Schwestern im Aufbruch - Sybille Schrödter - E-Book

Schwestern im Aufbruch E-Book

Sybille Schrödter

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Beschreibung

Mütter und Töchter in stürmischen Zeiten: Sybille Schrödter schreibt ihre Familiensaga um die Danneberg-Schwestern aus Flensburg fort.  Flensburg 1950: Nach den dunklen Jahren des 2. Weltkriegs taumelt ganz Deutschland zwischen Aufbruchshoffnung und neuen Herausforderungen, auch die Schwestern Lene, Lizzie und Jette Danneberg. So muss Lene sich als Chefin des Rumhauses Danneberg ausgerechnet gegen ihren eigenen Sohn behaupten, während das Familienunternehmen immer stärker unter Druck gerät. Die politisch engagierte Dörthe wirft der Familie vor, dass ihr Reichtum auf Sklavenarbeit fußt; und Dörthes Cousinen Klara und Frederike kämpfen wie einst ihre Mütter darum, ihre eigenen Träume zu verwirklichen. Können die Schwestern ihre Familie auch in diesen stürmischen Zeiten zusammenhalten?   »Schwestern im Aufbruch« ist eine packende Mischung aus Familiengeschichte, historischem Roman und Zeitgeschichte. Kenntnisreich und mit viel Empathie lasst Sybille Schrödter mit dem Schicksal der Familie Danneberg und ihres Rumhauses auch die wechselvollen 50er Jahre lebendig werden. Wie die rebellischen Schwestern nach dem Ende des 1. Weltkriegs gegen alle Konventionen um ein selbstbestimmtes Leben kämpfen, erzählt der erste Teil der Familiensaga, »Schwestern fürs Leben«.

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Seitenzahl: 774

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Sybille Schrödter

Schwesternim Aufbruch

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Mütter und Töchter in stürmischen Zeiten: Sybille Schrödter schreibt ihre Familiensaga um die Danneberg-Schwestern aus Flensburg fort.

 Flensburg 1950: Nach den dunklen Jahren des 2. Weltkriegs taumelt ganz Deutschland zwischen Aufbruchshoffnung und neuen Herausforderungen, auch die Schwestern Lene, Lizzie und Jette Danneberg.

So muss Lene sich als Chefin des Rumhauses Danneberg ausgerechnet gegen ihren eigenen Sohn behaupten, während das Familienunternehmen immer stärker unter Druck gerät. Die politisch engagierte Dörthe wirft der Familie vor, dass ihr Reichtum auf Sklavenarbeit fußt; und Dörthes Cousinen Klara und Frederike kämpfen wie einst ihre Mütter darum, ihre eigenen Träume zu verwirklichen.

Können die Schwestern ihre Familie auch in diesen stürmischen Zeiten zusammenhalten?

Inhaltsübersicht

Vorwort

Die wichtigsten Personen

Teil 1

1. Lene

2. Lizzie

3. Ein neuer Destillateur

4. Fördefahrt

5. Jette

6. Ein alter Bekannter

7. Verlockende Perspektive

8. Überraschende Einladung

9. Eklat an der Kaffeetafel

10. Vorstellungsgespräch im Rumhaus Danneberg

11. Rübezahls Schatten

12. Fatale Erinnerungslücke

13. Herrmann

14. Letzter Wille

15. Ein kleiner Erfolg

16. Ruf der Familie

17. Das Begräbnis

18. Das Testament

19. Gute Nachricht und grausame Entdeckung

20. Rübezahls Abschiedsworte

21. Hochzeit im skagengelben Haus

22. Ein dunkles Geheimnis

Teil 2

23. Alte Tanten

24. Das Ende der Angst

25. Beste Freundinnen

26. Klara

27. Alle Jahre wieder

28. Der Unfall

29. Silvester im Strandhaus

30. Prost Neujahr!

31. Frederike

32. Ein Blitz

33. Schreckliche Begegnung

34. Der verlorene Sohn

35. Große weite Welt

36. Eine Überraschung

37. Dörthe

38. Peinliches Zusammentreffen

39. Die Pariser Freundin

40. Hochzeitsfieber

41. Entscheidung des Herzens

Teil 3

42. Abschied für immer

43. Herzensgröße

44. James’ Schattenseite

45. Unmögliches Versprechen

46. Verraten und verkauft

47. Ende der Vorstellung

48. Unverhofftes Wiedersehen

49. Der achtzigste Geburtstag

50. Schwerer Schicksalsschlag

51. Ein letztes Geschenk

52. Lauter verrückte Ideen

53. Schwere Entscheidung

54. Destillerie Danneberg

Vorwort

Schwestern im Aufbruch ist der 2. Band um die Danneberg-Schwestern aus Flensburg. Der Roman ist in sich abgeschlossen – genau wie der erste. Sie müssen Band 1, Schwestern fürs Leben, nicht gelesen haben, um in die Geschichte einzutauchen. Doch damit Sie noch besser verstehen, was die Familienmitglieder schon alles erlebt haben, stelle ich dem Roman eine kleine Rückschau der Jahre 1919 bis 1945 voraus.

Was bisher geschah:

Die »vier Schwestern« Lene, Lizzie, Jette und ihre Cousine Freya, die im Haus Danneberg wie eine Schwester der Töchter aufwächst, schwören einander, nach der Schule nicht gleich in den Ehehafen zu segeln, sondern etwas Besonderes aus ihrem Leben zu machen. Darüber, was das genau sein könnte, hat Lene die genauesten Vorstellungen der vier sehr unterschiedlichen jungen Frauen: Sie möchte eine Lehre im Rumhaus ihres Vaters Ole F. Danneberg machen, um eines Tages seine Nachfolge anzutreten. Doch der Vater will den Posten, den sein im Ersten Weltkrieg getöteter Sohn Albert erfüllen sollte, partout nicht durch eine Frau ersetzen, die eines Tages den Namen ihres zukünftigen Mannes tragen wird. Denn was würde dann aus dem Traditionsnamen Danneberg? Dass seine Töchter heiraten, hält er für deren Bestimmung. Das allein ist für Lene schon schlimm genug, aber dass er ihr als Nachfolger seinen unzuverlässigen Neffen Paul vorzieht, will sie nicht kampflos hinnehmen.

Die hochbegabte Lizzie, die als Einzige eine externe Reifeprüfung am Jungengymnasium abgelegt hat, würde am liebsten Medizin studieren, aber das scheint utopisch. Jette, die Jüngste, hingegen träumt von einer Bühnenkarriere, doch noch nimmt keiner die Diva, den Liebling des Vaters, mit ihren Zukunftsplanungen ernst. Freya will Lehrerin werden.

Das Schicksal trifft die Familie hart, als Mutter Ida und die älteste Schwester Käthe, die eigentlich als Diakonisse den Armen und Kranken dienen wollte, an der Spanischen Grippe sterben. Noch auf dem Totenbett vertraut Ida ihrem Mann Ole F. ein Geheimnis an. Lene hört an der Tür mit, wie die Mutter gesteht, dass ihre jüngste Schwester Jette das Ergebnis eines einmaligen Fehltritts mit der Liebe ihres Lebens ist, die sie unverhofft nach vielen Jahren wiedergetroffen hat. Und dass der Vater das offenbar die ganze Zeit geahnt und Jette trotzdem als sein Kind angesehen, sie sogar stets bevorzugt hat. Lene behält das Gehörte für sich. Sie offenbart sich nicht einmal Lizzie, der sie noch sehr nahesteht – denn ihr enges Verhältnis wird alsbald auf eine harte Probe gestellt.

Lizzie verliebt sich nämlich in den Kriegsversehrten Herrmann Jensen, den Sohn eines Konkurrenten ihres Vaters. Sein feingeistiges Wesen und Sinn für Kultur ziehen sie an. Die zarte Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Doch bevor die beiden sich überhaupt näherkommen können, heckt Ole F. Danneberg einen, wie er findet, genialen Plan aus. Da sein Neffe Paul ihn betrogen hat, muss er umdisponieren. Er traut Lene ja wirklich einiges zu, aber dass sie als Frau allein einem Rumhaus vorsteht, das dann doch nicht. Nein, das ist unmöglich, aber was wäre, wenn sie Herrmann Jensen heiraten würde und die Eheleute das Unternehmen gemeinsam führen könnten? Der alte Jensen wäre damit das Problem los, was er dem zweitältesten Sohn Herrmann vererben soll, wenn der ältere sein Rumhaus bekommt. Die Väter sind sich schnell handelseinig. Jetzt gilt es nur noch, die Kinder für diesen Plan zu gewinnen. Nach anfänglicher heftiger Abwehr sieht Lene diese Verbindung als ihre Chance an und verlobt sich mit Herrmann, obwohl sie einem anderen Mann, Klaas, zugetan ist und zumindest ahnt, dass Herrmann und ihre Schwester einander lieben. Dass auch Herrmann diesem Plan zustimmt, liegt darin begründet, dass er es leid ist, als zweitgeborener Sohn im Rumhaus Jensen weiter nach der Pfeife seines älteren Bruders zu tanzen. Er träumt von baldiger Scheidung, um dann Lizzie heiraten zu können, aber in diesem Punkt haben sich Ole F. und der alte Jensen vertraglich abgesichert: Es gibt keinen Ausstieg aus dieser Ehe, bei der nicht sowohl Lene als auch Herrmann alles verlieren würden. Damit sitzen Lene und Herrmann in der Falle.

Lizzie reagiert auf die Hochzeit der beiden unversöhnlich. Sie hat ihrer sterbenden Schwester Käthe versprechen müssen, statt ihrer Diakonisse zu werden, war aber gerade entschlossen, das Versprechen zu brechen und sich auf eine Zukunft mit Herrmann einzulassen. Nun überrascht die verletzte Lizzie die Familie mit einer rigorosen Entscheidung: Sie zieht in das Mutterhaus und stellt ihr Leben in den Dienst der Armen und Kranken.

Auch Freya entfernt sich von den Zielen, die sich die Schulabsolventinnen im Jahr 1920 gesteckt hatten. Statt eine Ausbildung zur Lehrerin zu beginnen, folgt sie ihrem Herzen und heiratet Paul. Das versteht kein Mensch, denn es ist offensichtlich, dass er nur deswegen plötzlich so nett zu ihr ist, weil er von dem Erbe ihrer Mutter erfahren hat, das bald an sie ausgezahlt werden soll. Selbst Pauls Vater Henning Danneberg, dem Bruder von Ole F., widerstrebt es, dass sein ungeratener Sohn damit Herr auf Gut Runohr wird, dem Anwesen von Idas Familie in Angeln.

Onkel Henning, wie er von seinen Nichten liebevoll genannt wird, ist das totale Gegenstück seines Bruders. Nicht nur, was den Charakter und die Werte angeht, sondern auch, was die Akzeptanz ihren gemeinsamen Wurzeln gegenüber betrifft. Henning Danneberg steht voller Stolz zum dänischen Erbe der Mutter, während Ole F. sich dem verbissen verwehrt. Als es im Jahr 1920 in Flensburg zur Volksabstimmung kommt, stehen sich die Brüder beinahe feindlich gegenüber. Nachdem die Stadt Flensburg für ihren Verbleib bei Deutschland stimmt, zieht Henning nach Sonderburg, das nun dänisch wird. Dort schreibt er für diverse dänische Zeitungen und gibt legendäre Gesellschaften. »Ein Lebemann«, wie sein Bruder Ole F. ihn verächtlich bezeichnet. Ole F.s Töchter aber sind fasziniert von ihrem Onkel und finden es spannend, in seinem Salon Kulturschaffende aus Berlin und Kopenhagen zu treffen.

Lizzie lernt dort Gottfried, einen charismatischen kommunistischen Mediziner, kennen, aber der ist verheiratet, und sie hat sich bereits für ein Leben als Diakonisse entschieden. Aber man sieht sich ja bekanntlich zweimal im Leben.

Nachdem Lizzie während ihrer Ausbildung vergeblich versucht, den Chefarzt von einem tödlichen Fehler abzuhalten und damit so sehr bei ihm aneckt, dass er sie aus dem OP-Saal wirft, verlässt sie das Mutterhaus und geht nach Berlin, um Medizin zu studieren. Sie lebt dort zusammen mit ihrer kleinen Schwester Jette, die schließlich ihren Kopf durchgesetzt hat und die Schauspielschule besuchen darf. Jette ist total verrückt nach dem reichen Sohn einer jüdischen Geschäftsfrau, von dem sie schließlich schwanger wird. Sie hält ihn allerdings für verantwortungslos, weswegen sie ihm die Schwangerschaft verheimlicht.

In Berlin trifft Lizzie nicht nur den interessanten Mediziner aus Onkel Hennings Salon wieder, sie bekommt auch überraschend Besuch von ihrem Schwager Herrmann, der auf einer Geschäftsreise in der Hauptstadt weilt und mit Lene unglücklich ist. Kein Wunder, denn Lene liebt einen anderen – Klaas, einen Destillateur bei Danneberg-Rum. Doch dass es Liebe ist, merkt sie erst, als er ohne Abschied nach Amerika auswandert. Lizzie und Herrmann schlafen an diesem Abend in Berlin miteinander, was nicht folgenlos bleibt. Doch bevor sich Lizzies Schwangerschaft bemerkbar macht, heiratet sie Gottfried. Der weiß, dass das Kind von Lizzies Schwager ist, gibt es jedoch als das seine aus. Ihr Ausrutscher hat Lizzie deutlich gezeigt, dass sie Herrmann nicht mehr liebt. Dass sich auch Jette ihren Teil denkt und Lene bei Lizzies erstem Besuch mit ihrer kleinen Tochter Frederike in Flensburg ein verräterisches Mal am Kopf des Säuglings entdeckt, ahnt Lizzie nicht, denn alle schweigen eisern.

Nach seiner Rückkehr aus Berlin ist Herrmann Lene gegenüber allerdings wie ausgewechselt, was ihnen einige harmonische Ehejahre beschert. Sie haben inzwischen zwei Kinder: Ole P. und Dörthe. Erst als Herrmann sich ab 1933 zunehmend bei den neuen Machthabern anbiedert und das auch von seiner Frau verlangt, entfremden sich Lene und er endgültig. Das geht so weit, dass Lene das Unternehmen verlassen muss.

Sorgen bereitet den Schwestern ihre Cousine Freya, die unter ihrem Mann Paul schwer zu leiden hat. Er behandelt sie nicht nur mies, sondern betrügt sie und zieht die gemeinsame Tochter Charlotte auf seine Seite. Überdies schließt er sich schon früh einer neuen politischen Bewegung an, den Nationalsozialisten, und nimmt die Tochter sogar mit, als deren Chefdemagoge in Flensburg spricht. Als Freya endlich die Kraft hat, ihn zu verlassen, stirbt ihr Vater. Die Schwestern setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um ihrer Cousine zu helfen, und auch Onkel Henning versucht, seine Schwiegertochter und Enkelin aus den Fängen seines Sohnes zu befreien, aber vergeblich. Paul reißt sich Freyas Erbe unter den Nagel und demütigt sie, woran sie schließlich zerbricht.

Onkel Henning ist den Schwestern stets ein treuer Ratgeber. Er steht ihnen auch bei, nachdem Ole F. beim Versuch, Nazihorden vom Eindringen in ein jüdisches Kaufhaus abzuhalten, einen Herzinfarkt erleidet und noch auf der Straße stirbt.

Doch kurz zuvor erlebt Ole F. noch, wie seine Tochter Jette Besuch von einem jungen schwedischen Musiker bekommt, den sie auf einer Zugfahrt nach Berlin kennengelernt und der seiner Jüngsten offenbar den Kopf verdreht hat. Doch das Glück der beiden gerät, bevor es überhaupt beginnen kann, zum Albtraum. Der Musiker ist kein Geringerer als der Sohn jener alten Liebe seiner Frau Ida, des Vaters von Jette. Für die junge Schauspielerin bricht eine Welt zusammen, als sie erfahren muss, dass Henrik ihr Halbbruder ist. Doch aus der Schwärmerei Jettes für ihn wird schließlich eine unverbrüchliche Freundschaft. Später im Krieg wird sie sogar nach Schweden gehen und bei ihrem gemeinsamen leiblichen Vater leben, denn nicht nur Henrik hat jüdische Wurzeln, sondern Jettes ehemaliger Liebhaber aus Berlin, Georg, ist Jude, was aus ihrer Tochter Klara nach den Rassengesetzen eine Jüdin macht.

Doch vorerst macht sie mit seichten Operettenrollen Karriere am Stadttheater Flensburg, obwohl sie von den großen Charakterdarstellungen träumt. Jette beginnt zunehmend, ihre Unzufriedenheit in Alkohol zu ertränken. Ihre Schwestern nähern sich angesichts der immer düsterer werdenden Stimmung in der Stadt wieder an, und sie funktionieren Lenes geliebtes Segelboot zu einem Hilfstransport für vom Regime Verfolgte nach Dänemark um. Das klappt, bis Dänemark von den Deutschen überfallen und besetzt wird. Als der Boden für Jette, die inzwischen in Kopenhagen lebt, dort zu heiß wird, flieht sie nach Schweden, während ihre Schwestern in Flensburg versuchen, Menschen zu helfen. Lizzie arbeitet inzwischen als Kinderärztin. Als der Krieg immer näher kommt und Flensburg zur Lazarettstadt wird, arbeitet sie bis zur totalen Erschöpfung. Von den Zerstörungen durch Bombenangriffe bleibt die Stadt weitgehend verschont, aber ein anderes Übel nähert sich der Stadt. Die Stadt Flensburg und das Umland sind in den letzten Kriegstagen ein Unterschlupf für hohe Nazischergen und deren Gefolge, denn die Regierung Dönitz treibt auch noch fünfzehn Tage nach der Kapitulation ihr Unwesen in der Fördestadt. Auch Lizzie und Lene erleben einen grausamen letzten Akt: Sie wollen Charlotte von Gut Runohr abholen, weil Paul dort ein paar Nazigrößen Unterschlupf gewährt und der letzte Alkohol in Strömen fließt. Sie verhindern im letzten Augenblick, dass Charlotte von einem betrunkenen Schergen vergewaltigt wird. Ein Untergangsszenario, in dessen Verlauf Paul Danneberg von der eigenen Tochter erschossen wird.

Bei dem ersten Weihnachtsfest nach dem Ende des Kriegs ahnen die Schwestern, dass Onkel Henning über das spurlose Verschwinden seines Sohnes mehr ahnt, als er vorgibt. Aber er steht auf ihrer Seite, so viel ist klar! An diesem Abend dominieren allerdings der Hunger und die Sorge um die Abwesenden wie Lenes Sohn Ole P. oder Lizzies Ehemann Gottfried, von dem seit Monaten jedes Lebenszeichen fehlt – bis ein alter Mann vor der Tür steht, den auf den ersten Blick niemand erkennt …

Der letzte Satz lautet:

Lizzie wollte auch gar nicht wissen, was die Zukunft brachte. In diesem Moment genügte ihr die Gewissheit, dass es überhaupt eine Zukunft gab.

Und was diese Zukunft wirklich bringt, das erzählt die Geschichte im zweiten Band: Schwestern im Aufbruch.

Die wichtigsten Personen

Da ich in diesem Personenverzeichnis beim ersten Band zu viel verraten habe, umgehe ich nun bei einigen Personen ihre Beziehung zu den Danneberg-Schwestern und deren Kindern und rette mich mit dem altmodischen Begriff »Verehrer«.

Die Dannebergs:

Helene Jensen, genannt Lene – Erbin des Rumhauses Danneberg

Dr. Elisabeth Lüdtke, genannt Lizzie – Kinderärztin

Jette von Renz – Schauspielerin

Ole P. – Lenes Sohn

Gerda – seine Frau

Dörthe – Lenes Tochter

Frederike – Lizzies Tochter

Isabella – Frederikes Tochter

Klara – Jettes Tochter

Susanne und Regina – Klaras Töchter

Herrmann Jensen – Lenes Mann

Dr. Gottfried Lüdtke – Lizzies Mann

Henning Danneberg – Bruder von Ole F. Danneberg, Onkel Henning

Kaja – Lenes »guter Geist«

Ehefrauen, Ehemänner, Freunde der Familie und Geliebte:

Klaas Bahnsen – Lenes erste Liebe

Dr. Emil Danzer – Lizzies Kollege

Jenny Danzer – Emils Frau

James Farrow – Jennys Bruder

Peter Ferenc – Klaras Verehrer

Birger Hennings – Schuldirektor

Henrik Larrson – Jettes Halbbruder

Hans-Georg Mahler – Jettes Verehrer

Harald Waller – Frederikes Verehrer

Frau Waller – seine Mutter

Anne Poullain – Frederikes französische Freundin

Louise – Annes Tochter

Enrico Ricci – Frederikes Verehrer

Die von Runohrs:

Charlotte Danneberg, geb. von Runohr – Tochter Freyas, der Cousine der Danneberg-Schwestern mütterlicherseits, und deren Cousin väterlicherseits, Paul Danneberg, dem Sohn von Onkel Henning

Walter Baltumeit – Charlottes Lebensgefährte

Christina und Jan – deren Kinder

Teil 1

Wiederbegegnungen und Abschiede

1950

1. Lene

Die Fördestadt Flensburg strahlte an diesem Spätsommermorgen des Jahres 1950 eine friedliche Schläfrigkeit aus. Den schönsten Blick auf die Stadt hatte man, wenn man von Angeln kommend die Nordstraße zum Hafen hinunterfuhr. Wie in einem Amphitheater kuschelten sich gepflegte Kaufmannshäuser auf der Westseite der Förde an den Hängen der grünen Hügel, darüber ragten der Kirchturm von St. Marien und der Glockenturm des Alten Gymnasiums auf, und unten im Wasser dümpelten die Schiffe an der Kaimauer. Das Panorama besaß eine skandinavische Anmutung. Man könnte meinen, das Grauen der Naziherrschaft sei spurlos an der Stadt vorübergegangen, alles wirkte noch genauso malerisch wie in der Zeit vor dem Krieg. Nicht wie in vielen anderen deutschen Ortschaften, von denen nicht mehr viel übrig geblieben war. In den einstigen Metropolen beherrschten Ruinen das Bild, und manch kleine Städte, wie Wesel oder Düren, waren bis auf ein paar wenige traurige Reste komplett zerstört worden.

Rein äußerlich hatten die Jahre des sogenannten Dritten Reichs Flensburg zwar nicht verwunden können, aber auf den Seelen seiner Bewohner hatten sie Narben hinterlassen, die man unter der Euphorie eines Neuanfangs zu verbergen versuchte. Die Menschen wollten vergessen, was sich vor allem gegen Ende des Krieges in ihrer Stadt zugetragen hatte, wo das nationalsozialistische Reich erst fünfzehn Tage nach der deutschen Kapitulation mit der Verhaftung von Dönitz, Jodl und Speer endgültig untergegangen war. Die Bevölkerungszahl hatte sich in Flensburg im Mai 1945 fast verdoppelt. Es hatte das blanke Chaos in der Stadt geherrscht. Reihenweise waren damals Nazischergen in den Norden geflüchtet, im Hafen hatten Schiffe mit hungernden KZ-Gefangenen gelegen. Flüchtlinge und Kriegsgefangene aus dem Osten hatten die Stadt überschwemmt.

Daran dachte Helene, die von allen nur Lene gerufen wurde, als sie aus dem Autofenster heraus auf ihre Stadt blickte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie befremdlich es gewesen war, sich im Frühjahr 1945 in ihrem sauberen Sommerkleid durch das Meer von ausgemergelten Gestalten zu drängeln, um in der Innenstadt Papiere für die in ihrem Haus an der Schiffbrücke einquartierte Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen zu besorgen.

Inzwischen war Meta Baltumeit mit ihren zwei Töchtern auf Gut Runohr gezogen. Da Charlotte, die Tochter von Helenes Cousine Freya, davon träumte, aus dem Anwesen eine Pension für Pferdeliebhaber zu machen, hatte sie in der einstigen Betreiberin einer kleinen Pension im einstigen Seebad Cranz eine ideale Mitstreiterin gefunden. Die Entscheidung, Meta und ihre Töchter bei sich aufzunehmen, hatte Charlotte bis heute nicht bereut. Meta, wie sie inzwischen von den Danneberg-Schwestern und Charlotte genannt wurde, sprühte nur so vor Ideen, und Metas halbwüchsige Töchter liebten das Landleben, besonders Charlottes Pferde. Neuerdings lebte auch Metas erwachsener Sohn Walter, der erst kürzlich aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war und seine Mutter schließlich auf dem Gut in Angeln aufgespürt hatte, auf dem Hof im alten Verwalterhaus. Wenn Lene nicht alles täuschte, bahnte sich zwischen ihrer Nichte zweiten Grades und dem stattlichen jungen Mann, der sich überdies auf dem Gut mehr als nützlich machte, etwas an. Jedenfalls hatte Lene Charlotte lange nicht mehr so fröhlich erlebt.

Lene kam an diesem Morgen vom Gut zurück, wo sie gelegentlich für eine Nacht Zuflucht suchte, wenn sie eine Pause von ihrem Leben an der Schiffbrücke brauchte, was in letzter Zeit häufiger vorkam. Es war nicht nur das Zusammenleben mit ihrem Mann Herrmann unter einem Dach, was ihr große Probleme bereitete, sondern auch das angespannte Verhältnis zu ihrem Sohn Ole P. Der war nach seiner Rückkehr aus dem Krieg überwiegend übellaunig, wobei er die schlechte Stimmung grundsätzlich an ihr ausließ, während er seinen Vater damit verschonte. Ihr Sohn hatte inzwischen eine Lehre als Destillateur im Rumhaus Danneberg absolviert, das Lene gemeinsam mit ihrem Ehemann leitete, und wurde nun von Herrmann an die Nachfolge für das Unternehmen herangeführt. Dagegen hatte Lene im Prinzip nichts einzuwenden. Aber dass sie dabei übergangen wurde, als hätte sie gar nichts zu melden, und dass ihr Sohn überdies völlig ignorierte, dass er auch von ihr etwas lernen konnte, stieß ihr zunehmend sauer auf. Sie war keine Frau, die man ungestraft übersehen konnte. Nicht sie, die das Unternehmen jahrelang erfolgreich zusammen mit Herrmann geführt hatte, bevor ihr Mann sie mithilfe seiner Parteifreunde aus dem Alltagsgeschäft gedrängt hatte, damit sie den Platz einnahm, den man Frauen im nationalsozialistischen Deutschland zugedacht hatte: den der Hausfrau und Mutter. Zurück an den Herd, zu dem es sie überdies auch vorher nicht sonderlich hingezogen hatte, war sie natürlich nicht gegangen, und sie hatte ihm auch keine weiteren Kinder geschenkt, wie Herrmann es sich gewünscht hätte. Er hätte gern das Mutterkreuz um ihren Hals baumeln sehen. Aber das war Lene nach zwei Kindern absurd erschienen, denn sie hatte eine andere Berufung: das Rumhaus Danneberg, deren eigentliche Erbin, wie der Name schon sagte, sie war, nicht ihr Ehemann! Wenn ihr Vater nicht solche Vorbehalte gegen eine Frau als seine Nachfolgerin gehabt hätte, wäre er niemals auf diese fatale Idee gekommen, ihr die Ehe mit Herrmann, dem zweitältesten Sohn der Konkurrenz, anzutragen, um mit ihm gemeinsam sein Erbe anzutreten. Wie oft hatte sie es bitter bereut, den perfiden Plan ihres Vaters ausgeführt zu haben. Es hatte zwar auch ein paar wenige harmonische Ehejahre mit Herrmann gegeben, aber die Erinnerung daran war längst verblasst. Im Gegenteil, sie verachtete ihren Mann dafür, wie er sich bei den braunen Machthabern angebiedert hatte, und sie hasste ihn dafür, dass er diesen Verbrechern ein Geheimnis ausgeplaudert hatte, das niemals für deren Ohren bestimmt gewesen war.

Auf jeden Fall war Helene fest entschlossen, ihre Positionen im Unternehmen zu verteidigen, wenn nicht gar auszubauen, und das klärende Gespräch mit Sohn und Ehemann zu suchen. Sie wollte nur abwarten, bis Dörthe für ein Wochenende aus Kiel zu Besuch kam. Lenes Tochter studierte dort Jura. Lene hatte in der Regel nicht allzu viel übrig für Juristen, woraus sie keinen Hehl machte, aber Dörthe hatte sich nie von ihrem Weg abbringen lassen. Der zähe Wille ihrer Tochter, Teil eines gerechten Justizwesens zu werden, das keine grausamen Urteile im Namen eines unmenschlichen Unrechtsstaats fällte, imponierte ihr. Sie erkannte sich in puncto Willensstärke in ihrer Tochter wieder. Dörthe, die im Kreis ihrer Cousinen zwar die kleinste, aber stets vorlauteste gewesen war, hatte sich zu einer selbstbewussten jungen Frau entwickelt, die ihr bei so einem klärenden Gespräch mit Sicherheit hilfreich zur Seite stehen würde. Ihre Tochter verstand überhaupt nicht, wieso ihr Bruder sich derart mit dem Vater solidarisierte. Sie selbst sah ihn äußerst kritisch, und zwar, weil sie ihn für einen Opportunisten hielt. Dabei hatte Lene ihr gar nicht einmal das Schlimmste offenbart, das, was sie ihm in diesem Leben nicht mehr verzeihen würde: Dass er das Geheimnis von Jettes leiblichem Vater ausgerechnet ihrem Cousin Paul Danneberg verraten und ihre jüngste Schwester und vor allem deren Tochter damit in Lebensgefahr gebracht hatte. An ihren Cousin Paul konnte sie kaum denken, ohne dass ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Niemals würde sie das Bild vergessen, wie er in den letzten Kriegstagen tödlich getroffen im Pferdestall zu Boden gegangen war. Niemals seine schreckensweiten Augen, als seine geliebte Tochter Charlotte in ihrer Not die Pistole auf ihn gerichtet hatte, um ihre Tanten zu beschützen. Helene und ihre Schwester hatten mit ihrer Nichte in den vergangenen fünf Jahren kein Wort über dieses Drama gewechselt. Nur einmal an jenem Tag, an dem man in Flensburg die Nazigrößen verhaftet hatte, die im irrigen Glauben, das sogenannte Dritte Reich könne in Flensburg unbehelligt fortbestehen, weiter ihr Unwesen getrieben hatten, hatte Helene ihre Nichte in den Arm genommen und ihr nur einen Satz ins Ohr geflüstert: »Mach dir niemals im Leben Vorwürfe. Du bist jetzt frei.« Charlotte aber hatte ihre Tante mit großen Augen angesehen: »Ich weiß nicht, wovon du redest, Tante Lene.« Lene war kein Mensch, der einem anderen den Tod wünschte, selbst ihrem ärgsten Feind nicht, aber Paul Danneberg weinte sie keine Träne nach. Und sie würde es ihrer Nichte nie vergessen, dass sie mit ihrem mutigen Eingreifen ihrer Schwester Lizzie und ihr das Leben gerettet hatte. Hätte Charlotte in ihrer Not nicht abgedrückt, Paul hätte Lene und Lizzie von einem Standgericht erschießen lassen oder es selbst getan. Selbst Pauls Vater, ihrem über alles geliebten Onkel Henning, hatte Lene nicht verraten, dass sie dabei gewesen war, als sein Sohn gestorben war. Onkel Henning machte allerdings auch keinerlei Anstalten, die Wahrheit herauszufinden, sondern schien sogar erleichtert, dass sein Sohn plötzlich spurlos verschwunden war. Manchmal spekulierte er, ob Paul wohl mit den anderen Nazischergen, die nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes den Norden überschwemmt hatten, abgetaucht war. Lene würde ihm liebend gern die Gewissheit verschaffen, dass sein Sohn niemals zurückkehren würde, aber wenn ihm jemand die Wahrheit sagen sollte, dann seine Enkeltochter Charlotte, die er abgöttisch liebte. Sie hoffte sehr, dass Charlotte eines Tages das Bedürfnis verspüren würde, ihr Herz zu erleichtern und über die Vorfälle im Pferdestall von Gut Runohr im Mai 1945 zu sprechen. Bis dahin waren Lene und ihre Schwester Lizzie zum Schweigen verdonnert.

Der Gedanke an ihre Schwester bekümmerte Lene. Elisabeth, zu der alle Lizzie sagten, war in der letzten Zeit noch mehr abgemagert und stets blass. Sie wirkte äußerlich so, als müsste sie der kleinste Windhauch umpusten, obwohl sie eine schier unerschöpfliche Kraft besaß. Wie gern hätte Lene ihre eigenen Sorgen mit der Schwester geteilt, aber sie wollte sie nicht unnötig beschweren, denn Lizzie hatte gerade genügend Probleme. Ihr Mann war Heiligabend 1945 schwer krank und um Jahre gealtert aus einem russischen Arbeitslager in Sibirien zurückgekehrt. Er war dort nicht als Kriegsgefangener festgehalten worden, sondern als angeblicher Kollaborateur mit den Deutschen, was für den einstigen überzeugten Kommunisten unfassbar gewesen war. Gottfried hatte das Pech gehabt, vor den Nazis zu seinem Vater in die Autonome Republik Wolgadeutschland geflüchtet zu sein, als Stalin beschlossen hatte, alle dort verbleibenden Deutschen als Feinde in Lagern zu internieren. Gottfried hatte diesen Irrsinn immerhin überlebt, war jedoch als geistig und körperlich gebrochener Mann zurückgekehrt. Der einst stattliche Gottfried war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er litt an einem Tremor in der Hand, sodass er nach dem Krieg auch nicht mehr, wie vorher, als Arzt hatte arbeiten können. Aus dem wortgewandten, geselligen Mann war ein schweigsamer, misstrauischer Einzelgänger geworden, an dessen Launen Lizzie schier verzweifelte. Sie hielt aber trotz allem weiter unverbrüchlich zu ihm, flüchtete sich dafür jedoch zunehmend in ihre Arbeit. Lenes Schwester hätte nach dem Krieg gern die Kinderarztpraxis ihrer Freundin Trudi übernommen, nachdem diese nach London gegangen war, aber man hatte ihren Antrag auf Zulassung abgelehnt und die Praxis stattdessen einem Spätheimkehrer gegeben. Nun arbeitete Lizzie als Angestellte bei einem Hausarzt, der sie offenbar regelrecht ausnutzte, wenn man Jettes Meinung über diesen Dr. Danzer folgte. Lenes jüngste Schwester Jette, die eigentlich Henriette hieß, aber diesen Namen nicht leiden konnte, wohnte mit Lizzie zusammen in der Familienvilla in der Wrangelstraße, nachdem die Briten sie wieder freigegeben hatten. Jette schimpfte auf jeden Fall gern über diesen Ausbeuter, der ihre Schwester für sich schuften ließ, doch Lizzie wollte nichts davon hören. Sie behauptete steif und fest, es wäre alles gut so, wie es war.

Lene war nun an der Schiffbrücke angekommen und parkte den Firmenwagen auf dem Innenhof. Vorn an der Straße lag das gepflegte Wohnhaus, und in dem imposanten Gebäude dahinter befanden sich das Kontorhaus, die Destillerie und der Lagerspeicher. Es war nur ihr zu verdanken, dass die Dannebergs nach dem Krieg überhaupt wieder so schnell eine Lizenz zur Herstellung von Rumverschnitt bekommen hatten. Persönlich hatte sie bei der britischen Kommandantur darum gekämpft. Herrmann hätte schlechtere Karten gehabt als sie. Man hatte ihn zwar offiziell entlastet, aber von Lene und Lizzie war bekannt, dass sie mit dem Segelboot vom Regime Verfolgte sicher nach Dänemark gebracht hatten. Das hatte dem britischen Kommandanten, der nach Kriegsende für die Erteilung der Lizenzen zuständig gewesen war, sehr imponiert. Besonders Major Reynolds, ein gut aussehender Brite in der Kommandantur, hatte sich für Lene eingesetzt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Jedenfalls hatte sie ihre Zulassung sogar noch vor ihrem größten Konkurrenten, ihrem Schwager Broer Jensen, bekommen. Ihn hatte man im Gegensatz zu seinem Bruder Herrmann als Mitläufer eingestuft. Lene fand, dass er noch gut davongekommen war. Sie kannte zwar nicht seinen genauen Rang bei der SS, aber dass er zu den übelsten Nazis der Stadt gehört hatte, war allgemein bekannt. Offenbar hatte er die richtigen Zeugen benannt, um seine weiße Weste zu bekommen. Bei den Entnazifizierungsverfahren schienen aus so manchen Tätern plötzlich Opfer geworden zu sein. Lene fragte sich manchmal, wo sie denn alle abgeblieben waren, jene Scharen an Hitlers Getreuen, die sich einst in der Stadt getummelt hatten. Man munkelte, die besonders üblen Kerle würden teils unter neuen Namen unbehelligt weiterleben. Herrmann sah das anders als sie. Er war der Meinung, man könne doch nicht ein ganzes Volk dafür bestrafen, dass sie dem falschen Führer gefolgt waren, und dass die Menschen schließlich nur ihre Pflicht getan hätten. Es lohnte sich nicht, mit ihm zu diskutieren. Nur wenn er versuchte, ihren Sohn Ole mit seinen Ansichten zu beeinflussen, bezog Lene vehement Stellung, was regelmäßig zu unschönen Szenen am häuslichen Abendbrottisch führte. So wie vorgestern erst. Um genau so etwas an zwei Abenden in Folge zu vermeiden, hatte sie auf dem Gut übernachtet.

Lene stieg aus dem Wagen und warf einen flüchtigen Blick zum Eingang der Destillerie und dem Lager. Der Schriftzug Rumhaus Danneberg über dem schweren Tor hatte auch schon einmal bessere Zeiten gesehen. Das Holz, aus dem das Schild geschnitzt war, zeigte fortgeschrittene Spuren der Verwitterung.

Sie überlegte, ob sie sich gleich an ihren Schreibtisch setzen oder erst im Haus umziehen sollte. Sie befürchtete, ihr luftiges Sommerkleid würde ihr noch weniger Respekt seitens ihres Ehemanns und ihres Sohnes einbringen. Der Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie hoffen, dass Herrmann schon im Kontor saß und sie ihm nicht im Haus begegnen würde.

Im Haus war alles still. Nur aus der Küche hörte Lene das leise Klappern von Geschirr. Sie steckte im Vorbeigehen ihren Kopf zur Tür hinein und begrüßte ihre Haushaltshilfe Kaja, die erstaunt von ihrem Abwasch aufsah. Kaja und Lene waren fast gleichaltrig und hatten ein sehr vertrautes Verhältnis zueinander. Kaja war Lene unendlich dankbar, dass sie ihren damaligen Verlobten Levin vor den Verfolgern und auch vor Herrmann gerettet hatte. Auch ihn hatten Lene und Lizzie auf der Augusta in Sicherheit gebracht. Zwar hatte sich der junge Mann dann im Exil in Dänemark in eine andere verliebt, aber die enge Verbindung zwischen Lene und Kaja war geblieben. Kaja lebte immer noch mit ihrer alten Mutter Frida in der kleinen Wohnung auf der Duborg. Geheiratet hatte sie nie. Ihre Familie waren Lene, deren Schwestern und die Kinder. So kühl Ole P.s Verhältnis zu seiner Mutter war, so herzlich ging er mit Kaja um. Lene musste so manches Mal gegen eine aufkeimende Eifersucht auf das ehemalige Kindermädchen ihres Sohnes ankämpfen. Wenn ihr Sohn sie doch nur einmal so herzlich umarmen würde, wie er es bei Kaja tat. Lene konnte sich genau an den Tag erinnern, an dem sich ihr einst inniges Verhältnis zu Ole merklich abgekühlt hatte, aber sie schob den Gedanken daran hastig zur Seite. Sie hatte gehofft, dass er ihr verzeihen würde angesichts des Elends, das er im Krieg erlebt hatte. Aber selbst die Tatsache, dass ihm ein zweites Leben geschenkt worden und er gesund nach Flensburg zurückgekehrt war, schien ihn nicht zu erweichen. Es erfüllte sie mit Wehmut, denn als Kind war der Kleine eher ein Muttersohn gewesen, während ihre Tochter Dörthe mehr an Herrmann gehangen hatte.

»Wie sind die beiden Männer denn ohne mich zurechtgekommen?«, fragte Lene und rang sich zu einem Lächeln durch. Die Frage hätte sie sich eigentlich schenken können, denn sie ahnte, dass weder Ole noch Herrmann sie zu Hause vermissten, wenn sie bei Charlotte auf Gut Runohr übernachtete.

Kaja verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Sie waren so mit dem Fachsimpeln beschäftigt, dass sie rein gar nichts wahrgenommen haben. Nicht einmal, dass ich ihnen frischen Fisch direkt vom Kutter zubereitet habe.«

»Das glaube ich dir. Die beiden sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Bald habe ich hier gar nichts mehr zu melden.«

»Lene, das ist doch ein schlechter Scherz. Du würdest dich niemals freiwillig aus dem Geschäft zurückziehen, oder?«

»Nein, natürlich nicht, aber manchmal fehlt mir die Kraft, zu kämpfen. Früher gegen meinen Vater, dann gegen Herrmann und nun auch noch gegen Ole. Er ist doch mein Sohn, und ich möchte auch, dass er Danneberg eines Tages allein führt. Aber Herrmann treibt noch zusätzlich einen Keil zwischen ihn und mich. Was, wenn Ole ihm eines Tages verrät, dass er Frederikes Vater ist?«

Kaja räusperte sich verlegen. »Du kennst meine Meinung dazu. Ich finde, dein Mann hat sogar ein Recht darauf, es zu erfahren. Und das sage ich ganz sicher nicht aus Sympathie zu Herrmann Jensen. Du weißt, was ich von ihm halte.«

Lene nickte zustimmend. Im Grunde ging es ihr ähnlich, aber sie hatte Ole P. aus Rücksicht auf ihre Schwester Lizzie und deren Tochter Frederike in dieser Familienangelegenheit Schweigen gegenüber Herrmann abverlangt. Weder Lizzie noch ihre Tochter wollten, dass Herrmann jemals von seiner Vaterschaft erfuhr, und zwar aus Liebe zu Gottfried, der stets ein rührender Vater für Frederike gewesen war. Auch jetzt noch, in seinem Zustand, tat er alles für sie. Er hatte sich sogar auf ihre Seite geschlagen, als sie sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Schneiderlehre zu machen, obwohl Lizzie sich so gewünscht hätte, dass ihre begabte Tochter in ihre Fußstapfen treten und Medizin studieren würde. Inzwischen hatte Frederike, sehr zu Lizzies Kummer, in einem renommierten Modesalon am Hamburger Jungfernstieg eine Lehrstelle angetreten.

»Ich weiß, ich weiß, es wäre besser, es ihm zu sagen, aber ich werde das ganz sicher nicht tun! Meine Schwester würde kein Wort mehr mit mir reden! Aber ich werde mit Herrmann und Ole ein ernstes Gespräch über meine Stellung im Unternehmen führen, allerdings nur mit meiner Anwältin.«

Kaja lachte. »Dörthe wird sicher mal eine richtig gute Juristin!«

»Das denke ich auch. Und ihr ist der Respekt von Vater und Bruder sicher, obwohl sie in ihrer sachlichen Art Ole manchmal ein wenig unheimlich ist.«

»Das glaube ich auch. Wenn sie so streng über den Rand ihrer Brille blickt, bekommt es ihr Bruder schon manchmal mit der Angst zu tun. Seine Schwester entspricht ganz sicher nicht seinem Bild einer Frau.«

»Aber welches Frauenbild hat mein Sohn? Er hat uns immer noch keine einzige Angebetete vorgestellt. Ob es da überhaupt jemanden gibt, der sein Herz erobern könnte?«, sinnierte Lene mit leichtem Bedauern, doch dann meinte sie in Kajas verlegener Miene zu lesen, dass diese mehr wusste als sie. »Oder gibt es da jemanden?«, fragte sie neugierig.

»Lene, frag ihn lieber selbst!«, stieß Kaja peinlich berührt hervor.

Lene bereute wie so oft, dass ihr Mundwerk manchmal schneller war, als ihr Verstand es ihr raten würde, wusste sie doch, dass Ole, wenn er sein Herz ausschütten wollte, dies nicht einmal bei Herrmann, sondern ausschließlich bei Kaja tun würde.

»Entschuldige meine Neugier. Ich weiß doch, dass du mir gegenüber genauso loyal bist wie Ole gegenüber«, seufzte Lene. »Dann ziehe ich mich wohl um und zeig ihnen mal, wer der Herr im Haus ist«, fügte sie scherzend zurück. Dabei war ihr gar nicht wohl. Zwischen ihrem selbstsicheren Auftreten und ihren wahren Befindlichkeiten gab es manchmal eine Diskrepanz, die nur sie selber kannte. Das waren Momente der Schwäche, in denen sie des Kämpfens schlichtweg müde war und insgeheim diejenigen ihrer alten Schulkameradinnen beneidete, die sogenannte gute Partien gemacht hatten, wie ihre Mutter das damals genannt hatte. Und die nichts auszustehen hatten, außer ihrem Personal Anordnungen zu erteilen und auf dem gesellschaftlichen Parkett an der Seite ihrer wohlhabenden Männer zu glänzen. Aber Lene musste sich dann nur kurz ausmalen, wie abhängig sich diese Frauen damit von ihren Männern machten, um zu begreifen, dass sie anders war und sich niemals einem Mann unterordnen würde.

2. Lizzie

Die Praxis Dr. Günther Danzer in der Duborgerstraße war viel zu klein für den Andrang an Patienten. In Stoßzeiten mussten sie sich im Hausflur des Mietshauses drängeln, bis sie an der Reihe waren, weil die Stühle im engen Flur der Wohnung, der als Wartezimmer diente, nicht ausreichten. Lizzies Behandlungszimmer war mehr eine Abstellkammer als ein einladender Praxisraum und komplett vollgestellt. Es war Platz für einen kleinen Schreibtisch, eine Untersuchungsliege mit Paravent, ein winziges Waschbecken und eine schmale Hochvitrine aus Metall für die Medikamente und den Kasten mit den Karteikarten, aber dafür konnte man sich kaum um die eigene Achse drehen. Lizzie aber mochte ihr kleines Reich, zumal es über den Luxus eines Fensters zur Straße verfügte. Wenn sie zwischendurch hektisch ihre Vormittagszigarette rauchte, tat sie dies am offenen Fenster. Zu ihrem großen Bedauern hatte sie sich mittlerweile das Rauchen angewöhnt. Gottfried war mit diesem Laster aus Sibirien in die Heimat zurückgekehrt, und eines Tages hatte sie auch damit angefangen. Um das Behandlungszimmer nicht zu verqualmen, lehnte sie sich jedes Mal weit zum Fenster hinaus und konnte gegenüber den Eingang zu einer Tanzschule sehen. Manchmal, wenn sie abends bei ihrer letzten Zigarette einen Blick riskierte und die jungen Frauen in ihren schicken Kleidern sah, fragte sie sich wehmütig, wo ihre Jugend geblieben war. Innerlich fühlte sie sich immer noch jung, aber wenn sie sich klarmachte, dass sie auf die fünfzig zuging, erschrak sie jedes Mal aufs Neue. Und wenn sie sich erinnerte, wie unbeschwert sie damals nach dem Schulabschluss mit ihrer Schwester und ihrer Cousine Freya zu den Ochseninseln gesegelt war und sie sich am Strand bei einer Flasche des besten Champagners aus dem Weinvorrat ihres Vaters eine rosige Zukunft ausgemalt hatten, wurde sie von einer Welle der Sentimentalität ergriffen. Ungewöhnlich für Lizzie, die in der Regel nichts davon hielt, zurückzuschauen. Sie blickte lieber nach vorne. Keine von ihnen hätte damals gedacht, dass nach dem entsetzlichen ersten Weltkrieg bald wieder düstere Zeiten und ein zweiter noch mörderischer Krieg auf sie zukommen würde. Wie so oft schweiften ihre Gedanken auch zu ihrer Cousine Freya. Sie konnte immer noch nicht daran denken, ohne dass ihre Augen feucht wurden, wie sie irgendwo in einem Krankenhaus im fernen Posen an einer Lungenentzündung gestorben war, nachdem man alle Insassen der Schleswiger Heilanstalt wie Vieh nach Obrawalde transportiert hatte. Hastig wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, bevor sie das Fenster schloss, um weiterzuarbeiten. Heute musste sie sich auch um die Patienten ihres Chefs, Dr. Danzer, kümmern. Sie hatte ihn an diesem Tag gleich wieder nach Hause geschickt, weil er nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Lizzie war wohl der einzige Mensch, der wusste, dass er schwer krank war und sich mit letzter Kraft zur Arbeit schleppte. Sogar seiner Frau spielte er den unverwüstlichen Helden vor. Wahrscheinlich saß er jetzt allein auf seiner Lieblingsbank im Volkspark und las Zeitung, um die Zeit totzuschlagen. Lizzie hatte Danzer kurz vor Kriegsende in einem Flensburger Lazarett kennengelernt. Er war unermüdlich im Einsatz für die Verwundeten gewesen, die man vorwiegend aus Hamburg in den hohen Norden gebracht hatte. Seine größte Sorge war nun, dass seine Patienten Mitleid mit dem armen Doktor bekämen, und darum hatte er beschlossen, in der Praxis zu arbeiten, bis er umfiel. Wenn Lizzie ihm nicht zur Seite gestanden hätte, wäre dieser Fall wohl längst eingetreten. Manchmal fiel es ihr schwer, sich an ihr Versprechen zu halten und Stillschweigen über seinen Zustand zu bewahren. Mehr als einmal hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich Danzers Ehefrau anzuvertrauen. Aber auch wenn es in bester Absicht geschehen wäre, hätte sie damit ihr Wort gebrochen, und das entsprach nicht Lizzies Charakter. Wenn sie etwas versprach, hielt sie es auch. In dem Zusammenhang fiel ihr ein, wie sie ihrer älteren Schwester auf dem Sterbebett hatte schwören müssen, statt ihrer ins Mutterhaus zu gehen und Diakonisse zu werden. Sie hatte es zwar schließlich wirklich getan, aber nicht, um ihren Schwur einzulösen, sondern um sich von ihrem Kummer abzulenken, dass ihre eigene Schwester den Mann geheiratet hatte, in den sie damals verliebt gewesen war. Und vor allem von der Enttäuschung, dass auch Herrmann bei diesem Handel mitgemacht hatte, nur um mit Lene zusammen eines Tages Herr über das Rumhaus Danneberg zu werden.

Lizzie erschrak, als sich hinter ihr jemand räusperte. Sie fuhr herum und blickte in das sympathische Gesicht eines Mannes, den sie auf den ersten Blick auf etwa in ihrem Alter schätzte.

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken!« Er hatte eine tiefe raue Stimme. »Aber ich konnte keine Sprechstundenhilfe finden, die Sie hätte vorwarnen können«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Die junge Dame hat geheiratet und arbeitet nicht mehr hier. Aber Sie müssen trotzdem im Wartezimmer Platz nehmen«, sagte sie schroffer als beabsichtigt.

Der Fremde aber rührte sich nicht und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. »Ich sollte mich Ihnen vielleicht besser vorstellen. Danzer ist mein Name. Dr. Emil Danzer.«

»Ach, der feine Sohn, der sich niemals zu Hause blicken lässt und lieber im fernen Londoner Krankenhaus die Karriereleiter aufsteigt als …« Lizzie unterbrach sich und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als könnte sie ihre Bemerkung auf diese Weise wieder zurück in den Mund stopfen. »Bitte verzeihen Sie, das ist mir nur so herausgerutscht. Ich bin einfach erschöpft.«

»Ach, dann sind Sie wohl der gute Geist der Praxis, von dem meine Mutter in ihren Briefen in hohen Tönen geschwärmt hat, die Frau Dr. Lüdtke, oder?«

Lizzies Miene erhellte sich. »Das schmeichelt mir, dass Ihre Mutter eine so hohe Meinung von mir hat.« Ganz im Gegensatz zur Meinung Ihres Vaters über Sie, fügte sie in Gedanken hinzu. Der alte Doktor hatte nicht oft über seinen Sohn gesprochen, aber wenn, dann hatte immer eine gewisse Bitterkeit in seinen Worten mitgeschwungen. Er hatte stets beklagt, dass sein Sohn niemals seine Praxis übernehmen würde, da er sich zu Höherem berufen fühle und nicht nach Deutschland zurückkommen werde.

»Ich habe gehofft, meinen Vater hier zu treffen. Ich wollte mit ihm sprechen, bevor ich in das Haus meiner Eltern fahre.«

»Das tut mir leid … er ist heute … also er macht gerade einen Hausbesuch«, schwindelte Lizzie, ohne rot zu werden.

»Dann warte ich draußen. Und sagen Sie, eine Frage: Sitzen die Patienten immer bis in den Hausflur?«

Jetzt hatte sie sich mit ihrer verdammten Notlüge in eine dumme Lage gebracht. Sie konnte ihn ja kaum den ganzen Tag draußen auf seinen Vater warten lassen, der heute gar nicht mehr in die Praxis kam. Jedenfalls hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn an diesem Tag nicht mehr in der Praxis sehen wollte, verbunden mit dem Rat, sich endlich in die Behandlung eines Kollegen zu begeben, statt dem Tag seines Ablebens entgegenzuschnaufen. Während Lizzie noch nach einer passenden Erklärung rang, die seinen Sohn vom Warten abhalten würde, musterte sie ihn verstohlen. Sie musste feststellen, dass er ein ausgesprochen gut aussehender Mann war. Groß, schlank, markantes Kinn, ein schmales Gesicht und blaugraue Augen, die sie mit großem Interesse musterten.

»Haben Sie vielleicht Zeit, später mit mir Mittag essen zu gehen? Gibt es den Gnomenkeller noch?«, fragte er nun. Offenbar hatte er inzwischen ohne große Worte begriffen, dass es zwecklos wäre, hier auf seinen Vater zu warten.

Lizzie zuckte mit den Schultern. Einmal davon abgesehen, dass sie jeden Tag bis auf drei Zigarettenlängen Pause bis zum Abend durcharbeitete, ohne etwas zu essen, ging sie in der Regel niemals zum Essen aus. Schon gar nicht, nachdem auch in Flensburg nach dem Krieg Lebensmittelknappheit geherrscht hatte. Zwar hatten sie immer noch Lebensmittel vom Gut Runohr bekommen, aber auch diese Rationen war in der Nachkriegsnot immer knapper geworden. Essengehen war ein Luxus, den sie nicht mehr gewohnt war.

Sie schüttelte heftig ihr dickes blondes Haar, das zu ihrer großen Freude noch keine graue Strähne besaß. Sie war das Gegenteil von eitel, aber manchmal kam sie nicht umhin, ihrem Spiegelbild zu begegnen, was sie jedes Mal erschreckte. Es war allein ihr voller blonder Schopf, der sie in ihren Augen nicht gänzlich wie eine Vogelscheuche aussehen ließ.

»Keine Zeit! Die Arbeit!«

»Tja, ich gehe einmal davon aus, dass es zwecklos ist, auf meinen Vater zu warten, weil er vorerst nicht in die Praxis kommen wird, nicht wahr?« Er sah sie durchdringend an.

»Genau, am besten, Sie warten nicht hier, sondern besuchen Ihre Mutter. Und es wäre nett, wenn Sie ihr nicht verraten würden, dass er heute Vormittag nicht in der Praxis war, weil er beim Zahnarzt ist.«

»Einen Hausbesuch beim Zahnarzt also?«, gab er ungerührt zurück.

Sie hob abwehrend die Hände. »Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Die Patienten warten!«

»Wann sind Sie denn heute Abend fertig? Darf ich Ihre Zeit vielleicht dann einmal kurz in Anspruch nehmen?«

»Lieber nicht. Zu Hause wartet mein Mann auf mich, und ich habe meiner Schwester, die mit uns im Haus lebt, versprochen, sie heute Abend einen Text abzufragen.« Lizzie schämte sich insgeheim, Danzer junior lauter Lügen aufzutischen. Heute Abend waren Gottfried und Jette in Sonderburg bei Onkel Henning eingeladen und würden erst morgen Vormittag zurückkehren. Lizzie wäre gern mitgefahren, aber die kleine Gesellschaft hatte bereits am Nachmittag begonnen. Auch in der Beziehung war der jüngere Bruder ihres Vaters ein Phänomen. In seinem Haus am Meer waren gleich nach dem Krieg wieder genau wie vorher wichtige Menschen ein und aus gegangen, und er hatte sein Leben als Bohemien, wie ihn Lizzies Vater stets abwertend genannt hatte, fortgesetzt. Aber dieses Mal hatte er ganz besonderen Besuch. Klara, Jettes Tochter, war extra aus Kopenhagen angereist, um an der geselligen Tafel ihres Großonkels einen Berliner Filmproduzenten kennenzulernen. Für Jette, die sehr unter der Entfremdung von ihrer Tochter litt, war es eine günstige Gelegenheit, sie überhaupt einmal zu sehen. Klara weigerte sich aus Prinzip, ansonsten allzu oft nach Deutschland zu reisen. Lizzie hatte Gottfried mehr oder minder überreden müssen, Jette zu begleiten, um seinen alten Freund Henning wiederzusehen. Dort, an seinem Künstlertisch, war Lizzie dem charismatischen Mediziner zum ersten Mal begegnet. Damals, kurz nach ihrem Abitur, bevor sie Diakonisse geworden war. Sie würde nie vergessen, wie Gottfried ihr das vergeblich hatte ausreden wollen, aber zum Glück waren sie sich dann später in Berlin noch einmal begegnet …

»Frau Dr. Lüdtke, ich würde es mir nicht anmaßen, Sie aus lauter Jux und Tollerei darum zu bitten, mir ein wenig Ihrer Zeit zu schenken. Es ist wichtig«, verkündete Danzer Junior nun in einem flehenden Ton, der Lizzie aufhorchen ließ. Das war kein billiger Versuch, sie zum Ausgehen mit ihm zu bewegen, er schien wirklich etwas auf dem Herzen zu haben.

Lizzie nickte müde. »Gut, dann treffen wir uns um 19 Uhr im Gnomenkeller.«

»Danke. Ich war das letzte Mal dort, als ich noch in Kiel studiert habe. Ich kam öfter am Wochenende nach Hause, um meine Freunde zu sehen. Und da sind wir des Öfteren mehr kriechend wieder auf den Holm gelangt.« Er lachte laut und herzlich. Lizzie erschrak. Es war dem Lachen so ähnlich, mit dem Gottfried sie damals bezaubert hatte. So ein raues Lachen aus voller Kehle. Doch bei ihrem Mann hatte sie das lange nicht mehr gehört.

»Sie sind in Flensburg aufgewachsen?«, fragte sie erstaunt. »Ihr Vater hat doch lange in London gelebt, oder?«

»Genau, wir sind 1935 nach England gegangen – meine Mutter ist Jüdin. Da war ich allerdings schon junger Assistenzarzt in Kiel.«

»Welcher Jahrgang sind Sie denn?«

»Ich bin 1903 geboren.«

Sie lächelte. »Dann bin ich wenigstens ein paar Monate jünger als Sie. Und auf welcher Schule waren Sie, wenn ich fragen darf?«

»Altes Gymnasium. Und Sie?«

»Auguste-Viktoria-Schule und dann externes Abitur auf Ihrer Schule.«

»Deshalb kamen Sie mir gleich so bekannt vor. Sind Sie etwa die Danneberg-Amazone?«

»Wie bitte?«

»So haben wir Sie damals genannt.«

»Ach, dann gehörten Sie wohl zu diesen schrecklichen Jungs, die mir ständig beweisen wollten, dass sie mehr Verstand haben als Mädchen!«

»Ich muss zugeben, ich gehörte zu den Burschen, die Ihnen niemals die Schultasche getragen hätten. Da gab es so ein paar Memmen in unserer Klasse, die regelrecht für Sie geschwärmt haben«, sagte er lächelnd. »Und heute kann ich das verstehen. Ich bin ja klüger geworden«, fügte er verschmitzt hinzu.

»Das kann ich nicht beurteilen, Sie sind mir gar nicht in Erinnerung.« Lizzie hatte das absichtlich spröde von sich gegeben, weil sie es nicht mehr gewohnt war, dass ein Mann ihr Komplimente machte. Es verunsicherte sie. Hatte der Mann denn keine Augen im Kopf? Von dem, was andere früher über ihre angebliche Schönheit gesagt hatten, war doch nun wirklich gar nichts mehr übrig geblieben.

Hastig zog sie, zum Zeichen, dass ihre Pause nun endgültig vorüber war, ihren Kittel wieder an, den sie zum Rauchen stets über den Stuhl hängte, damit er keinen Zigarettengestank annahm. Es reichte schon, dass er nach Steckrüben roch, wenn der Duft aus den Küchen der Mietwohnungen durch das ganze Haus waberte.

»Ich muss dann mal weitermachen«, verkündete sie in strengem Ton, während sie noch eine tiefe Brise der frischen Flensburger Luft einsog, bevor sie das Fenster schloss.

Es war ein herrlich warmer Tag. Viel zu schade, um den Feierabend in einem Kellergewölbe zu verbringen, dachte Lizzie. Ihr kam ein anderer Gedanke in den Sinn. Sie drehte sich zu Emil Danzer um.

»Was halten Sie davon, wenn wir bei diesem schönen Wetter, statt im Gnomenkeller zu Abend zu essen, mit der Alexandra nach Glücksburg fahren?«

Über Emil Danzers Gesicht ging ein Strahlen. »Eine wunderbare Idee. Wir sind schon als Schüler mit ihr gefahren.«

Lizzie unterdrückte die Bemerkung, dass sie ihre Kindheit und Jugend schräg gegenüber vom Anleger für die Dampfschiffe verbracht hatte, denn er machte immer noch keinerlei Anstalten, ihr Behandlungszimmer zu verlassen.

»Soll ich Ihnen vielleicht assistieren?«, fragte er nun, und das schien er wirklich ernst zu meinen.

Sie winkte ab. »Nein, nein, das schaffe ich schon allein.« An seinem Blick war unschwer zu erkennen, dass er längst ahnte, dass sie ihn nach Strich und Faden beschwindelte, was seinen Vater anging. »Ich meine natürlich, bis Ihr Vater zurückkommt«, fügte sie hektisch hinzu.

»Gut, aber eine Frage habe ich noch. Ist es wirklich nötig, dass die Patienten im Hausflur warten und teilweise auf den Stufen kauern?«

Lizzie atmete einmal tief durch, um ihn nicht gleich anzufahren, denn seine Bemerkung ärgerte sie und bestätigte das, was der Doktor über seinen Sohn gesagt hatte.

»Ja, tut mir leid, dass unsere Praxis Ihren Ansprüchen nicht gerecht wird. In London ist sicherlich alles der reine Luxus …«

»Ich wollte Sie bestimmt nicht verletzen. Das sollte nicht abwertend klingen, aber eine solche Praxis habe ich noch nicht von innen gesehen. Auch nicht vor dem Krieg.«

»Ihr Vater hängt an diesen Räumlichkeiten. Hier praktiziert er seit Kriegsende! Und seine Patientenzahlen haben sich verdoppelt, nachdem sein Kollege ein paar Häuser weiter nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt ist«, entgegnete sie harsch. »Und Sie wissen schon, dass er noch während des Kriegs ohne seine Familie nach Flensburg zurückgekehrt ist, nur um bis an seine Grenzen im Lazarett zu arbeiten!«

»Es tut mir leid, es geht mich ja auch gar nichts an. Ich weiß auch nicht, warum ich Sie damit belästige. Und sollte mein Vater auftauchen, sobald ich verschwunden bin, dann verraten Sie ihm nichts von meinem Besuch. Ich möchte erst mit Ihnen sprechen, bevor ich meinem alten Herrn von meinem Londoner Luxusleben vorschwärmen kann.« Am leichten Zucken seiner Mundwinkel konnte sie unschwer erkennen, dass seine Worte offenbar nicht ganz ernst gemeint waren.

Als Emil Danzer aus der Tür war, atmete Lizzie einmal tief durch, bevor sie den nächsten Patienten ins Behandlungszimmer rief. Der Junior provozierte sie mit seinem selbstsicheren Auftreten. Aber sie konnte Emil Danzer schlecht dafür verantwortlich machen, dass sein Vater einer jener Mediziner war, dem die eigene Gesundheit keinen Pfifferling wert war, während er sich für andere aufopferte. Lizzie war klug genug, um sich in diesem Moment selbst auf die Schliche zu kommen. Sie war genauso wie der alte Doktor, und es provozierte sie, einem Kollegen gegenüberzustehen, der offenbar auch noch an sich selber dachte. Natürlich wünschte sie sich auch ein einladendes Wartezimmer und dringend eine Sprechstundenhilfe für die Praxis. Natürlich würde sie auch lieber weniger arbeiten, um mehr Zeit zu Hause zu verbringen. Lizzie unterbrach schroff ihren Gedanken. Warum versuche ich, mich selbst zu belügen?, fragte sie sich streng, denn es gab zurzeit nichts in ihrem Leben, was sie lieber tat, als zu arbeiten. Es war so verdammt schwer, Gottfrieds Anwesenheit zu ertragen. Über ihm hing eine düstere, schwere Wolke, die das Leben in dem schönen Haus in der Wrangelstraße zutiefst beschwerte. Wenn er doch wenigstens über sein Leiden mit ihr reden würde, aber er versank in eisernem Schweigen. Offenbar hatte man ihm die kluge Stimme, die einmal sein Markenzeichen gewesen war, im Lager ausgetrieben. Sie hatte alles versucht, um ihn zum Reden zu bewegen, doch er war ihr gegenüber immer unwirscher geworden. Manchmal sah er sie von seinem Sessel mit der alten Sehnsucht und Leidenschaft an und murmelte etwas in sich hinein. Aber immer wenn er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, fiel ein Schatten über sein Gesicht, und er verstummte. Jede Stunde, die sie mehr in der Praxis verbrachte, bedeutete eine Stunde weniger, ihm hilflos bei seinen Qualen zusehen zu müssen. Und nun kam dieser scheinbar unbeschwerte Danzer daher, der offenbar ein vom Grauen des Kriegs unbeschadetes Leben in London führte. Kein Wunder, dass er mich durcheinanderbringt!, dachte Lizzie entschieden und rief den nächsten Patienten in ihr Zimmer.

3. Ein neuer Destillateur

Lene hatte den ganzen Tag ohne Pause durchgearbeitet. Selbst als Ole ihr mittags vorgeschlagen hatte, zum Essen mit ins Wohnhaus zu kommen, hatte sie abgelehnt. Und das, obwohl Kaja ihr Lieblingsessen, dänischen Dorsch mit Meerrettich und gekochten Eiern, zubereitet hatte. Dabei sollte es mit Sicherheit ein Friedensangebot Oles sein, doch ihr stand überhaupt nicht der Sinn danach, sich gemeinsam mit Ehemann und Sohn an den Mittagstisch zu setzen, bevor ein klärendes Gespräch stattgefunden hatte. Sie war ihnen den Tag über mehr oder minder aus dem Weg gegangen. Als sie nun gegen frühen Abend aus dem Lager, aus dem sie ein paar Flaschen des Nachkriegsverschnitts geholt hatte, in ihr Büro zurückkehren wollte, stutzte sie. Durch die Glasscheibe konnte sie sehen, dass sich dort jemand aufhielt. Sie erkannte mit einem Blick, dass es weder Ole noch Herrmann war, sondern ein Fremder, der neugierig die Unterlagen auf dem Schreibtisch beäugte.

Lene beschleunigte ihren Schritt. Grußlos betrat sie ihr Büro und fuhr den Besucher an: »Entschuldigen Sie bitte, was haben Sie hier zu suchen?«

Der Fremde, der sie offenbar nicht hatte kommen hören, fuhr erschrocken herum, doch dann begrüßte er sie freundlich.

»Guten Tag. Ich nehme mal an, Sie sind die Sekretärin des Chefs, und Sie kommen mit den Verträgen. Die Herren haben mich gebeten, hier zu warten, um gleich heute noch zu unterschreiben.«

Lene umrundete energisch den großen alten Schreibtisch, den der Vater ihr vererbt hatte, und setzte sich in den Ledersessel, um den Fremden prüfend zu mustern. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, er sah gut aus, was er auch zu wissen schien, denn er wirkte überheblich. Spontan erinnerte er Helene an ihren Cousin Paul Danneberg in jungen Jahren, und das allein genügte, um ihn unsympathisch zu finden.

»Was für einen Vertrag wollen Sie denn bei uns unterschreiben?«, fragte Lene lauernd. Noch war sie nicht schlauer und hatte keine Ahnung, was der junge Mann hier zu suchen hatte. »Nehmen Sie doch bitte Platz!«

Während er sich setzte, verzog er seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen. Selbst das, obwohl es wohl seine Unsicherheit angesichts einer Frau im Chefsessel überspielen sollte, weckte in ihr unangenehme Erinnerungen an Paul Danneberg.

»Hat man Ihnen denn keine Anweisung erteilt? Die beiden Herren haben mich herbestellt, um das Formale zu regeln. Per Handschlag haben wir uns ja bereits heute früh geeinigt«, erkundigte er sich vorwurfsvoll.

»Nein, mir hat keiner der Herren Anweisungen erteilt. Deshalb ist mir auch nicht bekannt, worüber sie sich mit Ihnen geeinigt haben«, entgegnete Lene kühl und konnte sich kaum eine gewisse Schadenfreude verkneifen beim Anblick des Fremden, dessen arrogante Fassade zu bröckeln schien.

»Dann muss ich Ihrem Gedächtnis wohl etwas nachhelfen. Mein Name ist Per Andresen. Ich bin der neue Destillateur bei Jensen.«

»Dann haben Sie sich wohl in der Tür geirrt. Hier befinden Sie sich im Rumhaus Danneberg!«

»Das weiß ich doch!«, zischte er. »Aber die beiden Chefs heißen Jensen!«

»Schon wieder falsch. Das Rumhaus Danneberg wird von Jensen und Danneberg geführt.«

Der Destillateur sprang empört von seinem Stuhl auf. »Mit Ihnen rede ich doch gar nicht. Wo sind die beiden Herren? Herr Jensen wollte doch nur die Verträge holen, verdammt!«

In diesem Augenblick betrat Herrmann Lenes Büro, in der Hand offenbar die Verträge mit dem Destillateur, dessen Einstellung sie auf keinen Fall zustimmen würde. Einmal davon abgesehen, dass sie zurzeit nicht über die Mittel verfügten, einen neuen Destillateur einzustellen, würde ihr dieser Kerl ganz sicher nicht ins Rumhaus kommen.

»Was wird hier gespielt?«, fragte Herrmann in betont forschem Ton.

Lene zuckte mit den Schultern. »Dieser junge Mann behauptet, er sei unser neuer Destillateur. Das wüsste ich wohl als Chefin, oder?«

Herrmann druckste herum. »Ich, ja – wir wollten dir das gestern sagen, aber du warst ja heute früh noch nicht im Büro. Also, das ist Herr Andresen, den wir gern als neuen Destillateur einstellen wollen, und wir gehen davon aus, dass unsere Wahl deine Zustimmung findet.«

»Nein, findet sie nicht!« Lene wandte sich dem Destillateur zu, der ziemlich blass geworden war. »Tut uns sehr leid, aber Sie entsprechen nicht unseren Vorstellungen … Auf Wiedersehen!«

In diesem Moment kam Ole hinzu. »Was ist denn hier los?«

»Das siehst du doch. Deine Mutter stellt sich mal wieder quer«, giftete Herrmann.

Innerlich vibrierte Lene vor Zorn, aber das ließ sie sich nicht anmerken. Stattdessen wiederholte sie in sachlichem Ton: »Herr Andresen, Sie können jetzt gehen! Sie werden leider keinen Vertrag bei Danneberg bekommen!«

»Aber … aber, Sie haben es mir doch mündlich zugesagt, Herr Jensen!«, widersprach der Destillateur voller Empörung.

»Herr Andresen, ob Sie bitte kurz das Büro verlassen könnten? Wir müssen das mal eben klären! Es handelt sich um ein Missverständnis. Natürlich stellen wir Sie ein«, versuchte Ole zu vermitteln.

»Du irrst dich. Die Sache ist für mich erledigt. Herr Andresen wird nicht bei uns als Destillateur anfangen!«, verkündete Lene äußerlich ruhig. »Und jetzt verlassen am besten alle mein Büro, damit ich meinen letzten Vertrag für heute unterzeichnen kann!« Sie warf demonstrativ einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. »Wir haben nämlich gleich Feierabend.«

»Herr Andresen, vielleicht ist es wirklich besser, Sie gehen jetzt und kommen einfach noch einmal wieder, nachdem ich mit meiner Frau gesprochen habe«, versuchte Herrmann zu vermitteln.

»Herr Andresen, machen Sie sich keine vergebliche Mühe. Wie benötigen Ihre Dienste wirklich nicht«, bemerkte Lene mit einem falschen Lächeln auf den Lippen, um ihren Zorn im Zaum zu halten.

Der junge Mann schoss mit hochrotem Kopf zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Hier hätte ich sowieso nicht angefangen. Wenn ich gleich gewusst hätte, dass hier die Weiber die Hosen anhaben!«

»Mutter, wie konntest du uns nur so bloßstellen? Wenn das in der Branche die Runde macht«, schimpfte Ole, kaum dass der Destillateur das Weite gesucht hatte. Obwohl es Lene in der Seele wehtat, dass ihr Sohn sie unverhohlen angriff, ließ sie sich ihre Verletzlichkeit nicht anmerken.

»Den Fehler habt ihr beiden gemacht. Ihr wisst, dass ihr nicht über meinen Kopf hinweg Leute einstellen könnt! Und das Personalwesen ist allein mein Aufgabenbereich. Das haben wir doch erst neulich gerade so festgelegt!«, fauchte sie.

»Aber wir brauchen dringend noch einen Destillateur. Ole schafft das nicht, und ich habe genug mit dem anderen Kram zu tun«, entgegnete Herrmann in scharfem Ton. »Und du kommst jetzt mit albernem Kompetenzgerangel. Ich sage doch immer, Frauen sind zu emotional, um geschäftliche Entscheidungen mit kühlem Kopf zu treffen.«

Lene atmete einmal tief durch, denn ihm mit dem zu kontern, was ihr gerade auf der Zunge lag, würde in einem lautstarken Streit münden. Und eine derartige Auseinandersetzung wollte sie partout nicht in Gegenwart ihres Sohnes führen. Sie ballte die Fäuste unter dem Schreibtisch.

»Gut, dann werden wir eine gemeinsame Lösung finden! Ich wollte euch sowieso zu einem klärenden Gespräch bitten. Am Wochenende, wenn Dörthe kommt«, erklärte sie mit unterdrücktem Zorn.

»Was hat denn meine Schwester damit zu schaffen?«, spukte Ole verächtlich aus.

»Sie wird an unserem Gespräch teilnehmen, weil sie euch vielleicht noch einmal erklären kann, warum ihr mich rein rechtlich als gleichberechtigte Geschäftsführerin nicht übergehen solltet.« Nun hatte sich Lene wieder im Griff. Sie öffnete die Fäuste und legte die Hände auf den Tisch.

»Du musst wohl immer das letzte Wort haben, oder?«, zischte Herrmann. »Komm, Ole, wir gehen!«

»Mutter, viele Köche verderben den Brei, und drei Leute am Ruder sind zumindest einer zu viel!«, bemerkte Ole beim Hinausgehen in spitzem Ton.

Das Letzte, was sie wollte, war, die Kluft zwischen ihrem Sohn und sich noch zu vertiefen. Doch was war die Alternative dazu, wenn sie nicht für ihre Position im Unternehmen kämpfte? Aufgeben und sich ins Privatleben zurückziehen? Nein, das kam nicht infrage für eine Helene Danneberg. Sie hatte sich nicht so viele Jahre gegen Vater und Ehemann erfolgreich in einer Branche behauptet, in der eine Frau in ihrer Stellung offenbar immer noch verpönt war, um jetzt vor ihrem eigenen Sohn zu kuschen. Auch wenn sie unter Umständen einen hohen Preis dafür zahlen musste, sie ließ sich von keinem das Zepter aus der Hand nehmen. Auch nicht von Ole! Ihr Blick fiel auf das Gemälde, das ihren Vater abbildete, wie er stolz hinter seinem Schreibtisch thronte. Sie wusste, dass es eine Täuschung war, aber sie wollte in diesem Moment fest daran glauben, dass er ihr soeben für den Bruchteil eines Augenblicks aufmunternd zugezwinkert hatte. Gedankenverloren nahm sie eine Flasche Dannebergs Feinster