Schwimmende Schmetterlinge - Trix Niederhauser - E-Book

Schwimmende Schmetterlinge E-Book

Trix Niederhauser

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Beschreibung

Ihren neuen Job hatte sich Toni anders vorgestellt. Da sitzt plötzlich dieser schmierige Möchtegern-Juniorverleger, der das kritische Blatt zur 08/15-Zeitschrift machen will. Zu allem Übel gerät die Journalistin auch noch mit Sekretärin Julia aneinander. Dabei hat Toni schon genug Probleme am Hals: Zwar war sie endlich so weit, ihre Freundin zu verlassen – nur leider geschah das völlig planlos. Zum Glück findet die Drummerin im Proberaum ihrer Metal-Band einen Unterschlupf. Überraschend kreuzen sich Tonis Wege auch privat immer wieder mit denen von Sekretärin und Tierschützerin Julia. Die bisher heterosexuell liebende Ju-lia beginnt steigendes Interesse an Toni zu zeigen. Woher kommt dieses gewisse Falterflattern im Bauch? Julia ist um Abhilfe nicht verlegen und ertränkt die Insekten in Alkohol. – Was aber, wenn Schmetterlinge schwimmen können ...?

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Seitenzahl: 388

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Trix Niederhauser

SCHWIMMENDESCHMETTERLINGE

Roman

ISBN (eBook) 978-3-89741-964-3ISBN (Print) 978-3-89741-410-5

© eBook nach der Originalausgabe© 2018 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/TaunusAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Atelier KatarinaS / NLunter Verwendung des Fotos »Butterflies«,© Copyright desi-gn / photocase.de

Ulrike Helmer VerlagE-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Über die Autorin

Mein Dank geht an– meine Testleserinnen: Carla, Tanja und Nina– und an all jene Menschen, die mein Lebenzu einem Fest machen

1. Kapitel

Such a lonely day and it’s mine.The most loneliest day of my lifeSuch a lonely day should be banned.It’s a day that I can’t standSYSTEM OF A DOWN

Regen prasselte gegen die Autoscheiben. Es war bereits dunkel. Scheinwerferlicht strich über mich, ich saß da und starrte in die Nacht. Meine nassen Haare hingen mir ins Gesicht, das T-Shirt klebte an meinem Körper. Mir war kalt, leise schlotterte ich vor mich hin. Was für ein seltsamer Tag! Ich fühlte mich leer und allein, aber trotzdem erleichtert. Endlich! – Seit Wochen hatte ich mit der Entscheidung gekämpft. Sollte ich? Sollte ich nicht? Dann verpasste sie mir den letzten schmerzhaften und entscheidenden Kick. Da überkam mich die Traurigkeit, die Einsamkeit schnürte mir die Kehle zu. Wenn ich nicht untergehen wollte, musste ich handeln; die Zeit für den Neustart war da.

Also bin ich gegangen.

Wann würde sie merken, dass ich weg war? Nervös trommelte ich auf das Steuerrad. Hatte ich ihren Anruf überhört?

Ich tastete auf dem Nebensitz nach dem Handy. Fehlanzeige. Ach, da lag es ja, auf dem Boden. Mit langem Arm angelte ich nach dem Gerät und warf einen Blick darauf. Nichts. Ihre letzte SMS war immer noch die von gestern Morgen.

MUSS LÄNGER BLEIBEN, VERKAUF IST KOMPLIZIERT. MELDE MICH. KUSS, KATJA

Jedes Wort eine Lüge, der Kuss purer Hohn. Von wegen komplizierter Verkauf! Vor zwei Tagen hatte ich sie in der Stadt mit einer anderen Frau gesehen. Nein, mit keiner anderen, sondern derselben wie schon ein paar Monate zuvor. Immerhin ihr blieb sie treu.

Vielleicht war ich in der zurückliegenden Zeit zu naiv und vertrauensselig gewesen. Es hatte gedauert, bis ich kapierte, was sich da vor meiner Nase abspielte. Ihr Smartphone klingelte plötzlich öfter am Abend, wenn wir auf dem Sofa saßen. Sie warf einen Blick darauf, seufzte »geschäftlich, tut mir leid, Toni« und verschwand in ihrem Zimmer. Wenige Minuten später tauchte sie wieder auf und rief: »Ich muss noch mal weg. Warte nicht auf mich, es könnte spät werden.« Meinen erstaunten Blick nahm sie gelassen zur Kenntnis. »Es geht um eines meiner Projekte.«

Ich weiß nicht, ob ich eine Geliebte als Projekt bezeichnen würde.

Katja war dabei, ihre eigene Firma aufzubauen, dafür hatte ich Verständnis. Ich fragte nie nach. Wieso sollte ich?

Als ich einmal früher als geplant von einer Recherche zurückkam und den Briefkasten leerte, fiel mir eine Postkarte entgegen. Auf der Vorderseite aufgedruckt stand: Du bist wundervoll, verführerisch, sexy, liebevoll, zauberhaft, einmalig. – Was für eine schöne Begrüßung! Neugierig drehte ich die Karte um und las die handschriftliche Notiz, die der Vorderseite in nichts nachstand. Sie endete mit Ich liebe dich, R. Ach, nicht für uns, dachte ich blauäugig. Dann fiel mein Blick auf die Adresse. Doch für uns – vielmehr für Katja. Der Schock saß tief, es brauchte eine Weile, bis ich wieder klar denken konnte.

Mein Wissen behielt ich vorerst für mich. Katja benahm sich mir gegenüber wie immer. Lange ertrug ich die Situation nicht. Nach drei fast schlaflosen Nächten frage ich: »Wer ist R.?«

»Bitte?« Ihr Kopf fuhr erschrocken hoch, die Zeitschrift, in der sie geblättert hatte, sank auf die Oberschenkel. Zuerst versuchte sie sich mit Lügen herauszuwinden. »Keine Ahnung. Wen meinst du?« Sie kratzte sich am Kopf, als ob sie ernsthaft sämtliche Bekannten durchgehen müsste.

Wütend warf ich ihr die Karte, die ich ununterbrochen mit mir herumtrug, vor die Füße. Neugierig hob sie sie auf. Ihre Wangen röteten sich, sie senkte den Kopf und sagte leise: »Ja, okay, ich weiß, wer das ist. Aber ich habe vor zwei Tagen mit ihr Schluss gemacht.« Beschwörend trat sie auf mich zu. »Ich steckte in einer kleinen Krise, als ich sie kennenlernte. Was soll ich sagen? Ich bin ihrem jugendlichen Charme erlegen, habe mich wieder begehrenswert gefühlt. Wer kann da widerstehen?!« Sie schaute mich bettelnd an, bevor sie im Wohnzimmer auf und ab zu wandern begann.

»Ach? Und das entschuldigt alles?«, fragte ich. »Ziemlich einfach, finde ich.«

Verzweifelt verwarf sie die Hände. »Ich hatte mich da in was verrannt.« Sie blieb vor mir stehen. »Aber dann ist mir aufgegangen, wie wichtig du mir bist.« Ihr Versuch, mich zu umarmen, lief ins Leere. »Viel wichtiger als sie!« Sie ließ die Arme sinken, setzte sich auf einen Stuhl und wippte unruhig mit dem rechten Bein. »Die Sache ist vorbei, Toni! Es war nur eine Affäre, ohne Gefühle, einfach eine kurze Faszination, diese Frau hat mir rein gar nichts bedeutet.«

»Das sieht sie wohl etwas anders«, wandte ich ein.

Nervös strich sich Katja mit der Hand durch die Haare. »Sowas kann passieren, gerade wenn man über die vierzig ist! Dir übrigens auch.« Die übliche Ausrede für einen Seitensprung. Wie oft fielen wohl diese Sätze?

»Ist es aber nicht.« Ich verschwand in der Küche, holte mir eine eiskalte Cola, die wunderbar zu meinen Gefühlen passte, und nahm einen kräftigen Schluck. »Du bist laufend unterwegs, wie soll ich dir jemals wieder vertrauen?«

Geräuschvoll schob sie den Stuhl zur Seite, ihre Hände berührten meine Schultern. »Ich liebe dich, Toni! Ich kann und will nicht ohne dich sein.« Sanft strich sie mir über den Rücken. »Lass mich nicht allein …« Dann küsste sie meinen Hals, ihre Lippen blieben einen Augenblick auf der Schlagader liegen.

Langsam drehte ich mich zu ihr um. »Und wieso verletzt du mich dann? Was ist das für eine Liebe?«

Schluchzend ließ sie sich gegen mich sinken. »Es wird nie wieder vorkommen, ehrlich.«

Während ich sie fest umschlungen hielt, füllten sich meine Augen mit Tränen.

Unsere Liebe hatte so wunderbar und leicht begonnen. Bei der Recherche von Hintergrundinfos für eine Immobilienstory war ich an eine Maklerin geraten, Typ attraktive Geschäftsfrau. Anfangs saß sie mir mit kritischem Blick gegenüber, aber nach und nach fasste sie Vertrauen; irgendwann gingen wir zum Du über. Katja gefiel mir sofort, aber ich war gerade frisch aus einer Beziehungskiste gestiegen und hatte keine Lust auf neues Chaos. Meine Gefühle schob ich beiseite, so gut es ging.

Nachdem die Reportage abgeschlossen war, lud ich Katja zum Essen ein. Es wurde ein unbeschwerter, fröhlicher Abend. Ich fühlte mich wohl mit dieser Frau, sie war weltoffen, gebildet und attraktiv.

Katja ist kein Mensch, der lange fackelt. Unmissverständlich machte sie mir klar, dass sie sich in mich verliebt hatte. Da siegte mein dusseliges Herz über meine Ängste, kopfüber stürzte ich mich ins Abenteuer.

Unsere Beziehung gestaltete sich von Anfang an nicht einfach. Als freie Journalistin konnte ich meine Arbeit zwar selber einteilen, allerdings stand ich oft unter Zeitdruck. Die Auftraggeber brauchten Storys, der nächste Redaktionsschluss hing wie ein Damoklesschwert über mir. Obendrein war ich viel unterwegs.

»Wieso arbeitest du nicht fest bei so einer Zeitschrift, wo du über irgendwelche Promis schreiben kannst? Da hast du zwar nicht viel Freiraum, aber dafür weniger Stress.« Katja sah mich herausfordernd an. »Und du hättest mehr Zeit für mich.«

Genervt rollte ich mit den Augen. Wie oft hatte ich ihr meinen Ehrencodex schon erklärt?! Ich wollte aufklären, informieren, wachrütteln. Spannende und gut recherchierte Geschichten erzählen. Es interessierte mich nicht die Bohne, wer wen mit wem betrog, ich wollte keine Diät-Ratschläge verbreiten oder tiefschürfende Fragen wie Ist sie wirklich vom Prinzen schwanger? aufwerfen. Mit Spaltenfüllen hatte ich mir vor Jahren die Sporen verdient, jetzt wollte ich etwas bewegen!

»Dann lass uns wenigstens zusammenziehen«, fuhr Katja fort. »Dieses ewige Hin und Her nervt. Bei dir ist zu wenig Platz. Meine Wohnung ist groß, du kannst eines der Zimmer als Büro benutzen.« Ich schwieg. Dieselbe Diskussion hatten wir schon ein paar Mal geführt, ohne Ergebnis. »Bitte, bitte, Toni«, flehte sie. »Stell dir vor, jeden Abend zusammen einschlafen und morgens gemeinsam aufwachen … wäre das nicht himmlisch?«

Zugegeben, es klang himmlisch. Mein Vorsatz, nie bei jemandem einzuziehen, geriet ins Schwanken. Katja besaß eine große, schöne Wohnung mitten in der Stadt – wieso also nicht?!

Die Realität sollte bald weniger himmlisch aussehen. In der ersten Zeit genossen wir jede Minute, die wir miteinander in trauter Zweisamkeit verbringen konnten, aber der Alltag holte uns schnell ein.

Katja liebte häuslichen Trubel um sich. Als Maklerin war sie allerdings viel unterwegs, oft auch im nahen Ausland. »Ich vermisse meine Freunde«, beklagte sie sich ab und an nach einer Reise. »Es ist so langweilig allein im Hotel.« War sie abends und an den Wochenenden daheim, bekochte sie oft irgendwelche Bekannten. Ständig saß jemand bei uns im Wohnzimmer, oft bis in die frühen Morgenstunden. Gemeinsame Zeit blieb uns da wenig. »Du musst ja nicht dabeisitzen, wenn du lieber arbeitest.« Der vorwurfsvolle Unterton entging mir nicht. »Aber es ist schließlich meine Wohnung, meine Freizeit, ich will mich amüsieren. Wenn du niemand hier haben willst, bleib in deinem Zimmer, aber verdirb mir nicht den Abend. Wir sehen uns fast jeden Tag, ab und zu will ich meine Leute um mich haben.«

Ja, wir sahen uns fast täglich, aber wir lebten aneinander vorbei. Wenn ich über einer Story brütete, konnte ich nicht einfach damit aufhören. Doch pausenlos dröhnte Musik vom Wohnzimmer herüber, es wurde geredet und laut gelacht. Die Konzentration hatte ich verloren, also setzte ich mich dazu, in Gedanken ließ mich meine Story aber trotzdem nicht los.

»Du beteiligst dich gar nicht richtig an den Gesprächen«, kam am nächsten Tag prompt der Vorwurf von Katja.

Meine eigenen Freunde waren ihr suspekt. Besonders Mille, mit dem ich die Invaders gegründet hatte und seit Jahrzehnten dick befreundet war, schien ihr ein Dorn im Auge zu sein. Wenn er mich besuchte, hatte er meist ein paar neue CDs dabei, die wir stilecht mit einem Bier in der Hand durchhörten.

»Könnt ihr die Musik nicht leiser drehen?!« Katja hielt sich theatralisch die Hand an den Kopf. »Furchtbar, dieser Lärm! Wieso nicht wenigstens Jazz oder Avantgarde?«

»Weil wir Metalheads sind!« Milles Faust flog in die Luft. »Born to be wild!«

Kopfschüttelnd verließ sie das Zimmer.

»Ich mag deine Rocker-Freunde nicht«, hatte sie mir gleich am Anfang erklärt, »die sind primitiv und ungepflegt. Mit denen will ich nichts zu tun haben.«

Meine Einwände, dass Mille Sozialarbeiter sei, sich um Jugendliche kümmere und immer nach Rasierwasser dufte, ließ sie nicht gelten. Genüsslich pflegte sie ihre Vorurteile und gab sich keinerlei Mühe, ihn kennenzulernen. Das hätte mich hellhörig machen sollen, aber auf diesem Ohr war ich lange taub.

»Es reicht, dass du mit solchen Leuten herumhängst. Sie passen einfach nicht zu mir. Ich weiß nicht, was ich mit einem wie Mille reden soll.« Womöglich hatte sie recht.

In meiner Naivität dachte ich, dass ich die beiden Welten problemlos trennen könnte – was für eine Illusion!

Natürlich gab es auch schöne Zeiten. Dann lagen Katja und ich gemütlich auf dem Sofa und lasen, oder wir standen gemeinsam in der Küche und bereiteten ein mehrgängiges Menü zu. Uns Hand in Hand, als Team zu erleben gab mir Kraft und Vertrauen, dass wir es auch sonst hinkriegen könnten, obwohl wir so unterschiedlich waren.

Nach Katjas Affäre war das Vertrauen dahin. Sobald sie auf ihrem Smartphone herumtippte, befiel mich ein mulmiges Gefühl. Wem schrieb sie? War sie wirklich geschäftlich übers Wochenende weg? Wieso nahm sie mich nie mit?

Als sie mir nach ihrem Geständnis schluchzend um den Hals gefallen war, hatte ich nachgegeben und meine Zweifel begraben. In den nächsten Wochen trug sie mich auf Händen, verwöhnte mich, versuchte mich in Sicherheit zu wiegen. Doch dann brachen wieder Zeiten an, wo sie über Nacht wegblieb, angeblich der Firma wegen, und aufgekratzt nach Hause kam. »Hier sollten wir mal ein Wochenende verbringen! Das Hotel ist wunderschön, nur leider konnte ich den Wellness-Bereich nicht testen.« Sie hielt mir einen Hochglanzprospekt hin. »Ich war den ganzen Tag unterwegs und abends bin ich müde ins Bett gefallen.«

Ich wusste, was sie mir damit sagen wollte, war aber nicht sicher, ob ich ihr glauben konnte. Der Versuchung, ihr Smartphone zu durchforsten, erlag ich immerhin nicht.

Irgendwann hatte ich dann zufällig einen Interviewtermin in der Stadt, da kamen sie mir Arm in Arm entgegen: Katja und ihre angebliche Ex-Affäre, innig vertraut. Ihr verliebtes Lachen ging mir durch Mark und Bein. Hastig wechselte ich die Straßenseite, bevor sie mich entdeckten. Ich huschte hinter einen SUV und beobachtete, wie die beiden ein Stück weiter in einem Hauseingang verschwanden. Schlaff sackte ich gegen den Wagen. Ich hatte so etwas geahnt und gefühlt, nun war mein Verdacht bestätigt. Erstaunlicherweise tat es gar nicht mehr richtig weh. Offenbar hatte ich mich in den letzten Wochen schon innerlich von Katja verabschiedet.

Die Trennung war damit überfällig, ich musste nur den letzten Schritt machen.

Meine Umzugskisten lagerten noch im Keller. Ich packte sämtliche CDs und Bücher ein, bevor ich Frank anrief. Um diese Zeit stand er bereits in der Küche seines Lokals High Voltage, um das Essen für den Abend vorzubereiten. Die Kneipe, die er vor einem Jahr übernommen hatte, lief gut. Sein Konzept mit einfachen, aber frisch zubereiteten Gerichten und Live-Musik ging auf. Mein Bruder hatte sich damit seinen Lebenstraum erfüllt.

»Was?!«, brüllte er in den Hörer. Im Hintergrund erklang My temperature’s high, hells bells, dazu zischte es. Frank rockte den Herd wieder mal mit AC/DC.

»Ich brauche deine Hilfe«, schrie ich verzweifelt. »Genauer gesagt, deinen kleinen Laster. Ich ziehe aus.« Es war nicht das erste Mal, dass er mir bei einem Umzug half, aber normalerweise vereinbarten wir dafür einen Termin.

Die Musik wurde leiser. »Mach hier weiter, ich muss weg«, hörte ich Franks Befehl an wen auch immer. Eine Tür schlug zu, ein Feuerzeug knipste, offenbar stand er jetzt draußen, mit einer Zigarette. »Was?! Du ziehst aus? So plötzlich?«

Ich schluckte leer. »Ja. Ich kann nicht mehr. Ich muss da weg.«

»Und dein neuer Job? Ich denke, du fängst morgen bei diesem Magazin an.« Sein Atem ging ein bisschen schneller, er befand sich offenbar schon auf dem Weg zum Wagen.

»Eben. Und deshalb muss ich raus. Ich fange ein ganz neues Leben an!« Wenn man bedachte, dass ich überhaupt keinen Plan von meinem ganz neuen Leben hatte, war dies eine etwas gewagte Aussage.

Mein Bruder seufzte leise. »Ich fahr los!«

Zehn Minuten später hielt sein kleiner Laster auf dem Parkplatz. Aus dem Führerhaus sprang Frank in voller Kochmontur, auf der anderen Seite stieg zu meinem Erstaunen Mille aus. Seine langen, schwarzen, gelockten Haare wehten im Wind. Mit ernster Miene kam er auf mich zu, die Arme weit ausgebreitet.

»Komm her!« Er packte mich und drückte mich an seine breite Brust. »Das wird schon, das wird schon«, flüsterte er, während er mir über den Kopf strich wie einer Dreijährigen.

»Du kannst mich loslassen«, sagte ich tapfer und versuchte mich zu befreien. »Halb so schlimm. War wohl einfach an der Zeit.«

Bevor ich noch cooler werden konnte, landete ich in Franks Armen. »Tut ja doch immer weh, wenn man sich trennt, auch wenn‘s richtig ist.« Prüfend sah er mir in die Augen. »Geht’s?«

Ich nickte. »Lasst uns lieber loslegen. Ich will so schnell wie möglich hier weg, bevor ich es mir anders überlege.« Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen, sie packten sofort an. Viele Sachen gab es sowieso nicht, das meiste gehörte Katja. Ich besaß nicht einmal ein eigenes Bett. In meiner Euphorie und um die sperrigen Teile nicht die Treppe hochtragen zu müssen, hatte ich es zersägt, als ich bei ihr einzog. Lediglich mein Computer, der Schreibtisch, CDs, Bücher und ein paar Klamotten mussten raus aus der Wohnung. Mein Geschirr lagerte seit dem Umzug im Keller, Katjas Küche war perfekt ausgestattet.

Wir arbeiteten schnell und beinahe wortlos. Nach einer Stunde war alles auf dem Laster verstaut. Frank lehnte sich gegen die Wand, zückte sein Feuerzeug und zündete genüsslich eine Zigarette an. Dabei musterte er mich aus den Augenwinkeln. »Und wohin mit dem Krempel? Wo ist die neue Bleibe?«

Ratlos schüttelte ich den Kopf. Neben mir zerdrückte Mille seine Cola-Dose. »Mädchen, Mädchen, was machst du bloß für Sachen?« Sein Arm legte sich schwer auf meine Schulter. »In meinem Keller hat’s Platz, dort kannst du alles unterstellen, bis du weißt, wie’s weitergeht.«

»Normalerweise sucht man sich zuerst eine neue Wohnung«, meinte Frank mit lehrerhaftem Unterton. »Schlafen kannst du bei mir, allerdings ist im High Voltage immer bis nach Mitternacht Hochbetrieb. Heute Abend spielt eine Thrash-Band, es wird also ziemlich laut.«

Das war wohl kaum der geeignete Ort für erholsamen Schlaf. Dabei brauchte ich Ruhe. Morgen würde ich meinen neuen Job anfangen, seit langem wieder eine feste Stelle.

»Frag doch Jo«, schlug Mille vor.

Nein, zu Jo wollte ich auf gar keinen Fall. Bei unserer Bassistin gab es zwar genügend Platz und ein bequemes Sofa, aber auch einen zweijährigen Knirps, der mich keine Minute alleine lassen und morgens in aller Frühe nerven würde.

»Ich leg mich auf die Couch in unserem Proberaum.« Dies war mein ganzer Plan, gereift in der letzten Stunde, weiter war ich noch nicht – immerhin. »WC und Dusche gibt’s da auch und Essen besorge ich mir.«

Frank schnippte den Zigarettenstummel zu Boden. »Also bitte! Du weißt genau, dass du bei mir jederzeit was zu futtern bekommst.« Er packte seine Kochjacke, die er auf der Treppe abgelegt hatte, und stieg in den Laster. »Los, wir bringen alles zu Mille, danach«, die Tür knallte, gleich darauf versank die Scheibe quietschend und Franks Ellenbogen tauchte auf, »geht’s zwecks Lagebesprechung und Verköstigung ins High Voltage!« Auf meinen Bruder war immer Verlass.

»Das klingt mir nach einem ausgeklügelten Plan«, nickte Mille. Wenn es ums Essen ging, musste man ihn nie zweimal einladen. »Mach schon mal das Spaghetti-Wasser heiß«, schrie er Frank zu, dann schob er sich zu mir ins Auto. Ich startete erst die Musik, dann den Motor. A fight I must win von Arch Enemy. One thing I know for sure … this is a fight I must win.

»Hei, das muss von der neuen Scheibe sein, die habe ich noch nicht«, rief Mille. Sein Kopf nickte im Takt, während er die CD-Hülle in Augenschein nahm.

»Also ehrlich gesagt«, begann er nach einer Weile zögerlich, »ich mochte sie eigentlich nie.« Er warf mir einen vorsichtigen Blick zu. »Zu mir war sie immer ziemlich von oben herab.« Seine Hände begannen den Rhythmus auf die Schenkel zu trommeln. Ich nickte stumm. Bisher hatte er sich mit Kritik zurückgehalten, aber der sonst so herzliche Mille hatte sich Katja gegenüber dermaßen zurückhaltend benommen, dass ihr Missverhältnis einem Blinden aufgefallen wäre.

»Andererseits musste ich sie auch nicht mögen, ist schließlich deine Sache, mit wem du zusammen bist.« Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit und reckte die Nase schnuppernd in die kühle Luft. »Heute fällt bestimmt noch Regen.« Ich spürte, wie er mich von der Seite musterte. »Mir scheint, dass du gar nicht so traurig bist. Irre ich mich oder reißt du dich nur zusammen? Also von mir aus darfst du gerne weinen.« Galant zog er ein Taschentuch aus seiner Jeansjacke. »Bitte sehr!«

Ich winkte ab. »Ach, Mille, ich trauere schon seit Wochen.« Rasant trat ich auf die Bremse, beinahe hatte ich ein Rotlicht übersehen. Momentan verspürte ich eher einen Adrenalinkick als Schmerz. Ich hatte den Absprung endlich geschafft!

»Hei, hei!«, protestierte mein Beifahrer, der Richtung Scheibe geflogen war. Er setzte sich wieder gerade hin. »Das würde ihr bestimmt gefallen.«

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Was würde wem gefallen?«

Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Dass du uns wegen ihr umbringst.« Er stieß mir seinen Ellenbogen in die Rippen. »Die Frau denkt bestimmt, dass du ohne sie nicht leben kannst.«

Ja, das hatte ich tatsächlich eine Weile gedacht, aber eigentlich ging es bisher ganz gut.

Nach einem Teller Spaghetti Antonia, die Frank extra für mich kreiert und auf die Karte gesetzt hatte, sah die Welt freundlicher aus. Allerdings wich meine erste Euphorie langsam einem Gefühl der Verlassenheit. Gleichzeitig bekam ich Angst. Was, wenn Katja mir nachliefe? Würde ich ihr widerstehen können?

Sobald seine Zeit es erlaubte, setzte sich Frank zu uns an den Tisch. Immer wieder sah er mich prüfend an oder fuhr mir liebevoll über den Rücken. Ich war gerührt. Mein Bruder machte sich echte Sorgen um mich.

»Vielleicht solltest du dich betrinken«, lallte Mille, der selbst bereits ein bisschen zu viel intus hatte.

»Und wer fährt dich dann nach Hause?« Mir war nicht nach Absturz. Nichts gegen einen kleinen Rausch ab und an, aber jetzt wollte ich einen klaren Kopf behalten.

Die Kneipe füllte sich mit Leuten, die zum Konzert wollten, es wurde immer lauter. Frank musste hinter den Tresen und ich nach Hause – oder an den Ort, den ich nun so nennen musste. Ich packte Mille am Arm und zog ihn nach draußen. Heftiger Regen empfing uns.

»Hab ich’s nicht gesagt?! Los!« Übermütig nahm er meine Hand und rannte los. Mitten auf dem Parkplatz blieb er stehen und reckte sich dem Himmel entgegen. »Mach schon! Das reinigt, nicht nur äußerlich.«

Mit ausgebreiteten Armen standen wir da, misstrauisch beäugt von Konzertbesuchern, die hastig an uns vorbeieilten. Das kühle Nass tat gut, schon bald hingen mir die Haare ins Gesicht, die Kleidung klebte am Körper.

»Und jetzt musst du aus voller Kehle schreien«, befahl Mille als nächstes. Brüllend standen wir nebeneinander, dann packte er mich am Arm und wir rannten zurück zum Auto. »Hat gutgetan, oder?!«

Ich musste ihm recht geben. Entspannt und klatschnass fuhr ich los.

»Jetzt hören wir uns dieses nette Scheibchen an.« Mille hielt eine CD in die Höhe. »Und dazu singen wir ganz laut.«

As I fly on a lion with eagle wings up into the black sky, schrien Kreator aus den Boxen. Der Song passte wunderbar zu meiner Stimmung. Es tat gut, mit Mille lauthals Fly zu schreien. Ich wollte wieder fliegen, hoch in den Himmel, in die Freiheit.

Nachdem ich Mille abgeladen hatte, fuhr ich zum Proberaum. Unsicher blieb ich einen Moment im Auto sitzen. Doch, ich hatte alles richtig gemacht! Ich raffte mich auf, nahm die große Tasche, wo ich die nötigsten Klamotten reingestopft hatte, und betrat den Hauseingang.

Unser Proberaum befand sich im Keller eines alten Stadthauses. Früher hatte unsere Bassistin Jo hier gewohnt, aber als sie schwanger geworden war, zog sie in eine größere Wohnung in einem etwas ruhigeren Stadtteil. Den Kellerraum durften wir für unsere Musik behalten. Jo, die als Elektrikerin arbeitete, hatte ihn so isoliert, dass die Bewohner nicht gestört wurden. Technisch war sie wirklich brillant.

Als ich die Tür aufschließen wollte, wich ich erschrocken zurück, denn sie wurde von innen geöffnet. Vor mir stand Ozzy, unser Sänger, der mich überrascht anstarrte. Hinter ihm tauchte Steve auf, einen Gitarrenkoffer in der Hand.

»Wie siehst du denn aus?« Ozzys Hand fuhr durch meine kurzen, nassen Haare. »Schirm vergessen?«

»Regenspaziergang mit Mille«, antwortete ich knapp. »Habt ihr geprobt?«

»Wir haben einen neuen Song ausprobiert. Magst du ihn hören?« Steve stellte den Koffer auf den Boden. »Du musst! Er ist voll krass geworden.« Er ging zurück in den Raum, packte die halbakustische Gitarre, die auf einem Ständer lehnte, und steckte das Kabel in den Verstärker.

»Ja, komm rein, wir spielen ihn dir vor, der wird toll. Vielleicht könnten wir ihn sogar zusammen singen, Schlagzeug braucht es dazu nicht unbedingt.« Ozzy zog mich am Arm hinein. Neugierig zeigte er auf meine Tasche. »Was willst du denn damit? Bist du auf der Flucht?« Ein Grinsen überzog sein Gesicht. Als er merkte, dass er mitten ins Schwarze getroffen hatte, wechselte seine Miene ins Bedauern. »Katja?«, fragte er leise. Der sensible Ozzy, der mit bürgerlichem Namen eigentlich Oswald hieß und als Kindergärtner arbeitete, schloss mich in seine volltätowierten Arme.

»Ja«, wisperte ich. Steve starrte betroffen auf seine Gibson. Es fehlte nicht viel und ich wäre in Tränen ausgebrochen, aber das wollte ich auf keinen Fall, tapfer schluckte ich alles hinunter. »Lassen wir das. Ich will euren Song hören.«

Kurz darauf ertönte die Reibeisenstimme von Ozzy. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht, die Augen hielt er geschlossen. Steve wiegte sich leicht im Takt, er war ein begnadeter Gitarrist. Anstatt der üblichen Metal-Songs hatten die beiden eine Ballade kreiert – wunderschön und berührend. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und lauschte. Etwas rann mir über die Wange, hastig wischte ich es ab.

The most loneliest day of my life,such a lonely day and it’s mine,it’s a day that I’m glad I survived.»Lonely day« von SYSTEM OF A DOWN

2. Kapitel

»Julia?! Hallo!« Jemand klopfte mir auf den Arm, erschrocken fuhr ich zusammen. Pits Geschrei hatte mich mitten aus meinen Gedanken gerissen.

»Kannst du mir noch einen eingießen?«, auffordernd hielt er mir seine Teetasse hin. Normalerweise hätte ich ihm zur Antwort gegeben, dass ich ihm gleich ordentlich was eingieße, wenn er nicht aufpasst. Jetzt war ich froh um jede Ablenkung. Die Sitzung zog sich in die Länge wie Gummi. Kein Wunder, Pit fand nie ein Ende. Nicht dass er etwas Innovatives einbrachte, er wiederholte sich einfach. Zudem stellte Lars, der neu in unserer Gruppe war, Fragen über Fragen. Nicki, meine Mitbewohnerin, beantwortete sie ihm mit viel Geduld. Vor lauter Langeweile studierte ich den Neuen ungeniert. Er war lang und dünn. Sein Hipster-Bart, in dem ein paar Krümel hingen, ließ ihn älter aussehen, als er war, seine Haare wirkten wie Grasstoppeln.

Drei von unserer Tierschutzgruppe waren bereits vor zwei Stunden gegangen. Ich konnte nicht weg, ich wohnte hier. Die beiden Typen ging mir total auf die Nerven.

Mein Magen knurrte. Auf dem Tisch stand ein Teller mit veganen Haferkeksen, von Rebekka gebacken. Sie waren hart und schmeckten wie Karton, aber ehrlich gesagt waren ihre Muffins keinen Deut besser. Ich hoffte, dass im Küchenschrank noch etwas Schokolade lag, die würde ich nach dem Abgang der Gruppe genüsslich verschlingen. Erneut stahl sich mein Blick zur Uhr. Hier vergingen wertvolle Stunden meines Lebens, die mir keiner zurückgeben konnte. Ich unterdrückte ein Gähnen. Schon fast eins! Um sechs Uhr früh würde unbarmherzig mein Wecker klingeln. Und morgen musste ich fit sein, denn dann käme die Neue: Antonia Wolff. Ich war schon gespannt auf sie. In den letzten Tagen hatte ich etliche ihrer Reportagen gelesen. Diese Frau warf einen Blick hinter die Kulissen, schrieb weder über Film- noch über Politstars! Nein, gerade die Menschen außerhalb des Scheinwerferlichts interessierten sie, zum Beispiel die Ehefrau eines Soldaten, der in Afghanistan stationiert war, oder eine alte Frau, die seit vielen Jahren auf der Straße lebte. Solchen Leuten gab sie ihre Stimme, und zwar gekonnt. So einen Neuzugang konnten wir in der Redaktion gut gebrauchen.

Als uns Behrens, der Herausgeber der Pulsader, vor ein paar Wochen informierte, dass er Antonia Wolff angestellt hatte, sahen wir uns alle verblüfft und erfreut an. Antonia Wolff! Mit ihr würden wir im Ranking der politischen Magazine weiter nach oben klettern, so viel war klar.

»Und wieso starten wir nicht mal eine Farbbeutel-Aktion?«, unterbrach Pit meine Gedanken. »Schön rote Farbe als Symbol für das vergossene Blut gegen die sauberen Betonmauern der Fleischindustrie. Wir müssen denen zeigen, wo der Hammer hängt!«

Oh nein, nicht schon wieder, fuhr es mir durch den Kopf, der Typ hatte vielleicht Nerven! Als ob man damit etwas in Bewegung bringen könnte – außer Farbrollen, die hinterher alles wieder überpinselten.

»Bitte, Pit!« Genervt blickte Nicki ihn an und raufte sich die kurzen blonden Haare. Wir dachten alle dasselbe – bis auf Lars, der grimmig nickte: »Gute Idee! Man muss viel aggressiver vorgehen! Manchmal hilft nur das, um auf den ganzen Dreck aufmerksam zu machen, der da abgeht!«

Irgendwann sprach sich jeder Mann für solche Aktionen aus, keine Ahnung wieso. Blieben die für immer in der Pubertät stecken? Farbbeutelwerfen?! Vermutlich wollte Pit damit Rebekka imponieren, die neben ihm saß und sich soeben einen ihrer Kekse in den Mund stopfte. Ihre Zähne mussten kräftig mahlen, um das Ding kleinzukriegen. Es knirschte und knackte laut. Die rothaarige Rebekka in ihren wallenden Röcken und farbigen Hemden war unser Trennungsgrund gewesen. Nicht nur, natürlich, aber vielleicht der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ja, ich bin eine Zeit lang mit Pit zusammen gewesen, was mich nicht sonderlich mit Stolz erfüllt. Wir langweilten uns gegenseitig, die anfängliche Faszination verflog schnell. Noch selten habe ich mich so in einem Mann geirrt. Das Drama dauerte zum Glück nur ein paar Wochen.

Am liebsten saß der ewige Student in seiner Ein-Zimmer-Bude, in der Hand ein philosophisches Werk, das er zu durchdringen suchte, während ich mich aktiv für Tiere engagierte und das reale Leben verändern wollte, auch wenn das nur im Kleinen möglich war.

Pit hatte ich an einem unserer Tierschutz-Stände kennengelernt. Alle paar Wochen stellte sich unsere Gruppe auf den Bahnhofsvorplatz, wo sich viele Leute tummelten, und suchte das Gespräch mit den Passanten. Es ging uns nicht darum, die Menschen zu bekehren, wir wollten informieren, aufrütteln, sie zum Nachdenken anregen. Als ich einen Typen mit einem Hot Dog in der Hand näherkommen sah, schlenderte ich langsam auf ihn zu, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Ich war erfolgreich, seinen Hot Dog warf Pit danach in einen Abfalleimer.

Am Wochenende darauf gingen wir zusammen ins Kino und fingen was miteinander an. Die Arbeit in meiner Tierschutzgruppe interessierte ihn, er kam ein paar Mal mit und ich freute mich, eine verwandte Seele gefunden zu haben. Doch nach ein paar Wochen widmete er sich lieber wieder der Philosophie. Erst als Rebekka in unserer Gruppe auftauchte, ließ Pit Sokrates und Co. erneut links liegen, um unsere Aktionen zu stärken. Als er an einem unserer Stände Unterschriften gegen das Tragen von Pelzen sammelte und dabei wie ein liebestoller Rüde um Rebekka herumtänzelte, war für mich der Fall klar.

Wegen mir war Pit Vegetarier geworden, für Rebekka mutierte er zum Veganer. Er hatte keine eigenen Überzeugungen, sondern lieh sich für eine Weile die von anderen Leuten. So ein Mitläufertyp hatte nichts an meiner Seite verloren! Das Ende war kurz und nicht besonders schmerzvoll.

»Leuchtendes Blutrot!«, wiederholte Pit mit Nachdruck.

Von Fall zu Fall sah er sich als Revoluzzer und schlug Aktionen vor, die weit übers Ziel hinausschossen. Was wir wollten, war nicht Gewalt, sondern durch Aufklärung direkt bei den Menschen etwas ändern. Farbbeutel gegen industrielle Tierbetriebe zu werfen brachte wohl kaum Änderung im Bewusstsein der Leute.

»Pit«, stöhnte Nicki, »vergiss solchen Aktivismus, das bringt nur Ärger, sonst gar nichts. Ich dachte, dass du mittlerweile ein bisschen weiter bist. Bitte, Rebekka, erklär es ihm zu Hause, ich bin zu müde.«

In diesem Moment betrat Anne, meine zweite Mitbewohnerin, unser WG-Wohnzimmer. Erstaunt glitt ihr Blick über die illustre nächtliche Runde. »Verbessert ihr immer noch die Welt?«, fragte sie leicht spöttisch.

»Natürlich!«, antwortete Pit. »Wieso du eigentlich nicht? Wir versuchen hier Tiere zu retten.«

»Weißt du was?!«, fuhr ihn Anne an und wurde auf der Stelle zur Kampfhenne. »Im Gegensatz zu dir komme ich von einer Zehn-Stunden-Schicht in der Notaufnahme, ich glaube, ich habe für heute genug Leben gerettet!« Was ihn nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Eine Antwort fiel ihm aber auch nicht ein.

Rebekka sah auf die Uhr. »Och, schon so spät! Lasst uns Schluss machen.«

Anne hatte inzwischen die Kekse entdeckt. Ich nahm den Teller und hielt ihn ihr vor die Nase. »Bitte, bedien dich!« Ich weiß, das war etwas gemein, aber mich ärgerte, dass sie sich über unser politisches Engagement lustig gemacht hatte.

Freudig griff sie zu und biss hinein. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, ein Hustenanfall erschütterte sie.

»Los!«, rief Nicki aufmunternd Pit zu. »Jetzt kannst du Leben retten!«

Beleidigt verzog er seinen Mund. »Euch würde es ebenfalls gut stehen, wenn ihr euch zum Veganismus bekennen könntet. Bei euch geht es doch immer nur um Kuscheltiere! Straßenhunde, unkastrierte Katzen und solche Sachen.«

In dem Punkt musste ich ihm recht geben, bisher bemühten wir uns vor allem um Katzen, Hunde und Pelztiere. Das ganze Thema der Massentierhaltung hatten wir ausgeklammert, es interessiert die Menschen leider auch viel weniger. Mit niedlichen Samtpfoten konnte man die Leute viel eher packen.

Demonstrativ schob Pit seinen Rucksack auf den Tisch und entnahm ihm eine zerfledderte Ausgabe von Peter Singers Die Befreiung der Tiere. »Ich lasse euch das gerne hier.«

»Lass mal«, winkte Nicki ab. »Und übrigens«, wandte sie sich an Rebekka, während Annes Kopf sich langsam rot verfärbte, »mit solchen Keksen kann man Menschen töten!«

Pit begann seine Papiere und das Buch einzusammeln und in den Rucksack zu stopfen. »Rebekka, lass uns gehen. Das bringt doch hier nichts. Mit diesen lahmen Aktionen ist den Tieren echt nicht geholfen.« Mit seiner Freundin an der Hand und dem Neuen im Schlepptau verließ er unsere Wohnung.

Der japsenden Anne drückte ich reumütig ein Glas Wasser in die Hand. »Danke, Julia«, nuschelte sie und rang nach Atem. »Offenbar bin ich noch nicht bereit für vegane Kekse.«

Ich lag noch immer wach. Die Zeit schien stillzustehen, Gedanken kreisten wild in meinem Kopf. Kurz vor elf kündigte das Handy eine SMS an.

SORRY, BIN ZU MÜDE, MAG NICHT MEHR ANRUFEN. HDL, KATJA

»Jaja«, flüsterte ich, »ich dich auch.« Zu müde? Natürlich, das konnte ich mir gut vorstellen. Ärger kroch in mir hoch. Ich setzte mich ans Schlagzeug und hämmerte drauflos, danach ließ ich mich aufs Sofa fallen und schrieb: DAS LEBEN IST EIN FLUSS, ICH SCHWIMME MIT. AUCH MÜDE, TONI

Kurz darauf piepste es wieder. Katjas Müdigkeit schien verflogen.

ALLES OKAY? WIESO SO KRYPTISCH?

Ich überlegte kurz, ob ich überhaupt reagieren sollte, aber schlafen konnte ich im Moment sowieso nicht.

REALISTISCH, NICHT KRYPTISCH. BRAUCHE RUHE, MORGEN IST EIN WICHTIGER TAG.

Ein paar Minuten blieb es ruhig, meine Lider wurden schwerer und schwerer, langsam überkam mich der Schlaf. Bis mich das piepsende Handy erneut hochriss.

WAS IST MORGEN?

Die Antwort darauf blieb ich ihr schuldig, entschlossen schaltete ich das Gerät aus. Nicht zu fassen, sie hatte sogar vergessen, dass ich morgen beim Politmagazin Pulsader anfangen würde! Andererseits bestätigte es nur, dass ich richtig gehandelt hatte. Katja hatte mich längst aus ihren Gedanken und Gefühlen verbannt.

Wenn sie irgendwann nach Hause käme, würde sie einen langen Brief vorfinden. Ich hatte mir alles von der Seele geschrieben. Lieber hätte ich ihr das auf den Kopf zugesagt, aber sie zog es inzwischen ja vor, ihr Schäferstündchen in Tage umzuwandeln. Darauf gab es nur noch eines, den radikalen Schlussstrich.

Morgen begann ein neues Leben für mich, sämtliche Türen standen offen.

Und mit diesem Gedanken schlief ich endlich ein.

3. Kapitel

Wildes Poltern riss mich aus dem Schlaf. Schemenhaft erkannte ich ein Schlagzeug, einen Gitarrenverstärker, jede Menge Kabelsalat am Boden plus zwei große Boxen. Langsam dämmerte es mir. Natürlich, ich lag auf dem Sofa im Proberaum und irgendwer hämmerte gegen die Tür. Schlaftrunken stand ich auf und torkelte zum Eingang. Dann zögerte ich ängstlich.

»Guten Morgen, Toni!«, schallte es mir von draußen vertraut entgegen. Da stand Mille, in der Hand hielt er ein Tablett mit allem, was man für ein kräftiges Frühstück braucht. »Den heutigen Tag solltest du gut gestärkt beginnen«, fuhr er fröhlich fort, »schließlich ist es ein besonderer für dich.« Er blickte mich stolz an. »Die Brötchen hab ich selber gebacken.«

Gerührt trat ich zur Seite und ließ ihn eintreten. Er stellte das Tablett auf den kleinen Tisch neben dem Sofa, nahm die Thermosflasche und begann Kaffee in zwei Iron-Maiden-Pötte einzuschenken. »Los, komm«, forderte er mich auf und klopfte auf den Platz neben sich, »lass uns frühstücken. Duschen kannst du nachher.«

Erstaunt sah ich ihn von der Seite an. Mille, der Lockenkopf. Unsere Freundschaft hielt nun schon seit zwanzig Jahren an, unsere erste Begegnung hatte noch im Gymnasium stattgefunden. Die Deutschstunde sollte gerade beginnen, als unser Lehrer mit einem Kerl mit langen, dunklen Locken das Klassenzimmer betrat. Der Typ trug eine Jeansjacke voller Patches, darunter ein schwarzes T-Shirt mit Eddie, dem Maskottchen von Iron Maiden. Endlich mal ein interessanter Junge, dachte ich. Die Leute aus unserer Klasse frönten allesamt dem Pop, dementsprechend komische Frisuren trugen einige auch. Bei uns zu Hause lief, seit ich denken konnte, Rock. Doch als mein Bruder Frank mir zum ersten Mal T.N.T. von AC/DC auf dem Plattenspieler vorspielte, war ich für immer mit Heavy Metal infiziert.

»Das ist Michele Rossi, er ist neu an unserer Schule.« Suchend sah sich der Lehrer im Zimmer um, bevor sein Blick an einer der hintersten Bänke hängen blieb. Der Platz neben mir war seit kurzem frei. »Setz dich bitte zu Antonia, sie wird dich über alles informieren.«

Der Neue schlenderte betont cool und mit einem breiten Grinsen zu mir an den Tisch. Als er auf meinem vollgekritzelten Etui Bandnamen las, die auch auf seiner Jeansjacke prangten, nickte er mir anerkennend zu. Wir verstanden uns von Anfang an. Gleich am ersten Tag nahm Mille mich mit zu sich nach Hause. Seine Mutter, eine richtige italienische Klischeemama, kochte uns Spaghetti, bevor wir in Milles Zimmer verschwanden, wo er mir stolz seine große Plattensammlung vorführte.

Mit den Mädchen in meiner Klasse konnte ich nicht viel anfangen. Mir wurde schnell klar, dass ich anders war, andere Interessen hatte. Während sich bei meinen Klassenkameradinnen alles um Jungs, Mode und Schminke drehte, saß ich lieber am Schlagzeug, hockte hinter einem Buch oder ging in Konzerte. Mille passte wunderbar dazu. Er war es auch, der mich auf das Thema Umwelt- und Tierschutz brachte. Der wilde Metal-Freak, dem man zutraute, dass er sich mit nichts als Fastfood und Steaks vollstopfte, aß schon damals kein Fleisch.

Mille tröstete mich einfühlsam bei meinem ersten Liebeskummer, umgekehrt gab ich ihm Tipps, wenn er wieder mal ein Rendezvous hatte. Mit ihm bekam ich einen weiteren Bruder, der mit mir durch dick und dünn ging.

Als er jetzt neben mir saß, den kleinen Tisch so liebevoll deckte, fühlte ich mich richtig geborgen und gehalten. Was für ein toller Kerl, ging es mir durch den Kopf. Mit der rechten Hand wuschelte ich ihm durch die Mähne. »Eigentlich sollte ich dich heiraten.«

»Bloß nicht!«, wehrte er ab. »Ich bin allergisch gegen Eheringe.« Er griff nach dem Kaffeepott und nahm einen Schluck. »Außerdem wäre meine Schnecke dagegen, fürchte ich. Die ist so schon eifersüchtig genug.« Zwinkernd reichte er mir den Korb mit den selbstgebackenen Brötchen, die ich so liebte. »Unsere Freundschaft ist ihr suspekt.«

»Vielleicht sollte ich mal mit ihr sprechen?«

Jedes Mal, wenn Mille eine neue Freundin hatte, gab es Schwierigkeiten. Enge Freundschaft zwischen Mann und Frau schien in vielen Köpfen unvorstellbar. Meist half es, wenn ich erklärte, dass ich an Männern als solchen nicht interessiert war und mein Augenmerk dem weiblichen Geschlecht galt.

»Themenwechsel!«, beschloss Mille. »Wie fühlst du dich? Bist du gewappnet für die Festanstellung?« Er fuhr sich durch die Locken. »Eine Wohnung müssen wir unbedingt auch noch suchen.« Seine Stirn warf Falten, sorgenvoll betrachtete er mich.

In der nächsten Zeit würde so einiges anstehen. Mulmigkeit und Freude wechselten in mir ab. Beginnt ein neues Leben mit einem Frühstück auf einem durchgesessenen Sofa an der Seite eines guten Freundes? Vielleicht. Auf jeden Fall war das kein übler Start, vor allem wenn die Brötchen so herrlich schmecken.

Meist betrat ich als Erste die Redaktionsräume. Das Wichtigste: Kaffeemaschine einschalten! Unglaublich, wie viel von dem Gesöff hier getrunken wurde – als ob sich alle ständig wachhalten müssten. Unter dem Arm trug ich eine Tüte mit Gebäck. Ein kleiner Willkommensgruß am ersten Arbeitstag würde Antonia Wolff bestimmt freuen, und die anderen stürzten sich sowieso auf alles Essbare.

Vom Treppenhaus her erklang lautes Husten. Gleich würde Behrens die Tür aufschließen. Seit Tagen sah er kränklich aus, es schien ihm nicht besonders gut zu gehen.

Ein jugendlich forsches »Guten Morgen, Julia« ließ mich erstaunt den Kopf wenden. Noch vor unserem Herausgeber hatte sein Sohn Gerhard die Redaktionsräume betreten. Unterschiedlicher hätten die beiden nicht gekleidet sein können. Während unser Chef ein kariertes Hemd mit schwarzer Weste zur blauen Jeans trug, sah sein Sprössling aus, als ob er direkt einem Managermeeting entsprungen wäre. Sein Anzug saß perfekt, er trug messerscharfe Falten in der Hose und sogar eine Krawatte unterm energisch gereckten Kinn, aber das alles passte nicht hierher. Überhaupt, was wollte der bei uns? Eine Rasierwasserwolke strömte mir entgegen, als der Schnösel mir seine manikürte Rechte mit fettem Goldring hinhielt. Was für ein Milchbubi, dachte ich und packte kräftig zu. Zu meinem Vergnügen sah ich, wie Behrens junior leicht zusammenzuckte. In diesem Moment blitzte ein Ehering an seiner Linken auf. Hatte dieses Ekel tatsächlich eine Frau gefunden?! Oje, oje …

»Ich werde nach und nach meinen Sohn einführen, er möchte ja mal alles übernehmen«, erklärte mir Vater Behrens, zog ein großes Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich kräftig. »Er hat Wirtschaft studiert und leitet seit einigen Jahren eine Firma.« Die Augen des Alten glänzten fiebrig. »Tut mir leid, ich fühle mich nicht sonderlich wohl.«

»Guten Morgen«, erklang es fröhlich hinter uns. Schwungvoll wie immer war Lena eingetreten. Abrupt blieb sie stehen und musterte Gerhard. »Noch ein neues Gesicht?«, erkundigte sie sich lächelnd und strich sich durch die dunklen Locken. Seit einem Jahr war sie hier Chefredakteurin, aber den Sohn vom Boss kannte sie noch nicht. Der hatte sich bisher selten in der Redaktion blicken lassen – zum Glück. Ich kannte diesen verwöhnten Angebertyp von ein, zwei Stippvisiten, die mir vollauf gereicht hatten. Wenn’s hoch kam, rief er mir damals im Vorbeigehen zu: »Zwei Kaffee mit Milch, ohne Zucker. Bringen Sie’s in Papas Büro. Danach wollen wir nicht mehr gestört werden.« Kurz darauf tauchte dann sein Vater in der Küche auf, um die Tassen zu holen. »Lassen Sie nur, Julia, Sie haben genug zu tun, ich kann meinen Kaffee selber ins Büro tragen.« Behrens war eben ein Chef vom alten Schlag, der sich hochgearbeitet hatte und dem seine Angestellten am Herzen lagen. Darum herrschte hier ein familiäres Klima.

Lenas Begeisterung hielt sich ebenfalls in Grenzen, als sie nun vorgestellt wurde und vom Unternehmen Sohn erfuhr.

»Aber Sie denken doch nicht ernsthaft ans Aufhören?« Ihre Augen musterten den Junior kritisch. Was sie dachte, war ihr deutlich anzusehen: So einer passte nun überhaupt nicht zu unserer Zeitschrift!

Behrens senior zuckte ratlos mit den Schultern. »Wann das sein wird, weiß ich noch nicht, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich Gerhard allmählich einführe, bevor es zu spät ist. Ich vermute, es wird eine Weile dauern, bis ich alles übergeben kann, mein Sohn arbeitet in einer völlig anderen Branche.«

Das war nicht zu übersehen.

Wortlos verschwand Lena in ihrem Büro, die Tür ließ sie offen. »Wann kommt die Wolff?«, rief sie mir zu.

»Um acht«, antwortete Behrens an meiner Stelle. »Ich werde sie gleich mit Gerhard herumführen. Am Nachmittag sitzen wir zusammen und besprechen die nächste Ausgabe. Ich bin sehr gespannt.« Seine Augen leuchteten, diesmal vor Freude. »Frau Wolff wird das Team ungemein bereichern, auch wenn sie nicht immer einfach sein soll, wie man hört, aber solche Leute sind mir eigentlich am liebsten.« Er verpasste seinem Sohn einen leichten Boxhieb. »Und du kannst dich so richtig bewähren.«

Gerhards gezwungenes Lächeln sprach Bände. »Ich habe schon viele innovative Ideen, Papa.«

Da konnten wir uns ja richtig freuen!

Die Fahrradbremsen quietschten, als ich vor dem Haus hielt, in dem meine berufliche Zukunft lag. Ich blickte an dem prächtigen Altbau hoch. Das Gebäude schien mir ein gutes Omen zu sein. Beeindruckt schob ich das Rad durch den Eingang und stellte es im Hinterhof ab. Am Aufzug blieb ich einen Moment stehen, nicht um zu warten, sondern um durchs Treppenhaus nach oben zu sehen. Obwohl hier so viele Menschen ein- und ausgingen, war kein Mucks zu hören. Ich holte tief Luft, dann betrat ich die Stufen. Im zweiten Stock prangte an der Tür der Schriftzug meiner neuen Zeitschrift: Pulsader. Politisches Magazin. Das Schild wirkte einladend. Nervös fuhr ich mir nochmals durch die Haare, bevor ich die Klinke betätigte – geschlossen. Auf mein Klingeln hin ertönten Schritte, bevor ein Schlüssel eingeschoben und die Tür geöffnet wurde.

Eine großgewachsene, schlanke Frau mit braunen Haaren lächelte mir entgegen. »Sie sind bestimmt Antonia Wolff«, sagte sie und trat einen kleinen Schritt zur Seite, damit ich hineingehen konnte. »Ich werde Ihnen gleich Ihren eigenen Schlüssel geben, damit Sie in Zukunft problemlos reinkommen.«

Es entstand eine kurze Pause, in der sie mich musterte. »Ach so, natürlich – ich bin Julia Lamprecht, Chefsekretärin und Frau für alles. Herzlich willkommen! Wenn Sie was brauchen, wenden Sie sich an mich.«

Rechts gab es eine Garderobe, links ging es in eine kleine Küche und geradeaus öffnete sich ein Gang, flankiert von Türen. Die erste auf der linken Seite stand offen. »Das ist mein Büro«, wies Julia mit dem Zeigefinger auf das Zimmer. »Alles andere erklärt Ihnen der Chef. Er erwartet Sie schon dort drüben.« Ihre blaugrauen Augen blickten mich freundlich an.

Der Morgen verging wie im Fluge. Zuerst wurde ich vom Herausgeber, den ich seit langem für seine Arbeit bewunderte, persönlich durch sämtliche Räume geführt. Mit viel Mut und Know-how hatte er vor ein paar Jahren seine eigene Zeitschrift gegründet, nachdem er jahrelang als freier Journalist durch die Welt gereist war. Von ihm konnte ich viel lernen.

Behrens machte mich mit allen Angestellten bekannt, ich bekam erst Kaffee und Gebäck, dann mein Arbeitszimmer gezeigt und zum Schluss setzten wir uns in Behrens‘ Büro. Die ganze Zeit klebte sein Sohn an unseren Fersen, der mit mir zusammen eingeführt werden sollte. Dieser Gerhard sah aus, als ob er sich in der Tür geirrt hätte. Dazu ließ er einen Haufen Bemerkungen vom Stapel, schien aber von Journalismus keine Ahnung zu haben. Sein Babyface erinnerte mich an einen ehemaligen Schulkameraden, der sich mit seiner besserwisserischen Art immer wieder ins Abseits manövriert hatte.

Gegen Mittag saß ich an meinem Platz, öffnete jede Schublade, sah aus dem Fenster und klickte mich durch den Computer. Zufrieden lehnte ich mich zurück. Ja, hier würde ich wunderbar arbeiten können. Das Team war klein, die meisten ungefähr so alt wie ich, einzig Buchhalter Heinz und der Chef waren etliche Jahre älter. Die beiden Herren schienen sich schon lange zu kennen.

Auch mit der Chefredakteurin Lena Schwarzenbach lief alles gut. Die Frau machte einen professionellen Eindruck. Ich kannte einige ihrer Artikel, ihre Schreibe gefiel mir. Gleich neben ihrem Büro befand sich der Raum von Redakteur Andy, einem sportlichen Typ mit runder Brille. Grafikerin Michaela teilte sich das Büro mit Maria, die für die Korrekturen zuständig war. Auf der Tür der beiden prangte ein Blatt: M+Ms Room