Schwert und Feder – Die Magische Bibliothek - Rachel Caine - E-Book

Schwert und Feder – Die Magische Bibliothek E-Book

Rachel Caine

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Beschreibung

Der fulminante Abschluss der Dark-Academia-Saga um die Magische Bibliothek von Alexandria! Mit farbig gestaltetem Buchschnitt – nur in limitierter Erstauflage der gedruckten Ausgabe (Lieferung je nach Verfügbarkeit)

Die korrupten Anführer der Magischen Bibliothek von Alexandria haben die letzte Schlacht gegen die Rebellen verloren – doch noch sind sie nicht endgültig besiegt. Während die weltlichen Herrscher der Erde die Bibliothek belagern, schmieden die Archivare im Geheimen Pläne, die Macht über alles Wissen der Welt wieder an sich zu bringen. Wer in diesem Kampf den letzten Sieg davontragen wird, ist völlig offen. Jess Brightwell, der einstige Bücherschmuggler aus London, und seine Freunde müssen alles an Kraft und Mut aufbringen, wenn sie eine bessere Zukunft für die große Bibliothek erringen wollen. Scheitern sie, droht nicht nur der Untergang der Magie, sondern womöglich der gesamten Zivilisation ...
Enthaltene Tropes: Queer Romance, Dark Academia
Spice-Level: 2 von 5

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Seitenzahl: 702

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Der korrupte Archivar der Großen Bibliothek von Alexandria hat die letzte Schlacht gegen die Rebellen verloren – doch noch ist die Macht der Bibliothek nicht endgültig gebrochen. Während die Nationen der Erde Alexandria belagern, schmiedet der abgesetzte Archivar im Geheimen Pläne, die Macht über alles Wissen der Welt wieder an sich zu bringen. Wer in diesem Kampf den letzten Sieg davontragen wird, ist völlig offen. Jess Brightwell, der einstige Bücherschmuggler aus London, und seine Freunde müssen alles an Kraft und Mut aufbringen, wenn sie eine bessere Zukunft für die Große Bibliothek erringen wollen. Scheitern sie, droht nicht nur der Untergang dieser uralten Institution, sondern womöglich der gesamten Zivilisation …

Rachel Caines Dark-Academia-Saga um die MAGISCHEBIBLIOTHEK:

Band 1: Tinte und Knochen

Band 2: Papier und Feuer

Band 3: Asche und Feder

Band 4: Feuer und Eisen

Band 5: Schwert und Feder

Die Autorin

Rachel Caine, New York Times- und internationale Bestsellerautorin, hat als Buchhalterin, professionelle Musikerin und Schadensermittlerin gearbeitet und war Geschäftsführerin in einem großen Unternehmen, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete und mit zahlreichen Fantasy- und Mysteryserien große Erfolge feierte. Sie lebte mit ihrem Mann, dem Künstler R. Cat Conrad, in Texas. Rachel Caine verstarb 2020.

RACHEL CAINE

SCHWERTUNDFEDER

DIE MAGISCHE BIBLIOTHEK

Roman

Aus dem Amerikanischen vonBeate Brammertz und Stefanie Adam

Die Originalausgabe

SWORDANDPEN

erschien erstmals 2019 bei Berkley

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

1. Auflage 2025

Copyright © 2019 by Rachel Caine LLC

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Sabine Kranzow

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,nach einer Vorlage und unter Verwendung vonBildmaterial von Katie Anderson

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-33343-0V001

www.heyne.de

Für alle, die gerne lesen. Und schreiben. Und träumen. Für alle, die Bücher lieben. Und für alle Bibliothekar*innen. Von ganzem Herzen.

EPHEMERA

Brief des Gelehrten Christopher Wolfe an Callum Brightwell. Verfügbar im Archiv.

Mr. und Mrs. Brightwell,

mit tiefstem Bedauern muss ich Ihnen den Tod Ihres Sohnes Brendan mitteilen. Er starb am heutigen Tag hier in Alexandria. Ich bin mir vollauf bewusst, dass ich Ihnen in diesem Moment der Trauer nichts Tröstliches schreiben kann, doch vielleicht wird es Ihnen später einmal etwas bedeuten, dass sich Ihr Sohn in den letzten Tagen und Stunden seines Lebens außergewöhnlich mutig verhalten hat und er damit für uns alle zu einem großen Vorbild geworden ist. Wir schätzen uns glücklich, ihn gekannt zu haben. Er hat Seite an Seite mit seinem Bruder gekämpft, der, wie ich Ihnen versichern kann, am Leben ist. Jess ist ebenso verzweifelt, wie Sie es angesichts dieses entsetzlichen Verlusts sein müssen. Er war bei Brendan, als er starb, und gnädigerweise war sein Tod schnell und schmerzlos.

Ohne Brendan hätten wir hier und heute keinen Sieg erringen können. Und ebenso wenig wäre es uns möglich gewesen, weiterhin für den Schutz und das Fortbestehen der Großen Bibliothek zu sorgen. Das haben wir alles ihm zu verdanken. Seine Treue seinem Bruder gegenüber, den er bis zuletzt beschützt hat, war außergewöhnlich, und wir werden sein Andenken stets in Ehren halten.

Ich bete zu meinen Göttern, ebenso wie zu Ihrem, dass Brendans Seele Frieden findet – und die Ihre ebenfalls, angesichts dieser schrecklichen Nachricht.

Ihr Sohn wird mit allen Würden bestattet werden, sobald die uns unmittelbar drohenden Gefahren gebannt sind. Ich schreibe Ihnen dann wieder. Sie sind uns hier in Alexandria willkommen, um der Ehrung Ihrer beiden Söhne – des toten wie des lebenden – durch die Große Bibliothek beizuwohnen.

Ich trauere aus ganzem Herzen mit Ihnen, und ich kann Ihnen dieses eine Versprechen geben: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Jess zu beschützen. Wir glauben zwar, dass Wissen alles ist, doch wir schätzen ebenso das Leben all jener, die man uns anvertraut.

Christopher Wolfe, Gelehrter

1

Jess

Brendan war tot und Jess’ Welt zerbrochen. Sein ganzes Leben lang hatte er immer in dem Bewusstsein existiert, einen Zwillingsbruder zu haben. Selbst wenn Brendan weit entfernt von ihm gewesen war, hatte Jess immer gespürt, dass er irgendwo auf dieser Erde lebte und atmete. Doch jetzt … jetzt zitterte Jess vor Kälte und Einsamkeit, während er seinen toten Bruder an sich drückte.

Um ihn herum war alles verstummt.

Er ist warm, dachte Jess. Brendans Haut fühlte sich nach wie vor lebendig an, als wäre er immer noch hier. Doch das stimmte nicht. Da war kein Herzschlag mehr. Kein Leben.

Jess bekam kaum mit, was um ihn herum passierte. Menschen rannten durch den blutigen Sand der Arena, kämpften, schrien, brüllten. In diesem Moment waren sie ihm egal.

Sollte die Welt doch in Flammen aufgehen.

Ein Schatten fiel auf ihn. Jess blickte hoch und sah Anubis, den riesenhaften, goldglänzenden Automatengott, dessen schwarzer Schakalkopf die Sonne verdeckte. Nun war wohl das Ende aller Tage gekommen.

Anubis stieß seinen Speer in Jess’ Brust. Brendans Körper war plötzlich verschwunden, doch Jess war immer noch da, allein und durchbohrt von der Waffe … Dennoch spürte er keinen Schmerz. Er fühlte sich schwerelos.

»Wach auf«, sagte Anubis und beugte sich zu ihm.

Als Jess die Augen öffnete, lag er in einem weichen Bett, unter einer Decke, die nach Gewürzen und Rosen duftete. Es war dunkel und vor dem Fenster zu seiner Linken glitt der Mond auf einem Boot aus Wolken vorbei. Sein Herz fühlte sich schwer an, wie ein Fremdkörper in seiner Brust.

Er konnte Brendans klebriges Blut immer noch an seinen Händen spüren, auch wenn er wusste, dass sie sauber waren. Er hatte es abgewaschen. Nein, das war nicht er gewesen. Thomas hatte eine Schüssel mit Wasser gebracht und diese Aufgabe übernommen. Er selbst hatte überhaupt nichts getan. Er war nicht dazu in der Lage gewesen. Dann hatten seine Freunde ihn in diesem fremden Haus in dieses fremde Bett gelegt. Er wusste, dass er ihnen deswegen dankbar sein sollte, aber in diesem Moment fühlte er sich einfach nur leer. Alles war falsch. Diese Welt sollte es gar nicht geben – eine Welt, in der er der einzige überlebende Brightwell-Sohn war. Ein halber Zwilling.

Jess hätte jede Menge Geld darauf verwettet – und sein Bruder sicher noch viel mehr –, dass Brendan ihn überleben und noch dazu gestärkt aus allem hervorgehen würde. Ohne ihn war die Welt so still.

Dann musst du eben lauter sein, du Heulsuse. Er konnte seinen Bruder beinahe hören. Und er sah förmlich vor sich, wie er dazu sein typisches arrogantes Grinsen aufsetzte. Gott weiß, dass du lieber ein Einzelkind gewesen wärst. Daran hast du nie einen Zweifel gelassen.

»Das stimmt doch gar nicht«, sagte Jess laut. Aber im selben Moment wusste er, dass es eine Lüge war, und er schämte sich umso mehr, als er in der Dunkelheit irgendwo aus der gegenüberliegenden Zimmerecke eine Stimme hörte.

»Brightwell, bist du wach? Wurde aber auch Zeit.« Er hörte das Rascheln von Kleidung, dann flammte ein grünes Licht auf, das rasch heller wurde. Die Leuchte stand neben dem Gelehrten Christopher Wolfe, der wie der Tod selbst aussah und dazu eine Miene aufgesetzt hatte, die deutlich machte, dass er Jess den Kopf abreißen würde, sollte er es wagen, das auch nur zu erwähnen. Kurz gesagt, Wolfe war in bester Laune, wie immer. »Hast du etwa geträumt?«

»Nein«, log Jess und bemühte sich, sein laut klopfendes Herz unter Kontrolle zu bringen. »Was tun Sie hier?«

»Wir haben gelost, wer heute Abend bei dir Krankenschwester spielen muss, und ich habe verloren.« Wolfe stand auf. Er trug seine schwarze Gelehrtenrobe, deren fließender Seidenstoff ihn fast mit den Schatten verschmelzen ließ, wären da nicht das Grau in seinem schulterlangen Haar und seine blasse Haut. Er blieb an Jess’ Bett stehen und sah ihn kühl und abschätzend an. »Du hast jemanden verloren, der dir sehr wichtig war. Ich kann gut verstehen, wie es dir geht. Aber wir haben jetzt keine Zeit für deine Trauer. Es gibt jede Menge zu tun, und wir haben zu wenig Leute dafür.«

Jess war das alles egal. »Es überrascht mich, dass Sie mich überhaupt für geeignet befinden.«

»Selbstmitleid steht dir nicht, Junge. Ich werde jetzt gehen. Die Welt hört nicht auf, sich zu drehen, nur weil jemand nicht mehr da ist – auch wenn er dir viel bedeutet hat.«

Was wissen Sie schon darüber?, hätte Jess ihn am liebsten angefahren. Aber er hielt sich zurück. Wolfe hatte selbst bereits viele Menschen verloren und sogar den Tod seiner eigenen Mutter miterleben müssen. Er wusste, wovon er sprach. Also schluckte Jess seine Wut herunter. »Wohin gehen Sie?«, fragte er. Er bot nicht an mitzukommen, denn er hatte noch nicht entschieden, ob es nicht besser war, im Bett zu bleiben.

»Ins Büro des Archivars«, sagte Wolfe. »Du bist schon einmal dort gewesen und ich könnte etwas Hilfe bei der Suche nach seinen Geheimdokumenten brauchen.«

Das Büro. Jess blinzelte und sah es vor seinem geistigen Auge: Ein beeindruckender Raum mit Automatengöttern, die still in ihren Wandnischen wachten, und Fenstern mit Blick auf den alexandrinischen Hafen. Man hätte es fast für einen friedlichen Ort halten können. Jess fragte sich, ob sie das Blut der toten Assistentin mittlerweile aus dem Teppich geschrubbt hatten. Der Archivar hatte sie ermorden lassen, nur um ihn zu bestrafen. Und Brendan.

Brendan. Als Jess das letzte Mal in dem Büro gewesen war, war Brendan noch bei ihm gewesen.

Jess schluckte, denn Übelkeit und Orientierungslosigkeit drohten, ihn wie eine Welle zu überrollen. Er setzte sich auf. Jemand – wieder Thomas – hatte ihm aus seinen blutigen Sachen geholfen und ihm schlichte, saubere Kleidung angezogen, wie sie von den Soldaten der Hohen Garda während ihrer Freizeit in der Kaserne getragen wurde. Sie war so weich wie ein Schlafanzug. Das musste reichen. Jess schwang die Beine aus dem Bett, hielt inne und atmete tief durch. Er fühlte sich … nicht gut. Er hätte nicht sagen können, was genau ihm wehtat, es war vielmehr ein generelles Unwohlsein, ein Schmerz, der jeden Muskel und jeden Nerv erfasste. Vielleicht war es der Schock. Oder einfach der gesammelte Stress der letzten Tage.

Vielleicht war es sogar Trauer. Tat Trauer weh? Auf diese Art? Glich sie einer Krankheit?

»Auf geht’s«, sagte Wolfe in einem unerwartet freundlichen, geradezu warmen Tonfall. »Ich weiß, wie schwer das ist. Doch es gibt keinen anderen Weg als den nach vorn.«

Jess nickte und stand auf. Sein Blick fiel auf seine hübsch ordentlich am Fußende des Betts aufgereihten Schuhe und er zog sie an. Sein Hohe-Garda-Waffengürtel inklusive Pistole lag ebenfalls griffbereit da. Die tödliche Schwere der Waffe kam ihm fast tröstlich vor, als er den Gürtel um die Taille legte. Wir befinden uns im Krieg, dachte er und hatte den Eindruck, schon immer im Krieg gewesen zu sein. Erst mit seiner Familie gegen die Große Bibliothek, dann hatte er selbst um einen Platz in ebenjener Institution gekämpft und jetzt ging es darum, den Traum von der Großen Bibliothek am Leben zu erhalten. Zum ersten Mal fragte er sich, wie sich Frieden wohl anfühlte.

Er fuhr sich durch die wild vom Kopf abstehenden Haare, merkte, dass das nichts besser machte, und kümmerte sich nicht weiter darum. »In Ordnung«, sagte er. »Ich bin bereit.«

Wolfe hätte darauf alles Mögliche antworten können, und Jess rechnete geradezu mit irgendeinem verächtlichen oder sarkastischen Kommentar. Doch der Gelehrte legte ihm stattdessen nur kurz die Hand auf die Schulter, nickte und ging voran.

Das Haus gehörte anscheinend ebenfalls einem Gelehrten – im Wohnzimmer hatte sich eine Gruppe von ihnen in schwarzen Roben um einen großen Tisch versammelt. Sie wirkten besorgt und unterhielten sich auf Griechisch, was vermutlich die einzige Sprache war, die alle Anwesenden verstanden. Unter ihnen waren ein hochgewachsener Mann mit sehr dunkler, fast bläulich schimmernder Haut, eine elegante junge Chinesin und ein Mann in den mittleren Jahren mit ausgeprägt slawischen Gesichtszügen und einem kleinen Bäuchlein, das ihn irgendwie gemütlich wirken ließ. Insgesamt saß dort etwa ein Dutzend Gelehrte, von denen Jess nur zwei kannte. Zu seiner Überraschung war keiner seiner Freunde anwesend.

Wolfe hatte hier anscheinend das Kommando, denn als er an den Tisch trat, verstummte das Gespräch. »Wir gehen zum Büro des Archivars«, sagte er. »Irgendwelche hilfreichen Hinweise?« Wolfes Griechisch war selbstverständlich perfekt, da er es schon als Kind hier in Alexandria gelernt hatte. Jess hingegen fühlte sich in dieser Sprache nicht ganz so zu Hause, obwohl er sie ganz passabel beherrschte.

»Sie sollten auf Fallen achten«, riet die junge Chinesin. »Der Archivar hat gerne überall welche einbauen lassen, also sicher auch dort, sollte er die Macht verlieren. Weiß man schon irgendetwas über seinen aktuellen Aufenthaltsort …?«

»Nein«, sagte Wolfe. »Wir gehen davon aus, dass er einige treue Anhänger um sich geschart hat, die ihn mit allen Mitteln beschützen. Unser Vorteil ist, dass Alexandrias Unterwelt gerade fest zu uns steht. Niemand wird ihm helfen, unauffällig aus der Stadt zu verschwinden. Er sitzt also wohl zusammen mit uns hier fest.«

»Oder wir mit ihm«, erwiderte ein anderer Gelehrter. Jess war sich nicht sicher, wer da gerade gesprochen hatte.

Wolfe quittierte die Bemerkung mit einem scharfen Blick. Jess wusste nur zu gut, wie vernichtend diese Blicke des Gelehrten sein konnten. »Glauben Sie bloß nicht, dass er allmächtig ist. Ohne die Apathie oder auch passive Zustimmung der Gelehrten und der Hohen Garda hätte der Archivar niemals ganz nach Belieben und völlig ungestraft morden können«, erklärte Wolfe. »Das haben wir ihm nun genommen. Sprechen Sie ihm also nicht mehr Macht zu, als er jemals hatte.«

»Das sagt sich leicht an Ihrer Stelle, Gelehrter«, brummte der Slawe. Er sprach mit einem leichten Akzent.

»Glauben Sie das wirklich?« Wolfes Tonfall war nun hart und trocken, sein Gesicht hatte die Farbe von ausgebleichten Knochen angenommen. »Leicht? Für mich? Sehen Sie doch selbst im Archiv nach: Er hat mich dort ausgelöscht, so wie Hunderte vor mir, von denen Sie nicht einmal wissen, dass sie dort verzeichnet sein sollten. Nichts hier ist leicht für mich. Und das sollte es auch nicht sein. Einen Gott-König zu töten sollte niemals leicht sein.«

Die Erkenntnis kam Jess schlagartig. Ja, der Archivar hatte noch einen anderen Titel: Pharao von Alexandria. Er war der Gott-König, und zweifellos nahm der alte Archivar diese Bezeichnung als Gott sehr ernst. Und trotzdem werden wir ihn töten. Irgendwie.

Brendans Tod zu rächen war dafür allein schon Grund genug.

»Achten Sie auf druckempfindliche Bodenplatten«, sagte die chinesische Gelehrte. »Der Archivar hat Heron, unseren großen Erfinder, und seine vielen beeindruckenden Bauwerke hier in Alexandria immer sehr bewundert. Und er ist seinem Vorbild treu gefolgt. Seine Fallen werden also ebenso einfach wie genial sein. Womöglich gibt es ein bestimmtes Kommando, mit dem man die Automaten sofort stoppen kann, sollten ihre Skripte ihnen befehlen, das Büro zu verteidigen. Ich habe keine Ahnung, wie sich das herausfinden lässt, doch das müsste höchste Priorität haben. Vielleicht …« Sie zögerte kurz. »Vielleicht wäre das eine Aufgabe für die Hohe Garda.«

»Weil die Leben der Soldaten weniger wert sind als meines?«, herrschte Wolfe sie an, und sie senkte den Blick. »Nein. Ich weiß genau, wonach ich suchen muss, die Soldaten dagegen vielleicht nicht. Ich kenne diesen alten Mistkerl besser als irgendjemand bei der Hohen Garda. Er ist schließlich einmal mein Mentor gewesen und das für eine ziemlich lange Zeit. Ich weiß, wie er denkt.«

Jess versuchte sich vorzustellen, dass Wolfe einmal dasselbe Verhältnis zu diesem bösartigen Dreckskerl von Archivar gehabt hatte wie er selbst zu Wolfe. Doch es wollte ihm nicht gelingen, schon allein deswegen, weil er sich Wolfe nicht als jungen Mann vorstellen konnte. Schließlich gab er auf, sah sich stattdessen um und entdeckte, dass jemand die Diskussion von der Tür aus verfolgte.

Dario Santiago.

Nicht unbedingt sein bester Freund auf der ganzen Welt, doch wenigstens fühlte er sich in der Gegenwart des Spaniers nicht mehr ganz so unwohl wie früher. Sie waren einmal Feinde gewesen, dann hatten sie sich misstrauisch angenähert, verbündet, wieder zerstritten und schließlich vorsichtig Freundschaft geschlossen … Dario war eine Konstante in Jess’ Leben, und das tröstete ihn in dieser stillen neuen Welt ohne seinen Bruder. Er ging zu Dario, der mit vor der Brust verschränkten Armen dastand. Der junge Spanier hatte sich ebenfalls umgezogen und trug nun eine maßgeschneiderte Hose, ein Seidenhemd und darüber eine schicke Samtjacke. Er sah genauso reich und überheblich aus, wie er es tatsächlich war – doch zumindest hatte er auch noch nie Bescheidenheit geheuchelt.

»Brightwell.« Dario nickte ihm zu.

Jess nickte ebenfalls. »Santiago.«

Dann verfolgten sie noch einen Moment lang die Unterhaltung der Gelehrten. Eigentlich seltsam, dachte Jess, denn obwohl Dario ebenso wie die anderen Gelehrten dazu berechtigt war, die schwarze Robe zu tragen, tat er es nicht. Jess fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte oder ob Dario einfach nur den Schnitt seiner eigenen Jacke bevorzugte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Dario schließlich und wippte dabei auf den Füßen vor und zurück, als würde er am liebsten selbst vor dieser Frage flüchten. Oder vor Jess. Doch er blieb, wo er war.

»Alles in Ordnung«, antwortete Jess. Dario wusste ebenso gut wie er, dass überhaupt nichts in Ordnung war, aber das war die Art des Spaniers, Mitgefühl auszudrücken. Es war kein besonders gelungener Versuch, doch für jemanden wie ihn war das schon viel. »Wo ist Khalila?«

»Bei Murasaki«, antwortete Dario. »Sie organisieren ein Konklave aller Gelehrten. Heute oder spätestens morgen soll ein neuer Archivar Magister gewählt werden. Wenn wir wollen, dass Alexandria unabhängig bleibt, brauchen wir einen Anführer, auf den sich alle einigen können. Mehrere Nationen schicken ihre Schiffe her. Sie sind ganz begierig darauf, uns zu ›helfen‹.« Er schüttelte mit dem Kopf. »Sie verbrämen ihre Eroberungsgelüste als Rettungsaktion und werden versuchen, Alexandria zu überrumpeln und zu ihrem Protektorat zu machen. Wenn ihnen das gelingt, werden sie uns in Stücke reißen und sich um unsere Knochen balgen.«

»Das darf nicht passieren«, sagte Jess.

»Nein. Deswegen wird ein neuer Archivar gewählt.«

Jess musste sich ein Grinsen verkneifen. »Und warum hast du deinen Hut nicht in den Ring geworfen? Ich bin überrascht.«

»Halt die Klappe, Ratte.«

»Seid doch nicht so empfindlich, Königliche Hoheit.«

Diese beiläufigen Beleidigungen hatten etwas Vertrautes und Tröstliches. Ihre wie auch immer geartete Freundschaft behagte beiden nicht so recht und das würde sich nicht so schnell ändern, darauf konnte Jess sich verlassen. Und vielleicht war das ja etwas Gutes. Er vertraute Dario … Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Und Dario ging es natürlich umgekehrt genauso.

»Zu der Flotte gehören auch Schiffe deines Cousins«, sagte Jess. »Und trotzdem soll ich glauben, dass du dich nicht auf die Seite deiner Familie schlagen wirst?«

»Wenn du mich gerade fragst, ob ich die Große Bibliothek an das spanische Königreich verraten werde: Nein, das werde ich nicht«, erwiderte Dario. »Doch ich will auf keinen Fall gegen meinen Cousin kämpfen müssen. Und das nicht nur, weil ich ihn mag, sondern auch, weil er ein guter König ist. Außerdem ist er ebenso schlau wie rücksichtslos. Er wird uns besiegen, es sei denn, wir sorgen dafür, dass ihn der Sieg mehr kostet, als er dafür zu zahlen bereit ist. Allerdings bin ich mir nicht sicher, was er als einen zu hohen Preis ansehen würde.«

Mein Bruder ist bereits für die Bibliothekgestorben, dachte Jess. Damit ist der Preis jetzt schon viel zu hoch. Doch das behielt er lieber für sich. Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals. »Wo sind die anderen?«, fragte er stattdessen.

»Glain und Santi sind damit beschäftigt, die Verteidigung der Stadt vorzubereiten. Thomas … nur Gott weiß, wo der steckt … Vermutlich hockt er irgendwo herum und bastelt an einem seiner tödlichen Spielzeuge … Nicht, dass das eine schlechte Idee ist. Morgan ist mit Eskander im Eisenturm, die Obskuristen müssen sich ja ebenfalls organisieren.«

»Und was für einer sinnvollen Aufgabe gehst du gerade nach?«

»Keiner«, sagte Dario. »Und du?«

»Geht mir auch so. Möchtest du mit uns ins Büro des Archivars kommen?«

»Ist das gefährlich?«

»Sehr.«

Darios Grinsen war so breit, dass es für einen Moment sogar Brendans Fehlen überstrahlte. »Ausgezeichnet. Hier bin ich nämlich im Moment so nützlich wie ein Eisschrank in der Antarktis.«

»Trotz der Jacke?«

»Tja, das ist zwar eine sehr schöne Jacke, doch sie ist völlig nutzlos.« Er sah Jess an. »Das mit Brendan tut mir wirklich leid.«

Jess nickte. »Ich weiß.«

»Lass uns gehen.«

Erst Wolfe, dann Dario. Irgendetwas an der kurz angebundenen, barschen Art der beiden war seltsam tröstlich. Thomas und auch Khalila oder Morgan würden ihn sicher anders behandeln. Sie alle würden ihn wohl eher dazu ermuntern, seinem Kummer freien Lauf zu lassen. Wolfe und Dario dagegen schienen zu glauben, dass es besser war, sich nicht gehen zu lassen. Und das kam ihm im Moment sehr entgegen. Er würde nicht für immer vor seiner Trauer davonlaufen können, doch für den Augenblick fühlte es sich richtig an.

Wolfe gesellte sich zu ihnen, nahm Darios Anwesenheit wortlos zur Kenntnis und ging weiter. Der junge Spanier sah kurz zu Jess, der mit den Schultern zuckte, dann folgten sie dem Gelehrten.

Und schon waren sie ein weiteres Mal unterwegs, um dem Tod zu trotzen.

Gab es eine bessere Art, den Tag zu beginnen?

In der morgendlichen Kühle empfing sie ein prachtvoller Sonnenaufgang, der sich als orange und rote Flecken im aufgewühlten Wasser des Hafens spiegelte. In einiger Entfernung auf dem offenen Meer trieb die vereinigte Kriegsflotte. Die Sirene des Leuchtturms hatte die Bevölkerung bereits gewarnt, außerdem war allgemein bekannt – oder zumindest erzählte man es sich so –, dass der Hafen äußerst gut gesichert war. Keine der dort draußen versammelten Nationen hatte sich bisher näher herangewagt.

Früher oder später würden sie das jedoch tun, und Jess fragte sich, was sie gegen eine derart gewaltige Flotte ausrichten konnten. Die Große Bibliothek verfügte zwar über eigene Schiffe, doch es waren zu wenige. Sollte es zu einer Schlacht kommen, würden sie mit Sicherheit verlieren.

Dario hatte recht: Ihre einzige Chance bestand darin, dafür zu sorgen, dass der Preis eines Angriffs auf Alexandria viel zu hoch für ihre Gegner war.

Die Straße führte sie durch ein Wohngebiet direkt zum wichtigsten Punkt der Stadt: dem Serapeum, dessen pyramidenförmiger Bau fast ebenso hoch wie der Leuchtturm aufragte. Der goldene Schlussstein ganz oben strahlte im Morgenlicht und als die Sonne höher stieg, badete sie auch die marmorweißen Seiten der Pyramide in ihrem warmen Licht. Jess konnte die Gelehrtentreppe sehen, in der die Namen all jener eingemeißelt waren, die im Dienst der Großen Bibliothek gestorben waren. Sein Name würde niemals dort erscheinen, schließlich war er kein Gelehrter und würde auch keiner werden. Doch wenn es nur ein bisschen Gerechtigkeit in dieser Welt gab, dann würde Wolfe diese Ehre eines Tages zuteilwerden, ebenso wie Thomas und Khalila.

Dario glaubte sicher auch, dass sein Name dort einen Platz verdiente. Und vielleicht hatte er damit sogar recht.

»Jess«, sagte Wolfe. »Du bist mit Herons Erfindungen vertraut, oder?«

»Welche meinen Sie? Es gibt Tausende. Er war schließlich der Leonardo da Vinci der Antike.«

»Die tödlichen.«

»Da weiß ich so viel wie jeder andere auch. Mit Ausnahme von Thomas natürlich. Er könnte Ihnen wohl einen zweistündigen Vortrag darüber halten und dann noch erklären, was es an ihnen zu verbessern gibt.«

»Das wäre bestimmt faszinierend, doch dafür habe ich gerade weder die Zeit noch die Geduld. Jess, das hier ist kein Ratespiel. Ich muss mich darauf verlassen können, dass du – dass ihr beide – nachdenkt. Was wir gerade vorhaben, ist äußerst gefährlich.«

»Wissen Sie, wie man zum Büro des Archivars kommt?« Jess war mehrmals dorthin gebracht worden, doch es reichte nicht, sich einfach den Weg zu merken: Die Flure waren Teil eines beweglichen Labyrinths, das sich ständig neu zusammensetzte. Der Archivar hatte sich vor Attentätern gefürchtet, und das aus gutem Grund.

»Sein Privatbüro? Ja, ich weiß, wie man dorthin gelangt«, sagte Wolfe, blieb ihnen eine weitere Erklärung allerdings schuldig. »Doch dann wird es gefährlich«, erklärte er stattdessen. »Der Archivar wäre sicher nicht so lange an der Macht geblieben, wenn er nicht gut darin wäre, entsprechende Vorkehrungen zu treffen.«

In den Straßen war es seltsam ruhig. »Wo sind die ganzen Leute?«, fragte Jess. Normalerweise pulsierte hier das Leben. Immerhin hatte Alexandria viele Hunderttausend Einwohner: Gelehrte, Bibliothekare, Bibliothekspersonal, ganz zu schweigen von jenen, für die diese Stadt einfach ihre Heimat war. Doch heute war sie wie ausgestorben.

»Niemand weiß, was kommt. Also bleiben sie lieber zu Hause, da fühlen sie sich sicher«, sagte Dario. »Vernünftige Menschen halten sich jetzt lieber zurück – im Gegensatz zu uns.«

Er lächelte grimmig, ebenso wie Wolfe. »Mag sein«, sagte der ältere Gelehrte. »Doch vernünftige Menschen bewirken in einer Situation wie dieser kaum etwas, oder?«

Unvernünftig. Das beschreibt uns wohl ziemlich gut, dachte Jess und stellte sich vor, dass Brendan sicher sofort an ihrer Seite gewesen wäre, wie immer darauf aus, etwas Waghalsiges zu tun.

Die Bewegung tat Jess gut und half, die Schatten zurückzudrängen. Er fühlte sich fast wieder wie ein Mensch, obwohl sein ganzer Körper schmerzte. Der Kampf steckte ihm noch in den Knochen. Irgendjemand – vermutlich Morgan – hatte seine Heilkräfte an ihm erprobt, sonst hätte er sicher noch nicht einmal aufstehen können. Stattdessen fühlte er sich trotz allem leichtfüßig und beweglich, bereit zu rennen und zu kämpfen.

Er fragte sich, warum Morgan nicht da war. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass sie ihren Platz im Moment bei den Obskuristen sah. Das heißt nicht, dass du ihr egal bist, ermahnte er sich. Doch sie war nicht bei ihm gewesen, als er aufgewacht war, und auch nicht, als er sie am meisten gebraucht hatte, um seine gebrochene Seele zu heilen. Das hatte etwas zu bedeuten, das war ihm klar.

Für sie würde er niemals an erster Stelle stehen. Sei ehrlich, dachte er. Umgekehrt ist es doch auch so, sonst hättest du einiges anders gemacht und wärst jetzt an ihrer Seite.

Er war sich nicht sicher, welche Schlussfolgerung er daraus ziehen sollte, und außerdem zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Da war es besser, sich auf naheliegendere Aufgaben zu konzentrieren, auf Probleme, die sich lösen ließen. Die schwierigen Fragen hob er sich lieber für später auf.

Sie kamen an einer Kompanie der Hohen Garda vorbei. Alle Soldaten trugen Kampfmontur, wirkten hoch konzentriert und einsatzbereit. Jess kannte zwar keinen von ihnen, nickte dem Kommandanten dennoch zu und dieser erwiderte den Gruß mit einer zackigen Kopfbewegung. Jess brauchte etwa eine Sekunde, um zu begreifen, was daran falsch war. Dann wandte er sich an Wolfe: »Ich sollte mich wieder meiner Kompanie anschließen.« Schließlich trug er sogar eine Uniform, wenn auch nur eine für die Freizeit.

»Im Augenblick bist du mir unterstellt«, erwiderte Wolfe. »Santi will dich noch nicht wieder in der Kompanie haben. Wir brauchen dich hier dringender.« Der Mund des Gelehrten verzog sich ausnahmsweise zu einem Lächeln, das nicht bitter wirkte. »Er glaubt, dass du mich von den schlimmsten Auswüchsen meiner Neigung, mich in Gefahr zu bringen, abhalten kannst. Ich habe ihm schon gesagt, dass das Unsinn ist, weil du mindestens genauso schlimm bist wie ich, wenn nicht gar schlimmer. Doch davon wollte er nichts hören.«

Es dauerte einen Moment, bis Jess verstand, was das bedeutete: Santi vertraute ausgerechnet ihm Wolfes Sicherheit an. Und das, obwohl er genau wusste, dass Jess gerade nur Schmerz und Trauer kannte. Genau aus diesem Grund. Santi gab ihm etwas, das ihn davon abhalten sollte, sich völlig in dem Verlust seines Bruders zu verlieren. Das war ebenso manipulativ wie brillant, denn es sorgte einerseits dafür, dass Wolfe einen halbwegs brauchbaren Leibwächter an seiner Seite hatte, und beschäftigte Jess andererseits mit einer dringend benötigten sinnvollen Aufgabe. Und Dario? Der war gewiss auch nicht nur zufällig erschienen. Er sollte vermutlich auf Jess achtgeben, außerdem waren vier Augen immer besser als zwei. Dario war sicher nicht der beste Kämpfer ihrer Gruppe, doch er war ein Stratege und immer gut für eine brauchbare Taktik, was bei einer Mission wie dieser wohl nicht verkehrt war.

Während Jess noch über all das nachdachte, hatten sie das Serapeum fast erreicht. Hier standen Soldaten der Hohen Garda Wache und auch einige Automaten strichen herum. Sphinxe auf Löwentatzen und mit leise klirrenden Metallflügeln starrten ihn mit rotäugigen menschlichen Gesichtern an. Eine folgte ihnen ein paar Schritte weit, was Jess nervös machte. Er beobachtete sie sehr genau, nur um sicherzugehen, dass man in ihren Skripten auch wirklich geändert hatte, wer Feind und wer Freund war. Doch der Automat verlor bald das Interesse an ihnen, tappte davon, ließ sich nieder und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kommen und Gehen auf der Straße zu.

»Gott sei Dank«, seufzte Dario. Ihm war das Ganze also auch nicht entgangen. »Ich hasse diese Dinger.«

»Du hast schon welche außer Gefecht gesetzt.«

»Und das werde ich wohl früher oder später wieder müssen, da bin ich mir sicher. Doch ich bin für jeden einzelnen Moment dankbar, in dem mein Leben einmal nicht auf dem Spiel steht. Ich kann mit diesen Viechern nicht so gut umgehen wie du. Und auch nicht so furchtlos.«

Das ist ziemlich bemerkenswert, dachte Jess. Es war schon lange her, dass Dario etwas in dieser Art zugegeben hatte. Vielleicht war es sogar überhaupt noch nie vorgekommen. Schließlich ging der Spanier üblicherweise ganz selbstverständlich davon aus, immer und in allem der Beste zu sein. Selbst wenn man ihm zweifelsfrei das Gegenteil bewies, beharrte er so lange weiter auf seiner Sicht der Dinge, bis man ihm fast glaubte. Jess war davon immer unheimlich genervt gewesen, und es hatte eine Weile gedauert, bis ihm klar wurde, dass ein so großes Ego auch entsprechend verletzlich war – eine Erkenntnis, die er aber noch nie gegen Dario eingesetzt hatte. Es war bisher nicht notwendig gewesen.

Trotzdem war es immer gut, die Schwächen anderer zu kennen. Selbst wenn es sich dabei um einen Freund und Verbündeten handelte.

Wolfe hatte nicht übertrieben. Er wusste tatsächlich, wie man in das Büro des Archivars gelangte. Dafür mussten sie an vielen wachsamen Hohe-Garda-Soldaten vorbei und an noch mehr Automaten, darunter auch an einer Götterstatue mit einem Anubis-Kopf, was Jess wieder an seinen Traum erinnerte – und an den Grund für solche Träume. Sie gingen einige Flure entlang, die er anders im Gedächtnis hatte. »Es handelt sich um ein Labyrinth, das sich selbst immer wieder neu anordnet«, erklärte Wolfe. »Doch es gibt versteckte Hinweise in der Raumdekoration. Das Labyrinth verändert sich je nach Uhrzeit, Tag, Monat und Jahr. Die Maschinerie ist ziemlich raffiniert, sie stammt noch von Heron selbst.« Jess wollte sich schon reflexhaft zu Thomas umdrehen, der das Gesagte sicher gleich mit überschwänglicher Fröhlichkeit kommentieren würde. Sein Freund verehrte Heron geradezu wie einen Gott. Doch Thomas war nicht hier. Und Jess war überrascht, wie sehr ihm das auf die Stimmung schlug.

»Können wir bitte einfach erledigen, wofür wir gekommen sind?«, sagte Jess. Wolfe musterte ihn eindringlich, dann nickte er und zeigte ihnen ohne weitere Erklärungen den Weg, der sie durch die Furcht einflößende Götterhalle mit den riesenhaften, leblosen Automaten auf ihren Sockeln führte. Es fehlten diejenigen, die man in die Arena geschickt hatte, damit sie die Rebellen töteten. Die Maschinen waren in Stücke gehackt worden, und sollte man sie jemals ersetzen, wäre es wohl besser, einfache Statuen aus Stein oder Metall zu errichten, dachte Jess. Als Symbole statt als Waffen.

Am liebsten wäre es ihm aber, wenn er sie überhaupt nie wieder zu Gesicht bekäme.

Sie erreichten einen Saal, von dem viele, wie die Speichen eines Rads angeordnete Flure abzweigten. Dort befanden sich die Büros der Kurie, deren Mitglieder nun alle entweder tot oder zusammen mit dem Archivar geflohen waren. Die dort herrschende Stille wirkte bedrohlich.

»Das hier ist ebenfalls ein bisschen knifflig«, sagte Wolfe und zeigte den beiden, wo, wie und wann man bestimmte Knöpfe in der Wand drücken musste, um den Eingang zum Privatbüro des Archivars zu öffnen. »Normalerweise wäre das die Aufgabe hier postierter Elitegardisten, doch zum Glück sind die nun alle weg.«

»Sind sie das denn wirklich?«, fragte Dario. »Woher wissen wir, dass sie nicht hierher geflohen sind und sich im Büro verschanzen? Da drinnen könnte eine ganze Kompanie dieser Mistkerle auf uns warten.«

Es war eine berechtigte Frage und Mahnung zur Vorsicht. Jess zog seine Waffe und Wolfe holte etwas aus seiner Robe hervor, das Jess nicht sofort erkannte. Die elegante Form war allerdings unverkennbar: Thomas hatte einen weiteren Strahl des Apollo gebaut, und zwar eine verbesserte Version aus hochwertigerem Material. Tödlich konzentriertes Licht.

»Sicher ist sicher«, sagte Wolfe und schaltete die Waffe ein. Jess versicherte sich, dass seine eigene Feuerwaffe auf »Töten« gestellt war, und nickte. Als er sich zu Dario umdrehte, hielt der Spanier ein hübsches Schwert in der Hand, das filigrane Verzierungen besaß, deswegen aber nicht weniger tödlich war. Schon gar nicht in der Hand von jemandem, der damit so gut umgehen konnte wie Dario. In der Linken hielt der junge Spanier ebenso wie Jess eine Pistole der Hohen Garda.

»Weißt du überhaupt, wie man die benutzt?«, fragte Jess und deutete mit dem Kinn auf die Feuerwaffe. Dario bedachte ihn mit seinem typischen spöttischen Blick samt hochgezogener Augenbraue.

»Besser als du, Ratte.«

Dem war nicht so. Mit seinem Schwert hätte ihn Dario sicher leicht töten können, doch Jess war eindeutig der geschicktere Schütze. Sofern dieser schnöselige Adlige mit seiner vermutlich gestohlenen Waffe nicht wirklich viele Schießübungen absolviert hatte, konnte er keinem Soldaten der Hohen Garda das Wasser reichen.

Dario selbst war da bestimmt ganz anderer Ansicht. Natürlich.

Doch das war im Augenblick egal. Jess folgte Wolfe in einen eben neu erschienenen Flur, dann betraten sie das große, mit einem Teppich ausgelegte Vorzimmer des Archivars. Der Läufer allein war so viel wert wie ein halbes Königreich und nicht weniger eindrucksvoll waren die aus einer Ausgrabung in Babylon stammenden Wände mit assyrischen Löwen. Eine antike chinesische Jadevase, so zart wie eine Eierschale, erstrahlte in der durch das Oberlicht einfallenden Sonne.

Und da war auch der säuberlich aufgeräumte Schreibtisch von Neksa, der Assistentin des Archivars – jener Neksa, die Brendan geliebt hatte und die für die Vergehen der Zwillingsbrüder hatte sterben müssen.

Wolfe blieb vor ihrem Schreibtisch stehen und sah die beiden Jungen an. »Bereit?« Jess nickte und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Dario es ihm gleichtat. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und das war gut so. Paranoia war zu seiner ständigen Begleiterin geworden, doch heute würde sie ihm vielleicht das Leben retten. Vielleicht. Angst hatte er dagegen keine, was ihm seltsam und falsch erschien – andererseits war das im Moment durchaus praktisch.

Wolfe drückte einen Knopf an Neksas Schreibtisch und die Tür dahinter glitt auf. Er hob eine Hand, um die beiden davon abzuhalten, in den Raum hineinzustürmen, doch das hätte er sich sparen können, denn niemand bewegte sich. Sie blieben erst einmal, wo sie waren, lauschten und beobachteten. Durch die großen Fenster zum Hafen strömte Tageslicht ins Büro und am Horizont war die bedrohliche Masse der Kriegsflotte zu sehen. Draußen auf dem Meer schienen sich außerdem Gewitterwolken zu formen, die ihnen bald noch zusätzliche Schwierigkeiten machen konnten.

Das Büro wirkte völlig verlassen. Jess bewegte sich langsam in Richtung Tür, drückte sich platt gegen die Wand und spähte ums Eck in den Raum hinein, wobei er versuchte, bis in jeden dunklen Winkel zu blicken.

»Niemand da«, stellte er schließlich fest. Dennoch entspannte er sich nicht. Als Dario an ihm vorbeigehen wollte, hielt er ihn mit erhobenem Arm auf. »Was ist mit druckempfindlichen Bodenplatten?«

»Mmh.« Dario sah sich um. In einer Ecke des Assistentenbüros stand eine lächelnde Buddha-Statue, die eine schwere Jadekugel in den Händen hielt. Dario nahm die Kugel vorsichtig und legte sie auf den Boden, dann stieß er sie mit dem Fuß an und ließ sie in das Büro des Archivars rollen.

Als sie die Mitte des Teppichs vor dem riesigen Schreibtisch erreichte, erwachten die Automatengötter zum Leben und stiegen von ihren Sockeln: Anubis, Bastet, Horus und Isis fixierten einen Moment lang mit brennenden roten Augen die nun unbewegt daliegende Kugel. Dann kehrten sie wieder an ihre Plätze zurück und erstarrten.

»Ihre Skripte sind immer noch aktiv«, stellte Dario überflüssigerweise fest. Die Automatengötter würden sie in blutige Stücke hacken, sollten sie es wagen, das Büro zu betreten. »Gelehrter, ich denke, jetzt sind Sie am Zug. Schließlich haben Sie die passende Waffe dabei.«

»Nein«, sagte Jess und hielt Wolfe seine Pistole hin. »Tauschen Sie mit mir.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, entgegnete Wolfe und runzelte die Stirn. Jess kannte diesen Gesichtsausdruck – ein beinahe wütender Blick, leicht abgemildert durch einen Hauch von Besorgnis.

Er grinste unwillkürlich. »Keine Sorge. Ich habe nicht vor, denselben Weg zu gehen wie mein Bruder. Irgendjemand muss meinem Vater ja schließlich noch alles erklären. Und auch wenn ich ziemlich wenig Lust dazu habe, sollte das wohl ich sein.«

Wolfe gefiel das nicht, trotzdem erlaubte er ihm, den Strahl des Apollo an sich zu nehmen. Ohne zu zögern, marschierte Jess damit ins Büro, blieb neben der Kugel stehen und wartete auf die Reaktion der Automaten.

Sie waren schnell, doch er war noch schneller. Er aktivierte die Waffe, und ein dichter, gleißend heller Strahl aus gebündeltem Licht schoss aus dem Lauf. Mit gedrücktem Abzug bewegte er den Strahl von links nach rechts durch den Raum und säbelte Horus auf Hüfthöhe entzwei. Dann tat er dasselbe mit Bastet, Anubis und Isis. Das Ganze dauerte kaum länger als ein paar Sekunden, vielleicht nur einen Herzschlag lang, dann standen von den Göttern nur noch unbewegte mechanische Beine da, während ihre Oberkörper nutzlos geworden nach hinten klappten und zu Boden fielen. Als er den Abzug wieder losließ, hatte er vier Götter getötet.

Jess fühlte sich schrecklicherweise wunderbar. Er starrte Anubis an, dessen rote Augen nach kurzer Zeit erloschen und aschgrau wurden. Leer.

Für dich, sagte er in Gedanken zu Brendan. Zwar hatte keiner dieser Automaten seinen Bruder umgebracht, doch bis er den Verräter selbst in die Hände bekam, musste ihm das reichen.

Der letzte Automat war an genau derselben Stelle zu Boden gegangen, an der Neksa gestorben war – ermordet von einem mechanischen Speer, nur weil der Archivar demonstrieren wollte, wie ernst es ihm mit seinen Drohungen war.

Ich werde Zara für dich töten, Bruder, dachte Jess. Und dann werde ich diesen alten Mistkerl töten. Für Neksa.

Doch er sprach es nicht laut aus. Nicht vor Dario und Wolfe, die gerade hereinkamen und sein Werk betrachteten. »Nicht schlecht«, sagte Dario. »Thomas’ Waffe ist ziemlich beeindruckend. Manchmal jagt er mir direkt Angst ein.«

»Er macht sogar sich selbst Angst«, sagte Wolfe. »Er ist in ständiger Sorge, dass seine Erfindungen missbraucht werden könnten. Es ist nicht gerade leicht, wenn man ein solches Talent und dazu so viele Skrupel hat.« Der Gelehrte streckte die Hand aus und Jess gab ihm den Strahl des Apollo zurück. »Geht es dir jetzt besser?«

Jess’ Euphorie löste sich mit einem Schlag in Luft auf, und ihm wurde bewusst, dass seine Rachegefühle ihn unvorsichtig hatten werden lassen. Sollten das wirklich schon alle Fallen gewesen sein? Ganz bestimmt nicht. Der Archivar hatte sicher noch mehr in petto. Sie mussten auf der Hut sein.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte er zu Wolfe, der sich gerade dem riesigen Schreibtisch näherte. »Dort hat er sicher auch Fallen eingebaut.«

»Oh, aber das weiß ich doch.« Wolfe winkte genervt ab. »Ich weiß, wie er tickt. Dieser alte Fuchs hat gewiss keine neuen Tricks mehr gelernt, nachdem er sich den Platz hier gesichert hatte.«

»Zumindest hoffen Sie das«, murmelte Dario, und Jess dachte dasselbe. Doch er wusste, dass es sinnlos war, Wolfe aufhalten zu wollen. Der Gelehrte ging zum Schreibtisch, betrachtete ihn, ohne ihn zu berühren, und sagte dann ein paar Worte auf, die scheinbar keinen Sinn ergaben. Jess schwieg, bis Wolfe fertig war. Das Ganze klang wie irgendeine abergläubische Beschwörungsformel, und nichts deutete darauf hin, dass sie etwas bewirkt hatte.

»Vorsicht«, sagte Dario, der anscheinend zu demselben Schluss gekommen war wie Jess. »Gelehrter, was immer Sie da tun …«

Doch da war es bereits zu spät. Wolfe öffnete eine Schublade und drückte auf einen Knopf. Ein Licht blitzte auf und Jess wirbelte herum, bereit abzudrücken. Doch nichts passierte, außer dass an der hohen Decke einige in Reihen angebrachte Leuchten aufflammten und grüne Lichtbögen auf die Wände warfen. »Ich habe seine Fallen unschädlich gemacht«, sagte Wolfe. »Mir war völlig klar, dass er an seinen Sicherheitsvorkehrungen nie etwas geändert hat. Und er wusste nicht, dass ich ihn damals beim Aufsagen der Formel belauscht habe.«

»Wann war das denn?«, fragte Dario in einem auffällig beiläufigen Tonfall.

»Vor sechs Jahren. Bevor er das Vertrauen in mich verloren und mir meinen Gelehrtenstatus genommen hat. Bevor ich ins Gefängnis kam.«

»Das ist lang her«, flüsterte Dario so leise, dass nur Jess ihn hören konnte. Etwas lauter sagte er dann: »Und Sie hatten sie noch in Erinnerung?«

»Ich habe mir die Worte präzise eingeprägt«, antwortete Wolfe, »und sie immer wieder wiederholt – und es waren die richtigen.«

Jess fand, dass Wolfe sich seiner selbst viel zu sicher klang. Beunruhigend. »Gelehrter …«

Im selben Moment ertönte ein Alarm in Form eines hohen, dünnen, immer schneller werdenden Gongschlags. Instinktiv sahen sie alle nach oben in Richtung der Lichter.

Von dort senkte sich nun ein grüner Nebel herab. Die sich leicht kräuselnden Wirbel besaßen eine trügerische Eleganz. Jess nahm im Augenwinkel etwas wahr und sah zur Bürotür.

Denn sie glitt gerade zu.

»Raus hier!«, schrie Jess. Wolfe fluchte und begann, weitere Schubladen aufzureißen, griff mit beiden Händen nach Dokumenten und stopfte sie sich in die Taschen seiner Robe. »Dario! Halt die Tür auf! Gelehrter, es muss einen Ausschaltknopf geben! Finden Sie ihn!«

»Raus mit dir«, erwiderte Wolfe tonlos und öffnete ohne zu zögern eine weitere Schublade. »Pass auf, dass du nicht mit dem Nebel in Berührung kommst. Los jetzt, Junge!«

»Nein«, antwortete Jess und biss die Zähne zusammen. »Ich bin für Ihre Sicherheit verantwortlich.«

Wolfe sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde wütend an und wandte sich dann wieder dem Schreibtisch zu. Jess ging in die Hocke, um mehr Abstand zwischen sich und den Nebel zu bringen. Der Gelehrte fuhr ungerührt damit fort, den Schreibtisch auszuräumen.

Dario stemmte sich mit seinem in der Samtjacke steckenden Rücken gegen die zugleitende Tür. »Ähem … Leute! Lange kann ich das hier nicht mehr halten«, rief er. Die Tür drückte gnadenlos gegen ihn und schob ihn weg. Er stellte einen Fuß auf die gegenüberliegende Wand und hielt dagegen. Die Tür wurde langsamer, ließ sich aber auch so nicht stoppen. »Raus mit euch!«

»Nimm dein Schwert!«, rief Jess.

»Schwerter verbiegen sich, du Idiot!«

»Um damit die Tür zu blockieren!«

Dario warf ihm seine Waffe wortlos – und natürlich ohne die geringste Anerkennung für seine Idee – zu. Jess ließ sich flach auf den Boden fallen und schob das Schwert längs zwischen Tür und Rahmen. Das würde vielleicht nicht lange halten, doch zumindest half es Dario und würde ihnen so ein paar wertvolle Sekunden verschaffen.

»Weißt du überhaupt, was für ein Schwert das ist? Diese Waffe birgt Geschichte!«

»Würdet Ihr gerne weiterleben, um sie einmal Euren Nachkommen zu vererben, Eure Hoheit?«

Jess rollte sich zur Seite und kam in die Hocke hoch. Wolfe war immer noch am Schreibtisch zugange. Der Nebel schwebte mittlerweile nur noch eine Handbreit über seinem ergrauenden lockigen Haar. »Gelehrter! Raus jetzt!«

»Einen Moment!«

»Wir haben keinen Moment mehr!«

»Nur noch eine Schublade.«

Jess hatte ganz bestimmt nicht vor, Kommandant Santi zu erklären, warum sein Geliebter trotz seiner Gegenwart hatte sterben müssen. Vor allem nicht, wenn der Grund Wolfes Sturheit war, die sie gerade alle in Gefahr brachte.

Anstatt weiter zu diskutieren, stand er auf, packte Wolfe an der Robe und schob ihn in Richtung Tür. Als der Gelehrte sich zur Wehr setzte, trat er ihm von hinten in die Kniekehle und schubste ihn unter Darios ausgestrecktem Bein hindurch. »Bleiben Sie unten am Boden!«, rief Jess.

Dann drehte er sich um und rannte zurück zum Schreibtisch. Wenn Wolfe bereit war, für diese letzte Schublade sein Leben aufs Spiel zu setzen, musste sich in ihr etwas sehr Wichtiges befinden.

EPHEMERA

Brief des abgesetzten Archivars an den Anführer der alexandrinischen Brandschatzer. Handgeschrieben überbracht und nur als spätere Kopie im Kodex verfügbar.

Seien Sie gegrüßt, mein Freund. Es tut mir leid, Sie nicht mit Ihrem Namen ansprechen zu können – da ich ihn nicht kenne, ist mir dies leider nicht möglich, doch ich hoffe, dass Sie mir diese Taktlosigkeit vergeben können. Bislang hatte ich meine Briefe an Ihren Vorgänger gerichtet, denn auch wenn die Große Bibliothek und die Brandschatzer auf verschiedenen Seiten stehen, gab es hin und wieder gemeinsame Interessen. Und auch jetzt ist dem so.

Ich schreibe Ihnen in unserer verzweifeltsten Stunde, und ich unterbreite Ihnen ein Angebot, das Ihnen sonst niemand machen kann: das eines großartigen Sieges. Und zwar für Ihre Sache – sofern Sie bereit sind, sich mit mir zu verbünden, um die Stadt zurückzuerobern und diese dreisten Rebellen zu vertreiben oder auszulöschen. Schließlich versuchen sie gegen alle Tradition und Vernunft, die Bibliothek unter ihre Kontrolle zu bekommen … In diesem Fall garantiere ich Ihnen persönlich, dass es künftig eine andere Politik geben wird. Diese wird es auch Privatleuten gestatten, Originalwerke zu besitzen und zu sammeln – ohne Überwachung durch die Bibliothek oder die Hohe Garda. Ich werde dieses uralte Verbot abschaffen. Ebenso werde ich jene Gesetze abschaffen, die das Horten, Kaufen und Verkaufen von Originalwerken mit dem Tode bestrafen. Ich werde außerdem allen Brandschatzern für den Rest ihres Lebens Straffreiheit garantieren – und zwar für jegliche Missetaten, die sie gegen die Gesetze der Großen Bibliothek verübt haben, auch rückwirkend und selbst wenn es sich dabei um Morde an unseren Gelehrten und Bibliothekaren handelt.

Sie sind der Ansicht, dass ein Leben mehr wert ist als ein Buch. Nun haben Sie die Gelegenheit, das auch unter Beweis zu stellen.

Retten Sie uns das Leben. Helfen Sie uns, die Stadt zurückzuerobern.

Töten Sie den unrechtmäßig eingesetzten neuen Archivar. Töten Sie den Gelehrten Christopher Wolfe, Khalila Seif, Dario Santiago, Jess Brightwell, Thomas Schreiber, Glain Wathen und den Hohe-Garda-Kommandanten Santi. Töten Sie sie, und bringen Sie mir einen Beweis.

Ich wäre bereit, Sie dafür zusätzlich zu entlohnen.

2

Jess

Jess duckte sich und zog mit aller Kraft an der letzten Schublade. Sie ließ sich nicht öffnen. Verdammt. Der Nebel kam immer näher, und sein merkwürdiger Gestank nach bitteren Blumen brannte ihm bereits im Rachen. Schlucken machte es nur noch schlimmer. Es war nicht der stechende Geruch des griechischen Feuers – was er eigentlich befürchtet hatte. Nein, das hier war etwas anderes.

Vermutlich etwas noch viel Schlimmeres. Er hatte keine Ahnung, was der Archivar so alles an furchtbaren Waffen in seinem Arsenal hatte – darin waren wohl nur wenige eingeweiht –, doch ganz sicher waren sie alle tödlich.

Jess nahm seine Pistole und feuerte auf das Schloss der Schublade. Es zersprang, er schob seine Finger in das zersplitterte Loch und zog daran, bis die Schublade schlagartig mit einem schnappenden Laut nachgab. Plötzlich fand er sich auf den Knien wieder, ohne sich erinnern zu können, wie das passiert war. Der Geschmack in seiner Kehle und der Gestank verwirrten ihn. Was tat er hier? Warum hatte er die Schublade mit Gewalt geöffnet?

Die Dokumente. Hol die Dokumente.

Er schloss seine Hand ungeschickt um eine Handvoll Papiere und versuchte aufzustehen. Es war unmöglich. Ihm brannten die Augen und seine Kehle fühlte sich taub und versengt an. Das Atmen fiel ihm schwer. Es war sicher besser, einfach hierzubleiben. Zu warten.

Jemand rief seinen Namen. Du musst hier raus, sagte er zu sich selbst. Doch sein Körper fühlte sich fremd an, wie der einer Puppe. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie man sich bewegte. Quälend langsam beugte er sich nach vorne und drückte das Gesicht in den weichen Teppich. Hier war die Luft reiner. Er keuchte und rang nach Atem, wie ein sterbender Fisch an Land.

Dann hörte er Stimmen und folgte ihnen kriechend in Richtung Tür. Der Nebel senkte sich gnadenlos immer tiefer über ihn, schwer, so schwer, wie eine Stahlwand, die von oben gegen seinen Rücken drückte und ihn zu Boden zwang. Sich noch irgendwie weiterzubewegen wurde viel zu anstrengend.

Der Nebel füllte seinen Mund wie Zement und begann ihn zu ersticken.

Ich sterbe, dachte er. Panik stieg in ihm auf, doch sie fühlte sich leicht gedämpft und weit weg an. Er robbte ein paar armselige Zentimeter weiter. Es reichte nicht.

Plötzlich griffen Hände nach ihm und zogen ihn mit einem Ruck nach vorne. Er hatte das Gefühl, durch die Luft zu fliegen und als er wieder auf dem Boden landete, blieb er mit weit von sich gestreckten, schlaffen Gliedmaßen liegen. Er keuchte und würgte. Ein widerlicher Schaum quoll aus seinem Mund. Ich bin ein tollwütiger Hund. Bei diesem Gedanken wäre er fast in Gelächter ausgebrochen, aber dann rebellierte sein Magen. Er krümmte sich zusammen und versuchte zu atmen, doch seine Kehle war sofort wieder verstopft. Jemand öffnete ihm mit Gewalt den Mund und goss etwas hinein. Es brannte, und er spuckte es aus. Der andere versuchte es erneut. Dieses Mal rann die Flüssigkeit seine wunde Kehle hinunter, verbrannte sie, verbrannte alles, bis sie unten in seinem Magen ankam. Er hielt das Zeug erst für Alkohol, doch beim vierten Durchgang dieser Prozedur wurde ihm klar, dass es sich dabei nur um Wasser handelte. Die saubere Luft versorgte sein Hirn mit Sauerstoff, sodass er wieder denken konnte, wenn auch immer noch etwas langsam.

»Du Vollidiot!« Das klang nach Dario, doch seine Stimme war seltsam zittrig. Als Jess sich auf den Rücken rollte, sah er ihn mit einem Wasserkrug über sich knien. Das Glasgefäß war fast leer und bebte in der Hand des jungen Mannes. Dario stellte es ohne ein weiteres Wort ab. »Ist dir eigentlich bewusst, wie knapp das war?«

Oh. Das Büro des Archivars. Er war noch einmal zurückgegangen, um die Dokumente zu holen. Hatte er sie noch? Er hob die Hände. Nein. Da war nichts. Verzweiflung überkam ihn, dann folgte ein Hustenanfall, der seinen Mund wieder mit widerlichem grünen Schaum füllte. In seinem Kopf pochte es und jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, zitterte und krampfte.

Er hatte versagt.

»Tut mir leid«, flüsterte er. »Die Dokumente. Sie sind weg.«

»Sind sie nicht«, sagte Wolfe. »Du hast es irgendwie geschafft, sie festzuhalten.«

Als sich seine Muskeln etwas entspannten, sah Jess auf. Der Gelehrte breitete die Papiere gerade auf dem Schreibtisch aus, der einmal Neksa gehört hatte, und studierte sie fieberhaft. Er sah blass aus. Schweiß rann an seinem Gesicht herunter, und es war kaum zu übersehen, wie aufgeregt er war. Und wie erleichtert. »Du hast es gefunden«, sagte er und blickte zu ihnen beiden hinüber. »Ich danke dir. Euch beiden.«

»War es denn wenigstens wert, was es uns fast gekostet hätte?«, fuhr Dario ihn an. »Es hätte nicht mehr viel gefehlt und Sie hätten einen zweiten toten Brightwell verantworten müssen!«

Wolfe erstarrte, und sein Gesicht wurde ausdruckslos. Jess brauchte etwa eine Sekunde – dieses Mal nur eine einzige –, dann traf ihn die Gewissheit wie ein Blitz: Sein Bruder war tot.

»Dessen bin ich mir völlig bewusst, Santiago«, sagte Wolfe, doch Jess hörte es kaum.

»Und was wäre, wenn er für diese Dokumente gestorben wäre und sie sich als Einkaufszettel des Archivars entpuppt hätten? Denken Sie doch nach, Gelehrter, sonst bringt uns Ihre Sturheit noch alle um!«

Nimmt Dario mich etwa gerade in Schutz? Jess wusste nicht so recht, was er davon halten sollte – und dann schämte er sich ein bisschen dafür, dass ihn das überraschte. Aber nur ein bisschen.

»Wir sollten gehen«, sagte Wolfe und packte die Dokumente zusammen. »Schreiber wird das hier brauchen.«

Jess bekam einen weiteren Hustenanfall, worauf sich sein Mund wieder mit dem ekelhaften grünen Schaum füllte, den er ausspuckte. Anscheinend konnte er keinen Atemzug tun, ohne weiteren zu produzieren. Es tat weh. »Was sind das für Papiere?« Er brachte die Worte nur mühsam hervor.

Nun wandten ihm beide ihre Aufmerksamkeit zu. Er wischte sich den Mund ab und setzte sich auf. Daraufhin musste er noch mehr husten, doch es bildete sich weniger Schaum. Seine Lunge fühlte sich an, als wäre sie mit Watte ausgestopft, aber zumindest konnte er jetzt wieder atmen.

»Das sind Aufzeichnungen zu den Verteidigungsanlagen des Hafens«, sagte Wolfe, »und wie man sie aktiviert. Dieses Geheimnis wird von den Archivaren seit Jahrtausenden streng gehütet, doch wir müssen es jetzt dringend lüften.« Er schwieg kurz. »Und dass wir das können, haben wir allein dir zu verdanken, Jess.«

»Na prima.« Jess streckte eine Hand aus, doch Dario schüttelte den Kopf.

»Bleib lieber da unten«, sagte er. »Zumindest so lange, bis du wieder von allein aufstehen kannst. Du wärst fast an deiner eigenen Spucke erstickt, du Blödmann.«

»Wer hat mich da rausgezogen?«, fragte Jess, dann musste er einen neuen Hustenanfall abwarten, bevor er weitersprechen konnte. »Du?«

Dario schüttelte den Kopf und nickte in Wolfes Richtung. Der Gelehrte war gerade dabei, die Dokumente einzurollen und in der Innentasche seiner Robe zu verstauen. »Ich war damit beschäftigt, die verdammte Tür aufzuhalten«, sagte Dario.

»Vergiss dein Schwert nicht«, erwiderte Jess. Vier ganze Worte, ohne dass er wieder husten musste, auch wenn es tief in seiner Lunge bedrohlich brodelte.

Das brachte ihm einen wütenden Blick ein. »Gut, dass du mich daran erinnerst: Du schuldest mir ein neues Schwert. Allerdings weiß ich nicht, wo du genug Geneih dafür auftreiben willst …«

Jess schüttelte nur mit dem Kopf und versuchte nicht einmal, sich eine passende Antwort zu überlegen. Er sparte sich seinen Atem lieber, griff entschlossen nach Neksas Schreibtisch und zog sich daran auf die Knie hoch. Dann stand er auf. Er hielt sich noch ein paar Sekunden lang fest, um schließlich zu seiner Erleichterung festzustellen, dass er sich ganz allein auf den Beinen halten konnte. Rennen war sicher nicht drin, doch wenn er stehen konnte, konnte er gewiss auch gehen.

Ihn beschlich das Gefühl, dass sie besser möglichst schnell von hier verschwinden sollten. Er war sehr nah dran gewesen, das Büro des Archivars nicht mehr lebend zu verlassen. Und er war sich ziemlich sicher, dass an diesem Ort noch andere Gefahren lauerten. »Wir sollten jetzt wirklich unbedingt gehen«, sagte er. Sechs Worte am Stück. Er unterdrückte ein Husten.

Wolfe musterte ihn einen Moment lang sorgenvoll, doch schon im nächsten Moment hatte er wieder seine übliche sauertöpfische Miene aufgesetzt, wie er sie schon damals getragen hatte, als er am Bahnhof in Alexandria das erste Mal auf seine Schüler getroffen war. Eine schwarze Krähe in einer schwarzen Robe, distanziert und abweisend.

»Na gut«, sagte er. »Reiß dich zusammen, Brightwell. Wir müssen zu Nic. Er sollte ganz in der Nähe sein.«

Niccolo Santi war nicht schwer zu finden. Sie entdeckten ihn am Fuße der Serapeums-Pyramide, wo er Befehle an eine Menge Kuriere verteilte, die sich jeweils sofort damit auf den Weg machten. Seine Leutnants – unter ihnen auch Jess’ Freundin Glain – warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. Trotz des Durcheinanders, das die vielen in Santis Richtung drängenden Menschen verursachten, lief alles überraschend ruhig und geordnet ab. Das lag zum Teil an Santi selbst, der wie ein Fels in der Brandung dastand und jedem, mit dem er gerade sprach, seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Als er Wolfe, Jess und Dario entdeckte, die aus einem Garten an der Seite des Serapeums traten, ließ er sich davon nur einen Augenblick lang ablenken, bevor er sich wieder auf den verschleierten Leutnant vor ihm konzentrierte. Er beantwortete die Frage der Frau, reichte ihr einen Kodex und salutierte mit der Faust über dem Herzen, kombiniert mit einer leichten Verbeugung. Sie erwiderte den Gruß, machte kehrt und entfernte sich im Laufschritt.

Santi verkündete eine Pause und drängte sich durch die Menge zu Wolfe. Sie umarmten sich kurz, dann trat Santi zurück und warf jedem der drei einen Blick zu. »Jess?«, sagte er. »Du siehst nicht gut aus. Was ist passiert?«

»Ich werde ihn zu einem Medica bringen«, antwortete Wolfe. »Hier.« Er gab Santi einen Teil der Dokumente. »Ob die anderen Papiere von strategischem Nutzen sind, weiß ich noch nicht, doch das hier ist der Schlüssel zur Verteidigung des Hafens. Hol Schreiber, er soll sich nützlich machen und die Anlage in Gang bringen. Es wird wohl nicht alles auf Anhieb funktionieren, der letzte Einsatz ist so lange her, dass er überhaupt nur gerüchteweise überliefert ist.«

»Großer Gott, ich hätte mir nicht träumen lassen, dass wir dazu überhaupt jemals etwas in die Hände bekommen«, antwortete Santi. »Wenn es dir recht ist, behalte ich Brightwell hier und lass ihn von einem Medica anschauen.« Er sah Wolfe prüfend an. »Und was ist mit dir? Du siehst blass aus.«

»Mir geht’s gut«, erwiderte der Gelehrte. »Ich habe nicht viel von dem Gift abbekommen. Jess dagegen hat eine ziemlich hohe Dosis eingeatmet. Wenn du dich um ihn kümmern könntest, wäre das … eine große Erleichterung für mich.« Er verstummte und sah sich um, während ihm eine Erkenntnis dämmerte. »Erledigst du hier nicht gerade die Aufgaben des Oberkommandanten?«

»Ja. Der alte Oberkommandant hat den Dienst quittiert. Schau mich nicht so an. Jemand musste schließlich Ordnung ins Chaos bringen. Das ist nur übergangsweise.«

»Der Posten steht Ihnen gut«, bemerkte Dario. »Vielleicht sollten Sie ihn behalten.«

Santi bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass nicht alles deines Kommentars bedarf, Gelehrter?«

»Autsch«, erwiderte Dario amüsiert. »Mhm. Mal sehen … Ja, das habe ich und ich bin anderer Meinung!« Dario sagte das leichtherzig und im Scherz, trotzdem war dabei etwas Verletzliches spürbar. Jess war zu müde, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er wollte einfach nur noch irgendwo sitzen, die Augen schließen und dieses ohnmächtige Gefühl des Erstickens hinter sich lassen. »Vielleicht möchte der Gelehrte Wolfe sich ja heute zum Archivar Magister wählen lassen«, fügte Dario noch hinzu.

»Ich? Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Wolfe. »Ich habe jede Menge Feinde, sogar unter meinen Freunden.«

Santi musste grinsen. »Das ist allen ganz sicher bewusst. Aber abgesehen davon, gehörst du zu den schlauesten Köpfen dieser Stadt.«

»Darüber lässt sich streiten. Und du bist in dieser Sache bestimmt nicht unparteiisch. Nic, ich habe nicht das Zeug zum Anführer, also mach dich nicht lächerlich.« Wolfe wandte sich an Jess. »Ich übergebe dich jetzt in die fähigen Händen deines Kommandanten. Ruh dich aus. Das hast du gut gemacht. Und Nic!? Pass auf, dass dir niemand ein Messer in den Rücken rammt. Dir ist bewusst, dass wir Feinde haben, die sich als unsere Verbündeten ausgeben, oder?«

»Ist es. Deswegen bin ich ja hier. Um zu zeigen, wie effizient und effektiv wir sind. Und dass wir alles unter Kontrolle haben. Ich habe an jedem sicherheitsrelevanten Punkt der Stadt Truppen postiert, außerdem patrouillieren Soldaten in den Wohngebieten. Elite-Spezialeinheiten behalten zusammen mit Automaten alle Aktivitäten jenseits der Stadtmauer im Auge. Die Russen haben am nordöstlichen Stadttor ein Lager aufgeschlagen und es sieht nicht so aus, als würden sie so bald wieder von dort verschwinden. Schiffe der Hohen Garda bewachen die Hafeneinfahrt. Thomas beschäftigt sich, soweit ich weiß, gerade mit dem Leuchtturmstrahl. Ich lass ihn holen, damit er sich die Dokumente hier ansieht. Mir ist das alles zu hoch.« Santi schwieg einen Moment lang und sah Wolfe an. »Wir müssen einfach nur diesen Tag überleben, Liebster. Und dann stoßen wir heute Abend zu Hause darauf an.«

»Das machen wir«, antwortete Wolfe. »Pass gut auf dich auf.«

»Du ebenfalls.«

Eine solche Beziehung wünschte sich Jess auch: gleichberechtigt, voller Loyalität und Güte. Er war sich nicht sicher, ob er das im Moment hatte, doch das war etwas, was man anstreben konnte.

Das alles ließ ihn an Morgan denken. »Kommandant?« Santi wandte sich ihm zu. »Die Obskuristen könnten Ihnen doch dabei helfen, Informationen schneller und einfacher zu verteilen.«

»Ja, Jess, darum haben wir uns schon gekümmert. Der Schreiber dort gibt jeden Befehl an den Kodex weiter und von dort geht er dann an den zuständigen Offizier.«