Schwul. Sexy. Depressiv. - Stef - E-Book

Schwul. Sexy. Depressiv. E-Book

Stef

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Beschreibung

Stef ist einer der erfolgreichsten queeren Slam­poet*innen Deutschlands. Doch dieses Buch ist weit mehr als eine Sammlung seiner besten Bühnen­texte. Stef erzählt parallel sein Leben. Wie er wurde, wer er ist; wie er auf die Bühne fand. Vom Aufwachsen als schwuler Junge mit einem griechischen Nachnamen, von Mobbing und Coming-out, von großen Problemen und kleinen Hoffnungen. Stef thematisiert System­versagen und Selbst­aufgabe, queeres Sein und psychische Erkrankung, berichtet von Suizid­­gedanken und Lebensbejahung und findet dafür stets die richtigen Worte und die passende Portion Humor. – Ein aufrichtiges, mutiges Buch und zugleich im Kleinen das Porträt einer Generation.

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Seitenzahl: 190

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Stef

SCHWUL. SEXY. DEPRESSIV.

Zwischen Pillen, Sex & Poetry

Stef

wurde 1996 geboren und ist ein Künstler griechischer Herkunft aus München, wohnhaft in Köln.

Seit 2014 steht er mit seinen Texten auf der Bühne und war vielfach nominiert für die NRW-Landesmeisterschaften sowie die deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam. Mit seinem Slam-Team Textstreet Boys (Stef & Malte Küppers) erreichte er dort 2021 das Finale.

Stef ist seit 2020 Student an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Im Jahr 2021 war er auf der Shortlist der Vestischen Literatur-Eule. Im Jahr 2022 gewann er den hessischen Spoken-Word-Preis.

Für Satyr gab er schon zwei Anthologien heraus: »Fantastische Queerwesen und wie sie sich finden« (2019, zusammen mit Sven Hensel) und »Irre schön« (2022, zusammen mit Bonny Lycen).

Mehr Informationen:

stef-poet.de

instagram.com/stef_poet

E-Book-Ausgabe September 2023

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2023

www.satyr-verlag.de

Cover: Jussi Jääskeläinen, www.kobaia-design.com

Korrektorat: Matthias Höhne

© Audioaufnahmen beim Verfasser. Keine unerlaubte Sendung und Vervielfältigung!

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-910775-05-3

Dieses Buch enthält einige Texte des Poetry-Slam-Teams Textstreet Boys. Sie wurden gemeinsam verfasst und performt von Malte Küppers und Stef. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Malte Küppers.

Inhalt

My Name is

Und ich bin

Romeo und Julian

Erste Male

Gibt es ein »Wir«?

Immer wieder sonntags

Denkt doch an die Kinder!

Emil und die Ermittler

Breath of the Wild

Eine positive Geschichte

FORE

Sport ist Totschlag, denn Mord ist mit Absicht

Das blaue Kleid

Vom Tag, als es uncool wurde, mich zu mobben

Er lebt in einem Bau

Mit Verlaub, Herr Mathelehrer, Sie sind ein Arschloch

November Echo India Lima

Neil

Kotzen im Strahl

Neil, ehrlich, ich leide

Reiben oder gehen

Getrennte Wege gehen

Tschüss, München

Hallo, Bochum

Sex und Freunde

Alleinsamkeit

Das braune Monster

Ich hab da so ’nen Freund

Malte mag Mayo

Die letzte SMS

Andere gescheiterte Beziehungen

Fett sein

Ich liebe Lasagne, Cartoons und dich – in dieser Reihenfolge

Feind und Helfer

Zurück in die Höhle des Löwen

SVV

… aber

Ruhrpottromantik

Schlechte Entscheidungen

Du bist der Wald und ich bin das Meer

Heute

Schalt mal um

Morgen

Tanztherapie

Und übermorgen

Tagesschauer

Das Spinnennetz

Die Wahl haben

Er sieht tote Menschen

Abschied von Emil

Molière

»Stef stirbt«

Ode an das Brusthaar

Fuckboys

C

Der Pokémon-Meister

Mormonboy

Männer sind

Agender Agenda

Superjan

STEF

Alle hier geschilderten Ereignisse und Personen sind vielleicht in Teilen oder Gänze erfunden oder auch nicht. Wer weiß das bei guten Geschichten so genau und wen interessiert das?

My Name is

Mein Name war schon immer der Stoff vieler Geschichten.

Als ich meinen Personalausweis bekam, hat man im griechischen Konsulat einen Fehler gemacht, einen Buchstaben vergessen, und meinen Einwänden zum Trotz wurde das trotzdem so übernommen, und irgendwie war das passend, denn mein neuer Nachname ist ein Anagramm von »Ui, ist das so?«.

Also hieß ich dann jetzt eben so, Kapitel aus, Buch zu.

Mein Name ist wie ein Buch, das ganz hinten im Schrank verstaubt, vergessen hinter neuen Büchern mit leuchtend bunten Einbänden und Versprechungen von tollen Geschichten, während das alte voller Kapitel ist, mit denen ich lange abgeschlossen habe oder zumindest so tue als ob.

Umso mehr erschrak ich letztens beim Klang meines Vornamens. An meinem Vornamen ist nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil: Er ist wunderschön, acht Buchstaben, die melodisch die Kehle runterrutschen, wenn man sie ausspricht. Aber ich erschrak nichtsdestotrotz, weil so lange niemand gewagt hatte, diesen Namen anzufassen.

Ich hieß mal Stefanos. Und irgendwer, der mich von früher zu kennen meinte, kramte diesen Namen hervor und warf ihn mir bei einer zufälligen Begegnung an den Kopf.

Einen staubigen alten Wälzer an den Kopf zu bekommen, tut weh, vor jemandem wie ein offenes Buch dazustehen, noch mehr.

Souverän, wie ich bin, reagierte ich nicht, tat, als hätte ich es überhört, ging schnell weiter und war weg.

Jemanden zu treffen, der sich an all meine Erniedrigungen erinnert, zwingt mich dazu, mich auch daran zu erinnern. Also gehe ich solchen Begegnungen aus dem Weg. Neuer Name, neue Stadt, neues Leben, alte Geschichten interessieren hier nicht. Sie sind abgelegt in den Akten unter »N« wie »nicht dran denken«.

All das Offizielle, Rechnungen und Bankbelege und eben auch mein voller Name sind dorthin verbannt, denn dort nehme ich sie nicht mehr wahr. Solange ich nicht hinsehe, ist da auch kein Problem. Kapitel aus, Buch zu.

S t e f a n o s – acht Buchstaben, aufgeladen mit der Geschichte einer Heimat, die sehr entfernt und immer ein bisschen fremd war.

Ein griechischer Sänger sang mal: »Στα ξένα είμαι Έλληνας και στην Ελλάδα ξένος«, was so viel heißt wie: »In der Fremde bin ich Grieche und in Griechenland ein Fremder«, und das passt, denn in Deutschland war ich immer ein Außenseiter, für alle nur »Stefanos, der Grieche«, und in Griechenland war ich immer ein Außenseiter, für alle nur »Στέφανος ο Γερμανός« (Stefanos, der Deutsche).

In Deutschland werd ich immer gefragt, ob ich pleite bin, in Griechenland, ob ich ein Nazi bin, und das, was ich tatsächlich sicher bin, ist nicht pleite, nicht Nazi, Deutscher oder Grieche, sondern ich. Kapitel aus, Buch zu.

S t e f a n o s – acht Buchstaben, aufgeladen mit der Geschichte all der Menschen, die sich geweigert haben, meinen Namen zu lesen oder zu verstehen.

Wie Stefan mit »f« und »os« am Ende, Siegfried, Theodor, Emil, Friedrich, Anton, Nordpol, Otto, Siegfried, Telefonistenalphabet schon in der ersten Klasse gelernt, genauso wie ich lernte, dass Lehrkräfte nichts können.

Wenn Lehrer auf Klassenlisten statt Stefanos erst »Stefaaaaaaanos« oder »Stephanus« oder »Stefs Anus« lesen, dann dauert es nicht lange, bis man der Arsch ist. Jeden Nusswitz, der möglich ist, hat man ausgekostet, seien es Rufe über »Stefanüsse« oder das triumphale Gegacker, als man mein Heft im Fach Natur und Technik stahl, beschriftet mit »NUT«.

Von Witzen zum Namen ist es ein kleiner Schritt zu Witzen im Namen der Klasse, denn klasse fanden es immer alle, wenn einer da war, über den man sich lustig machen konnte.

All den Peinigern zum Trotz mochte ich meinen Namen, ich trug ihn mit Stolz wie einen Kranz oder eine Krone, denn »Kranz« oder »Krone« bedeutet er tatsächlich, von meinen Eltern ausgesucht, damit ich auch ja nicht das Haupt senke und aufgebe im Leben.

Den Namen musste ich auch nie aufgeben, er verschwand nur nach und nach. Neue Freunde, neue Cliquen, neue Rufe brachen mir ein Stück ab, und aus »Stefanos« wurde »Stef«. Und ich behielt den neuen Namen, denn er roch nach neuem Leder, war ein neuer Einband für alte Geschichten, also nahm ich den Einband und verwickelte mich darin.

Aber ein neuer Name macht noch keinen neuen Menschen, alte Geschichten – passiert, geschrieben, gelesen – kann ich vielleicht einstauben lassen, aber sie verschwinden nicht, und ich bin jetzt vielleicht Stef, aber ich bleibe ebenso Stefanos.

All die Kapitel in meinem Leben ergeben ein Buch.

Mein Name ist noch immer der Stoff so vieler Geschichten, es gibt Menschen, die glauben, ich hieße Steff mit zwei »f«, drei »f«, »ph«, »pf«, ja, es gibt Menschen, die glauben allen Ernstes, ich hieße »Stepf« oder »Stief« oder »Steeeeeeeeeeeeef« oder sogar »Stefsitzt« – wahre Geschichte.

All die Geschichten ergeben ein Buch, und wie es heißen wird, steht erst nach dem letzten Kapitel fest.

Diesen Text gibt es auch auf Griechisch:

https://youtu.be/klHtdn-0198

Und ich bin …

Wenn ich mich da mal nicht geirrt hab. Die letzte Zeile des ersten Textes in diesem Buch ist direkt unwahr. Denn noch vor allem anderen stand der Titel fest, der Inhalt kam erst hinterher. Aber das konnte ich, als ich den vorangegangenen Text schrieb, nicht ahnen. Er erfüllt trotzdem seinen Zweck. Er stellt mich ein bisschen vor, du – der oder die Leser*in – hast jetzt schon mal eine Vorstellung davon, wer ich bin. Aber es gibt noch so vieles, das dir der erste Text nicht erzählt hat. Zum Beispiel dass ich mich nicht entscheiden kann, ob Grün oder Blau meine Lieblingsfarbe ist. Oder dass ich mehr als einmal pro Woche Nudeln esse. Oder dass ich schon sowohl Opfer sexueller Belästigung als auch sexueller Gewalt gewesen bin. Funfact. Nur ohne Fun halt. Davon wird es in diesem Buch noch so einige geben: Funfacts ohne Fun. Seelenstriptease sozusagen. Nur ohne Nacktheit. Und manchmal auch mit. Und lustig ist es auch. Also das Buch, nicht, dass ich nackt bin. An meinem nackten Körper ist nichts auszusetzen. Also eigentlich schon. Aber nichts, was sich wer trauen würde, mir ins Gesicht zu sagen. Außer meiner Mama. Nicht, dass die mich je nackt sieht. Die nennt mir auch die Makel meines angezogenen Körpers. Aber jetzt greif ich vor. Wenn du das liest, Mama, ich erklär noch, dass wir uns gut verstehen. Was ich hiermit getan habe. Nun ja. Um zum Punkt zu kommen: Mein Name ist Stef, und mir sind schon viele komische und schreckliche Dinge passiert. Und über ein paar davon möchte ich endlich mal ausführlich schreiben, und wenn du das Buch in der Hand hältst und das hier liest, scheine ich etwas richtig gemacht zu haben. Um diesen meinen ersten persönlichen Einwurf auf ’ner Highnote enden zu lassen, hier noch ’ne kurze Anekdote: Im Gespräch mit einem Kollegen kamen wir auf eine Radiosendung, die mit einem Text von mir endete. Das wusste besagter Kollege allerdings nicht. Als ich ihn fragte, wie ihm die Sendung gefallen habe, meinte er, dass die Sendung mit ’nem richtig komischen Text von einem noch komischeren Typen ausgeläutet worden sei. Tja, komischer Text von komischem Typen also – hab schon schlechtere Kritiken bekommen.

Romeo und Julian

Wenn zwei sich streiten, leiden stets Dritte.

Vernehmt diese Erzählung mit folgender Bitte:

Lasst Liebe zu, egal wie sie erscheint,

Sonst endet ihr, wie’s endet hier, und weint.

Dürfen Liebespaare sich nicht vereinen

Und darf der eine Kerl den anderen nicht nennen den seinen,

Dann ist die Welt verkehrt, dann ist die Welt kaputt.

Manchmal denkt man, sie läge schon in Asche und Schutt …

Zu eurem Verständnis beginne ich vielleicht noch mal von vorn,

Denn Unverständnis und Intoleranz sind und warenmir schon immer ein Dorn

Im Auge.

Aug um Aug, Zahn um Zahn

Kämpften schon immer die Familien von nebenan.

Die Montagues gegen die Capulets,

Die einen sind wie die Sharks, die anderen sind wie die Jets,

Die Bayernfans gegen die Dortmunder im Streit.

Doch diese beiden Familien treiben es mit ihrem Fußballscheiß zu weit.

Denn ihre Kinder Julian sowie Romeo

Werden ihres Lebens einfach nicht mehr froh.

Zwei Jungs, im Geiste vereint, doch in der Liebe getrennt,

Der eine für den anderen jeweils brennt.

Nieder!

Nieder mit den Unterschieden!

Es ist doch klar, dass die beiden sich lieben!

Doch durch den Streit und Zwist ihrer hitzköpfigen, homophoben, sturen, aggressiven, dämlichen Alten

Müssen sie sich einander gegenüber feindlich verhalten.

Doch Romeo sowie Julian

Vertrauen sich jeweils einem anderen an.

Romeo spricht zu Mercutio und Folgendes hat er genauso gesagt:

»Oh, Mercutio, ich begehe einen unglaublichen Verrat

An meinem Namen, bin ein Bösewicht.

Weiß weder ein und auch nicht

Aus.

Aus, aus, so ist es bald mit mir, denn im Ernst, Mercutio:Ich lieb kein Weib.

Lieb einen Kerl, so schön von Gestalt,so unglaublich ist sein Leib.

Sein Name ist Julian, ein Capulet und meines Feindes einziger Sohn.

Bin durchfressen von blanker Angst und dem Hohn,

Den diese Situation so an sich hat.

Erfährt irgendwer von meinen Neigungen,so macht er mich platt.«

Julian dagegen spricht zu seinem Kindermädchen:

»Oh, du meine Liebe, vor einiger Zeit setzte sich ein Rädchen

In meinem Schädel in Bewegung

Und ich ziehe es in Erwägung

Zu gehen;

Zu gehen zu meinem kostbaren Romeo,

Um in seinen Armen zu liegen, frei zu sein irgendwo.

Doch Träume sind wie Seifenblasen, das weiß ich sehr wohl,

Von außen so schön anzusehen, doch von innen komplett hohl.

So ist mir bewusst,dass ich niemals beim Liebsten verweilen kann,

Ohne dass meine Familie nebenan

Meinen Tod plottet, mein Ableben bespricht.

Oh, wüsste ich nur, welcher Teufel Amor besticht,

Dass dieses elende Federvieh seine Pfeile auch immer so unpassend verwendet!

Wie ich mir wünsche, dass er verendet

Bald.

Bis dahin will und kann ich aber nicht mehr warten,

Stehle mich nun leise in Romeos Garten,

Wünsch mir Glück, ich kann es gebrauchen«,

sagt er noch, er kann es nur hauchen,

Bevor er sich leichtfüßig davonmacht,

Und er hat Glück, denn der Mond am Himmel lacht.

Fortuna ist ihm gewogen, Romeo wartet schon am Balkon.

Bei seinem Anblick spricht Julian: »Du Sohn

Des Hauses,

Des Hauses, das dem meinen so verhasst,

Solch wundervoller Mensch an solch grässlichen Namen verprasst,

Romeo, warum denn, Romeo? Verleugne deinen Vater, deinen Namen,

Und säe mit mir den Samen

Für eine neue Zeit des Glücks

Ohne Wenns und Abers oder Vielleichts und Zurücks.

Willst du das nicht, tu ich’s zuerst und bin länger kein Capulet.«

»Das alles ist doch unwichtig, solange wir teilen ein Leben, eine Liebe, ein Bett«,

Antwortet Romeo,

Welcher mit den pubertären Gedanken schon ganz anderswo

Ist.

Ist und bleibt das Glück ihnen gewogen?

Nein, denn Fortuna hat sie betrogen.

Nicht nur Romeo vernahm des Geliebten Worte,

Sondern auch dessen Vater, in welchem sich nun bilden Gefühle der übelsten Sorte:

»Nicht nur eine Schwuchtel sein, auch noch einen Capulet lieben?

Du elender Verräter, du stirbst an meinen Hieben!«,

Schreit der Vater wutentbrannt, schlägt Romeo nieder,

Wieder und wieder.

Julian, vom Grauen gepackt, mit Adrenalin versetzt,

Ist das Geländer hochgeklettert, gehetzt

Zum Geliebten.

Zum Geliebten, welcher blutend am Boden liegt

Und immer noch mehr und mehr Hiebe abkriegt.

Er muss doch was tun, er muss ihn doch retten.

Doch den wütenden Vater hielten weder Wörter noch Ketten,

Da sieht Julian eines Dolches Klinge.

Er nimmt, packt und stößt zu,auf dass der Leib des Ungetüms das kühle Metall verschlinge.

Die Schläge versiegen, der Vater wird kalt,

Er und sein Sohn versterben beide an Gewalt.

Und Julian steht nur noch voll Leere und sieht

Den getöteten Mörder, die verlorene Liebe und flieht

Auch in die Arme des Todes.

Erste Male

Wie jeder andere Mensch auch hab ich viele erste Male erlebt. Von ersten Küssen zu ersten Abschieden, vom ersten Mal Mirdie-Seele-aus-dem-Leib-Tanzen beim Konzert bis hin zum ersten Mal in absolutem Frieden mit mir selbst, zufrieden einschlafen können. Aber meine beiden vermutlich wichtigsten ersten Male haben sich am selben Tag abgespielt.

Der 19. Juli 2014 war für mich besonders aufregend. Ich packte meine Tasche in der Nacht davor, als alle schliefen, damit es niemand merkt. Einen Satz Alibiklamotten legte ich mir für den nächsten Tag zum Anziehen raus, mein tatsächliches Outfit deponierte ich in der Tasche. Sonnencreme, zwei ausgedruckte Texte, eine große Wasserflasche. Meiner Familie erzählte ich, ich würde einfach Freunde treffen gehen. Das war Code für: »Ich gehe ins queere Jugendzentrum«, den meine Eltern zwar sehr wohl verstanden, aber nur billigten, solange ich mich im Inneren der Einrichtung aufhielt, wo mich keiner sehen konnte, den sie kannten. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade mal ein halbes Jahr geoutet und verdaut war das in meiner Familie noch nicht. Schwul. Dass man da nichts machen konnte, hatten sie recht schnell verstanden. Fragen gab es anfangs trotzdem. Ob sie irgendwas falsch gemacht hätten. Ob ich jetzt Frauenkleider tragen wollen würde. Ob mich irgendwer angefasst hätte, ohne dass ich es wollte. Woher denn jetzt Enkelkinder kommen sollen. Der ganze Lärm eben.

Auch wenn nach dem halben Jahr ein wenig Ruhe herrschte, was das Thema anging, brodelte unter der Oberfläche noch viel Anspannung. Und da ich nicht die Jungfrau sein wollte, die dem Vulkan geopfert würde, habe ich versucht, zu Hause nicht unnötig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Deswegen konnte ich niemandem erzählen, dass ich auf meinen ersten Christopher Street Day gehen würde und hinterher auf meinem ersten Poetry Slam mit queerer Lyrik auftreten würde. Zwei Meilensteine für mich, obwohl sie augenscheinlich wenig miteinander zu tun hatten, nicht besser zueinander hätten passen können.

Es herrschte bestes Sommerwetter auf der Demo, ich zog den Bollerwagen für das Jugendzentrum, war umringt von Freund*innen, guter Message und guter Laune. Ich tanzte mir über Stunden hinweg die Füße wund, während die Sonne uns und unsere Anliegen anstrahlte. Ich hatte mich vorher in meinem Leben noch nie so befreit gefühlt. Wir wurden von freundlichen Anwohner*innen mit Wasserpistolen abgekühlt, der Bürgermeister hat unsere Schilder gesehen und ist mitmarschiert, es waren alle möglichen und unmöglichen Menschen da, aufgemacht, wie ich es noch nie vorher erlebt hatte. Ich hab mich gesehen gefühlt und es war mir sogar egal, ob mich irgendwer, den meine Eltern kennen, gesehen haben könnte (was mir zum Glück trotzdem erspart blieb). Kurz vor Ende der Demo zündete eine Gruppe Lesben neben mir eine Glitzerbombe, mit einem Mal stand ich inmitten eines kunterbunten Regenschauers. Bis dato hatte ich noch nie etwas Schöneres erlebt. Ich glaube, wenn man mich fest schüttelt, kommt auch heute immer noch etwas Glitzer aus meinen Poren, all die Jahre später. Als ob das nicht aufregend genug gewesen wäre, bot der Tag aber noch einiges mehr für mich. Mein erster Auftritt auf einem Poetry Slam. Ein paar Wochen zuvor hatte ich das Vergnügen, den damals amtierenden Bayerischen Meister im Slam, Bumillo, vor versammelter Oberstufe meiner Schule live zu interviewen. Danach war ich angefixt, aber es fehlte noch an Mut. Etwas darauf hatte ein Punk, den ich kannte und niedlich fand, einen Auftritt auf einem Poetry Slam, den ich mir zusammen mit einem Freund ansah. Spätestens da hatte ich den Entschluss gefasst, auch so cool sein zu wollen. Wenn die das konnten, konnte ich das bestimmt nicht, aber probieren wollte ich es trotzdem unbedingt.

Ich war also am Abend des CSD eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung da, schmierte mit zitternden Pfoten meinen Namen auf die offene Liste und wartete. Danach ist meine Erinnerung nur noch fragmenthaft: zu viele Menschen, Texte, Augenblicke, die ich nicht einordnen konnte. Was ich noch weiß: wie ich, ganzkörperbibbernd, aber mit fester Stimme, durch meinen ersten Bühnentext »Romeo und Julian« gekommen bin. Dass ich von vielen Menschen, an die ich mich nicht erinnern kann, und Philipp Scharrenberg, der den Abend gewann, wirklich aufbauende Worte hören durfte, die mich zum Weitermachen ermunterten. Und dass ich mich selten so gut gefühlt hab wie an diesem Tag, in diesen Stunden.

Gibt es ein »Wir«?

Fünf Fragen.

Zwei haben sich mir gestellt und drei tun es noch immer:

Was ist Heimat?

Wo ist zu Hause?

Wer bist du?

Wer bin ich?

Gibt es ein Wir?

Deine Heimat ist dort, wo man Maibäume stiehlt, tief nachts

Und man auf Bäume klettert, durch Felder streift, Marienkäfer bemerkt

Wo du unfrei bist, in Angst und Scham gefangen

Dennoch sangst du: »Sweet home in Bavaria, where the skies are so blue.«

Doch ich sang nicht mit

Meine Heimat ist dort, wo man Autos stiehlt am helllichten Tag

Und man in fremde Betten klettert, durch Clubs streift, Schlägereien bemerkt

Wo ich zwar anonym bin, aber auch frei und ohne Angst

Ich sang also: »All I ever wanted, all I ever needed is here.«

Doch du sangst nicht mit

Zu Hause ist da, wo man dich kennt, vom Bäcker bis zur Bäuerin, alle

Jeder kennt jeden, jeder weiß alles, bis auf eines

Zu Hause ist da, wo du von klein an rumrennst, wo man dich mag, für das, was du vorgibst zu sein

Dennoch sangst du: »Zu Hause ist da, wo man sich vermisst.«

Verdammt, ich vermisste dich, doch ich sang nicht mit

Zu Hause war da, wo ich Mensch sein konnte, niemand schrieb mir vor, wer ich bin

Wo niemand einen kannte, dennoch jeder glaubte, alles zu wissen, ohne dass es interessierte

Zu Hause ist da, wo ich deine salzigen, von Tränen getränkten Lippen küssen kann

Und ich singe: »Whenever, wherever, we're meant to be together.«

Und du siehst mich nur mit deinen traurigen Augen an und singst nicht mit

Du sagst, du seist der Junge von nebenan, der Junge vom Land

Ein ganz normaler Typ, spielst Fußball, trinkst Bier, all so was eben

Dich unterscheide nichts von allen anderen, sagst du, lügst du

Du singst: »No one knows what it’s like to be the bad man, to be the sad man, behind blue eyes.«

Und ich hör dir zu und summe leise mit

Du bist mehr als die Summe deiner Teile, mehr, als du vorgibst zu sein

Nicht nur der Junge von nebenan, der Bier und Sport und sonst was mag

Sondern auch der tolle Sänger mit den schönen Augen, der gute Zuhörer und vor allem der Kerl

den ich gernhab

Und ich singe wütend: »You get too scared to move cause you’re a fucking boy.«

Deine Augen funkeln mich böse an, deine Hand wird zur Faust

Ich bin der, den du hasst, bin der, der dein Leben zerstört, schreist du

Der dich mit Dingen, Gedanken, Ideen konfrontiert, von denen du überhaupt nichts wissen willst

Ich bin der Freak, alles, was du nicht sein möchtest

Du singst nicht, sondern verzweifelst nur und fängst an zu weinen

Und ich stehe auf und lächle

Ich bin der, der dich liebt

Ich Bin Der, Der Dich Liebt

VERDAMMT, ICH BIN DER, DER DICH LIEBT!

»There is nothing for me but to love you«, hauche ich

Und du, du weinst noch immer

Sosehr wir auch beide dieses Ja auf den Lippen spüren wollen

Nehmen wir doch beide das Nein

Deine Töne sind mir zu gerade, meine dir zu schief

Unsere Melodien ergeben zusammen einfach keine Harmonien

Und genau deswegen singen wir nicht mehr gemeinsam.

Immer wieder sonntags

Nachdem ich mich bei meiner Familie geoutet hatte und der erste Schock überstanden war, hatte ich ein neues Hobby: mich verknallen. Einmal die Woche ging ich ins queere Jugendzentrum der Stadt und lernte Jungs in meinem Alter kennen und einmal die Woche fand ich dann einen anderen toll. Rückblickend find ich das natürlich albern. Aber ich versteh auch, woher das kommt. Der gemobbte, komische Junge mit wenig Freund*innen hat jeden Funken positiver Aufmerksamkeit, den er bekommen hat, aufgesogen wie ein Putzerfisch den Schmutz an der Aquariumsscheibe.

Das erste Mal richtig verknallt (»richtig« heißt hier länger als zwei Wochen, nämlich drei) war ich in Julian (Name vielleicht oder vielleicht auch nicht geändert). Er war … ja, irgendwie war er. Ich hab kein so genaues Bild mehr von ihm. Wenn ich ihn beschreiben müsste, dann als einem Jungbauernkalender entsprungen, wirres Haar, groß, spröde Lippen. Das muss reichen. Julian hatte mir, nachdem wir uns im queeren Jugendzentrum kennengelernt hatten, auf Nachfrage seine Nummer gegeben. Mir und dem Blödmann, der immer da war und den ich nicht mochte. Dass der sich die Nummer auch schnappte, machte ihn mir jedenfalls nicht sympathischer.