal hatte eine Versicherungsvertreterin ihr Lager auf einem Liegestuhl aufgeschlagen und ihm zwischen Schwimmbrettern und Gewichtsmanschetten die neuesten Tarife präsentiert. Bei der hatte Jonathan dann aber auch abgeschlossen. Einsatz musste belohnt werden.

Die ehrgeizigen Eltern von hoffnungsvollem Nachwuchs wurden auf dieselbe Weise geprüft. Während sie warteten, bis Jonathan mit den Anweisungen für seine Schüler durch war und Zeit für sie hatte, lernten sie bereits eine wichtige Lektion in Geduld und bekamen ein Gefühl dafür, was sie erwartete, sollten Sohnemann oder Töchterchen tatsächlich eine rasante Sportkarriere hinlegen: stickige Hallen, unbequeme Sitzgelegenheiten und nasse Füße. Warum trug eigentlich niemand mehr Badelatschen? Die kosteten doch wirklich nicht die Welt. Auch der Anzugmann tappte Jonathan nun barfuß entgegen.

„Hey“, rief er. „Long time no see.“

Jonathan hob grüßend die Hand. Wer war der Kerl? Unter den Schulterpolstern des Jacketts schien nicht viel Muskelmasse zu sein, um einen Schwimmerkollegen handelte es sich also nicht.

Der Mann hatte Jonathan erreicht,

„Olli.“ Ein schneller, beidhändiger Klatscher auf Jonathans Oberarme. „Remember?“

„Ja, klar.“

Jonathan lächelte als hätte die Erwähnung des Namens seinen Erinnerungsjackpot geknackt und lustige Episoden prasselten nun heraus wie Münzen. Olli Ku … Ko… Keunecke! War ein paar Klassen über ihm gewesen. Die Familie besaß ein Autohaus. In der Oberstufe hatte Olli gebrauchte BMWs gefahren, äußerlich gepimpt mit changierendem Hochglanzlack, aber unter der Haube ein einziges Flickwerk. Im Winter hatten ihm die Lehrer regelmäßig nach der letzten Stunde Starthilfe geben müssen. Das war das einzige Bild, das Jonathan von Olli behalten hatte: Ein pickliger junge Mann, der Zangen an die Pole einer Batterie klemmt und Verwünschungen murmelt.

„Wie geht es dir Mann?“, fragte Olli.

„Gut, und dir?“

„Schwimmst du noch selber?“

Jeden Tag. Wenn die Trainingsstunden vorbei sind, nach einer Banane und einem Proteinriegel. Zweitausend Meter Lagen, Sprints und Technikabschnitte und zum Abschluss ein Burnout für Arme und Beine. Unter die Dusche schwanken, langsam und kraftlos, wie eine Anemone in der Strömung. Innerlich leer sein. Schwimmen hilft gegen alles. Danach aufs Sofa, bisschen Fernsehen und ab ins Bett.

Aber das war keine Antwort für Olli. Wenn der nach „schwimmen“ fragte, meinte er „gewinnen“.

„Ich mache keine Turniere mehr“, sagte Jonathan.

„Aber früher warst du schwer unterwegs.“

Zu Schulzeiten. Erfolgreich mit der Mannschaft, aber allein hatte es nie ganz gereicht, auch wenn er auf die zweihundert Meter Rücken nah dran gewesen war. Vize, das verhasste Wort. Es auszusprechen dauerte eine Sekunde, dieselbe Sekunde, die Jonathan zum Sieg gefehlt hatte. Ein Tick des dünnen Uhrzeigers, zehn Zehntel, wann hatte er die vertrödelt? Er wusste es immer noch nicht.

„Spannung!“ rief Jonathan Viv zu. „Hundert Prozent geben, nicht neunzig. Danach üben wir nur noch Starts und dann geht es ans Ausschwimmen.“

„Ist schnell, das Mädchen.“ Olli nickte anerkennend. „Da käme ich nicht mehr mit.“„Hab sie entdeckt“, sagte Jonathan. „Großes Talent.“

In den Gruppenstunden gab es immer wieder vielversprechende Kinder. Denen verordnete er nach Trainingsende Extrabahnen und ließ sie im Trockenen Stabilitätsübungen machen. Absolvierten sie die ohne zu murren, steckte er sie in eine Gruppe, die gerade so gut war, dass sie nicht mitkamen. Noch nicht. Aber wenn dieser Funken Trotz in ihren Augen glomm, wenn sie kämpften statt zu jammern, wusste Jonathan, dass er einen Rohdiamanten gefunden hatte.

Viv war so einer gewesen. Zehn Jahre alt, lange Beine, schmale Hüfte, großartiges Wassergefühl. Wie ein Hai schoss sie bei den Turnieren dem Schwarm ihrer ambitionslosen Altersgenossinnen voraus, schon am Ende der ersten Bahn mit zwei Körperlängen Abstand auf die Zweite.

Nach zwei Siegen auf Stadtturnieren weigerte sie sich, an unwichtigen Entscheidungen teilzunehmen. Warum einen ganzen Trainingstag für einen unbedeutenden Titel opfern? Ihre langsamen Konkurrentinnen taugten nicht einmal als Pace Maker für eine neue persönliche Bestzeit.

Die anderen Mädchen hassten sie, aber das war Viv egal. Die dünne Luft im Spitzenfeld sah sie nur als weiteren Ansporn.

Viv begann ihre letzte Bahn. Hoffentlich zog Olli bald wieder ab, es sah gegenüber Frau Kaiser

nicht gut aus, wenn Jonathan am Beckenrand quatschte.

„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Jonathan.

„Ich will dir einen Job anbieten.“

„Danke, aber verkaufen liegt mir gar nicht.“

„Nein, nichts mit Autos. Zwar hab ich das Geschäft von meinem alten Herrn übernommen,“ – Olli winkte ab, als spreche er von einem beiläufigen Deal – „aber Gebrauchtwagen sind nicht mein Ding. Da krebst du rum, und die Leute wollen nichts ausgeben. Macht keinen Spaß. Darum lasse ich mir ein zweites Standbein wachsen.“

„Aha?“

Wahrscheinlich Import-Export. Container mit Billigkram aufkaufen, die Ware neu eintüten und einen unverschämten Preis draufkleben.

„Ich lasse mich von der öffentlichen Hand füttern“, sagte Olli.

„Hartz Vier?“

„Ha, der war gut!“ Olli schlug sich auf die Schenkel. Die gefliesten Wände warfen sein Lachen zurück. „Nein, ich kooperiere mit dem Arbeitsamt. Die nennen sich jetzt Agentur, aber es ist natürlich noch dasselbe alte Amt hinter dem Schild.“

„Du verkaufst denen Dienstwagen?“

„Ich bin Berater für europäische Förderinitiativen.“

„Interessant.“„Darunter kannst du dir nichts vorstellen, was? Kann niemand, das ist ja das Gute.“ Ollis rechtes Hosenbein hatte sich heruntergerollt und hing in der Überlaufrinne. Seinen Besitzer schien das nicht zu stören. „Ich gestalte ein neues Programm, das Menschen mit besonderen Herausforderungen den Einstieg in den Beruf ermöglicht. Und da geht es nicht um Bewerbungskram oder das Rumpfuschen in Office-Programmen. Sowas kann ja jeder. Bei mir werden die Leute fürs All fitgemacht.“Jonathan glaubte, sich verhört zu haben.

„Für Aldi?“

„Für das Weltall.“

„Wow.“

„Und darum habe ich dich gesucht.“

„Aber ich bin Schwimmtrainer.“

„Macht nichts. Ich bin Autoverkäufer.“

„Du willst mich auf den Arm nehmen.“

„Klingt irre, ich weiß. Aber lass mich erzählen. Schenk mir nur noch fünf Minuten deiner Zeit.“

Olli legte Jonathan eine Hand auf den Rücken und wollte ihn zu einem der Liegestühle schieben.

„Ich muss erst das Training beenden.“ Jonathan beugte sich zu Viv herunter, die am Ende der Bahn angelangt war. „Startsprung mit Unterwasserzug. Zehnmal das Ganze.“

Nur fünf Minuten, ja. Ein alter Verkäufertrick, doch was machte man dagegen? So wenig Zeit musste man selbst einem unsympathischen Bekannten gewähren.

Olli stellte sich nah neben Jonathan und raunte: „Space Exploration ist das nächste große Ding. Private Initiativen schießen ihre eigenen Satelliten ins All, und überall auf der Welt gibt es mittlerweile Hobby-Astronauten, die sich Raketen zusammenlöten. Bald werden die ersten so weit sein, damit abzuheben. Das Zubehör ist erschwinglich geworden, und es gibt sogar Bausätze und sowas. Hier auf der Erde nehmen uns die Maschinen die Arbeit weg, womit wir wieder beim Amt wären. Ich frage dich: Soll man unter diesen Voraussetzungen noch Leute zu Kassierern oder Buchhaltern umschulen?“

Jonathan schüttelte langsam den Kopf, obwohl ihm nicht gefiel, wie Ollie das Gespräch lenkte.

„Wie soll also die Allausbildung konkret aussehen?“, begann Ollie.Genau das hätte Jonathan fragen wollen.

„Die öffentliche Förderung ist natürlich nicht üppig“, sagte Ollie. „Aber wenn jemand mit minimalem Einsatz maximalen Effekt erzielen kann, dann Meinereiner. Und man darf eins nicht vergessen: Auch die Profis kochen nur mit Wasser. Das Hitzeschild der Sojus bestand aus Holz. Lies das mal nach, ist faszinierend. Und das Teil erfüllte seinen Zweck. Doch wo kommst du ins Spiel?“Jonathan schluckte. Das wäre seine nächste Frage gewesen. War Olli Gedankenleser?

„Astronauten üben Außenmanöver unter Wasser“, sagte Olli. „Damit simulieren sie die Schwerelosigkeit und die verlangsamten Bewegungen. Außerdem atmen sie durch eine Maske und damit ist alles schon ziemlich realistisch.“

„Ich habe aber keinen Tauchschein.“

Ollie schien kurz zu überlegen. „Dann schnorchelt ihr eben nur.“

„Du möchtest, dass ich den Leuten beibringe, unter Wasser mit Werkzeug zu hantieren?“

„Nicht nur das. Angehende Astronauten müssen körperlich fit und mental stark werden. Sie brauchen einen Spitzentrainer.“

Jonathan sah zum Eingangsbereich. Wo war Frau Kaiser?

„Die fünf Minuten sind leider um“, sagte er. „Leider muss ich dir absagen. Ich habe keine Zeit für einen weiteren Job. Eine Sportlerin wie Viv trainiert man nicht nebenbei.“

Jemand wie Olli „minimaler Einsatz“ Keunecke verstand wahrscheinlich nicht, was im Leistungssport gefordert wurde. Zu den Stunden am Beckenrand kamen noch einmal ebenso viele am Schreibtisch, in denen man Trainingspläne aufstellte und Turniere analysierte. Doch gab man alles, wurde man vielleicht belohnt und war der Trainer einer Schwimmerin, die in einem Atemzug mit Franziska van Almsick genannt wurde.

„Nimm meine Karte“, sagte Olli. „Lass dir das Ganz durch den Kopf gehen. Finanziell soll es sich für dich lohnen. Fünfzig Prozent mehr als dein jetziger Verdienst sind ein Wort, oder?“

Mit diesem Angebot ließ er Jonathan stehen und verschwand mit nassen Hosensäumen in Richtung der Umkleiden.

Jonathan atmete auf und hob die rechte Hand mit gespreizten Fingern als Signal für Viv, fünf Bahnen auszuschwimmen.

Das wäre geschafft.

Doch nun kam Frau Kaiser. Links trug sie Schuhe und Strümpfe in der Hand, rechts eine Packung „Merci“. Beim Anblick der Süßigkeit wurde Jonathan auf einen Schlag klar, was Vivs Mutter ihm sagen würde.

Am liebsten wäre er mit Anlauf ins Wasser gesprungen und getaucht, bis seine Lungen schmerzten. Er wollte nichts sehen und nichts hören. Doch Feigheit brachte einen nicht weiter. Darum blieb er stehen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

„Ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen“, sagte Frau Kaiser. „Mein Mann und ich wechseln beruflich nach München und deshalb wird unsere Familie umziehen. Das Ganze hat sich sehr kurzfristig ergeben. Wir danken Ihnen für alles, was Sie für Viv getan haben.“

Später erinnerte sich Jonathan vor allem an die Packung mit den Schokoladenpralinen, von denen er während des Gesprächs eine nach der anderen durch den Karton zerdrückt hatte. Er hätte einfach „gern geschehen“ antworten sollen und gehen. Stattdessen unternahm er den kläglichen Versuch, sich in Frau Kaisers Pläne hineinzudrängen. Er bot an, mit nach München zu ziehen und ab da wurde es peinlich, weil Frau Kaiser ihm unverblümt sagte, dass sie für Viv schon einen amerikanischen Trainer engagiert hatten, einen aus dem „Weltklassespektrum“. Genau dieses Wort benutzte sie, und es hallte in Jonathans Kopf noch nach, als er unter der heißen Dusche stand, das Gesicht zur Wand gedreht, und vor Wut weinte.

Ein anderer Trainer würde seine Viv zu Meisterschaften begleiten, ihren Körper mit Kraftübungen formen und ihr vor dem Start zurufen: „Du schaffst das. Ich glaube an dich.“

Aber bei dem Amerikaner wäre das nur eine Floskel. Tatsächlich an Viv geglaubt hatte nur Jonathan. Es gehörte etwas dazu, in einer Zehnjährigen den Siegerwillen zu erkennen, von dem sie selbst noch nicht wusste, dass sie ihn besaß.

Trotzdem würde Jonathan vergessen werden. Höchstens erwähnte man ihn, wenn über Viv eine Biografie herauskäme. Da stünde sein Name vielleicht im Kapitel „Sportlicher Anfang“. Doch möglicherweise nannte man auch nur Vivs ersten Verein.

Jonathan fuhr nach Hause, schleuderte die Sporttasche gegen die Waschmaschine und wählte Ollis Nummer.

„Sechzig Prozent“, hatte er gesagt.

 

Am anderen Ender der Leitung schnäuzte sich Viv geräuschvoll die Nase.

„Der neue Trainer ist ein Arsch“, sagte sie. „Er meint, ich trainiere zu wenig. Aber ich kann vor Rückenschmerzen schon gar nicht mehr schlafen.“„Darüber musst du mit deinen Eltern sprechen“, sagt Jonathan. „Ich kann nur sagen, dass ich weiterhin zur Verfügung stehe.“„Mama würde dich nicht wieder engagieren. Das wäre für sie, wie einen Fehler zuzugeben.“

Jonathan sah auf die Uhr. Zehn. Noch neun Stunden bis sieben Uhr, und er musste noch Musik heraussuchen.

„Versuch zu schlafen“, sagte er. „Roll eine Decke zusammen und leg sie dir unter die Knie, das entlastet den Rücken.“

 

3

Christiane Mühlheim, Paulas Mutter

Sie hätten ihre Kleine nicht rausschmeißen sollen. Bernhard sagte, Christiane solle Paula nicht mehr „Kleine“ nennen, weil sie schon dreiundzwanzig war, doch für Christiane würde Paula immer ihr Baby bleiben.

Christiane hatte frei, wäre aber lieber im Büro gewesen, wo es Ablenkung gab. Stattdessen schlich sie durch die Wohnung und fragte sich, was ihre Tochter trieb. Seit Paula weg war, hatte sie erst zweimal angerufen und gesagt, es würde ihr gut gehen und Christiane brauche sich keine Sorgen zu machen.

---ENDE DER LESEPROBE---