Schweigende Augen - Franz Lenz - E-Book

Schweigende Augen E-Book

Franz Lenz

4,8

Beschreibung

In frühen Jahren verliert Christine Duval bei einer Feuersbrunst ihr Augenlicht. Doch statt sich dem Schicksal ewiger Dunkelheit hinzugeben, gibt sie sich nicht auf, studiert in Paris Musik und wird trotz ihres Handicaps eine erfolgreiche Cellospielerin. Allein in der Liebe hat die starke Frau kein Glück – bis sie eines Tages auf den reichen Kapitalmanager Thomas König trifft. Sie verliebt sich leidenschaftlich in ihn. Sie heiraten und bekommen die kleine Lara. Eines Tages trifft sie der böse Fluch, der über ihr zu schweben scheint, erneut und beendet ihre romantische Liebe jäh. Der Freund Francisco, der Christine seit langem heimlich liebt, richtet sie wieder auf. Kaum öffnet sie ihm ihr Herz, tut sich jedoch ein Abgrund vor ihr auf, mit dem sie niemals gerechnet hat.

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In frühen Jahren verliert Christine Duval bei einer Feuersbrunst ihr Augenlicht. Doch statt sich dem Schicksal ewiger Dunkelheit hinzugeben, gibt sie sich nicht auf, studiert in Paris Musik und wird trotz ihres Handicaps eine erfolgreiche Cellospielerin.

Allein in der Liebe hat die starke Frau kein Glück – bis sie eines Tages auf den reichen Kapitalmanager Thomas König trifft. Sie verliebt sich leidenschaftlich in ihn. Sie heiraten und bekommen die kleine Lara. Eines Tages trifft sie der böse Fluch, der über ihr zu schweben scheint, erneut und beendet ihre romantische Liebe jäh.

Der Freund Francisco, der Christine seit langem heimlich liebt, richtet sie wieder auf. Kaum öffnet sie ihm ihr Herz, tut sich jedoch ein Abgrund vor ihr auf, mit dem sie niemals gerechnet hat.

Franz Lenz wurde 1953 als erstes von fünf Kindern geboren und trug schon in jungen Jahren Verantwortung, was ihn früh prägte. Als späterer Rechtsanwalt vertrat er mit besonderem Engagement die Scheidungsangelegenheiten von Frauen.

Mitte fünfzig begann er damit, sich seiner weiteren Leidenschaft zu widmen – dem Schreiben. Mit großer Hingabe verfasst er heute ebenso spannende wie äußerst gefühlvolle Romane, in denen seine Hauptfiguren empfindsame und zugleich starke Frauen sind, die ihrem tragischen Schicksal trotzen und am Ende die große Liebe erleben dürfen („Die verlorene Frau - Eine schicksalhafte Liebe“ sowie „Schweigende Augen - Eine geheimnisvolle Liebe“).

Als glücklich verheirateter Mann schreibt er zudem hoch emotionale Gedichte, Sinnsprüche und Kurzgeschichten über das, was uns alle am meisten bewegt – über die Liebe („1000 bunte Schmetterlinge – Liebesgedichte und mehr“; drei Bände).

Die Fertigstellung seines nächsten Romans erwartet er zum Weihnachtsfest 2016.

Mehr Informationen über ihn sowie die Inhalte und Hintergründe seiner Romane finden Sie unter:

www.franzlenz-romane.de

All seine Werke widmet er seiner geliebten Frau Brigitte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Die Frau am Fenster

Tun Sie es Bitte Nicht!

„Die Versuchung

„Die Liebe

Hoffnung

„Verzweiflung

„Die Liebe

„Die Rettung

Einige Jahre später

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Letztes Kapitel

Kapitel 1

Erschrocken riss sie die Augenlider hoch. Um sie herum war Dunkelheit. Ihr Herzschlag hämmerte gegen die Brust. „Guten Morgen!“ Sie begriff nicht. Erneut drang eine Männerstimme in ihr Gehirn. „Heute ist Donnerstag, der dreißigste Juli.“ Noch immer verstand sie nicht, weil ihre Gedanken an dem Traum von eben hafteten; an jenem wundervollen Traum, in dem ihr Thomas sie soeben verführen wollte. „Ach Tom …“ – ganz lang zog sie seinen Namen, gleich einem wehmütigen Sehnen. „Es ist sieben Uhr.“ Jetzt erkannte sie die Stimme. Die, die sie nicht mochte, weil sie so rau war. Ganz anders als jene, die sie so sehr geliebt hatte. Damals, als sie noch ganz anders geweckt wurde. Sanft und einfühlsam. Von ihm. Tom. So viele Jahre hatten ihre Lippen diesen Namen geformt – zärtlich, sehnsüchtig und stets dankbar dafür, dass sie diesen Mann lieben durfte. „Sie hören Nachrichten.“ Ärgerlich zerrte sie mit einer heftigen Bewegung ihr Kissen unter dem Kopf hervor und presste es gegen ihre Ohren. Auch wenn sie dadurch nichts hören konnte, kannte sie diese Worte im Prinzip genau. Ihre flache Hand schlug hart auf dem Bettlaken auf. „Warum muss ich mich von dem da wach machen lassen? Warum nur darfst du das nicht mehr tun, Tom?“ Bitter klang ihre Stimme dabei. „Immer werde ich allein gelassen, von allen, seit ich Kind war.“

Vor ihrem inneren Auge tauchte ihre Mutter auf. ´Fräulein Duval, aufstehen! Zack, zack! Es ist fünf Uhr dreißig. Hör auf zu schlafen! Ich und Vater müssen gleich weg. Das weißt du doch, du ungezogene Göre`. Mit einem Ruck schleuderte sie ihr Kissen auf den Boden. Ach Mutter …! Nie hattest du Zeit für mich.

War ich dir so wenig wert, dass du mich von einem Kindermädchen hast aufziehen lassen? Wozu habt ihr mich überhaupt gemacht? Erschrocken über die Heftigkeit ihres Vorwurfs legte sie ihren Zeigefinger über die Lippen. Doch im selben Augenblick brauste sie auf: „Ach was! Ist doch so!“

Ein anderes Gesicht erschien vor ihr. ´Guten Tag, mein Kind. Hast du fleißig geübt?` ´Natürlich, Frau Schönbaum`. Ja, dachte sie, hätte ich mein Cello nicht so geliebt, wäre meine Kindheit absolut freudlos geblieben. Sie lächelte, während sie ihren Erinnerungen folgte. Ich hab sogar mit dir gesprochen, während du mir die schönsten Töne schenktest. Und später hast du mich in die großen Konzertsäle begleitet. Sie hob ihren Kopf leicht und richtete ihn nach vorn – dort hinten in der Ecke des anderen Zimmers, wo es stand. „Ich komme gleich zu dir; dann spielen wir wieder.“

Sie schlug das leichte Leinentuch zur Seite. Nur damit bedeckte sie in diesen heißen Sommernächten ihren nackten Körper. Dennoch hatte sie wieder nicht durchgeschlafen. Und immer wieder geträumt. Von ihm. Wie jede Nacht. Sollte das denn nie aufhören? „Tom, komm entweder zu mir zurück oder lass mich endlich in Ruhe. Sonst werde ich noch verrückt vor Schmerz und Sehnsucht“ - es war nur ein hoffnungsloses Murmeln, denn eines wusste sie: Er würde nie mehr nach Hause kommen.

Sie atmete schwer. Es war stickig in dem winzigen Schlafzimmer. „Luft – ich brauche frische Luft!“, stöhnte sie laut. Mit Schwung rollte sie sich von der durchgelegenen Matratze auf die Füße und erhob sich. Einen einzigen Schritt weiter und sie stand am Fenster. Mit beiden Händen zog sie am Rollladengurt, bis das schwere Holz oben anschlug. Dann suchte ihre Rechte den gusseisernen Fenstergriff. Komm bloß nicht an die Scheibengardine, ermahnte sie sich wortlos. Zu viel Mühe hätte es ihr bereitet, wäre sie herunter gefallen. Das passierte so leicht. Sie wusste warum. Das dumme Ding hing an einer dünnen Metallstange, die an ihren Enden nur auf den scharfkantigen Spitzen zweier winziger Häkchen ruhte. Passte sie beim Fensteröffnen nicht auf, sauste alles nach unten. Bis sie das wieder mit ihren tastenden Händen auf die klitzekleinen Haken geklemmt hatte – oh je! Oft genug hatte sie sich dabei die Fingerspitzen verletzt und gleich darauf die warmen Blutstropfen abgeleckt.

„Au - verdammt! Jedes Mal dasselbe“, fluchte sie. Dieser blöde Griff. Klemmt wieder. An einer Seite abgebrochen. Die scharfe Kante bohrte sich in ihren Handballen. Dennoch schloss sie ihre Finger noch fester um den Knauf und drehte ihn mit aller Kraft. Gleichzeitig presste sie ihre Linke gegen den Mittelsteg des Fensterrahmens; nur so konnte sie Druck von der Riegelstange nehmen; die ging unten und oben in eine Öse und hielt das alte Fenster einigermaßen geschlossen. Dicht war es sowieso nicht. Im Winter zog es so sehr, dass die eisige Luft über ihr Bett strich und sie morgens eine kalte Nase hatte; sie schüttelte sich, während sie daran dachte. Ihre tastenden Finger hatten nach dem Einzug in die winzige Altbauwohnung lange gebraucht, um die Mechanik dieses widerspenstigen Riegels zu begreifen. So etwas Altertümliches war sie nicht gewohnt. Doch zu mehr hatte ihr bisschen Geld nicht gereicht. Nochmals drückte sie fest gegen den Rahmen. Endlich gab der Griff nach; der Fensterflügel öffnete sich. „Na also – geht doch!“, schimpfte sie, freute sich aber darüber, das kleine Drecksding wieder besiegt zu haben. Kühle Luft strömte an ihrem unbedeckten Körper vorbei ins Zimmer hinein. Sie atmete tief durch.

Die Stunden zwischen sieben und neun musste sie im Sommer nutzen; die Luft in ihren vier Wänden war morgens stickig und verbraucht. Nur deshalb ließ sie sich so früh wecken. Von dieser unnachgiebig aufdringlichen Stimme. Sie zuckte mit den Achseln. Ist eben so! Nachts das Fenster offen lassen? Unmöglich! Bei dem Straßenlärm. Und bei ihrem sensiblen Gehör. Um Schlaf zu finden brauchte sie absolute Ruhe. Absolute – sie lachte bitter. Die gab es an einer Hauptstraße nicht. Ohne die Ohrstopfen ging gar nichts, sonst läge sie stundenlang wach. Die hielten aber nicht und lagen am Morgen neben ihrem Kopf. Na, zum Einschlafen reichte es. Wie gut sie doch als Kind hatte schlafen können! Trotz Straßenlärms.

Aber nach dem schrecklichen Feuer hatten ihre Ohren gelernt, mehr zu leisten als die von Menschen mit gesundem Augenlicht. Was für sie äußerst wichtig war – aber eben auch den Nachteil hatte, dass ihr nicht einmal das winzigste Geräusch verborgen blieb. Ein Schauer lief ihr über den Rücken; die Erinnerung an jene Nacht hatte sich für alle Zeiten in ihr Gehirn eingebrannt – noch mehr als die schweren Brandwunden.

Sie spürte, wie ihr Selbstmitleid sie schon wieder zu umklammern versuchte. Sie müssen dagegen ankämpfen, hatte ihr die Psychotherapeutin eingebläut. Dass sie damit Recht hatte, wusste sie; es zu schaffen, war jedoch nicht so einfach wie es aus deren Mund klang. „Hör auf zu jammern!“, herrschte Christine sich rasch an. „Kümmere dich lieber um´s Frühstück!“ Ihre rege Fantasie schien ihr dabei weiszumachen, sie rieche schon den Kaffeeduft in der Küchenecke. Doch es war nur diese besondere Morgenluft, die sie mit einem tiefen Zug durch die Nase einatmete. „Hm!“ Noch roch die Luft angenehm aromatisch. Kam von den großen Kastanienbäumen vor dem Haus.

Sie seufzte. Die Bäume im elterlichen Park hatten auch so gut geduftet. Wie schön sie dort spielen konnte! An den Wochenenden, wenn Frau Schönbaum nicht kam. Und falls es nicht regnete. In Paris regnete es aber oft. Das war Mutter jedoch einerlei. Kind, geh an die frische Luft, hieß es nur stets, wenn sie und Vater erst gegen Mitternacht wieder nach Hause kommen wollten. Nie waren sie da. Nur Emilia; selbst wenn sie sonntags frei hatte, weil sie nicht verstehen konnte, wie Eltern zu so etwas fähig waren. Ihre Tochter ist doch noch so jung, Madame, hatte sie einmal aufbegehrt. Nur ein einziges Mal. Sonst wäre sie gekündigt worden, und es hätte ein neues Kindermädchen gegeben. Mutter konnte sehr böse sein.

Ja, ihr Park war sehr schön. Hier jedoch gab es nur einen betonierten, kleinen Hinterhof, in dem die Mülltonnen standen. Zum Spielen musste Anne, das Nachbarmädchen, drei Straßen weiter zum Spielplatz gehen. Manchmal lief sie mit ihr dort hin. Dann setzte sie sich auf eine Bank, hörte das unbändige Geschrei der Kinder sowie das monotone Quietschen der Schaukeln und versank regelmäßig in dem, was ihr Gedächtnis für sie aufbewahrte. Sie trainierte ihr Erinnerungsvermögen regelrecht. Bloß nichts vergessen!

Davor hatte sie eine Heidenangst. Sie konnte ja niemand mehr fragen. Zum Beispiel danach, wie Vater ausschaute, als er noch lebte. Hätte es da nicht das Gemälde des Konsulatsbeamten Duval mit dem wertvoll vergoldeten Rahmen gegeben, wäre ihr sein unnahbarer Gesichtsausdruck schon verloren gegangen. Doch nun gab es Tom nicht mehr - ihn, der ihr sonntags regelmäßig jenes Bild beschreiben musste. Niemand war mehr da. Letztens hatte sie es einem Antiquitätenhändler verkauft; das Geld brauchte sie bitter nötig. Rasch verwarf sie den Gedanken daran. Bloß kein Selbstmitleid, Christine! Wieder klangen jene Worte in ihren Ohren, mit denen sie während der langen Jahre der Therapie traktiert wurde.

Noch einmal atmete sie tief durch und sog den wunderbaren Duft ein, der ins Zimmer strömte. Ein Schmunzeln breitete sich um ihre Mundwinkel aus. ´Guck mal, Tante König`, hatte Anne letzten Herbst eines Abends durch den Hausflur gerufen, während sie die hölzerne Treppe hinauf rannte; ´ich hab ein Kastanienmännchen gebastelt; schenk ich dir`. Mit ihren Fingerspitzen hatte sie alles ertastet; den Kopf, den Bauch, die Arme und Beine, die mit Streichhölzern mit einander verbunden waren; und dann Anne übers Haar gestrichen. ´Das sieht ja ganz toll aus`, hatte sie zu ihr gesagt. Anne hatte nichts geantwortet, sondern ihr nur sanft über die Hand gestreichelt. War ja auch eine dumme Bemerkung!

Ein tiefer Seufzer verließ ihre Brust. Sie wurde traurig. Anne erinnerte sie an ihre eigene Tochter. Ach Lara, meine Süße. Im nächsten Monat würdest du sechs; und in drei Jahren schon so alt, wie Anne heute ist. Am fünften. Verbittert fuhr sie sich mit dem Handrücken über ihre Wangen und rieb sich das salzige Nass weg, das aus ihren Augenhöhlen lief. Ob du jetzt da oben neben deinem Papa sitzt und auf deine Mama hinunter schaust? Sie schüttelte sich, als wollte sie den Schmerz loswerden, der sich bei diesen Gedanken erneut ihrer bemächtigte.

„Los, geh endlich und mach das andere Fenster auf!, brummelte sie. „Sonst kriegst du keine frische Luft ins Wohnzimmer.“ Im selben Moment zuckte sie zusammen. Sofort presste sie mit aller Kraft ihre Handflächen auf die Ohrmuscheln. Wie weh das tat - dieses grässliche Quietschen bremsender Metallräder. Sie hätte es wissen müssen – pünktlich um elf nach sieben sauste die Straßenbahn auf die Haltestelle unter ihr zu. Von links kam sie angerast, um, wie es ihr vorkam, erst in letzter Sekunde mit aller Gewalt abgebremst zu werden. Schrecklich, dieser Krach! Sie wendete sich vom Fenster ab. In fünf Sekunden würde es vorüber sein. Dann musste sie endlich frische Luft ins Wohnzimmer lassen. Sie zählte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig … Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Genau so zügig, wie sie es während des Piepsens an der Ampel tat, wenn sie die Straße dort unten überquerte. Endlich stand die Bahn. „Das Gequietsche hättest du dir ersparen können“, rügte sie sich. Morgen musste sie besser aufpassen und sich rechtzeitig die Ohren zuhalten! Und sich nicht vorher ablenken lassen. Doch Lara lebte noch immer in ihren Gedanken; jeden einzelnen Tag. Und ihr Papa auch. Natürlich! Sie liebte beide – und das würde sich nie ändern.

Viel zu oft schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Heute war es wieder wie an so vielen Tagen; ihr Denken kannte keine Pause. Ihr Kopf sprang hin und her, von einem Gedanken zum anderen, ohne Punkt und Komma. Regelmäßig trieb sie ihre Unrast dazu, Selbstgespräche zu führen. Dann war sie in dem Wirrwarr ihrer Erinnerungen gefangen und sprach mit den Gestalten in ihrem Kopf, ohne ihnen entrinnen zu können.

Ein sarkastisches Lachen entfuhr ihr; wenigstens redete dann jemand mit ihr – wenn auch nur in ihrer Fantasie. Mit wem sonst hätte sie es tun können?! Es war ja keiner mehr da. Das Schweigen um sie herum war für sie das Schlimmste von allem. Wie sehr fehlten ihr die täglichen Gespräche mit Tom. Und mit ihrer kleinen Lara. Ihre Finger verkrampften sich zu einer Faust. Nicht einmal die Freunde sind geblieben, dachte sie verbittert. Klaus und Maria; Erich und Isolde. Selbst Claudine und Pierre aus ihrer Pariser Zeit besuchten sie schon lange nicht mehr. Wie schnell hatten die nach Toms Unfall plötzlich keine Zeit mehr. Für die Trauernde. Und für die, die man ja sowieso nicht überall hin mitnehmen konnte. Freunde. Pah! Nur einer war ihr geblieben. Francisco. Wie sehr freute sie sich auf Samstag!

Mit auf Hüfthöhe vor sich gehaltener, rechter Hand steuerte sie an dem alten Schrank mit den schwergängigen Türen vorbei hinüber ins andere Zimmer, stieß wohl das hundertste Mal mit dem nackten Fuß an das Bein des einen der beiden Holzstühle vor dem Tisch in der Ecke und öffnete das Fenster. Rasch legten sich ihre Hände mit den grazilen, langen Fingern über ihren Oberkörper. Wer weiß, dachte sie, wer dort unten steht und hoch schaut. Obwohl, was hätte er schon gesehen?! Bloß ihre kleinen Brüste; die würden ganz sicher keinen Mann reizen. Ihr jedenfalls gefiel nicht, was sie vor dem Spiegel ihrer inneren Vorstellung sah, wenn sie ihre Fingerspitzen über die flachen Rundungen gleiten ließ. Gerne hätte sie größere gehabt; und solche, die nicht die kleinen Narben trugen, die ihre Haut nach dem Feuer so furchtbar verunstaltet hatten. Wie hässlich sie sich als Frau vorkam!

Bitter erinnerte sie sich daran, wie sie das erste Mal mit Ramon schlief – und schrecklich enttäuscht darüber war, dass er sie dort nicht ein einziges Mal küsste. Das hatte sie tief getroffen – jedes Mal wieder. „Fahr zur Hölle, Ramon!“ Thomas war da anders. Du bist wunderschön, Christine, sagte er stets, wenn sie in ihrem großen Schlafzimmer der tollen Jugendstilwohnung vor der verspiegelten Wand stand und ihre roten Dessous anzog. Er war stets liebevoll zu ihr – und so romantisch. Sie legte einen Zeigefinger über ihre Lippen; wie hieß dieses traumhafte Gedicht nur noch, das er ihr zu Laras Geburt geschrieben hatte. Die Fingerkuppe tippte nervös auf und ab. Ach ja!

`Guten Morgen, du Schöne!´ Tom konnte wunderschön schreiben. So unendlich sensibel. Seine Worte glichen Bildern und formten seine Gefühle in Sprache. So, wie Noten die Klänge herrlicher Musikstücke gestalteten, dachte sie.

Ärger zog in ihr auf, wie ein urplötzlich auftauchendes Gewitter. Ramon. Wie konnte sie überhaupt noch an ihn denken – diesen Schuft. Ich habe dich geliebt. Und du? Hast meine Gefühle mit Füssen getreten. Schwein! Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Ganz Paris wusste es; nur ich nicht; und lachte über mich. Wie konntest du mich nur so betrügen. Auch noch mit dieser Schlampe! Warum nur? Was hatte die mehr als ich? Unwillkürlich strich ihre Handfläche über ihre Brüste.

Ein Geräusch drang an ihr Ohr; piep, piep, piep. Sie kannte es. Es war das Signal, welches ihr half, ohne Angst die Straße zu überqueren, um zum gegenüber liegenden Laden zu gelangen. Mit verschränkten Armen beugte sie sich weit über das hölzerne Fensterbrett hinaus und reckte ihren Kopf nach links. Das Piepsen der Ampelanlage würde gleich aufhören; es dauerte exakt 29 Sekunden. Das gab ihr regelmäßig Zeit für die 24 Schritte, die sie brauchte um hinüber zu kommen; hinüber zum sicheren Straßenrand. Dann blieben ihr sogar noch neun Sekunden.

Manchmal hatte sie die bitter nötig. Wie letzte Woche wieder. Sie schnaubte verärgert. Dieser Tölpel! Rempelt mich einfach an und tritt gegen meinen Taststock. Hat mich total aus dem Gleichgewicht gebracht. Fast hätte ich es vor den anfahrenden Autos nicht mehr rechtzeitig geschafft. Und motzt mich dann auch noch an, ich soll gefälligst aufpassen, wohin ich laufe. In derartigen Momenten wünschte sie solchen Menschen ihr eigenes Schicksal an den Hals. Nur, damit sie mal spüren, wie es ist, blind zu sein. Fast war sie versucht, sich erneut zu bedauern; doch sofort fing sie sich. „Ach was soll´s. Es ist so, wie es ist.“ Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück.

Und dennoch. Mit ihrem Handicap – so nannte sie es ironisch, wenn man sie darauf ansprach – würde sie wohl nie ganz klar kommen. Neulich geriet sie beinahe unter ein Auto. Wie konnte sie aber auch nur so unvorsichtig sein, schimpfte sie mit sich. „Mon Dieu, war das knapp!“ Es schauderte sie noch immer bei der Erinnerung daran; ihre Rechte fuhr dabei nach oben zu ihrem Kopf, der Zeigefinger schabte für die Dauer eines Wimpernschlags über ihre Schläfe und zupfte zuletzt mit Hilfe des Daumens für einen kurzen Moment ihr Ohrläppchen. Das passierte immer, wenn sie angespannt war. Es war sonntags früh um acht; sie hatte geglaubt, wegen des um diese Zeit geringeren Verkehrs abkürzen zu können. Statt den Zebrastreifen mit der piepsenden Ampel zu nehmen, ging sie weiter unten über die Straße. Als sie das Hupen hörte, war es schon zu spät. Zum Glück traf sie die Stoßstange nur an der Wade, sonst wäre sie gestürzt und …. Nicht auszudenken! Nein, so etwas Dummes würde sie nie mehr tun.

An Toms Hand wäre das für sie kein Problem gewesen. Oft genug hatten sie weite Spaziergänge gemacht. Sogar bis zum Cafe Liebfrauenberg, wenn sie die Lust auf ein Stück dieses leckeren Apfelkuchens mit Sahne packte. Später – als das Baby unterwegs war, verlangte ihr Körper sogar zwei Stück. ´Unser Kleines da drin hat doch auch Hunger`, hatte sie sich lachend rechtfertigt. Wie großartig Tom doch war. So weite Strecken; trotz seiner Strapazen in der Bostoner Klinik; die hatte er damals noch lange nicht überwunden. Er war so tapfer - und hatte am Ende gesiegt. Die Ärzte dort waren von Anfang an zuversichtlich, ihn mit der neu zugelassenen Therapie heilen zu können. Wie dankbar sie für diese zweite Lebensrettung war! Bei der ersten hatte sie selbst um Toms Leben gekämpft; damals auf dem Schiff, als sie sich gerade kennen gelernt hatten. Fast wäre sie zu spät gekommen und hätte ihn verloren. Sie merkte es – schon wieder fuhren ihre Gedanken auf der Reise in die Vergangenheit Karussell mit ihr. Wollte sie sich nicht einen Kaffee machen?

Ja, diese Ärzte haben dich geheilt, Liebster. Auch wenn das ein Vermögen kostete; deshalb bist du extra noch in die Schweiz gefahren, um Geld zu besorgen. Allerdings ohne mich. Wie immer, wenn du dort warst. Kapier ich bis heute nicht. ´Bankgeschäfte sind doch langweilig`, meintest du stets mit einer Bestimmtheit, die ich von dir normalerweise nicht kannte. In ihrem Kopf tauchte seine Stimme auf: ´Nein, Chris, du bleibst hier, verstanden! Ich bin in zwei Tagen wieder da. Ach, und wenn jemand nach mir fragt, sag einfach, ich wäre zu einer fachärztlichen Untersuchung in München. Nur nicht die Schweiz erwähnen. Weißt ja – heutzutage kommt man als Banker so leicht in Verruf, wenn man dort ist`.

Bei dieser Erinnerung an ihn drehte sich ihr Kopf in Richtung der Wohnzimmerwand, wo sie neben dem Schrank das Foto von ihm aus Boston wusste; das, was früher über ihrem Biedermeier-Sekretär hing, im Balkonzimmer ihrer tollen Wohnung. Auch das hatte Tom ihr jeden Sonntag beim Frühstück beschreiben müssen, um zu wissen, wie er darauf aussah – mit seinem glücklichen Lächeln nach seiner Genesung. Gesehen hatte sie ihn ja nie. Seine Worte bei der Begrüßung am Flughafen aber hatte sie nie vergessen; damals, als er als geheilt entlassen zurückkam. ´Christine, mein Herz, mein Alles, ich danke dir Tag für Tag von ganzem Herzen dafür, dass du zu mir gehalten hast. Erst damals auf dem Schiff – und auch jetzt wieder. Du halfst mir mit der Kraft deiner Liebe aus dem finsteren Tal meiner Hoffnungslosigkeit und rettetest mein Leben`.

Ja, dachte sie, Tom redete oft ein wenig geschwollen. Das kam sicher davon, dass er schon sein Leben lang schrieb; Gedichte, Kurzgeschichten und sogar Romane. Sie genoss es, wenn er ihr aus dem vorlas, der von ihnen beiden handelte. Seinen Worten lauschend glaubte sie dann fast, ein zweites Mal mit ihm auf dem Schiff zu sein. Damals, als sie sich unsterblich in ihn verliebte. Und ihm das Leben rettete. „Du dummer Kerl!“ Wegen dieses verfluchten Krebses in deinem Gehirn wolltest du dir tatsächlich das Leben nehmen, dachte sie kopfschüttelnd weiter. Ein Schauer lief ihr über den nackten Rücken. Alles umsonst! Am Ende hat dich der Tod doch gekriegt. Und unser Kind auch. Ihre Hand presste sich auf ihren Mund, um den Klageschrei ihres Kummers zu ersticken. Die Tränen allerdings, die aus ihren ausdruckslosen Augen hervor schossen, vermochte sie nicht zu unterdrücken. Ihr innerer Blick richtete sich nach oben. „Warum nur liebt mich der Himmel nicht?“ Das Beben ihrer Lippen begleitete ihre verbitterten Worte.

Heftiges Hupen lenkte sie von ihrer Verzweiflung ab. Ihr Kopf bewegte sich in die Richtung des Fensters. Schon drang ein scharfes Schleifen an ihr Ohr – wie das Reiben von Metall auf Metall. Gleich darauf folgte ein dumpfer Schlag. Sie ahnte was passiert war – und musste nicht lange auf das warten, was gleich geschehen würde. „Kannst du nicht aufpassen, du Depp!“ „Du selber nix aufpasse, Idiot!“ Die übliche Schreierei. An der Kreuzung dort unten knallte es andauernd. Bald würden Sirenen von weitem zu hören sein; so schrill, dass sie sich ihre armen Ohren würde zuhalten müssen. Manchmal waren es sogar zwei verschiedene Signale. Vom Polizeiauto und vom Krankenwagen, vermutete sie. So wie damals, als Mutter im Notarztwagen weggebracht wurde. Nach ihrem schweren Unfall. Plötzlich stand sie allein auf der großen Straße. ´Kindchen`, hatte der Polizist gerufen, ´sollen wir dich heimfahren. Du zitterst ja am ganzen Leib; hast alles mit ansehen müssen, du Arme`.

„Von wegen müssen“, stöhnte sie, während zwei Finger nach oben wanderten und gleich darauf das Ohrläppchen drückten. Nicht müssen - dürfen! Wie gerne erinnerte sie sich an alles, was sie noch mit lebendigen Augen hatte sehen dürfen. Vor dem schrecklichen Feuer. Im Kinderzimmer. „Seitdem“, haderte sie mürrisch, „glotzt ihr nur noch schweigend aus euren sicher hässlichen Augenhöhlen und erzählt mir nichts mehr.“ Sie stampfte mit einem Fuß auf; wie sehr ihr diese Dunkelheit um sie herum wehtat! „Schluss mit dem ewigen Jammern! Jetzt gibt´s Kaffee“, rief sie sich erneut zur Räson. Die erste Tasse am Tag war für sie die Wichtigste; ansonsten würde sie ihr schwacher Kreislauf rasch in die Knie zwingen. Sie hatte einfach zu wenig Bewegung!

Zwei Schritte nach links, bis die Hand das Cello in der Ecke neben dem Fenster berührte; dann sechseinhalb Schritte, wieder nach links, immer mit vorgestreckter Hand. Mit der Rechten den Wasserkocher nehmen, mit der anderen Hand den Wasserhahn aufdrehen; nicht so stark, sonst spritzte es und sie würde nass, sollte der Wasserstrahl nicht exakt das Einfüllloch des kleinen Kessels treffen; doch er traf – schließlich hatte sie Übung darin. Die Veränderung des Klangs des Einlaufgeräuschs signalisierte ihr, wann genug Wasser eingelaufen war. Den Hahn zudrehen. Mit der flachen Hand die Herdplatte ertasten; das Gefäß draufstellen und – einmal Klack, zweimal Klack, dreimal Klack – den Drehknopf bewegen. In der Ecke stand das Glas mit dem Kaffeepulver. Exakt dort; immer; einen anderen Platz für ihn durfte es nicht geben! Alles in der Wohnung hatte seinen Platz. Deckel aufdrehen; Kaffeelöffel aus der Schublade; den Pulverkaffee mit der Linken schräg halten; mit der freien Hand einen Löffel Pulver herausnehmen; die Henkeltasse heranziehen; Kaffee einfüllen; fertig. Schon ertönte das schrille Pffff! Kochend heißer Dampf blies ihr durch die aufgesetzte Pfeife entgegen. Sie schreckte zurück. Hitze. Davor hatte sie Angst – noch immer. Mit lang gestreckten Armen füllte sie die Tasse. Hm! Der erste Schluck war stets der Beste – auch wenn sie sich dabei vor lauter Gier jedes Mal die Lippen verbrannte.

Sie ging zurück zum Wohnzimmerfenster. Wohnzimmer, schnaubte sie innerlich. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Sideboard, eine Kommode – das Wenige war ihr geblieben. Tatütata, tatütata. Aha, da fuhr sie heran, die Polizei. Endlich! Hoffentlich würde sie dafür sorgen, dass dieses idiotische Gehupe aufhörte. Ihr Ungeduldigen! Damit geht´s auch nicht schneller weiter. Und mir raubt ihr den letzten Nerv! „Ruhe da unten!“ schrie sie durchs offene Fenster. Dieser sinnlose Krach war eine Tortur für ihr feines Gehör. Das musste so viel leisten; nicht nur bloß hören, sondern damit gleichzeitig das sehen, was ihr die Augen verschwiegen.

„Ruhe!“ Nochmals ließ sie ihrem Ärger freien Lauf. Dem auf die dort unten. Und auf Mutter. Eigentlich auf ihr gesamtes, erbärmliches Leben. Nichts als Elend hast du mir gebracht, tobte es in ihr. Hätte ich doch nur nie diesen sechsten Geburtstag gehabt. „Alleine gelassen habt ihr mich. Wenigstens an diesem Tag hättet ihr doch eure blöden Termine absagen können.“ Ihre Stimme klang traurig. Immer war alles andere wichtiger als ich. Nur Emilia war für mich da.

Obwohl …. Wieder bohrte sich jener böse Gedanke in ihren Kopf, der sie schon so oft verstört hatte. Ohne sie müsste ich wenigstens nicht blind durchs Leben gehen. Dann dürfte ich tot sein; tot, ohne hören zu müssen, was ich nicht sehen kann; tot, ohne ertasten zu müssen, was mir meine Augen nicht zeigen können. Sie griff sich ans Herz und die Finger krallten sich in ihren Busen. Die Tränen, die sie verließen, liefen ungehindert über ihre Wangen nach unten.

Die Geburtstagskerzen seien herunter gebrannt, der Vorhang hätte wohl zuerst Feuer gefangen, dann das ganze Zimmer, in dem sie schlief. ´Mon cher, isch abe dich pronto aus die Feuerhölle gezerrt`, hatte ihr Emilia in ihrem lustigen Sprachgemisch aus Deutsch, Italienisch und Französisch erklärt. „Ach, hättest du mich nur nicht …“, murmelte sie. Dann müsste ich mein Dasein nicht tagtäglich in ewiger Dunkelheit fristen. Wie so oft erinnerte sie sich auch jetzt wieder an jenen verhängnisvollen Abend, als sie müde die Augen schloss und – was ihr erst später bewusst wurde - dem Licht des Tages ein allerletztes Mal in ihrem Leben Gute Nacht sagte. Am nächsten Morgen war dieses Licht für immer verschwunden. Kein einziges Licht der zigtausend nachfolgenden Morgen begrüßte sie mehr. Ihre flachen Hände pressten sich auf ihre Ohrmuscheln - sie wollte das Schluchzen, welches ihren Körper zum Zittern brachte, nicht hören.

Christine ging zurück zur Küchenarbeitsplatte. Die endete linkerhand dort, wo der kleine Flur zu ihrem Bad führte. Das war so winzig, dass man sich kaum umdrehen konnte. Und wenn die Lampe über dem Spiegel anging, brummte der Lüfter schrecklich laut. Sie hätte das Licht ja auslassen können; Licht brauchte sie nun wirklich nicht - bei dem fensterlosen Raum den Lüfter allerdings umso mehr. Sie spürte Ärger in sich aufkommen und zog die Augenbrauen hoch. ´Den Spiegel können Sie gleich wieder abbauen`, hatte sie den Vermieter angeraunzt, als er darauf hinwies, der sei nagelneu. ´Was soll ich damit?`, hatte sie bitter gemeint. Er hatte nur verlegen gelacht, dieser Halsabschneider; er will schon wieder mehr Miete.

Nicht einmal eine richtige Küche hatte die Wohnung. Alles stand an der hinteren Wohnzimmerwand. Ihr Zweiplattenkocher, der kleine Kühlschrank, dessen lautes Rauschen ihr Sorgen machte; einen neuen kaufen – unmöglich! Wovon? Und die Spüle, die sie jeden Tag schrubbte, damit sich bloß keine Keime bildeten; genau wie die Fußböden; auf den Knien, damit sie besser ertasten konnte, wo Dreck lag. Gleich neben dem Gestell zum Abtropfen des gespülten Geschirrs war der Platz für den CD-Player mit Radio-Teil und das Regal mit den CDs. Sie griff danach – und merkte, wie sich ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete.

Den hatte ihr Francisco geschenkt; letzten Monat; zum Geburtstag. „Tempus fugit - ach, wie die Zeit doch rast. Schon zwei Jahre her, dass du mir diese …“; verächtlich betrachtete sie im Geiste den Begriff, bevor sie ihn aussprach: „… Wohnung besorgt hast“. Damals war sie völlig am Ende. Kein Geld mehr. Keine Kraft mehr. Keinen Lebenswillen mehr. Gar nichts mehr. An seiner Hand führte er sie hinein, ließ sie alles ertasten – die Türen, die Wände, die Fenster – und vernahm am Ende ihren erschütterten Aufschrei - ´Francisco, soll ich etwa hier wohnen?` Noch heute schämte sie sich für ihre Undankbarkeit. Mit ihrem wenigen Geld konnte er doch nichts Besseres bekommen! Sie runzelte die Stirn; wieder klopfte jener noch immer unfassbare Gedanke an die Türe ihrer Erinnerung. Warum nur war Toms Konto so gut wie leer, als er gestorben war? Er hatte doch stets für alles so viel Bargeld gehabt. Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

Francisco. Was hätte sie nur ohne ihn gemacht?! Dieser feine Mann. Aus gutem Hause; die Domínguez waren über einige Ecken mit dem Königshaus verwandt. Das hatte sie einmal aus ihm heraus gekitzelt. Von sich aus hätte er es nie preisgegeben. Viel zu bescheiden. Ein wunderbarer Mensch. Und ein toller Musiker. Erste Geige im Orchester. Dabei überhaupt nicht eingebildet. Wie sie es genoss, samstags mit ihm in ihrem kleinen Wohnzimmerchen zu spielen! Dennoch – was war das im Vergleich zu ihren früheren Erfolgen vor großem Publikum; und zu dem Ansehen, das sie als Solo-Cellistin genoss, weil sie alle Partien blind beherrschte. Heute, dachte sie bitter, bereute sie es schon, mit Laras Geburt den Beruf aufgegeben zu haben; doch damals wollte sie nur noch für ihr Kind da sein und ihm nicht das antun, was sie ihren eigenen Eltern nie wirklich verziehen hatte – von Fremden aufgezogen zu werden.

Schon wieder wanderte ihr Gedächtnis mit ihr weiter in die Vergangenheit; fast vergaß sie dabei ihren Kaffee. Toms Worte kamen ihr in den Sinn: ´Liebes, darf ich dir meinen Tennispartner Francisco vorstellen`. Als sie gleich darauf dessen Hand in der ihren spürte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Ein erschreckend wohliger. Welche Wärme sich von dieser Handfläche auf die ihrige übertrug! Sekundenlang. Sie nahm sogar mit ihren Fingerspitzen den Fluss des Blutes in seinen Pulsadern wahr. Und diese Stimme. Freundlich, unaufdringlich, fürsorglich – und dennoch von einer Bestimmtheit und Stärke, wie es von einem Mann noch nie an ihre Ohren gedrungen war. Nicht einmal von Tom. Angst hatte ihr das gemacht. Ihre Hand hatte sie ihm dann rasch entzogen. Dennoch erlaubte sie ihm, sie öfter zu besuchen. Heute war er ihr so etwas wie der beste Freund. Ihr plötzliches Herzklopfen zeigte ihr, dass diese Bezeichnung immer weniger der Wahrheit entsprach. Davon jedoch wollte sie nichts wissen.

Wenn er, schritt ihre Erinnerung mit ihr weiter, nicht gewesen wäre, hätte sie all das, was später geschah, niemals meistern können. Die schreckliche Nachricht: Wir müssen Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Ihr Mann und ihre Tochter …. Blitzschnell presste sie vor Schmerz ihre Hand über den Mund. Er war sofort gekommen, als er davon erfuhr. Auf dem langen Weg zu den beiden Gräbern führte er sie und hielt ihren zitternden Arm, als sie mit dem Schippchen die Erde auf Laras Sarg warf. „Ach, Francisco!“ Ihr Schluchzen kam aus der tiefsten Tiefe ihrer geschundenen Seele. Etwas jedoch tröstete sie. Morgen war Samstag; um drei würde es klingeln und sie würde für vier lange Stunden nicht einsam sein müssen. Dann wäre er bei ihr. Vielleicht könnte sie ihn, dachte sie hoffnungsvoll, wieder einmal dazu überreden ihr vorzulesen. Aus Toms Roman; den über die Zeit, als eine gewisse Christine Duval jenen Thomas König kennen lernte.

Christine tastete das CD-Regal ab, in dem sie ihre Musiksammlung aufbewahrte. Sämtliche Scheiben waren in einer ganz bestimmten Reihenfolge sortiert. Sie berührte von oben nach unten eine nach der anderen und zählte dabei mit; eins bis fünf war Schubert, sechs bis elf Händel; danach kamen zwei mit Werken von Scarlatti. Jetzt aber sollte ihr Beethoven dabei helfen, den durch den Verkehrsunfall dort unten verursachten Lärm zu übertönen; das schrille Piepsen sagte ihr, dass der Abschleppwagen rückwärtsfuhr. Bei achtzehn hielt sie an, zog seine `Neunte´ heraus und legte sie auf die Fingerkuppen der linken Hand. Mit rechts fuhr sie sachte über die Tasten des Geräts, drückte die vierte von links – und schon kam die kleine Lade heraus gefahren. Auflegen, Lade andrücken, damit sie wieder hinein fuhr, sowie den Lautstärkeregler rechts oben nach links in Richtung auf das für ihre sensiblen Fingerspitzen ohne Schwierigkeiten erkennbare Pluszeichen drehen, war eins. Das Entziffern der winzigen, erhabenen Punkte der Blindenschrift hatten ihr dazu ja hinreichende Erfahrung gebracht. Schon hörte sie das Rauschen der sich zunächst schnell drehenden Scheibe, bis der Laserstrahl den Beginn des Musikstücks erkannt hatte. Dann erfüllten die ersten Takte den Luftraum um sie.

Sie liebte Beethoven - bewunderte ihn sogar. Nicht allein seiner Werke wegen; andere Komponisten hatten ebenfalls Wunderbares geschaffen. Nein, besonders, weil er ein Blinder war, als er während seiner letzten Lebensjahre komponierte. Blind wie sie selbst, überlegte sie. Auch wenn es eine andere Blindheit war; die nämlich seines Gehörs. Welchen Unterschied gab es aber zwischen der absoluten Dunkelheit von Augen und der Taubheit von Ohren? Keinen! Beide Sinnesorgane schwiegen. Sie ahnte, wie er sich gefühlt haben musste, als er fast nichts mehr hörte. Eine Frage musste ihn schrecklich geplagt haben: Würde er weiter komponieren können? Ohne die Töne der Klaviertasten in seinen Ohren; Töne, die von all den Noten stammten, die er als kleine Punkte, Striche und Fähnchen auf das Notenpapier kritzelte. Ja! Er konnte weitere Kompositionen schaffen, weil er den Laut jeder Note in seinem Gehirn gespeichert hatte, auch wenn er den Klang der Instrumente nicht mehr richtig wahrnehmen konnte.

Sie erinnerte sich und lächelte dabei stolz. Fräulein Beethoven hatte ihr Musikprofessor sie manchmal genannt. An der Fakultät für Musik der Pariser Sorbonne; wenn sie ein neues Stück einzustudieren hatte. Hören Sie nur auf den Klang der Noten, die ich Ihnen auf dem Cello vorspiele. Sie sollte sich Laut um Laut einprägen und dann das nachspielen, was sie sich gemerkt hatte. ´Christine, ich verfolge Ihre außerordentliche Begabung nun schon über Jahre`, hatte er gesagt. ´Ganz fest bin ich davon überzeugt, dass sie sich im Beruf durchsetzen werden. Trotz Ihres – wie sagen Sie immer – Handicaps`. Während ihr Kopf sie dabei die Stimme ihres damaligen Professors hören ließ, schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Wie Recht er hatte! Ihre Auftritte während der unzähligen Konzertabende in Paris, London oder New York waren stets ausverkauft.

Kapitel 2

„Hallo Francisco, komm rein.“ Sie spürte seine Wangen - rechts, links, rechts. Und seine Hand in ihrer; genau wie beim allerersten Mal. Ihr Oberschenkel streifte seinen Geigenkasten, den er in der anderen Hand hielt. „Leg ihn auf´s Bett. Kaffee?“ „Claro! Hab uns doch Kuchen mitgebracht.“ „Oh, wie lieb von dir.“ Sie drehte sich um, ging hinüber zur Kaffeemaschine – und spürte dabei das Lächeln, das sich auf ihren Wangen ausbreitete; sie genoss es, von ihm verwöhnt zu werden. „Siehst heute wieder sehr hübsch aus, Chris!“ Ihr Lächeln verstärkte sich. „Danke!“ Nicht umsonst hatte sie das Sommerkleid angezogen; das mit dem tiefen Rückenausschnitt. „Setz dich schon mal. Ich bring den Kaffee. Welchen hast du gekauft?“ „Wie – welchen?“ „Kuchen.“ „Ach so. Keinen.“ Sie stutzte. „Wieso? Hast du nicht gesagt, du hättest …“ „Ja – aber nicht gekauft; selbst gebacken!“ Ihr Strahlen wurde noch breiter und ihr Herz begann gegen ihre Brust zu schlagen.

„Extra für mich?“ „Si, Senora! Ich würde gern viel öfter für dich …“ Er brach seinen Satz ab. Sie wusste warum. Ihn von seinen Gefühlen für sie sprechen zu hören wollte sie nicht. Einmal nur hatte er davon begonnen. Sofort hatte sie ihn unterbrochen. Obwohl sie sich so sehr wünschte, endlich wieder ein `Ich liebe dich´ zu hören, eine zärtliche Umarmung zu spüren, einen Kuss zu erwidern. Doch nein! Das ging nicht! Nicht von ihm. Nur von einem Einzigen; doch den gab es nicht mehr. Oh Tom, warum hast du mich verlassen?

„Was spielen wir heute?“, lenkte sie rasch ab. „Wie wär´s mit Ludwigs Violinromanze?“ „Oh ja! Den Part, den du dazu für mein Cello komponiert hast, muss ich wirklich noch üben; gerade ab Takt vierundzwanzig.“ „Ach was! Du machst das ganz toll; wir haben es ja erst zweimal gespielt.“ Nie lässt er mich spüren, wie weit besser er ist, dieses Genie. „Aber erst gibt´s gedeckten Apfelkuchen. Hast du Sahne?“ „Mein Lieblingskuchen!“ „Ich weiß!“ Wohlige Wärme durchströmte ihren Körper. Wie gut er sie kannte! „Ja, die musst aber du schlagen. Ich sehe nicht, wenn der Quirl alles verspritzt.“ Sie schwindelte ein wenig dabei, wusste sie doch, dass sie den Plastikdeckel hätte aufsetzen können. Aber sie liebte es, sich von ihm helfen zu lassen. „No problem, Signora Chris.“ Er lachte. Wie liebevoll das klang!

„Entschuldige, dass ich nur Pulverkaffee habe.“ Bohnenkaffee konnte sie sich nicht leisten. „Viel gesünder. Sind drei Löffel Zucker an die Sahne genug?“ „Ja. Die Äpfel sind ja sicher auch süß. Immer noch die aus dem Schrebergarten?“ „Es sind die letzten. Im Herbst gibt´s aber neue.“ „Schön. Wie war deine Woche im Orchester?“ „Wir studieren schon für Weihnachten die `Vier Jahreszeiten´ ein.“ „Wie, so früh?“ „Es ist eine neue Interpretation; ziemlich anspruchsvoll.“ „Von wem?“ „Na ja …“, druckste er herum, was sie stutzig machte. „Doch nicht etwa …?“ „Hm …; ja, von mir.“ „Toll!“ Sie war so stolz auf ihn.

„Und das konntest du bei ihm durchsetzen? Nach der Sache mit dieser Ziege. Wagner ist – verzeih den Ausdruck – aber auch ein Idiot; sich als Intendant von dieser blöden Kuh betören zu lassen.“ „Die wollte sich eben hoch schlafen, Chris. Weil sie bei mir nicht landen konnte, hat sie ihn rumgekriegt und mir als Rache auf diese miese Weise die Erste Geige streitig machen wollen. Hat´s aber nicht geschafft. Carlos hat zu mir gehalten; schließlich ist er der Dirigent.“ „Zum Glück!“

Als sie Platz genommen hatten, legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. Seine Anwesenheit machte sie so glücklich. Doch wieder spürte sie die beiden Herzen, die in ihrer Brust schlugen; für Tom und für ihn. Einen Moment lang ließ sie sich unbedacht gehen und gewährte dem einen den Vorrang vor dem anderen. „Du kannst gerne öfter für uns zwei backen, Francisco.“ Kaum begriff sie dieses `für uns zwei´, da zog sie schon ihre Hand zurück und ließ sie in ihren Schoß fallen. Lass das!, beschimpfte sie sich wortlos und wechselte sofort das Thema. „Wie steht es mit deiner Frau?“ Sie hasste Sofia, weil sie wusste, wie sehr er unter ihrer herrischen und lieblosen Art litt, und dass sie sich mit allen Mitteln gegen die Scheidung wehrte. Wie sehr sie ihm wünschte, endlich frei zu sein! Nur ihm? Wenigstens die Frage gestand sie sich zu; eine Antwort darauf jedoch sicher nicht! Nur Tom sollte in ihrem Herzen wohnen.

Sie hörte Franciscos Holzstuhl knarren; er hatte sich zurück gelehnt. Sie kannte den Grund; er sprach nicht gerne darüber. „Nicht gut, Christine.“ Das `Christine´ hörte sich dabei sehr hart an. So nannte er sie nur, wenn sie etwas tat, was ihn störte. Und von seinem wunden Punkt zu sprechen störte ihn sehr. Warum, wusste sie, seit sie ihn jenes eine Mal daran hinderte, weiter seine Empfindungen für sie zu offenbaren. ´Wie kannst du als Ehemann nur annehmen`, hatte sie ihm vorgeworfen, ´dass aus unserer Freundschaft mehr werden kann, Francisco?!` Ihre tiefe Liebe zu ihrem verstorbenen Tom musste sie dabei gar nicht erwähnen, denn Francisco zog sich augenblicklich in sein Schneckenhaus zurück und brauchte lange, bis er sie wieder besuchte. Wie sehr musste sie ihm damals vor den Kopf gestoßen haben! Ob sie heute auch noch so hart reden würde? Sie war sich nicht sicher. Während der letzten Zeit hatte jener Widerstreit in ihr deutlich zugenommen. Mehr und mehr fühlte sich ihr Herz warm umschlungen, wenn Francisco in ihrer Nähe war. Doch Tom war ihr Mann; dass er nicht mehr lebte, ließ ihn in ihrem Innersten ganz sicher nicht tot sein! Zwar war er nicht mehr in ihrer Welt der Wirklichkeit. In der Welt ihrer Empfindungen und Gedanken jedoch existierte er noch immer sehr wohl – als Ehemann und als Papa ihrer Lara im Himmel.

„Sie will nicht zurückkommen, wenn sie nächste Woche zu ihren Eltern nach Barcelona fliegt. Und gegen die Scheidung wehrt sie sich ebenso vehement wie seit Jahren.“ „Was sagt dein Anwalt?“ „Der zuckt nur mit den Schultern. Manana es otra dia; das heißt: Morgen ist auch noch ein Tag. Das sagt er immer und drückt wohl damit aus, dass er im Augenblick keine rechtlichen Chancen sieht und nur auf ihren Sinneswandel hofft. Mein Gott, ich will aber nicht mehr warten. Bin schon zu lange unglücklich und möchte doch so unendlich gerne ….“ Er brach seinen Satz ab, doch sie nahm das ungeduldige Verlangen in seiner Stimme deutlicher wahr denn je – ebenso das Geräusch seiner Fingernägel, die auf der Tischplatte entlang in Richtung ihrer Linken schleiften.

„Bekomme ich noch ein Stück?“ Sie musste ihn augenblicklich davon abhalten, seinen aufgewühlten Gefühlen freien Lauf zu lassen, wusste sie doch um sein Sehnen nach liebevoller Gemeinsamkeit. Kannte sie das nicht von sich selbst?! Der Sonntag nach seinem wöchentlichen Besuch war stets der schlimmste Tag der Woche. Dann spürte sie die Leere um sich herum am bittersten. Francisco würde wieder gegangen sein – wie jeden Samstag um sieben. Ihr Herz hörte sie an solchen Tagen besonders laut weinen. Ach Tom, schluchzte sie dann lautlos, was soll ich nur tun? Dieser Mann liebt mich und ich – verzeih mir bitte – fühle mich so sehr zu ihm hingezogen; aber ich will dich nicht aus meinem Herzen verdrängen.

Sie horchte auf. Der Kuchenheber schabte leicht über ihren Teller. „Natürlich. Auch Sahne?“ „Natürlich.“ Sie verwendete dasselbe Wort mit demselben Tonfall. Die Situation zwischen ihnen war zu angespannt für eine gefühlvollere Reaktion. Warum weigerte sich seine Frau auch nur so heftig? Seit langem klang Franciscos Stimme traurig und verzweifelt, wenn sie ihn nach seiner Ehe fragte. Getroffen hatte sie seine Frau nur ein einziges Mal. Die Eiseskälte, die von ihr ausgegangen war, wollte sie kein weiteres Mal erleben.

„Sie will dort zu den befreundeten Ärzten der Familie gehen. Deren Einstellung ist ebenso erzkonservativ wie die ihrer alten Eltern. Das Ergebnis ihres Gutachtens für das Gericht kann ich mir also schon heute ausmalen.“ Sie schnaufte erbost und brauste mit bissiger Stimme auf: „Nur weil sie diese psychische Krankheit hat, darf dich diese bösartige Frau doch nicht ewig an sich binden!“ Kaum ausgesprochen ärgerte sie sich über ihren lauten Gefühlsausbruch, weil es ihr dabei gar nicht um Francisco, sondern ganz egoistisch um sich selbst ging. Ihre Wut galt der Tatsache, dass sich diese Frau - einer stacheligen Dornenhecke gleich - zwischen sie beide aufbaute und sie daran hinderte, Hand in Hand miteinander in ein gemeinsames Leben zu gehen. Sie erschrak. Was soll das?! Mit solchen Gedanken war sie im Begriff, ihre Liebe zu Tom zu verraten. Betroffen verschränkte sie die Arme und senkte den Kopf.

„Chris, was ist?“ Rasch blickte sie wieder auf. „Alles okay. Hab nur gerade an ….“ Sein sofortiges „… Thomas gedacht. Ja?“ wunderte sie nicht. Sie nickte; wie gut er mich doch kennt! „Er fehlt mir eben!“ Die Stuhlbeine schabten auf dem Dielenboden und gleich darauf spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. Er war aufgestanden. Schweigend tröstete er sie mit seiner fürsorglichen Wärme. Erst, als Christine ihre Hand hob und auf seine legte, sprach er: „Dass sie in Spanien bleibt, hat auch etwas Gutes.“ Er machte eine kleine Pause. „Was denn?“ „Ich könnte außer samstags auch in der Woche zu dir kommen.“ Oh ja – oh nein! Freude und Scheu sausten gleichzeitig wie die Sessel eines Kinderkarussells in ihrem Kopf herum. Meinte er damit etwa das, wonach sie sich insgeheim sehnte, was sie jedoch nicht zulassen durfte? Nach kurzem Zögern löste sich ihre Anspannung. „Zum Musizieren, wenn du magst.“ Sie atmete auf – und nahm einen weiteren Bissen des Kuchens.

Wie sehr wünschte sie sich ein Ende des Alleinseins. Wie ein Felsbrocken lastete die Einsamkeit auf ihrer Brust und erschwerte ihr das triste Dasein in ewiger Dunkelheit noch mehr. Wie sehr zermürbte es sie, niemanden mehr zum Reden zu haben. Aber nicht nur dazu. Keiner nahm sie mehr in den Arm. Um keinen konnte sie sich mehr kümmern. Nicht um Tom und nicht um ihre Lara. Gäbe es da nicht die Samstagnachmittage – sie würde sicher irgendwann auf schlimme Gedanken kommen; auf solche, die sie von ihrem Tom kannte.

Doch ihr Leben aufgeben? Nein! Und ihre Treue zu ihm auch nicht! Deshalb durfte Francisco sie auch nur samstags besuchen – und nur vier Stunden lang. Zu sehr sorgte sie sich, schwach zu werden und ihre Standhaftigkeit dem Wohlgefühl größerer Nähe zu ihm zu opfern. Wie sollte sie ihm also antworten? An seinen Fingerkuppen, die unruhig auf der Tischplatte tänzelten, erkannte sie, dass er von ihr etwas hören wollte. Mit einem `Oh ja, wie gerne´ etwa? Doch wie schwer könnte es ihnen dann fallen, ihre Gefühle füreinander im Zaum zu halten. Bei einem gemütlichen Abendessen, einer Flasche Rotwein, und danach … - geschah dann nicht ganz leicht das, was sie mit ihrem Liebsten so oft genossen hatte? Wie aber sollte sie ihm so etwas erklären? Abends, wenn sie im Bett lag und mit ihm sprach – in ihren Gedanken. Ach, was nur konnte sie Francisco sagen?

Wie aus heiterem Himmel tauchten vor ihrem inneren Auge Bilder auf. An jenem Morgen vor etwas über zwei Jahren hatte sie sich nicht einmal von Tom verabschieden können. Als er mit Lara zum Kindergarten fuhr, schlief sie noch, weil es ihr so schlecht ging. Das Fieber wollte einfach nicht runtergehen. Als dann später die Polizei an ihrer Wohnungstüre schellte, war es schon passiert – und alles vorbei. Seitdem konnte sie ihrem Tom nie mehr `Guten Morgen, meine große Liebe!´ sagen und ihn dabei an sich drücken. Und Lara ebenfalls nicht. Der morgendliche Autounfall hatte ihr Leben von einer zur anderen Sekunde ins Unglück gestürzt. Tom und Lara waren tot. Unwiederbringlich verschwunden aus ihrem so schönen Familienleben. Von einem betrunkenen LKW-Fahrer ausgelöscht. Einfach so. Welches schreckliche Spiel spielte das Schicksal mit ihr!

Nein – das mit Francisco wäre nicht recht. Oder doch?, zweifelte sie erneut. Durfte ihr Leben nicht auch irgendwann wieder glücklich werden? Christine atmete tief durch. Und sie ahnte dabei, dass Francisco angespannt spürte, wie sie mit sich kämpfte. Sie kannte seine Feinfühligkeit. Oft genug hatte sie schon gedacht, er könne ihre Gedanken lesen. Dann, wenn er von etwas zu reden begann, an das sie gerade gedacht hatte.

„Lass uns spielen!“, sagte sie entschlossen, ohne ihm eine Antwort zu geben. Seine Reaktion nicht abwartend erhob sie sich und ging am Tisch vorbei in die Zimmerecke, in der ihr Cello stand. Sie setzte sich auf den Hocker und nahm ihr geliebtes Instrument zwischen ihre gespreizten Schenkel. Als sie ihn nicht kommen hörte, wiederholte sie ihren Wunsch, dieses Mal aber in einem Tonfall, der kein weiteres Zögern zulassen sollte. „Kommst du!“ Francisco folgte ihr.

Kapitel 3

„Das war sehr schön, Francisco. Ich bin dir so dankbar, dass du mit mir musizierst.“ Sie ließ den Bogen nach unten sinken und lehnte das Cello hinter sich gegen die Wand. „Du kannst dir sicher vorstellen, wie schwer es ist, das nicht mehr beruflich tun zu können.“ „Claro! Schade, dass du nach …“ – er besann sich kurz – „… ich meine, vor zwei Jahren nicht wieder damit begonnen hast.“ Als sie schwieg fuhr er fort: „Wie hättest du das auch schaffen sollen, wo es dir so ungemein schlecht ging?! Aber schau, Chris, wir beide können ja regelmäßig zusammen spielen, nichtwahr? Ich bin immer für dich da.“ Kaum versah sie sich, da hatte er seine Arme um sie gelegt. Lange ließ sie es geschehen und fühlte sich mit einem Mal geborgen. Während sie sich dann mit einer sanften Bewegung aus seiner Umarmung befreite, fragte sie: „Wärst du heute wieder so lieb, Francisco?“

Er atmete tief durch, als wehrte er sich. „Du willst nicht?!“ Enttäuschung klang in ihrer Frage durch. Ein weiteres Schnauben drang in ihr Ohr. „Doch, doch. Ich meine nur ….“ „Du meinst, ich würde danach wieder so schlimm weinen?“ „Si! Vielleicht tun dir die Erinnerungen daran gar nicht so gut wie du meinst. Quäl dich doch nicht so, Christine.“ Ach, du Lieber, wenn doch nur alles anders wäre, dachte sie; dann würde ich dich jetzt küssen. „Nein, nein, Francisco! Ganz im Gegenteil. Wenn du mir aus Toms Roman vorliest, hilfst du mir so sehr. Ich merke doch schon seit geraumer Zeit, wie ich mich dadurch ein Stück weit von ….“ Sie stutzte über das, was sie sagen wollte und bremste sich aus. War ihr Verstand tatsächlich schon dabei, sich von Vergangenem zu lösen? Nicht von Tom und Lara. Nein, das niemals. Aber vom Leben mit ihnen. Vielleicht half ihr das, ihr Herz wieder zu öffnen; für ihre Gefühle; zu ihm.

Rasch bat sie Francisco nochmals eindringlich. „Bitte, lies mir vor.“ „Aber wir waren doch schon drei Mal bis zur letzten Seite gekommen.“ „Also beginnen wir ein viertes Mal! Okay?!“ Sie bemühte sich um ein liebevolles Lächeln. Er murmelte etwas, was sie aber nicht verstehen konnte. „Liegt es im Sideboard?“ Sie nickte erfreut. „Danke, du Lieber!“ Sie ging zum Tisch und setzte sich auf den harten, unbequemen Holzstuhl. Bis um sieben würde ihr der Rücken wehtun. Doch wo sonst hätten sie hingehen sollen? Etwa ins Schlafzimmer, wo es nur das Bett gab? Ihr Herz klopfte bei diesem verrückten Gedanken.

„Bist du so weit, Chris?“ „Bin ganz Ohr.“ „Okay – dann hör das, was ich dir schon so oft vorlas.“ Er schnaufte und begann.

„Liebste Christine. Während der vergangenen Monate in der Klinik hier in Boston hatte ich viel Zeit. Zum Nachdenken. Zum Erinnern. Und dazu, damit zu beginnen, die Geschichte einer großen Liebe niederzuschreiben, die auf einem Kreuzfahrtschiff begann. Lausche du nun meinem Roman – immer dann, wenn du mich bittest, ihn dir vorzulesen. Später wirst du ihn auch selbst lesen können, mit deinen Fingerspitzen – dann nämlich, wenn ich ihn habe in Blindenschrift übersetzen lassen.

Die Frau am Fenster