Schwund - Tatjana Kruse - E-Book

Schwund E-Book

Tatjana Kruse

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  • Herausgeber: Insel Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Überall in Deutschland tauchen Leichen auf, die nicht einfach nur tot sind, sondern in Plastik eingeschweißt, nach dem Tod neu frisiert oder in Einzelteilen als Pakete verschickt wurden. Das alles erinnert an die perfiden Morde berüchtigter Serienkiller, die nie gefasst wurden, inzwischen allerdings Greise sind und wohl kaum noch mal zugeschlagen haben. Als dann zusätzlich Drogen ins Spiel kommen und ein Bandenkrieg droht, verlangt die Staatsanwaltschaft von der SoKo Resultate.

Die Leiter der SoKo, drei Männer und eine Frau, nicht gerade die hellsten, folgen der Spur der Morde von Berlin bis in die Alpen. Wohin auch immer das Team kommt, gibt es »Schwund«, sowohl an Zeugen als auch an Verdächtigen. Und an Leuten, die mit allem gar nichts zu tun haben.

In einer abgelegenen Berghütte kommt es zum filmreifen Showdown. Bei dem sich herausstellt: Es war alles ganz, ganz anders!

Hart, fesselnd, schnörkellos, rasant, mit rabenschwarzem Humor – die neue Thrillerkomödie von Tatjana Kruse

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Seitenzahl: 311

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Titel

Tatjana Kruse

Schwund

Ein Thriller, aber in heiter

Insel Verlag

Widmung

Warnung

Niemand von uns übersteht das Leben … äh … lebendig. Da darf man ruhig auch mal ein Auge zudrücken. Oder zwei. Und das dritte Auge gleich mit!

Für John Finnemore

Es leben derzeit 7754847000 Menschen auf dem Planeten. Der Schwund lichtet den Bestand, und zwar deutlich! Na ja, nicht wirklich deutlich. Aber es wird immerhin eine unschöne Schneise geschlagen. Vier Menschen werden darüber zu einem Team und wollen sich beweisen.

Dieses Buch beruht auf wahren Geschichten. Nur die Namen wurden geändert. Und die Orte. Und die Fakten. Aber es hätte sich so abspielen können …

»Ich hätte dieses Buch gelesen!« Marcel Reich-Ranicki

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Berlin, verlassenes Fabrikgelände

Bodycount: 1

Immer noch Berlin, dieselbe Fabrik

Bodycount: 9

Polizeipräsidium Berlin, Dezernat »Delikte am Menschen«

Gerichtsmedizin Berlin, Obduktionssaal 3

Polizeipräsidium Berlin, Cold Case Archiv

Bodycount: 12

Halle an der Saale, Hauptbahnhof Gleis 6

Bodycount: 14 ¼

Moritzburg, Burggraben

Bodycount: 14 (die Nilgans wurde wieder abgezogen)

Berlin, Einsatzzentrale SoKo

Tätowierer

Bodycount: 16

Berlin, Motzstraße

Hamburg, Rechtsmedizinisches Institut

Hamburg, Einsatzzentrale SoKo Tätowierer

Hamburg, Polizeikantine

Bodycount: 21

Goslar, Kaiserpfalz

Berlin, Einsatzzentrale SoKo Tätowierer

Berlin, Bonhoefferufer

Bodycount: 29

Berlin, Charité Krankenhaus

Berlin, Einsatzzentrale, Verhörraum eins

Bremen, Hohenlohestraße

Bodycount: Moment, Zählung läuft noch ...

Bremen, vor der ehemaligen

Perle Beiruts

Bodycount: 29 (immer noch, kurzer Hänger)

Berlin, Friedrichshain

Berlin, Einsatzzentrale

Berlin, im Späti um die Ecke

Berlin, Einsatzzentrale

Berlin, Friedrichshain

Berlin, Charité

Berlin, Einsatzzentrale Damentoilette dritter Stock

Berlin, ZOB

Bodycount: 35 (plus ein toter Gummibaum)

Berlin, Zentraler Omnibusbahnhof

Bodycount: 36

Gemarkung Pottenstein, Fränkische Schweiz

Bodycount: 41

Polizeiinspektion Pegnitz

Bodycount: 41, immer noch

Polizeiinspektion Pegnitz, die Zwote

Bodycount: 41 (kurze Stagnationsphase)

München, Japanisches Teehaus

München, Englischer Garten

Bodycount: 46

München-Pasing

Bodycount: 55

München, Einsatzzentrale

Mittenwald, Parkplatz an der E533/Bundesstraße 2, Nähe Scharnitzpass

In den Bergen bei Mittenwald (auf österreichischem Staatsgebiet, ohne Befugnis)

Bodycount: unverändert Wo waren wir? 56? 65? Egal: viele!

Berlin, Einsatzzentrale

Berlin, Einsatzzentrale

Manila, The Beaufort Towers

Danksagungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Willkommen in euren künftigen Alpträumen!

Berlin, verlassenes Fabrikgelände

»Sie können sich Ihren Magnum-Schnauzer aus Erkältungssalbe gleich wieder abwischen, die hier riecht nicht«, rief Doktor Kinzig, die Gerichtsmedizinerin. Bestimmt grinste sie unter ihrem hellgrünen Mundschutz von einem mehrfach gepiercten Öhrchen zum anderen. Sie kannte ihre Pappenheimer. Immerhin rief sie es gut gelaunt. Sie hatte eine Schwäche für Fabian Messner. Alle anderen hätte sie dermaßen pampig angebrüllt, dass die Schutzanzüge geknittert hätten. Nicht ihn.

»Duftneutral? Ehrlich?« Fabian Messner blieb als personifizierter Zweifel in der Tür stehen.

Das hier war eigentlich genau das, was er am ersten Tag nach seinem Urlaub nicht brauchte: der Geruch der Verwesung. Ein unverwechselbares Bouquet aus Fäulnis und anderen biochemischen Prozessen, die in ihrer Gesamtheit widerwärtig waren und noch stunden-, manchmal tagelang in der Nase saßen und einem den Genuss am Essen und am Leben vermiesen konnten: Dimethyltrisulfide, Buttersäure, Trimethylamin, Hexanal, Indol und Butanol – was wie die Mischung eines überteuerten Pariser Parfums klang. Es fehlte nur noch Moschus, das getrocknete und pulverisierte Sekret aus den haarigen Hodensäcken des gleichnamigen männlichen Paarhufers.

Deswegen strich er sich, immer bevor er an den Tatort eines Tötungsdelikts oder in die Sezierarena der Gerichtsmedizin ging, eine handelsübliche Mischung aus Kampfer und Eukalyptus unter die Nase. Das trieb ihm zwar die Tränen in die Augen, weswegen ihn altgediente Kollegen anfangs gern die ›Heulsuse‹ nannten, aber es half. Also, ein bisschen. Na gut, wenn man dran glaubte, und das tat er. Vorsichtig reckte er den Kopf in die Halle wie eine Schildkröte, die aus ihrem Panzer lugt, und holte tief Luft. Die Kinzig hatte recht – es roch nur nach altem, morschem Gemäuer. Allerdings hatte er sofort das Gefühl, ihm würden die Nasenhaare einfrieren. Es war arschkalt. Draußen sowieso, aber hier in der Halle gefühlt noch zehn Grad kälter.

»Pass auf, wo du hintrittst«, riet Sisu, die ihn überholte und auf den Matten – extra ausgelegt, damit keine Spuren verwischt wurden – zur Leiche schritt.

Sisu stand für Die Schöne, was sie auch war – und wie! –, aber in ihrem Ganzkörperschutzanzug sah sie aus wie alle anderen. Männer, Frauen, Außerirdische. Gleichgeschaltet. Wie Kegel. Mit Ausnahme von Doktor Kinzig, der Gerichtsmedizinerin, die aufgrund ihrer Körperform eher an eine Kugel als an einen Kegel erinnerte. Und sich auch so benahm, will heißen, als Kugel gern mal alle neune niederkegelte. Und auch jetzt rief sie ihrem Team lauthals zu: »Wird das heute noch was? Los schon, schießt die Fotos!«

Das Gummiband seines Schutzanzugs schnitt ihm ins Fleisch, die Hände in den Einmalhandschuhen schwitzten trotz der Kälte. Er war zur Mordkommission gegangen, weil ihm die Aura von Abenteuer und Gerechtigkeitsliga gefiel. Aber in ruhigen Momenten gestand er sich hin und wieder ein, dass er nicht aus dem Hartholz geschnitzt war, das für diesen Job notwendig war.

Fabian dackelte Sisu hinterher.

Die Luft stand. Und schien zu schwer zum Atmen. Ein Stück vor ihnen kündigte ein Lichtkreis ihr Ziel an. Unter grellen Flutlichtlampen standen mehrere weißgekleidete Kegel auf einer Insel aus Trittplatten. Einer schoss Fotos von dem, was da auf dem Boden lag.

Die Kugel namens Kinzig drehte sich zu den Neuankömmlingen um. Der sichtbare Teil ihres Gesichts glänzte. Sie trat zur Seite.

Und nun sahen sie es. Etwas Längliches, eng in Plastik eingehüllt, an einen eingerollten Teppich erinnernd. Am oberen Ende war die Plastikplane aufgeschnitten und teilweise abgezogen. Darunter rötliches Fleisch, leere Augenhöhlen, ein menschlicher Kopf. Skalpiert.

»Willkommen in euren künftigen Alpträumen«, sagte die Rechtsmedizinerin.

Und grinste.

Bodycount: 1

Unverhofft kommt oft.

Immer noch Berlin, dieselbe Fabrik

»Skalpiert?« Fabian – der heimliche Dünnhäutige, Sensible – musste nicht so tun, als könnten ihm grausam entstellte Leichen nichts anhaben. Das war das Schöne, wenn man Masken trug – und wenn man mit Frauen zusammenarbeitete. Da durften einem die Gesichtszüge ruhig entgleiten – erstens sah man kaum was unter der Maske, und zweitens wussten die Mädels Empathie zu schätzen. Ihnen gegenüber musste er nicht den Silberrücken markieren, nur um seine Position im Rudel nicht zu gefährden. »Skalpiert und entäugt?« Seine Stimme brach.

Doktor Kinzig ging in die Knie und schlug die Plastikplane noch ein Stück weiter zurück. »Richtig. Er wurde skalpiert, man hat ihm die Augäpfel entnommen, und er wurde tätowiert. Alles nach Eintritt des Todes.«

Sisu beugte sich interessiert vor. Fabian blieb kerzengerade stehen. Wie eine Duftkerze, Geschmacksrichtung Erkältungscreme. Ihm reichte es, wenn er die Details später am Computer sah.

»Bi … ba …«, las Sisu ab.

»Ich muss die Leiche bei mir zu Hause natürlich erst noch genauer untersuchen«, unterbrach sie Doktor Kinzig, die mit zu Hause ihr Labor meinte, »aber aus den Wörtern, die man so schon sehen kann, schließe ich auf den Text von Bi-Ba-Butzemann.«

»Es tanzt ein Bi-ba-Butzemann in unserm Haus herum, fidebum?« Sisu sang es, allerdings mit ihrem üblichen, unbeweglichen Pokerface.

»Er rüttelt sich, er schüttelt sich, er wirft sein Säcklein hinter sich«, fiel Doktor Kinzig ein. Im Gegensatz zu Sisu lächelte sie dabei fröhlich und schunkelte mit dem Oberkörper, mehrheitlich aber mit ihren Körbchen in Doppel-F.

Fabian, der in die leeren Augenhöhlen des Toten wie in einen Abgrund schaute und förmlich spüren konnte, wie der Abgrund zurückschaute, war es absolut unbegreiflich, wie sich die Mär hatte herausbilden können, dass Frauen das schwächere Geschlecht seien.

Er trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich an die Wand. Nicht zum ersten Mal fürchtete er, an einem Tatort in Ohnmacht zu fallen. Die Frage war nicht ob, sondern wann.

Sisu drehte sich zu ihm um. »Siehst du das?«

Er nickte stumm.

»Der Mord ist auf keinen Fall hier passiert«, erklärte Doktor Kinzig. »Die Leiche wurde hier nur abgelegt.«

»Wer hat ihn gefunden?«, erkundigte sich Sisu und sah sich um. Am anderen Ende der leeren Fabrikhalle stand eine Gruppe von Männern und rauchte sich das Trauma des Leichenfunds von der Seele, darunter ein paar Uniformierte. »Ein Kollege von der Streife?«

»Nein, einer vom privaten Wachdienst. Von denen schaut offenbar jeden Morgen jemand zwischen sechs und sieben auf dem Gelände vorbei.« Die Kinzig sah zu dem schmalen Pferdeschwanzträger in der Uniform einer Security-Firma mit dubiosem Renommee, der mit der Zigarette zwischen den Fingern heftig gestikulierte. Man konnte nichts hören, aber die Körpersprache verriet, dass er offenbar weiterziehen wollte.

»Er sagt, dass er normalerweise nur draußen die Runde macht, aber eine der Eingangstüren war aufgebrochen, darum schaute er herein. Das war kurz vor sieben. Also muss der Tote hier zwischen gestern Morgen und heute früh hier abgelegt worden sein. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass unsere Leiche sehr viel länger tot ist. Der Tote ist gefroren. Die letzten Nächte hatte es immer deutlich unter null Grad. Ich werde mit der Obduktion warten müssen, bis er wieder ganz aufgetaut ist.« Kleine Atemwölkchen stiegen hinter ihrer Maske auf.

»Dabei wäre das hier das ideale Gelände für einen Mord.« Sisu schaute sich um. Ein verlassenes Fabrikgebäude – zwar mitten im ehemaligen Osten von Berlin, aber trotzdem nur von anderen, ebenfalls verlassenen Industriebauten umgeben. Bis hierher war die Stadtviertelsanierung noch nicht vorgedrungen. Wer hier schrie, verhallte ungehört. Außer natürlich ein Obdachloser oder Junkie wäre zufällig zugegen gewesen. Sisu nahm sich vor, das überprüfen zu lassen.

»Meine Großeltern haben hier ganz in der Nähe gewohnt.« Doktor Kinzig stemmte die Fäuste auf die rubenesken Hüften. »Ich kann mich erinnern, wie ich als ganz kleines Kind regelmäßig hier vorbeigekommen bin. Es war eine Wurstfabrik. Mit Verkaufsraum. Für mich fiel immer eine Scheibe zum Probieren ab.«

Kinzig war die einzig echte Berlinerin von ihnen, Sisu und Fabian stammten aus dem Westen. Fabian hatte sich wegen dem Gotham-City-Ambiente hierher versetzen lassen, Sisu wegen der Hauptstadtzulage.

Eine Kakerlake trippelte vorbei. Sisu kickte sie mit ihrem Springerstiefel aus dem Lichtkegel der Scheinwerfer. Das machte der Kakerlake nichts. Kakerlaken konnten das ab. Wenn jemand die Apokalypse überlebte, dann die Kakerlaken. Weil Sisu aber nur trat und nicht zielte, landete die Kakerlake nicht an der Wand, sondern traf einen der Spurensicherer.

»He!«

Sisu zuckte desinteressiert mit den Schultern. »Das war hier eine Wurstfabrik?«, fragte sie die Kinzig.

Man sah es der Halle nicht an. Es hätte auch eine ehemalige Trabantmontagefabrik oder ein Sportstudio sein können. Völlig entkernt, wie sie war, strahlte sie eine unglaubliche Neutralität aus. Wie die Schweiz. Oder Schweden. Nur als Gebäude.

Fabian wippte auf seinen Sneakern. Er brauchte Bewegungswärme. Wenn er noch länger einfach so dastand, würde er zur Eissäule. Er hätte sich definitiv wärmer anziehen sollen. Aber wer jeden Tag in der Mucki-Bude schwitzte und deswegen aussah wie der David von Michelangelo, der hüllte sich nicht in figurvertuschende Kuschelklamotten. Unter seinem Einmalanzug trug er daher nur ein hautenges T-Shirt und eine sexy Bikerjacke.

Neben Fabian hing eine Eisenkette von der Decke. An ihrem unteren Ende befand sich ein Holzgriff, der ihm nachgerade zuzuzwinkern schien.

»Was ist das hier?«, fragte er, im Takt zu seinem Wippen.

Die Frauen drehten sich zu ihm um. Dann folgten ihre Blicke der Kette bis zur Decke.

Offenbar konnte man mit ihr eine Falltür öffnen. Sisu zuckte nur wieder mit den Schultern – sie war eher der maulfaule Typ und fand, dass eine Geste mehr sagte als tausend Worte – und inspizierte wieder die Leiche. Auch Doktor Kinzig verlor das Interesse und winkte einen ihrer Subalternen zu sich.

Nur Fabian wollte der Sache auf den Grund gehen. Seine Neugier war sein größter Trumpf als Ermittler. Folglich packte er den Griff der Kette und zog.

Erst passierte rein gar nichts. Irgendwas klemmte. Fabian zog fester. Sein Ehrgeiz war gepackt.

Mit einem metallischen Knirschen und ächzenden Scharnieren öffneten sich die Deckenluken nach unten, in die Halle hinein.

»Was …?«, rief Fabian noch, als er sah, dass offenbar etwas auf den Luken gelegen hatte. Etwas, das gleich darauf nach unten purzelte.

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann fünf … dann konnte Fabian nicht mehr mitzählen, weil ihm abrupt speiübel wurde. Er riss sich die Maske vom Gesicht und erbrach sein Frühstück.

Es waren Leichen, die da von der Decke fielen.

In transparentes Plastik eingehüllte Leichen.

Skalpiert, entäugt, tätowiert …

Bodycount: 9

Was immer du tust, tu es mit der Selbstsicherheit eines Vierjährigen im Superman-Pyjama.

Polizeipräsidium Berlin, Dezernat »Delikte am Menschen«

»Bi-Ba-Butzemann? Auf allen neun Leichen?«

Dezernatsleiter Kinski trommelte nervös mit den Fingern auf seiner Schreibtischplatte. »Warum der Bi-Ba-Butzemann?«

»Was sonst? Die Lottozahlen von nächster Woche?« Sisu lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Sie klang pampig. Weil sie mit Kinski nicht konnte.

Konrad Kinski konnte ebenfalls nicht mit Sisu Demirkan. Was nicht an ihr lag, sondern an ihm. Er war ein Stinkstiefel. Das wusste er auch. Aber er lebte nach der Sonnenkönig-Devise: Le département, c’est moi. Das Dezernat bin ich.

»Wenn Sie nichts Konstruktives beisteuern können, dann halten Sie bitte schön den Mund!«, bellte er jetzt. »Und mit Kakerlaken nach einem Kollegen von der Spurensicherung zu werfen? Geht’s noch? Entschuldigen Sie sich gefälligst bei dem Mann.«

»Ich habe nicht geworfen. Es war ein Unfall.«

»Die Umstände interessieren mich nicht. Tun Sie einfach, was ich sage!« Kinski erhob sich und tigerte durch sein Büro. Das winzig war, trotz seiner leitenden Stellung. Darum bestand sein Tigern aus Ausfallschritt, Ausfallschritt, Ende. Es wurde Zeit für seine nächste Beförderung. Die stand auch demnächst an. Im Grunde war es eine reine Formsache. Er hatte auch schon für das Namensschild an der Tür des geräumigen Eckbüros im Polizeipräsidium Maß genommen.

Und dann das. Ausgerechnet jetzt! Neun Leichen, offenbar kultisch präpariert. Darauf hätte er seine besten Leute ansetzen müssen, aber die standen in einem spektakulären Promi-Mord kurz vor der Auflösung und konnten unmöglich abgezogen werden. Dann also dieser Messner und die Demirkan. Der Schönling und das Mannweib.

»Was können Sie mir jetzt schon zu dem Fall sagen?« Kinski baute sich vor Fabian auf und wandte sich dezidiert nur an ihn.

»Die Leichen müssen in der Nacht angeliefert worden sein. Frau Demirkan hat Kollegen von der Streife rundgeschickt. Soweit sich feststellen ließ, gibt es keine Zeugen im Obdachlosen- oder Junkie-Milieu der Umgegend.«

»Ich will nicht wissen, was Sie nicht herausfinden konnten«, knurrte Kinski nur Millimeter von Fabians Nase entfernt. »Ich bin nur an Ergebnissen interessiert!«

Fabian stieß selten auf so viel Antipathie. Normalerweise surfte er easy und lässig durch zwischenmenschliche Beziehungen aller Art. Frauen wollten ihn verführen. Männer, die Männer mochten, wollten ihn verführen. Hetero-Männer wollten so sein wie er. Frauen, die keine Männer mochten, sahen in ihm den kleinen (oder großen) Lieblingsbruder. Er eckte so gut wie nie an. Das mochte an seiner beinahe makellosen Schönheit liegen oder an den Pheromonen, die er verströmte, oder einfach daran, dass er so ein urguter, sympathischer Kerl war.

Aber all das prallte an Kinski ab. Kinski, der Kriminaler, teilte sich mit Kinski, dem Schauspieler, nicht nur den Nachnamen, sondern auch den explosiv-cholerischen Charakter.

»Doktor Kinzig konnte mittlerweile verifizieren, dass es sich bei den posthum zugefügten Tätowierungen um den Text des Kinderlieds Bi-Ba-Butzemann handelt«, sagte Fabian, weil das ein Ergebnis war, und danach hatte der Chef ja gefragt.

Kinski schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Verdammt noch eins, was will uns dieses Butzemannzeugs sagen?«, verlangte er lautstark zu wissen.

Kinski war nicht immer ein unausstehlicher Stinkstiefel, manchmal war er auch nur ein ganz normaler Arsch. Aber jetzt, wo er seine zügige Beförderung gefährdet sah, traten seine unschönen Seiten noch deutlicher zutage als sonst. Dann mutierte er zum Zorn Gottes und bohrte sich wie Rumpelstilzchen in den Parkettboden oder schoss wie das HB-Männchen an die Decke. Oder hämmerte Dellen in seinen Schreibtisch.

Sisu blieb cool. »Könnte es nicht sein, dass die Toten einem Pädophilen-Ring angehörten, und ein ehemaliges Opfer hat sich an ihnen gerächt?« Sie lehnte immer noch mit verschränkten Armen an der Wand.

»Wie bitte?«, röhrte Kinski, der meistens nur seinen eigenen Gedanken, nicht seinen Gesprächspartnern zuhörte. Er sah zu Sisu.

»Nur so eine Idee.« Sisu zuckte mit den Schultern. Das tat sie oft. Obwohl sie dreimal die Woche ins Studio ging, waren ihre Schultern womöglich das Durchtrainierteste an ihr.

»Der Rachefeldzug eines ehemaligen Pädophilen-Ring-Opfers«, wiederholte Fabian.

Kinski legte die Stirn in Falten, was immer der Fall war, wenn es in ihm dachte. »Gar nicht so abwegig, Herr Messner, gar nicht so abwegig. Interessante Idee!«

»Es war die Idee von Frau Demirkan«, stellte Fabian richtig, aber die Ohren von Kinski waren längst wieder eingeklappt.

»Kranke Kreaturen, die sich an Kindern vergreifen und ihnen während der Taten etwas vorsingen. Und jetzt, Jahrzehnte später, rächt sich eins der Opfer, bringt die Täter um und ritzt ihnen ebendieses Kinderlied in die Haut!« Kinski tigerte zurück zu seinem ergonomischen Schreibtischstuhl, in den er sich schwer fallen ließ. »Frau Demirkan, überprüfen Sie alle ungelösten Fälle von Kindesmissbrauch.«

»Soll ich, wenn ich schon dabei bin, auch gleich den Wannsee mit einem Teelöffel auslöffeln?« Sisu lächelte nie, und ganz besonders nicht, wenn sie ihrem Vorgesetzten gegenüber sarkastisch abätzte.

Fabian eilte zur Rückendeckung. Dazu waren Partner schließlich da. »Frau Demirkan meint, ob wir uns nicht erst darauf konzentrieren sollten, die Identität der Toten herauszufinden, um punktgenauer ermitteln zu können.«

Fabian, der Mediator. Er hätte in den diplomatischen Dienst gehen sollen, wie sein Vater.

»Sie kennen noch nicht einmal die Identität der Toten?«, röhrte Kinski. Er merkte ja selbst, dass er völlig hohl drehte, aber er konnte nicht anders. Wenn es mit der Beförderung dieses Mal wieder nicht klappte, war er raus aus dem Rennen. Er war nicht mehr der Jüngste, und die Konkurrenz atmete ihm schon heiß in den Nacken. Es ging um alles!

Sekretär Ingo stürmte mit einer frisch aufgebrühten Tasse Beruhigungstee herein. Laut einer Studie lebten Teetrinker länger – wenn Kinski seinen Johanniskraut-Passionsblumen-Baldrian-Tee trank, lebten vor allem die anderen länger. Ingo Grabowski kannte seinen Herrn und Meister und stand bei solchen Briefings immer schon Wasserkocher bei Fuß. Er ließ die Tür hinter sich auf. Was sich gleich darauf als segensreich herausstellen sollte.

Kinski brüllte nämlich: »Ich werde der Sonderkommission persönlich vorstehen! Und ich werde herausfinden, welches Schwein neun Menschen tötet und sie dann auch noch tätowiert!« Er nahm einen Schluck vom Beruhigungstee, aber an einem Tag wie diesem verstand es sich fast von selbst, dass er sich am heißen Tee den Mund verbrühte. »Scheiße!«

Fabian, Sisu und Ingo warfen sich einen Blick zu. Sie wollten gerade alle das Büro vom Chef verlassen, aber in der offenen Tür stand Kollege Berger.

»Guten Abend, Chef«, sagte Berger, obwohl es erst Mittag war. Berger teilte sich jedoch mit Kollegin Weber ein fensterloses Kabuffbüro gleich neben dem Kopierraum, da konnte man schon mal den Überblick über die Tageszeit verlieren. »Habe ich da gerade was von tätowierten Toten gehört?«

Kinski atmete nur finster aus, sagte aber nichts. Berger war der Älteste im Stock, stand gewissermaßen mit einem Bein schon in der Rente, wenn nicht gar im Grab. Er war Anfang sechzig, sah aber mindestens zehn Jahre älter aus. Das machten vierzig Jahre im Polizeidienst mit einem. Wann immer sie ihn sahen, fürchteten die Männer, so könnte auch ihre Zukunft aussehen: vorzeitig vergreist und auf dem fensterlosen Abstellgleis.

Ängste, die Sisu fremd waren. Und das nicht nur, weil sie eine Frau war. »Richtig belauscht. Neun Leichen. Skalpiert. Tätowiert. Entäugt«, fasste sie zusammen.

»Aha!« Berger klatschte sich auf den Oberschenkel. »Der Indianer!«

Sie stutzten alle. Meinten, sich verhört zu haben.

»Der Indianer hat wieder zugeschlagen!« Berger nickte in die Runde.

»Ein indigener Nordamerikaner?« Fabian hob eine Augenbraue.

»Was?« Auch Bergers Augenbrauen schossen nach oben.

»Natürlich, jetzt erinnere ich mich wieder!« Kinski schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Er klang fast fröhlich. »Ein Cold Case um einen Mehrfachmörder, der seine Opfer zu tätowieren pflegte.«

»Nicht nur zu tätowieren, da war noch mehr. Deshalb haben wir ihn den Indianer genannt, weil er seine Opfer skalpiert hat. Neben allen möglichen anderen Schrecklichkeiten, aber das Skalpieren war halt was Besonderes.« Berger nickte. Es kam nicht mehr oft vor, dass er etwas derart Entscheidendes zu einer laufenden Ermittlung beizutragen hatte. Nicht weil er nicht mehr konnte. Sondern weil man ihn nicht mehr ließ.

»Mit Kinderliedern tätowiert?«, fragte Fabian.

Berger schürzte die Lippen. Daran konnte er sich nicht erinnern.

Kinski dafür umso besser. »Es waren Zitate aus Kinderbüchern!« Er schlug wieder auf die Schreibtischplatte, leider etwas zu weit nach rechts, deshalb erwischte er die Teetasse. Es spritzte und schepperte.

»Ich hole einen Lappen!«, rief Ingo dienstbeflissen und lief zur Kaffeeküche.

Kinski rieb sich das Kinn. »Der Indianer hat wieder zugeschlagen!« Cold Case gelöst – er konnte die Schlagzeile förmlich vor sich sehen.

»Wie jetzt? Der Fall ist gelöst?« Enttäuschter als Sisu in diesem Moment konnte man kaum klingen. Zu wissen, wer es war, und das nur noch beweisen zu müssen, war für sie das Langweiligste überhaupt. Sie war eine Amazone – für sie lag der Reiz in der Jagd!

»Also, eher nicht«, meinte Berger. »Die Fälle liegen ja schon Jahre zurück. Das war …«

Kinski sah Berger an, Berger sah Kinski an.

»Vor vierzig Jahren«, murmelten sie unisono.

Fabian zuckte mit den Schultern – da war er ausnahmsweise schneller als Sisu. »Dann ist er jetzt Mitte sechzig oder so. Im besten Mannesalter.«

»Eher nicht. Es war einer der ersten Fälle, an denen ich mitarbeiten durfte, deswegen erinnere ich mich so genau«, hielt Berger dagegen. »Und ich weiß noch, dass man damals aufgrund diverser Indizien davon ausging, dass er kein ganz junger Mann mehr sein konnte.«

»Okay, dann ist er jetzt steinalt, will es aber noch mal wissen.« Sisu lag die Replik auf der Zunge, dass Berger doch sicher am besten nachvollziehen könnte, wie es ist, sich als Greis ein letztes Mal beweisen zu wollen, aber sie verkniff es sich.

»Prüfen Sie das nach«, brummte Kinski enttäuscht. Er erinnerte sich jetzt auch wieder, dass man von einem Täter in fortgeschrittenem Alter ausgegangen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach also längst verstorben. »Vermutlich handelt es sich um einen Nachahmer. Jemand, der diesem Perversen ein Denkmal setzen will.«

Berger nickte. So sah er das auch. Allerdings …

»Soweit ich weiß, wurde nur öffentlich gemacht, dass der Indianer seine Opfer skalpiert und tätowiert hat. Dass er ihnen mit einem Eisportionierer die Augäpfel entfernt hat, haben wir aus ermittlungstaktischen Gründen immer unter Verschluss gehalten.«

Stille senkte sich über den Raum. Wenn draußen in der Welt niemand die Details wissen konnte, dann …

… bestand natürlich die Möglichkeit, dass der Original-Täter damals seine Memoiren geschrieben und seinem Enkel vermacht hatte, der nun die Familientradition fortsetzte. Ja, möglich war das.

Sehr viel wahrscheinlicher war aber, dass der jetzige Täter jemand war, der Zugang zu den Akten von damals hatte.

»Scheiße, es war einer von uns?« Sisu sprach aus, was alle dachten.

Aber nur Sisu sah dabei Kinski an …

25 Dinge, die man als Frau nicht tun sollteErstens: Sich um die Meinung anderer Leute scheren.2-25: siehe erstens

Gerichtsmedizin Berlin, Obduktionssaal 3

»Ich habe hier etwas, das Sie interessieren dürfte!« Doktor Kinzig stand in ihrer prallen Rundheit vor einem der Seziertische und lächelte breit.

Sisu trat neben sie.

Die Fahrt zur Rechtsmedizin hatte sie in Rekordzeit absolviert. Um Dampf abzulassen. Wobei sie zugegebenermaßen immer schnell fuhr, auch wenn es nicht in ihr dampfte. Sie liebte den Rausch der Geschwindigkeit.

Sisu hasste es, dass sich Kinski mal ebenso zum Leiter der SoKo ernannt hatte. Mit ihm am Steuerruder konnte der Ermittlungsdampfer doch nur gegen einen Eisberg knallen. Nicht nur im Nordatlantik, auch im Mittelmeer. Es würde so oder so in einer Katastrophe enden.

Und dann gab es da noch den Elefanten im Raum, über den niemand reden wollte, obwohl sie es mehr als eindeutig angesprochen hatte und alle den Elefanten trompeten hörten: Es könnte einer von ihnen sein!

Das war verdammt schnell zum eigentlich Unvorstellbaren eskaliert.

Ihr war natürlich klar, dass Polizisten auch nur Menschen waren, aber diese Menschlichkeit sollte sich ihrer Meinung nach auf Ehebruch oder Nikotinsucht beschränken. Mord war da nicht inkludiert!

Sisu galt als kaltschnäuzig und gefühllos, doch ihr Gerechtigkeitssinn war so ausgeprägt wie der Bizeps von Dwayne The Rock Johnson. Will heißen: sehr! Gerechtigkeit, wohlgemerkt, nicht Recht und Gesetz. In Sisus Akte gab es mehrere Einträge, weil sie bei Verhören ausfallend geworden war. Oder auch schon mal die Tür zur Wohnung eines Verdächtigen, bei dem Verdunkelungsgefahr bestand, eingetreten hatte, noch bevor die Unterschrift auf dem Durchsuchungsbeschluss auch nur ansatzweise getrocknet war. Aber bei ihren »Ausfällen« kamen nur die zu Schaden, die es verdient hatten: Frauenschläger, Menschenhändler, Mörder. Sisu konnte sich daher jeden Morgen im Spiegel in die Augen schauen.

Während sie bei Dunkelgelb über Ampelkreuzungen gebrettert war und anhaltend gehupt hatte, wenn die Vollpfosten vor ihr fünfzig fuhren, wo siebzig erlaubt war, hatte sie unablässig über den Umstand nachgegrübelt, dass nur Angehörige der Exekutive von den Augapfelentfernungen des Tätowierers wissen konnten. Kacke! Aber vielleicht war es nur ein Zufall? Theoretisch konnten doch zwei Leute unabhängig voneinander auf dieselbe Idee kommen – das war bei der Erfindung des Telefons oder der Ausarbeitung der Evolutionstheorie doch auch so gewesen.

Doktor Kinzig richtete einen Strahler auf die Leiche auf dem Seziertisch.

»Wo ist denn Ihr Kollege?«, fragte sie und sah an Sisu vorbei zur Tür. »Oder sind Sie allein hier?« Sie wirkte enttäuscht. Wie jemand, der Himbeerkuchen mit Sahne bestellt hatte, dem dann aber nur ein Stück trockener Marmorkuchen serviert wurde.

»Studiert alte Akten. Entgegen der allgemeinen Ansicht sind wir nicht an der Hüfte zusammengewachsen«, brummte Sisu. Es nervte sie, dass ihr und Fabian ständig eine Affäre unterstellt wurde, nur weil sie beide auf demselben, für Normalsterbliche unerreichbaren Attraktivitätslevel unterwegs waren. Sisu hatte eine goldene Regel: Nie mit Kollegen! Rechtsmediziner waren allerdings für sie keine Kollegen.

»Wer ist der?« Erst jetzt hatte sie den Mann an der Spüle bemerkt. In der behandschuhten Linken hielt er etwas Längliches, in Blut Getränktes, in der Rechten einen kurzen, am Wasserhahn angebrachten Schlauch. Das Wasser lief ins Leere. Wie so ein hypnotisiertes Kaninchen starrte er Sisu an.

Fabian war definitiv der Schönere in ihrem ohnehin augenschmeichelnden Doppel-Team, aber Sisu war eine Frau, die bei den richtigen Männern – und natürlich auch bei geneigten Frauen und allem dazwischen – einen Trigger auslöste. Die Lederjacke, die Springerstiefel, die definierten Muskeln, die strenge Kurzhaarfrisur: Mit jeder Pore strahlte Sisu weibliche Macht und Power aus. So stellte man sich Amazonenkönigin Penthesilea vor. Oder Keltenkönigin Boadicea. Oder Lara Croft, nur in angezogen.

Doktor Kinzig sah zur Spüle. »Ah, das ist mein Neuer. Arndt Niedlich. Arzt in Weiterbildung. Er will Facharzt für Rechtsmedizin werden, wenn er mal groß ist, aber da sehe ich schwarz, denn er besitzt die Aufmerksamkeitsspanne einer WÜHLMAUS.« Mit jedem Wort wurde ihre Stimme lauter. Die Maus trompete sie im dreistelligen Dezibelbereich heraus.

Sofort konzentrierte sich Niedlich wieder auf seine Arbeit. Manche waren mit ihrem Nachnamen regelrecht gestraft. In diesem Fall passten Name und Mann jedoch zusammen. Er hatte in seiner Blondheit etwas von einem Golden Retriever. Fand Hundefreundin Sisu. Bevor sie sich ihrerseits wieder am Riemen riss.

»Okay. Was gibt es, das so interessant sein soll?«

Sisu mochte die Kinzig. Sie waren vom selben Schlag. Die Kinzig und sie tickten gleich. Von anderen als sympathisch eingestuft zu werden, fanden sie beide völlig überschätzt. Zudem war das Gefälligkeits-Gen bei der Karriere in einem Männerberuf ohnehin kontraproduktiv. Infolgedessen galten sie beide im Kollegenkreis als eiskalt und frigide.

»Und warum riecht es hier so?« Sisu schnupperte und zog angewidert die Nase kraus.

Laien neigten oftmals zu der Annahme, bei einer Obduktion würde es immer extrem nach Fäulnis riechen, aber dem war nicht so. Der durchschnittliche Tote war genauso geruchsneutral (oder geruchsintensiv) wie der durchschnittliche Lebende. Sisu wusste das.

»Die Kollegen hatten eine Wasserleiche. Drei Monate in der Spree. Sie haben die ganze Nacht gelüftet, und heute Morgen haben wir alle unsere Frühstückszigarette hier drin geraucht, aber den Geruch kriegt man so schnell nicht weg.«

Sisu hatte schon viele Leichen gehabt, aber noch nie eine Wasserleiche. Sogar sie fand den Gestank nur schwer zu ertragen. Gut, dass Fabian mit den Archivakten über den Indianer-Schrägstrich-Tätowierer beschäftigt war – hier drin hätte ihm nicht einmal ein Vollbart aus Eukalyptussalbe geholfen.

»Also gut, jetzt zum interessanten Teil.« Doktor Kinzig rieb sich die Hände.

»Geht’s um ihn hier?« Mit dem Kinn zeigte Sisu auf die menschlichen Überreste vor ihr. »Das ist der aus der Fabrik?« Da das Innere des Toten jetzt nach außen gekehrt schien, war die Frage berechtigt.

Sisu hatte keine Berührungsängste mit dem Tod. Auch nicht mit prä- oder post-obduzierten Überresten.

»Ja, aber nicht der vom Boden. Das ist eine der Leichen, die vom Himmel gefallen sind. Genauer gesagt, von der Decke.«

Der Brustkorb des Toten auf dem Labortisch klaffte weit auf, was mindestens ebenso spooky war wie die leeren Augenhöhlen. Alles in allem kein schöner Anblick. Obwohl das Bi-Ba-Butzemann wirklich sehr schön in die Arm- und Beinhaut eintätowiert war. Da hatte jemand offenbar einen Kalligrafiekurs an der Volkshochschule belegt.

Sisu sagte nichts. Sie sagte ohnehin nie sehr viel. Man erfuhr weitaus mehr, wenn man die anderen reden ließ.

Doktor Kinzig füllte erwartungsgemäß die Stille. »Die Leichen sind bockelhart gefroren. Die lagen nicht einfach nur über Nacht in der Winterkälte, die wurden meiner Ansicht nach kryokonserviert und in einem Tiefkühllaster angekarrt. Deswegen kann ich auch noch keine Angaben zum Todeszeitpunkt machen. Oder zu den Todesursachen. Eine erste Inaugenscheinnahme hat zumindest keine Anzeichen für eine äußere Gewalteinwirkung zutage gefördert. Vielleicht Gift?« Sie betrachtete die Toten mit einem fast entzückt zu nennenden Lächeln. »Diese Toten stellen eine echte Herausforderung dar. Mal was ganz anderes. Aber das Beste kommt noch …«

»Keine äußere Gewalteinwirkung?«, unterbrach Sisu und sah zu dem Toten vor ihr auf dem Seziertisch. In seiner Stirn klaffte ein Loch. Man sah sogar noch eine Kugel aus der grauen Masse herausragen, die offenbar das Gehirn war. Sisu ging sehr davon aus, dass dieser Umstand ursächlich zum Tod des Mannes geführt hatte.

Stumm zeigte sie auf Loch und Kugel.

»Ah ja, er hier ist die Ausnahme. Er war als Einziger schon deutlich angetaut. Deshalb habe ich mit ihm angefangen. Die Schusswunde in der Stirn wurde ihm eindeutig post mortem zugefügt.« Doktor Kinzig wackelte zweimal mit den Augenbrauen, wie Tom Selleck in Magnum.

»Der Mörder hat auf die Leiche geschossen?« Sisu verzog skeptisch das Gesicht.

»Richtig. In einem Aufwasch mit dem Skalpieren, der Entnahme der Augäpfel, dem Tätowieren und dem Einwickeln in Plastikfolie.« Die Ärztin juchzte fast.

Sisu fand das schon weit weniger euphorisch. »Die Kugel lassen Sie natürlich …«

»… von den Kollegen der Ballistik analysieren. Aber das ist noch nicht alles …« Doktor Kinzig grinste breit. Ihre Mimik ließ sich nur als lebhaft bezeichnen, es war pure Gesichtskirmes.

»Können Sie etwas zu der Folie sagen?«, warf Sisu ein, die nur einen einzigen Gesichtsausdruck hatte. Nämlich angefressen.

Doktor Kinzig zog an einer Ecke der Folie, in der die Leichen wie in Geschenkpapier eingewickelt waren. »Das ist eine handelsübliche, transparente Stretch-Folie. Sie ist relativ robust. Mit Folien wie dieser werden normalerweise Waren auf Paletten für den Transport fixiert. Sehr hohe Dehnungsfähigkeit. Mit geringem Materialeinsatz kommt man da sehr weit. Ideal für diesen Zweck.«

»Perfekt. Ich lasse alle Hersteller kontaktieren.« Sisu nickte zackig. Es tat ihr gut, wenn sie eine konkrete Aufgabe hatte. Da war sie wie ein Pitbull, dem man »Fass!« zurief. Loslaufen, zubeißen, fertig.

»Na, viel Glück. So eine Folie bekommt man überall. Sogar bei Amazon. Das wäre reine Beschäftigungstherapie.« Die Ärztin schaute skeptisch.

Sisu brummte unzufrieden. Wie man als Pitbull so brummt, wenn einem das Leckerli wieder weggenommen wird, bevor man seine Zähne darin versenken konnte. »Warum bin ich hier?«, fragte sie daher ungnädig. »Das hätten Sie mir doch auch alles am Telefon erzählen können.«

Oder besser noch in einer Mail, dachte Sisu, sprach es aber nicht aus. So wenig zwischenmenschlicher Kontakt wie möglich, das war ihre Devise. Blöd, dass sich die anderen so selten daran hielten.

»Ich würd’s Ihnen ja sagen, wenn Sie mich mal ausreden ließen.« Doktor Kinzig ließ sich nicht beirren. »Kurzum ich habe etwas gefunden. Etwas, das ich für wesentlich halte … und zwar glaube ich, dass unser Augenmerk nur einer bestimmten Leiche gelten muss, nämlich dieser hier.« Sie zeigte auf das Schussopfer. »Die anderen waren nur Ablenkung.«

»Telefon«, wiederholte Sisu. »Hätte genügt.«

An der Spüle quietschte etwas auf. Vermutlich drang der Laut aus der Kehle von Niedlich, der noch nie erlebt hatte, wie jemand seiner Chefin dermaßen kaltschnäuzig Paroli bot.

Doktor Kinzig trat an den Seziertisch und rollte die Leiche in einer fließenden Bewegung auf den Bauch. Das dabei entstehende Geräusch erinnerte an einen tiefgefrorenen Truthahn, den man auf eine Küchentheke knallte. Definitiv nur an-, nicht aufgetaut.

Nicht gerade liebevoll tätschelte die Medizinerin eine der – ebenfalls tätowierten – Pobacken.

»Vielleicht gingen die Täter davon aus, bei der Menge an Leichen würden wir nur schludrig obduzieren. Oder sie haben es selbst übersehen.«

Sisu ahnte, was jetzt kam.

»Drogen natürlich, in ein Kondom verpackt und in der Kehrseite verstaut.« Doktor Kinzigs Augen blitzten schelmisch auf. »Ich vermute, ursprünglich waren es fünf Päckchen. Das ist die gängige Anzahl. Vier hat der Täter rausgefischt, eins steckte noch drin. Niedlich!« Letzteres bellte sie wie ein »Bei Fuß!«.

Der junge Arzt eilte herbei. In der Hand das längliche Etwas, das Sisu vorhin schon aufgefallen war. Ein Etwas, das Wassertropfen auf den Laborboden regnen ließ. Es war ein Kondom, prall gefüllt mit weißem Pulver. Er hielt es Sisu entgegen.

Die Kinzig hob eine Augenbraue und sah Niedlich nur stumm an.

Der eilte zurück, legte das Kondom auf ein Tablett und kehrte reumütig zurück. Wenn er dabei die Linke auf den Rücken gelegt hätte, wäre er von einem Kellner in einem Drei-Sterne-Restaurant an Eilfertigkeit nicht zu unterscheiden gewesen. Niedlich war mit den Gedanken eindeutig woanders. Er vermied es angelegentlich, Sisu anzusehen.

Die rollte mit den Augen. »Was soll ich damit?«

»Wir haben eine Probe des Inhalts zur chemischen Analyse in die forensische Toxikologie gegeben. Die Kollegen dort sollten uns baldmöglichst Bescheid geben können, woher der Stoff stammt.« Die geographische Zuordnung war nie das Problem.

Doktor Kinzig zog ihre Handschuhe aus und warf sie in den Entsorgungsbehälter. »Ich muss jetzt für kleine Königstigerinnen. Und danach rauche ich draußen auf der Feuertreppe noch eine Zigarette. Oder zwei.« Sie zwinkerte Sisu zu und ging.

Sisu drehte sich zu Niedlich und musterte ihn mit ihren samtbraunen Augen.

Er wurde rot. Das Tablett mit dem Kondom immer noch im Anreiche-Modus.

Da er in voller Labormontur vor ihr stand, sah man nicht wirklich viel. Aber auf die Optik legte Sisu keinen Wert. Sie suchte Substanz. Die meisten Männer waren für sie Idioten. Nicht alle, klar, aber man wusste vorher eben nie, wer einer von den Guten war. Göttin sei Dank scheute sie kein Risiko.

Sie hob den Arm und winkte ihn mit ihrem Zeigefinger näher zu sich.

Gleich darauf lag das Kondom auf dem Boden und für Niedlich wurde eine Männerfantasie wahr.

Kein Keks ist auch keine Lösung!

Polizeipräsidium Berlin, Cold Case Archiv

»Buh!«

Fabian Messner zuckte so sehr zusammen, dass sich sein Hintern vom Stuhl löste. Es war so kinderleicht, ihn zu erschrecken. Vor allem, wenn er gerade tief in Tatortfotos versunken war.

Berlin war sexy, aber arm. Längst nicht alle Akten des vorigen Jahrhunderts waren bereits digitalisiert worden. Die zwei faustdicken Akten über den Tätowierer musste man noch händisch bearbeiten.

Was Fabian seit zwei Stunden tat.

Als Teenager hatte er Horrorfilme geliebt und glaubte sich seitdem allem gewachsen, was es an Schrecklichkeiten geben mochte. Aber es machte doch einen Unterschied aus, ob es sich nur um CGI handelte oder ob das, was man sah, tatsächlich geschehen war. Der Tätowierer hatte »nur« drei Personen umgebracht, die aber mit unvorstellbarer Grausamkeit. Und der Fotograf, der damals alle Opfer im Bild festgehalten hatte, war seiner Arbeit offenbar mit großer Schussfreudigkeit nachgegangen: alles in mindestens dreifacher Ausfertigung, aus allen denkbaren Perspektiven, und immer auch in Großaufnahme.

Und gerade, als Fabian sich über eins der Fotos gebeugt hatte, weil er herausfinden wollte, ob der gelbgrüne Fleck in einer der leeren Augenhöhlen eine Made war oder nicht, atmete ihm jemand in den Nacken und raunte »Buh!«.

»Scheiße, Sisu, was soll das!« Er pustete sich eine blonde Locke aus der Stirn. Wenn ihm etwas peinlich war, machte er auf aggro. »Und warum warst du so lange weg?«

Sisu grinste nur, sagte nichts, drehte den zweiten Holzstuhl um und setzte sich breitbeinig darauf.

Die muffige Abstellkammer mit den Metallregalen, in der sich die alten Akten befanden, bot gerade mal genug Raum für zwei Stühle und einen Beistelltisch. Ein Fenster gab es nicht. Damit ihm seine Stauballergie keinen Erstickungstod bescherte, hatte er die Tür offen gelassen. Gefühlt alle fünf Minuten schaute eine der Sekretärinnen vorbei und fragte, ob er irgendeinen Wunsch habe. Kaffee? Kekse? Einen Knutschfleck? Schönheit war ein Fluch!

»Was hat die Kinzig gesagt?«, fragte er jetzt und schaute fast ängstlich zur Tür. Und ja, da lugte auch schon lächelnd die kleine Verhuschte herein, die sich als besonders hartnäckig erwies. Sie hatte sich ihm als Biggi Kellermann vorgestellt. Als sie Sisu sah, erstarrte ihr Lächeln. Immerhin fragte sie: »Möchten Sie auch einen Kaffee?«

Sisu schüttelte den Kopf. »Einer der Toten war ein Drogenkurier«, sagte sie zu Fabian.

»Noch einen Keks?«, fragte Biggi. Diesmal meinte sie Fabian.