Schwester Melisse - Tanja Schurkus - E-Book

Schwester Melisse E-Book

Tanja Schurkus

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Beschreibung

Als unter Napoleon alle Klöster säkularisiert werden, verlässt sie den Orden. In der Schlacht von Waterloo pflegt sie unter größtem Einsatz Verwundete. 1825 kommt sie nach Köln und nutzt ihre guten Kenntnisse aus der Klosterapotheke und Pflanzenheilkunde, um ihr "Melissenwasser" als Arznei herzustellen. Je erfolgreicher ihre Firma ist, umso lauter stellt sich ihr die Frage: Darf sie als Frau, die einmal das Gelübde der Armut abgelegt hat, ein profitables Geschäft betreiben? Wie sieht Gottes Weg für ihr Leben aus? Die Firmengründerin von Klosterfrau Melissengeist war eine ungewöhnliche Frau. Tanja Schurkus erzählt die packende Geschichte der Ordensfrau Maria Clementine Martin.

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Tanja Schurkus

Schwester Melisse

Die Klosterfrau von Köln

© 2014 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Lektorat: Eva-Maria Busch

Umschlagmotiv: Panthermedia; dieKleinert

Umschlaggestaltung: Sabine Schweda

Satz: DTP Brunnen

ISBN 978-3-7655-1804-1

eISBN 978-3-7655-7166-4

Inhalt

ZWISCHEN KREUZ UND ADLER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

DIEU ET LIBERTÉ – GOTT UND FREIHEIT

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

SCHWESTER MELISSE

Kapitel 29

Kapitel 30

NACHWORT

„Ich bin nur eine arme, alte Klosterfrau“

Lebensdaten

ZWISCHEN KREUZ UND ADLER

1

Die drei Jungen drängten sich dicht aneinander, jeder fasste den anderen am Ärmel, an der Weste. Sie bestärkten sich so darin, dass sie das Bevorstehende nur gemeinsam tun würden. Die Angst teilten sie ebenso wie den Mut.

Sie nutzten den Schutz der Hausecke an der Olivengasse, ihre Blicke auf das Kasernentor gerichtet. Die Kompanie, die auf dem Neumarkt exerziert hatte, trampelte mit genagelten Stiefeln über das Pflaster, übertönt vom Spiel der Regimentsmusiker. Die Soldaten erhielten den Befehl zu einem Schwenk und passierten das Tor.

„Jetzt!“, feuerte einer der Jungen seine Freunde an.

„Nein, noch nicht!“ Der Älteste hielt die beiden anderen mit einer Geste zurück.

Schaulustige waren am Kasernentor stehen geblieben, manche wippten im Takt der Marschmusik. Zwei Hunde bellten. Nun hatten alle Soldaten dem Platz den Rücken zugedreht.

„Los!“ Die drei stürmten hinter der Hausecke hervor und riefen lauthals im Chor, der selbst die Musik übertönte: „Rote Kragen, nix im Magen! Goldne Tressen, nix zu fressen! Stinkpreußen!“

Und dann warfen sie die Pferdeäpfel, die sie gesammelt hatten. Markus schleuderte den ersten ziellos. Er wollte sich beweisen, dass er es wagte; doch dann sah er, dass Gustav sich einen Moment Zeit ließ, Maß nahm. Der Pferdeapfel, den er warf, traf einen der Marschierenden am Stiefel.

Noch einmal riefen sie: „Rote Kragen, nix im Magen! Goldne Tressen, nix zu fressen! Stinkpreußen!“ Einige Kinder, die der Musik gefolgt waren, fielen in den Spottvers ein, sprangen übermütig hinter den Soldaten herum.

„Ihr Janhagels!“, mahnte einer der Zuschauer, aber es klang gutmütig. Die Kinder sprachen aus, was die Erwachsenen nicht zu sagen wagten.

Gustav hatte sein zweites Geschoss geworfen und das Scheppern eines Metallteils vermeldete seinen Erfolg. Markus wollte ihn noch übertreffen. Also begnügte er sich nicht damit, aus der Entfernung auf gut Glück zu werfen, sondern näherte sich dem Kasernentor. Die Hand, in der er den getrockneten Pferdeapfel hielt, war vor Aufregung eiskalt. Er hatte den Unteroffizier ins Auge gefasst, der den Vorbeimarsch seiner Soldaten begutachtete. Wie nah musste er ihm kommen, um die Hand zu treffen, die am Seitschwert lag?

„Markus, komm!“, riefen die anderen, die ihre Munition schon verschossen hatten.

Seine Holzschuhe schienen plötzlich unförmig geworden zu sein, bei jedem Schritt stießen sie gegeneinander. Es fiel ihm schwer, sie zu heben, aber er war entschlossen. Der Unteroffizier wandte sich plötzlich in seine Richtung. Markus nutzte diesen letzten Moment und warf. Er traf nicht die Hand – der Pferdeapfel zerplatzte an der Schulter, am Schulterstück, zersprang in viele braune Teile, die Hals und Gesicht trafen.

„Habt ihr’s gesehen? Dem Preußen mitten ins Gesicht!“ Markus war stolz auf seinen Erfolg. Aber von seinen Kameraden kam keine Antwort, sie hatten das Weite gesucht. Der Unteroffizier klopfte sich unwillig über den Ärmel und warf einen drohenden Blick auf ihn. Markus fuhr herum, wollte weglaufen, prallte aber gegen einen menschlichen Berg.

Durch die Sonne in seinem Rücken wurde der Offizier übergroß. Er fasste ihn roh am Arm. „Na, warte, Bürschchen! Dir fütter ich heut noch Pferdeäppel!“

Markus versuchte sich loszureißen, aber er war gepackt wie eine Holzpuppe. Er schrie. Der Offizier schüttelte ihn. Markus schrie lauter. Leute murrten. Dass den Preußen das Recht zu prügeln gegeben war, sorgte in den Gassen Kölns immer wieder für Schreckgeschichten. „Lass den Kleinen doch“, sagte einer und wurde zurechtgewiesen.

„Packt euch!“, befahl der Offizier. „Und du kommst mit!“

„Hier find ich dich also, du nutzloser Bengel!“ Markus wurde plötzlich am anderen Arm gefasst und dem Offizier entrissen. „Solltest du nicht am Rhein beim Netzeflicken sein?“

Markus erkannte die Frau sofort, die ihn gepackt hatte. Er wusste, sie war seine Rettung. Er wagte ein Grinsen, wurde aber gleich wieder geschüttelt und von Maria am Ohr gezogen.

„Au, au!“

Der Offizier ließ einen zufriedenen Laut hören. „Ist das Ihr Bengel?“

„Nein, aber ich weiß, wo er hingehört. – Bürschchen, wenn ich deinem Vater erzähle, was für Flausen du im Kopf hast, dann setzt es was!“

„Recht so!“, kommentierte der Offizier.

Markus ließ sich mitziehen, wusste er doch, dass ihn keine der angedrohten Strafen erwartete. Erst als sie in der Cäcilienstraße den Blicken des Offiziers entzogen waren, lockerte Maria ihren Griff.

„Was sollte der Unfug?“, fragte sie streng. Markus jedoch fand, dass die Sache nicht besser hätte laufen können. Davon würden sich die Jungs in den Gassen noch lange erzählen. Besser noch: Sie würden ihn von seiner Heldentat erzählen lassen.

„Gab heut keine Netze zu flicken.“

An drei Tagen in der Woche musste er zur Schule, das war bei den Preußen Pflicht. An den anderen Tagen ging er morgens zum Rhein und verdiente ein paar Pfennige damit, Netze auszubessern, Fische auszunehmen und in Körbe zu sortieren. An besseren Tagen konnte er den Holländern auf ihren Schiffen helfen. Die Bootsleute hatten immer etwas zu erzählen, manche waren sogar zur See gefahren. Markus wollte diese Länder sehen, in denen die Menschen Felle und Federn trugen; er wollte in einem Land leben, in dem nicht an jeder Hausecke ein Uniformierter stand.

„Dir kann man wohl nicht damit drohen, dass ich’s deinem Vater sage. Wahrscheinlich hat der dich dazu angestiftet!“

Maria kam nicht oft in das Haus seiner Eltern und war doch immer auf irgendeine Weise anwesend. Ihr Rat galt etwas im Haus eines jeden guten Katholiken. Manchmal allerdings wurde über sie im gesenkten Tonfall gesprochen. Es ging dann um Dinge, die eine Nonne nicht tun sollte, oder darum, ob sie überhaupt noch eine Nonne war. Sie hatte zwar ihre Haare verschleiert, trug aber keine Ordenstracht. Einen Mann hatte sie auch nicht, das wusste Markus, stattdessen stellte sie Kölnisch Wasser her und Wundertränke. Sein Freund Gustav hatte einmal mit eigenen Augen gesehen, wie sie eine Kröte aus dem Bauch einer Frau herausholte. Die Kröte war dann nach St. Severin gesprungen und zu Wachs geworden. Für Markus war sie eine der abenteuerlichsten Personen in Köln. Er war sich daher sicher, dass sie für das Husarenstück Verständnis haben würde.

„Angestiftet hat mich der Vater nicht“, sagte er, „aber er sagt ja, dass man es den Preußen ungemütlich machen muss …“

Maria fasste ihn noch einmal beim Ärmel und beugte sich zu ihm, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Markus wusste, dass Frauen mit diesen Fähigkeiten auch den bösen Blick hatten, aber Schwester Maria hatte einmal die ewigen Gelübde abgelegt. Flüche verhängte sie bestimmt nicht.

„Es könnte vor allem für deinen Vater ungemütlich werden“, sagte sie. „Hätten die Preußen dich dabehalten, hätte er dich auslösen müssen! Du weißt ja, was das bedeutet!“

Markus nickte. Dafür gab es ein Wort: Spießrutenlaufen. Jeder, der mit der preußischen Armee zu tun gehabt hatte, erzählte davon. Deswegen wollte Markus auch fort aus dem, was sich preußische Rheinprovinz nannte, bevor er alt genug war, um verpflichtet zu werden.

Maria richtete sich wieder auf. „Dein Vater und die Preußen werden das also ungeahndet lassen. Aber beim Herrgott musst du dafür in der Beichte einstehen!“

„Aber welche Sünde habe ich denn gemacht?“, fragte Markus mit ehrlicher Verwunderung und wartete einige Schritte lang ehrfürchtig auf die Antwort, die Maria von höchster Stelle einzuholen schien.

„Du hast gegen eins der Zehn Gebote verstoßen. Weißt du, gegen welches?“

Zumindest hatte sie nicht wie der Pfarrer den Rohrstock in der Hand, als sie das fragte.

„Du sollst Vater und Mutter ehren?“

„Jawohl … damit du lange leben wirst in dem Lande, das Gott, der Herr, dir gab. Und Gott, dem Herrn, hat es nun einmal gefallen, dieses Land an den preußischen König zu geben.“ Markus hörte aus diesen Worten heraus, dass es ihr Gefallen nicht war; wie sollte eine fromme Nonne auch Gefallen an einem nichtkatholischen Herrscher finden? Sie sprach also etwa so wie der Pfarrer in der Schule, der ein wenig eilig leierte, wenn es darum ging, den König von Preußen als Beschützer aller Gottesfürchtigen darzustellen.

„Ein König ist der Vater seiner Untertanen. Und wenn man seine Soldaten mit Schmutz bewirft, so hat man den König, also den Landesvater, mit Schmutz beworfen. Und er straft es nicht selten damit, dass er solche Leute des Landes verweist.“

Will ja weg, dachte Markus; der Vater hatte noch aus der Zeit des Krieges gegen die Preußen einen Kameraden, der nach Kanada gegangen war. Zweimal im Jahr kam von ihm ein Brief, der der Familie vorgelesen wurde. Die Mutter aber wollte vom Auswandern nichts wissen.

„Aber Schwester Maria! Der König von Preußen ist doch nicht katholisch, der kann nicht unser Vater sein.“

Maria fasste die Ledertasche nach, die sie unter dem Arm hielt. Vor ihnen lag das ehemalige Cäcilienkloster, in dem die Franzosen vor fünfzehn Jahren ein Bürgerhospiz in Köln eingerichtet hatten. „Es ist eben die Art des Allmächtigen, unser Vertrauen zu prüfen.“

„Der Theodor sagt, wenn wir den Dom vollenden, verschwinden die Preußen von selbst.“

„Ja, das klingt so recht nach Theodor.“

„Waren Sie denn schon bei Johann? Der ist sterbenskrank!“ Markus war stolz auf diese aufregende Neuigkeit.

Maria hielt ihn kurz bei der Schulter, denn über die Cäcilienstraße schaukelten Fuhrwerke und Kutschen. Köln war zu eng für eine eilige Fahrt und immer gefährlich für alle, die zu Fuß unterwegs waren.

„Was fehlt Johann denn?“

„Er hat’s in der Lunge. Seit zwei Tagen liegt er mit Fieber.“

„War ein Arzt bei ihm?“

„Zu teuer.“

„Der Amtsarzt verlangt gar nichts.“ Amtsarzt – allein das Wort war für Markus derart Ehrfurcht gebietend, dass er darauf nichts sagte. „Ich werde gleich nachher bei Johann vorbeisehen“, meinte Maria.

Markus sah, dass Gustav sich in einem nahen Torbogen herumdrückte. Anscheinend fürchtete er sich vor Marias Ermahnungen, aber sie winkte ihn heran. Er nahm die Filzmütze ab.

„Und du, Gustav, solltest deine Freunde nicht zu solchem Unfug anstiften! Du bist der Älteste, also benimm dich auch so!“

Bei dem Vierzehnjährigen schien die Schelte Eindruck zu machen. Er sah auf das kotbeschmierte Pflaster herab. „Ja, Madame, ich hab ihn aber nicht angestiftet.“

„Das war mein Einfall!“, verkündete Markus. „Und letzte Woche haben wir dem Struensee einen Drisspott an die Tür gekippt – das war auch mein Einfall!“

„Dem Polizeipräsidenten Struensee?“ Dieser war in Köln denkbar unbeliebt, daher war sich Markus sicher gewesen, allen damit einen Gefallen zu tun. „Gustav, wenn’s auch nicht dein Einfall war: Du solltest so etwas nicht zulassen!“

„Ja, Madame.“ Peter Gustav stammte aus der alteingesessenen Brennereifamilie Schaeben. Er war alt genug, um zu verstehen, dass seine Familie es sich mit den neuen Herren nicht verderben durfte, wenn die Geschäfte weiter gut laufen sollten.

„Und sag deinem Vater, dass ich einen neuen großen Kolben brauche.“

„Für das Melissenwasser? Hat es denn nun die Amtsprüfung?“

„Musst nicht alles wissen, Gustav!“ Sie stupste den Jungen an die Wange. Gustav gab recht oft damit an, dass er Schwester Maria dabei half, ihre Heil- und Wunderwasser zu brauen, und dass er eine Menge von dem Spiritus wusste, der aus jedem Kraut die Heilkräfte herausholen konnte.

Weil Markus nicht wollte, dass sein älterer Freund so ganz den angehenden Destillateur herauskehrte, unterbrach er das Gespräch: „Gusti, guck mal!“ Er deutete auf eine Reisekutsche aus edlem Ebenholz mit Messingbeschlägen, die auf hohen gefederten Rädern vorüberrollte, offenbar dem Rheinberg entgegen. Der war zwar längst von den Preußen abgetragen worden, um einen Zugang für die neue ständige Brücke zu schaffen, aber in den älteren Reiseberichten wurde dieser Ort immer noch der Aussicht wegen empfohlen.

„Da bleib ich dran!“, rief Markus. „Mesdames et Messieurs: Bienvenue dans la bonne ville …“ Dabei streckte er lachend die Hand aus und lief los.

Gustav zögerte noch, schien sich mit einem Blick die Erlaubnis von Maria holen zu wollen, entschuldigte sich mit einem: „Ich geb schon auf ihn acht!“, doch das Aufblitzen in seinen Augen verriet, dass auch ihn die wohlhabenden Reisenden reizten. Dann lief er seinem Freund hinterher.

Maria hörte noch einen Wortwechsel zwischen den beiden. „Du kannst doch nicht Madame zu Schwester Maria sagen“, beschwerte sich Markus.

„Ja, wie denn sonst? Sie ist doch keine Nonne mehr.“

„Ist sie wohl …“ Dabei verschwanden die beiden in abenteuerlicher Unachtsamkeit zwischen Zugochsen und Handkarren, zwischen Mägden mit großen Weidenkörben und Pfeife rauchenden Handwerksgesellen.

Maria war unzufrieden mit sich, weil sie die beiden Jungen nicht schärfer ermahnt hatte. Sie kamen in ein Alter, in dem man ihre Streiche nicht mehr für harmlos hielt, sondern als Majestätsbeleidigung einstufte. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendein eifriger preußischer Beamter über die schwierigen Kölner Verhältnisse nach Berlin berichtete und Härte empfahl.

Doch die Kinder wiederholten nur das Gerede, das sie in den Gassen hörten. Es war eine Leidenschaft der Kölner, in den unteren Fenstern ihrer Häuser zu liegen und die Vorübergehenden in ein Gespräch zu verwickeln, in dem es um das Wohl und Weh – meistens das Weh – der Nachbarn ging: um das schlimme Auge, einen missratenen Sohn … und natürlich um die Preußen. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass das „Heilige Köln“, die Stadt der Heiligen Drei Könige im Jahr 1815 zur gemeinsten preußischen Provinz wurde, die von Koblenz und Düsseldorf aus verwaltet wurde? Die Kinder, die in den Gassen umherstreiften, hörten diese Worte und wiederholten sie. Es war Teil des großen Spiels, in dem sie lebten, so wie das Hungern ein Spiel war, das Arbeiten, das Kranksein, das Beten und Lernen – etwas, das man nicht hinterfragte. Die Kinder spielten nie Amtsstube, deswegen konnten sie nicht ermessen, welche Gefahr für sie daraus hervorging: Dort wurde entschieden, ob es nur ein Dummerjungenstreich war, wenn man Pferdeäpfel nach den Soldaten des Königs warf, oder ob es der Beginn eines Aufruhrs war.

Als Maria 1825 nach Köln gekommen war, hatten die Kinder Waterloo gespielt, denn in den zehn Jahren seit jener Schlacht war nicht mehr viel geschehen. Alle wollten bei den Franzosen sein, auch wenn sie die Schlacht verloren hatten. Aber ihre Väter waren eben die Soldaten des Kaisers gewesen, dessen Namen man hier immer noch mit Wohlgefallen nannte – oder eher: wieder mit Wohlgefallen nannte. Erst vor Kurzem hatte sie Boisserée sagen hören: „Was die Franzosen in zwanzig Jahren nicht geschafft haben, haben die Preußen in einem halben Jahr hingekriegt: dass wir die Franzosen gern zu haben gelernt haben!“

Maria überquerte die Cäcilienstraße. Eine der Frauen, die Maria in den letzten Wochen in ihrem Heim gepflegt hatte, war nun dorthin gebracht worden. Es gab nicht mehr viel zu tun für sie; die Entzündungen, die ihre Gelenke entstellt hatten, hatten nun auch die Organe befallen. Um diese Uhrzeit öffnete das Bürgerhospiz seine Tore für Besucher. Der Pförtner kannte sie, auch wenn sie keine staatlich bestellte und entlohnte Wartsnonne war, und grüßte freundlich: „Gott zum Gruße, Schwester Maria!“

Sie trug nicht die Tracht des Annunziaten-Ordens, dem sie einst angehört hatte, sondern ein einfaches braunes Wollkleid mit einer Schürze darüber. Das Haar hatte sie unter einem dunklen Schleier verborgen, den sie im Nacken zusammengebunden trug. Der Schleier hinderte sonst in der Arbeit mit den Kranken, wenn er in offene Wunden oder nässende Geschwüre fiel. Sie hatte sich für diese zweckmäßige Kleidung entschieden, als sie die Verwundeten der Schlachten gepflegt hatte.

Zweien davon war sie wieder begegnet, als sie vor vier Jahren nach Köln gekommen war: Gottfried, dem Vater von Markus, und Theodor. Zwei, denen sie das Leben gerettet hatte in einem Moment, der aus dem glühenden Sterben jenes Tages bei Waterloo herausragte wie ein Nagel, an dem sie sich immer wieder ritzte. Mitunter fragte sie sich, ob sie nicht deswegen nach Köln gekommen war – und nicht nur, weil es einen alten Domvikar zu pflegen gab. Diese beiden waren für sie wie eine Aufgabe, die sie noch nicht gelöst hatte, oder sogar wie ein Unheil, das sein Ende noch nicht erreicht hatte. Und nun, da Theodors jüngerer Bruder Johann offenbar schwer erkrankt war, wuchs in ihr die Befürchtung, dass das schlafende Unheil jener zurückliegenden Ereignisse wieder erwacht war.

2

Maria hob den Rock an, um sich hinter Johann auf das Bett zu knien. Die ausgebesserten Laken waren ebenso gelb wie das durchgeschwitzte Hemd, das der Kranke trug, und seine Haut, die zum Vorschein kam, als sie den Stoff hochschob.

Durch das Fenster über dem Bett fiel graues Licht: Der Winter war eingeschlafen, aber der Frühling hatte noch nicht die Kraft, die Welt wieder aufzuwecken. Maria holte das kleine Holzrohr hervor, das neuerdings von einem französischen Arzt für die Untersuchung der Lungen empfohlen wurde, und setzte es auf die blasse, blau geäderte Haut. Ein Film von Fieberschweiß lag darauf, die Rückenwirbel zeichneten sich ab. Sie forderte ihn auf, tief zu atmen, dann zu husten. Es wurde ein Anfall daraus. Dumpf dröhnte es in dem Rohr. Sie musste es absetzen, dann klopfte sie auf die Bereiche der Lunge, hörte den Widerhall, wie sie es schon Hunderte Male in ihrem Leben getan hatte.

Sie hatte gelernt, durch den Klang zu unterscheiden, ob sie es mit einer gesunden oder kranken Lunge zu tun hatte. Sie schloss die Augen, um dem Klang ein Bild zu geben. Sie sah die Illustrationen in den Büchern: die Lungen, sorgsam von einer Feder vor vielen Hundert Jahren gezeichnet und als Kupferstich gedruckt. Die Äste und die kleinen Beeren daran, Bronchus und Bronchiole.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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