Schwur aus rotem Glas - Alva Furisto - E-Book

Schwur aus rotem Glas E-Book

Alva Furisto

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Beschreibung

Ein Mord in der nahegelegenen Plattenbausiedlung sorgt bei Hoteleigentümerin Maren für Anspannung. Obwohl sie in dem Vorfall keine Verbindung zu ihrer dunklen Vergangenheit sieht, engagiert sie zu ihrem Schutz den blutjungen Boxer Benjamin. Marens Passion für ihren attraktiven Begleiter katapultiert sie in eine emotional prekäre Situation, die sie das Verbrechen verdrängen lässt. Bis sie eine Morddrohung erhält. Mit ihrer schrecklichen Vorgeschichte konfrontiert, kämpft Maren gegen das Gefühl an, ihr Peiniger Armando beherrsche auch nach fünfundzwanzig Jahren noch ihr Leben. Maren und Benjamin setzen alles daran, den unsichtbaren Feind zu enttarnen. Die Bedrohung aus vergangenen Tagen rückt jedoch unaufhaltsam näher …

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Schwur

aus rotem

Glas

 

Romantic Thrill

 

Alva Furisto

 

Inhalt

01 Benny

02 Zurück

03 Die Motten und das Licht

04 Neue Wege

05 Schattenfrage

06 Erschwiegene Lügen

07 Isabella

08 Happy Birthday

09 Stirb langsam

10 Die Tragkraft des Wassers

11 Deine Welt. Meine Welt.

12 Felix

13 Oana

14 Eagle

15 Boom

16 Armando

17 Noch ein Bild

18 Lust

19 Neo

20 Ricky

21 Theo

22 Roberto

23 Augen

24 Verrat

25 Jelena

26 Schmerz

27 Jaro 1

28 Jaro 2

29 Kartenhaus

30 Eiskalt

31 Offensive

32 Der Tower

33 Geister

34 Alte Fehler, neue Werte

35 Kriegspfad

36 Showdown

37 Frei

 

Erst aus dem Wechselspiel von Licht und

Schatten entsteht das Leben.

 

Alva

 

01 Benny

 

Stille in meinem Kopf. Alles, was zuvor wichtig zu sein schien, rückt in weite Ferne. Zahlen, Fristen, Ärgernisse verlieren ihre Macht. Die Zeit hält inne und sieht mich an, als habe sie meine Gedanken verschluckt, um mir zu sagen: Siehst du? Ich hole jeden ein.

Sie sagt es nicht mit Häme, sondern voller Mitgefühl. Schmerzlich wird mir klar: Liebe wäre ein Rettungsanker für mich. Doch von ihr ist nichts geblieben bei all dem Stress und Druck, der Gier nach Macht und dem Bedürfnis, sich zu repräsentieren, bedeutend zu sein und sich ein Denkmal zu setzen. Das zumindest ist, was mein Mann Theo anstrebt. Ich wollte immer nur, dass mein Sohn nicht meine Erfahrungen macht. Jaro soll es gut haben, eine fabelhafte Ausbildung genießen, ein großartiges Zuhause und …

Ich keuche immer heftiger, unfähig das Lauftempo länger durchzuhalten. Wie eine Messerklinge durchdringt ein reißender Schmerz meinen Brustkorb. Ich taumle zum nächsten Laternenpfahl, umklammere das kalte Metall und möchte schreien, meiner Kehle entweicht jedoch lediglich ein ersticktes Geräusch.

»Sie haben einen erhöhten ACTH-Wert, der womöglich auf einen Tumor hinweist.«

Die Worte von Doktor Schüttler klirren wie zerberstendes Glas in meinen Ohren. Immer wieder höre ich dieses fürchterliche Wort erklingen: Tumor. Ich lege eine Hand auf meinen bebenden Brustkorb und sammle mich. Der Arzt hat gesagt, er könne sich irren, sprach von einer weiteren Untersuchung in einem Monat, um den Wert noch einmal zu checken, äußere Einflüsse und Messfehler auszuschließen und gegebenenfalls von guten Behandlungsmethoden. Ich hasse den Quacksalber, der mich am Abend auf dem Mobiltelefon anruft, um mir solche Nachrichten zu überbringen. Das ist meine einzige freie Stunde am Tag. Sechzig Minuten, die mir allein gehören, in denen ich nicht arbeite, mich mit Theo und Jaro streite oder versuche, die Dämonen meiner Vergangenheit in Schach zu halten.

Als ich zu Sinnen komme, sehe ich auf die Uhr. Ich bin erst eine halbe Stunde unterwegs und möchte nicht nach Hause. Mir ist danach, mich auszuweinen, anzulehnen und Geborgenheit durch körperliche Nähe zu spüren. Doch bei Theo werde ich diese vergeblich suchen. Das ist seit Jahren so. Vielleicht war das nie anders. Eine Freundin habe ich nicht, zumindest keine, die nicht zugleich zu meinem Personal gehört. Ich will mir gar nicht ausmalen, was geschieht, wenn jemand in der Firma von meinem Dilemma erfährt. Wie die Hyänen werden einige hervorkriechen und voller Häme warten, um sich an meinem Aas laben zu können.

Emotional am Abgrund und dennoch unfähig zu weinen, gehe ich ein paar Schritte, bis ich das Parkende erreiche.

»Tower-Inn«, thront der Schriftzug in schwindelerregender Höhe vom gläsernen Hochhaus herab. Ich verliere mich im grünen Leuchten der Buchstaben und atme tief durch, als ich mein Lebenswerk betrachte. Da steht mein Machwerk. Ein düsteres Fundament, Stein auf Stein, von dem jeder ein finsterer Zeuge meiner Vergangenheit ist. Unter sich begraben sie die Wahrheit, während sie nach oben hin wie eine Krone eine atemberaubende Stahlkonstruktion tragen, verborgen hinter Glas, durch das um diese Uhrzeit bereits aus dem ein oder anderen Zimmer Licht scheint. Die bunten Reklameleuchten der exklusiven Läden im Erdgeschoss zieren wie funkelnde Edelsteine den Sockel. Seit Jahren friste ich mein Dasein in diesem Turm. Doch heute sehe ich ihn an und erkenne, was er ist: ein Gefängnis. Im Keller des Towers verlor ich meine Menschlichkeit, dann stahl er mir meine Zeit, meine Liebe und nun wird er womöglich zusammen mit der Krankheit den letzten Funken meines Lebens fressen.

Ich möchte weinen, doch noch immer sind meine Augen trocken. Mein Blick gleitet hinab auf die Straße und ich sehe gegenüber eine Fackel vor Andys Kneipe flackern. Das Feuer zieht mich magisch an, wie eine Motte vom Licht angelockt wird. Ich jogge erneut los, die Hoffnung auf eine kurze Zuflucht im Sinn.

Vor dem hölzernen Eingangsportal verharre ich zögerlich. Ich trage einen Jogginganzug, bin ungeschminkt und zerzaust unter der Baseballmütze. Flüchtig betrachte ich die zarte Spiegelung meines schäbigen Aussehens im Glas des Kartenkastens neben dem Eingang. Was solls? Ich will nur einen Drink, dabei nicht das Gefühl haben, völlig allein zu sein und dennoch meinen Frieden haben. Kurzerhand ziehe ich die Kapuze meines Hoodies über die Baseballmütze und betrete die Spelunke.

Seit ich denken kann, existiert dieser Laden. Lange schon, bevor es den Tower gab. Ich war in meiner frühen Teenagerzeit einige Male hier. Später hat Andy den Laden übernommen. Ich kenne den Kerl aus der Schule.

Fasziniert sehe ich mich um, denn offenbar ist hier die Zeit stehen geblieben. Mir ist rätselhaft, warum ich über all die Jahre nie wieder einen Fuß in diesen Laden gesetzt habe. Während ich den Billardtisch am Ende des Raumes bestaune, der unverändert scheint, steuere ich auf die hölzerne Theke zu und setze mich auf einen der Hocker.

»Was darfs denn sein, Schätzchen?«, drängt sich eine Frage zwischen meine Gedanken.

Ich bin erstaunt über das Gefühl der Vertrautheit, das die sonore Stimme in mir hervorruft. Mit offenem Mund starre ich den Mann an.

»Du siehst aus nach einem Glas Amnesie oder einem Scheißegal.«

»In dieser Reihenfolge«, krächze ich und bin froh, dass Andy mich offenbar nicht erkannt hat. Aber wieso sollte er das nach all den Jahren?

»Die Reihenfolge ist nicht gut fürs Geschäft. Keiner trinkt nach einem Amnesie den Scheißegal noch.« Andy lacht kehlig und hält sich den Bauch. »Das vergessen sie dann nämlich immer.«

Ich muss einen Augenblick überlegen, wie er das meint, und lächle ebenfalls. »Wenn du denkst, ich wollte nach dem Scheißegal noch den Amnesie, dann eben so herum.«

»Das sind Erfahrungswerte, Schätzchen.« Er zwinkert anzüglich.

In meiner Welt hätte ich ihn für sein »Schätzchen« und das gefolgte Zwinkern zerfleischt, doch in seiner suggeriert er mir dadurch das gute Gefühl, dass ich willkommen bin. Ich nicke. »Dann her damit.«

Andy stellt geräuschvoll ein Schnapsglas auf das abgewetzte Thekenholz und gießt einen Klaren ein.

Ich nehme zögerlich das Glas und trinke hastig den Inhalt mit nur einem großen Schluck.

»Noch einer?«, fragt er, als ich das Glas zurückstelle.

»Ich wollte doch ’nen Amnesie?« Neugierig mustere ich ihn.

Andy zuckt die Schultern. Aufmerksam betrachtet er mich. »Den gibts gar nicht.«

»Ist doch scheißegal«, antworte ich und schiebe mein Glas näher vor ihn.

»Verfluchte Kacke. Du bist das wirklich«, stößt Andy hervor.

»Ich dachte, du erkennst mich nicht«, murmle ich und kippe den nächsten Schnaps in meine Kehle.

»Das ist ’ne Story: Die Königin steigt aus ihrem Turm herab und besucht den Andy. Bist du insolvent oder so?« Er klingt ungeniert und frei von Häme.

»Das wäre leichter zu ertragen«, antworte ich und halte die Hand übers Glas, als Andy erneut den billigen Fusel hineinkippen will. »Gib mir irgendetwas, wovon ich nicht erblinde, bitte.«

»Wird schwer, aber ich gucke.« Mit einem Lächeln schnappt er sich ein Glas, füllt Cognac hinein und gießt mit Cola auf. »Das mochtest du früher.« Schwungvoll stellt er es vor mich. »Als du noch eine von uns warst.«

»Danke.« Ich nippe an meinem Getränk und sehe mich erneut um. Ein paar junge Leute hängen hier ab. Dazwischen sitzt der ein oder andere Quartalssäufer. Wie vor Jahren schon. Nur, dass damals ganze Horden junger Menschen diesen Laden füllten.

»Du hast dich nicht verändert. Trotz deiner Inkognito-Aufmachung dachte ich sofort, dass du es bist. Maren nennst du dich, gell?«

Ich nicke und grinse Andy an. »War wohl besser, mich zu vermummen, wenn mich alle als Königin kennen.«

Gern würde ich ihm ein Kompliment zurückgeben, doch an Andy hat die Zeit sichtlich genagt. Er hat einen kleinen Bierbauch, eine Halbglatze und dazu einige Falten im Gesicht. Zugegebenermaßen lenken seine noch immer wunderschönen braunen Augen von dem Desaster elegant ab.

»Die Königin im Turm, die mal eine von uns war«, sinniert er.

»Genauso wie der Tower mal hierher gehörte.« Ich nicke.

»Für einige junge Leute aus der Siedlung bist du eine Legende, ein Symbol dafür, dass auch einer von uns aus den Plattenbauten bis nach ganz oben kommen kann. Der Tower ist nun die Grenze. Wer es aus dem Viertel schafft, dessen Ende die Ruine seiner Mauern einst war, der ist fein raus und besser dran.«

Ich blinzle Andy erstaunt an, leere das Glas und er schenkt nach. »Das hast du dir ausgedacht.«

»Nein. Wieso sollte ich?« Andy schnaubt. Er presst die Lippen aufeinander. »Ganz ehrlich?«, fragt er mit gedämpfter Stimme, »manchmal habe ich mich gefragt, ob du uns vergessen hast.«

Ich trinke einen Schluck. »Offenbar habe ich das tatsächlich. Doch jetzt sitze ich hier und begreife das gar nicht.«

»Nur zur anderen Straßenseite hättest du gehen müssen, Maren. Dennoch bist du über zwanzig Jahre nicht hier gewesen. Also, was ist los? Hast du Krebs?«

Ich starre Andy an, unwissend, ob ich sauer sein oder in Tränen ausbrechen soll. »Wie kommst du darauf.« Mürrisch leere ich erneut das Glas.

»Ich bin ein guter Wirt, sonst hätte ich nicht seit mehr als zwanzig Jahren meinen Laden. Das ist Menschenkenntnis.« Andy zwinkert. Er hebt das Tablett an, das er mit vollen Gläsern bestückt hat.

Ich beobachte, wie er damit zum Billardtisch geht und die drei jungen Männer bewirtet, die zweifelsfrei aus der Siedlung stammen. Zumindest schließe ich aufgrund ihrer Coolness und ihres Jargons darauf. Zwei von ihnen tragen graue Jogginghosen und weiße Muskelshirts mit dem gleichen Symbol darauf. Der dritte Kerl erregt ein wenig länger meine Aufmerksamkeit. Seine Haare sind leuchtend blond und stylish gelegt, wenn auch für meinen Geschmack ein bisschen viel Gel darin ist. Er trägt eine schwarze Trainingshose, auf seinem Muskelshirt ist ein Emblem, das mir bekannt vorkommt. Ich beobachte voller Wohlwollen seine Bewegungen, die der einer Raubkatze gleichen und bewundere das Spiel seiner Oberarmmuskeln, als er sein Glas anhebt. Kurz darauf nimmt er den Queue in die Hand und setzt zu seinem Stoß an. Jeder Muskel spannt sich bei ihm an. Und als ich ihn so beobachte, auch bei mir. Mein Körper reagiert auf eine Weise, von der ich geglaubt habe, diese Art von Empfindungen und Reaktionen auf einen Mann seien längst verloren. Die Härchen an meinen Unterarmen stellen sich auf, mir wird heiß und kalt zugleich.

Der junge Mann dreht sich um und sieht zu mir, als habe er bemerkt, dass ich ihn anstarre und über ihn nachdenke. Stahlblaue Augen funkeln mich durch seine Brillengläser an. Ich senke betroffen den Blick, denn was gerade geschehen ist, fühlt sich von meiner Seite aus falsch an. Der Mann ist mit Sicherheit jünger als mein Sohn Jaro.

»Ein Hingucker, unser Benny, was?« Andy ist zurück hinter der Theke.

Ich blicke ihn ertappt an. »Benny?«, wiederhole ich, einfach nur, um etwas von mir zu geben.

»Benny hat echt was drauf. Er könnte sich den Weg aus der Siedlung erboxen. Aber ihm rennt die Zeit davon.«

»Inwiefern?«, frage ich verwundert und bemerke nur beiläufig, dass mein Glas leer ist und Andy es erneut auffüllt.

»Er könnte es noch packen, Profiboxer zu werden. Doch er erhält keinerlei Unterstützung von zu Hause. Du kennst das ja.«

Ich nicke und trinke. Und wie ich das kenne. Nicht eine Sekunde möchte ich an das zurückdenken, wozu mich das Leben hier als junges Mädchen trieb.

Andy sieht mir in die Augen. Mit seinem Nicken vermittelt er mir das unheimliche Gefühl, er könne meine Gedanken lesen. Der Wirt räuspert sich. »Sicher hast du deshalb nie wieder einen Fuß in unser Viertel gesetzt. Aber so eine Krebsdiagnose ändert alles.«

Ich starrte Andy an. Bisher habe ich seiner Vermutung keinerlei Raum gegeben. Doch er scheint felsenfest davon überzeugt zu sein.

»Manchmal«, raunt er, »wecken solche Dinge uns auf und wir können plötzlich das Wertvolle vom Unwesentlichen trennen.«

»Aha«, murre ich, verstimmt von seiner Laienpsychologie.

»Frag mich mal. Ich war …«

Am Billardtisch werden Stimmen laut. Einer der Jungs im grauen Jogginganzug schubst Benny. Dieser hebt beschwichtigend die Hände, doch die Diskussion wird heftiger.

»Ey! Macht das draußen untereinander aus, wenn ihr Stunk habt. Verstanden?«, brüllt Andy mit dem Organ eines Grizzlybären.

Mir dröhnen die Ohren.

Der Wirt sieht mich an, zuckt mit den Schultern. »Geballtes Testosteron.« Er mustert mich und schenkt nach. »Willst du nicht endlich mal Kapuze und Kappe abnehmen?«

»Da du mir zu verstehen gegeben hast, jemand erkennt mich hier womöglich, lieber nicht. Ich möchte unerkannt saufen.«

Andy nickt. »Anonymer Alkoholiker. Ich verstehe.« Seinem Gemurmel folgt ein schiefes Grinsen.

»Hast du ’ne Kippe?« Die Frage ist untypisch für mich, denn ich habe seit Jahren nicht geraucht. Der Alkohol ist mir bereits in den Kopf gestiegen und betäubt mir zunehmend die Sinne. Dabei enthemmt er und lockt mich, dem nachzugeben, wonach mir tatsächlich ist. Wie eine Befreiung fühlt sich das an. Ich atme tief durch und unterdrücke einen Schluckauf.

»Bist du schon so blau?« Andy kichert wie ein Schulmädchen, was bei seinem Bass nach einem verschnupften Waschbären klingt.

»Wie kommst du darauf?« Beleidigt verschränke ich die Arme und ziehe einen Schmollmund.

»Wie in alten Zeiten. Immer, wenn du sternhagelvoll warst, hast du einen Schluckauf bekommen, geraucht und diese Schnute gezogen.«

Ich strecke ihm die Zunge heraus, wenn ich auch weiß, dieses Verhalten ist albern und in der Welt, in der ich lebe, völlig unangebracht. Durch meinen Schwips fühle ich mich allerdings, als sei ich wieder zwanzig und könne Bäume ausreißen.

Andy schleudert ein Päckchen Zigaretten vor mir auf die Theke und nickt dem jungen Mann zu, der einen Zwanziger auf den Tresen legt.

»Ist von uns allen. Stimmt so«, sagt der Kerl.

Die beiden Billardspieler unterhalten sich, nachdem sie gezahlt haben, noch mit Benny. Das alles jedoch rückt in weite Ferne, als Andy etwas sagt.

»Kein Wunder, dass ausgerechnet dir das passierte. Du warst immer die süßeste Maus im ganzen Block.« Nach seinen Worten knallt die Seitentür zum Hinterhof ins Schloss. Ich zucke zusammen.

Erbost sehe ich Andy an und schnappe mir das Päckchen. »Das war der hohlste Spruch, den du lassen konntest, du blöder Penner«, zische ich. Verstimmt fummle ich eine Zigarette heraus.

»Sorry. Ich meinte das nett.«

»Das war es aber nicht«, fauche ich sauer.

»Du musst raus«, erklärt Andy seelenruhig.

»Du sagst etwas Blödes und schmeißt mich dann raus?«, nörgle ich und unterdrücke erneut einen Schluckauf.

»Herzchen. Falls du es noch immer nicht kapiert hast: Du bist hier immer willkommen. Aber zum Rauchen musst du raus. So sind jetzt die Regeln. Und …«

»Ja, ja. Ist gut«, murre ich und stehe auf.

»Geh in den Hinterhof, damit dich keiner aus dem Tower sieht.«

»Das hatte ich vor.« Dummerweise sind meine Knie weicher, als ich das erwartet habe, daher schwanke ich nur langsam durch den Raum zur Metalltür. Allerdings bereue ich meine Entscheidung, einen Abstecher ins Andys gemacht zu haben, rein gar nicht. Durch Andy habe ich mich die letzten Minuten fast gefühlt, als habe ich einen Bruder. Meine Angst und mein Schmerz bezüglich dessen, was mir womöglich bevorsteht, sind in den Hintergrund gerückt. Quatschen mit Andy hilft hervorragend, doch anlehnen kann ich mich bei ihm nicht. Danach sehne ich mich allerdings nach wie vor. Seit ich den jungen Mann beobachtet habe, läuft in meiner Fantasie ein Film mit FSK-ab-achtzehn ab. Das ist mir fremd. Ich schiebe diese verwegenen sexuellen Fantasien auf den Alkohol. Angestrengt drücke ich die schwere Tür auf, atme die kühle Stadtluft ein und stelle mich vor die Hauswand neben die Mülltonnen, um die Zigarette anzuzünden.

Ich nehme den ersten Zug und spüre den ungewohnten Rauch in meinen Lungen brennen. Ein Scheppern lässt mich aufhorchen. Männerstimmen raunen Flüche und Drohungen. Ich gehe einen Schritt nach vorn und spähe an den Mülltonnen vorbei zur Rückwand des Innenhofs. Die zwei Kerle in den grauen Jogginganzügen halten Benny an den Schultern fest und pressen ihn mit dem Rücken an die Wand.

Als einer der Angreifer ausholt und Benny in die Magengrube boxt, schwillt mir der Kamm. Greife ich jedoch ein, eskaliert das womöglich in eine unbeabsichtigte Richtung für Benny. Ich kenne die Jungs aus dem Viertel und ihre fiesen Reaktionen nur zu gut.

Einer nimmt Benny die Brille ab, schmeißt sie zu Boden und tritt drauf. Benny wehrt sich mit aller Kraft und verflucht die beiden, dann schlägt ihn einer der Jungs ins Gesicht. Blut läuft an Bennys Mundwinkel herunter. Als er einen weiteren Schlag in die Magengrube kassiert, stöhnt er auf.

Ich ertrage den Anblick nicht mehr. Blitzartig greife ich in meine Hoodietasche, ziehe das Pfefferspray heraus und gehe auf die drei Männer zu.

»Ey, ihr blöden Schwanzlutscher. Das genügt jetzt«, sage ich harsch in ihrem Jargon, damit sie mich genau verstehen. Mit Nettigkeiten komme ich bei dieser Sorte nicht weiter.

»Sagt wer? Du kleine Schlampe?«, zischt einer der Kerle. Dabei wird er jedoch unachtsam. Benny gelingt es, seinen Arm zu lösen und dem zweiten Kerl einen Kinnhaken zu verpassen. Die beiden geraten in ein wildes Gerangel, während der andere auf mich zukommt.

»Na? Was haste da? Haarspray? Komm, Miststück. Zeig es mir! Erst machen wir Benny fertig, dann dich.«

Ich kann mich kaum beherrschen. Längst verbannte Erinnerungen kriechen in mir empor und greifen mit kalter Hand nach mir. Damals, die Nacht, in der Jaro gezeugt wurde. Ich spüre den festen Griff um meine Kehle, seine weichen Hände, die gierig meine Hose herunterziehen und schreie mit aller Kraft, was ich mir damals verwehrte: »Nein!«

Gleichzeitig gehe ich nach vorn, denn ich habe gelernt, nicht mehr aus Angst zurückzuweichen. Als mir mein Gegenüber die Dose aus der Hand schlagen will, drücke ich ab und er bekommt eine Ladung des Pfeffersprays direkt ins Gesicht. Ich drehe den Kopf zur Seite und mache einen Satz zurück, um nicht Reste einzuatmen. Jemand packt mich am Bein, ich stürze und trete mit dem freien Fuß blitzschnell mehrmals zu, bis der Griff sich lockert und ich aufspringen kann. Wohlwollend bemerke ich, mein Training zahlt sich aus und ich bin trotz meiner Angst und geringen Körpergröße kein wehrloses Ziel.

Einer der beiden Jungs liegt murrend am Boden. Benny steht mit dem Rücken zu mir und geht einen Schritt rückwärts. Erst jetzt wird mein Blick frei auf den anderen Kerl, der ein Messer gezogen hat und auf Benny zukommt.

»Verzieh dich, du Wichser«, brülle ich und trete aus Bennys Schatten.

»Du dreckige Bitch! Hast du etwa Pfefferspray? Na warte!« Der Typ springt auf Benny zu, das Messer schnellt mit seiner Hand nach vorn. Geistesgegenwärtig strecke ich den Arm aus, obwohl alle meine Sinne auf Flucht stehen. Ich sprühe an Benny vorbei mit dem Spray.

Ein Schlag trifft mich völlig unvorbereitet mit außerordentlicher Härte auf den Brustkorb. Ich strauchle, als sei ich mit vollem Schwung vor eine unsichtbare Schranke gelaufen. Mein Atem entweicht mit einem Keuchen aus meinen Lungen und ich werde rücklings auf den Boden geschleudert.

Ich höre Flüche, Schläge, Stöhnen und das Abrollgeräusch von Schuhen, unfähig, mich zu bewegen, so sehr ringe ich noch immer nach Luft. Jemand beugt sich über mich und ich hebe mit zitternder Hand erneut das Spray, unwissend, ob ich überhaupt eine Ladung übrig habe.

»Die brauchst du nicht mehr. Oder willst du mir damit auch noch eine verpassen?«

Ich erkenne Bennys Stimme. Er hustet und ich blinzele ihn an. Offenbar hat auch er ein wenig meines zweiten Sprühstoßes abbekommen, seine Augen sind leicht gerötet und Tränen rinnen über seine Wangen.

Er streckt mir helfend die Hand entgegen. Ich ergreife sie und stehe auf. Tief atmend verharren wir voreinander. Mein Körper steht völlig unter Strom. Adrenalin schießt noch immer durch meine Adern, der Alkohol vernebelt mir zusätzlich die Sinne. Ich hebe die Hand und streichle durch sein wundervoll blondes Haar, das vom Kampf zerzaust ist, während ich Benny in die Augen sehe. »Bist du okay?«, erkundige ich mich mit dünner Stimme.

»Dank dir bin ich okay«, raunt er. »Ich kann kaum etwas sehen. Die Ärsche haben meine Brille zerfetzt und dein Spray gibt mir den Rest.« Er legt die Hand an meine Kapuze und zieht sie herunter. Meine Kappe fällt zu Boden. Doch das ist unwichtig. Benny sieht mich mit einem Blick an, wie ich ihn lange bei keinem Mann mehr sah. Seine Hand ruht auf meinem Hinterkopf.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht zu hart weggeschubst, aber der Drecksack sollte dich nicht mit dem Messer erwischen.« Er nimmt eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger und lässt sie hindurchgleiten. »Du hast weiches Haar«, wispert er mit heiserer Stimme und grinst unverschämt lüstern.

»Du warst das? Der Schlag fühlte sich an, als wäre ich vor eine Mauer gerannt«, sage ich leise. In Zeitlupe lasse ich meine Hand seine Wange hinabgleiten und streichle behutsam über seinen Oberarm. Noch immer keuchend von dem Schlag vor meinen Brustkorb, muss ich laut schlucken.

Benny sieht mich vermutlich gar nicht richtig. Gerade hat er es angedeutet. Kein Mann seines Alters würde sich zu mir hingezogen fühlen. Doch ich spüre seine stählernen Muskeln unter meinen Fingern und brenne für ihn. Die Situation verstärkt, was ich bereits seit dem ersten Anblick empfinde. Seine Hand in meinem Genick ist unerträglich sexy. Ich halte seinem Blick stand. Mein Körper beginnt zu zittern und meine Knie werden weich, als er mich nicht mehr aus den Augen lässt.

»Du hast mich gerettet«, raunt er. Er beugt sich zu mir und als ich keine Anstalten mache, zurückzuweichen, berühren seine Lippen meine.

Ich stöhne, öffne den Mund, als ich seine Zunge spüre und bin so passiv wie ein Teenagermädchen beim ersten Kuss. Benny macht mich in dieser Situation auf körperliche Weise derart an, dass ich spüre, wie ich feucht werde. Doch ich will mir das nicht eingestehen und möchte das nicht zulassen.

Er unterbricht den Kuss und neigt den Kopf. »Sorry. Ich hatte das Gefühl, du willst das auch. Aber …«

»Ist schon gut«, krächze ich. Um mich auf Distanz zu halten, lege ich meine Finger auf seine Brust. Das allerdings erweist sich als großer Fehler, denn er führt seine Hand auf meine.

Benny beugt sich zu mir. Unsere Wangen berühren sich. Er atmet so tief ein, als wolle er meinen Geruch aufnehmen. Ich drohe vor Anspannung zu zerbersten, während er sich an meinem Hals festsaugt und seine Zunge heiß über meine Haut tanzen lässt. Ich kann nicht anders als leise aufzustöhnen.

Tief atmend schmiegt er seine Wange erneut an meine.

»Du riechst und schmeckst wie eine Prinzessin«, stellt er fest.

Ich erschaudere unter einer Gänsehaut, unfähig ihm zu antworten. »Du hast einen Wunsch frei. Geld habe ich keins. Aber ich mache heute Nacht alles, was du willst.« Blitzartig gleitet seine Hand auf meinen Po, er zieht mich an sich. Sein Glied pocht durch den dünnen Stoff unserer Trainingshosen an meiner Scham. Diese Berührung enthemmt mich. Wir sind Mann und Frau, egal, wie viele Jahre zwischen uns liegen. Er will mich und ich ihn. Ob dieses Verlangen nun der Situation und dem Alkohol zu schulden ist, ist mir egal. Er hat mir ja keinen Antrag gemacht. Vielleicht hat Benny genau das zu bieten, wonach mir gerade der Sinn steht.

»Schlaf mit mir«, presse ich hervor, was ich in diesem Augenblick begehre.

»Ich soll dich ficken?«, vergewissert er sich in seinem Jargon.

»Ja«, flüstere ich mit zittriger Stimme, abwägend, ob ich seinem Tonfall Hohn oder gar Abneigung entnehmen kann.

»Wo? Hier?«, fragt er amüsiert, wobei ich keine Zweifel hege, dass er auch dazu bereit wäre, wenn ich darum bitte.

»Nicht im Hinterhof«, murre ich.

»Hast du Kohle fürs Hotel?«, flüstert er in mein Ohr.

Bei dem Gedanken, mit Benny als Begleitung und in meiner Aufmachung durch den Haupteingang in den Tower zu spazieren, stehen mir die Nackenhaare zu Berge. Der Seiteneingang ist ganz tabu, da steht immer einer der Wachleute. »Ich habe auch keine Kohle«, lüge ich.

»Was solls. Na komm.« Benny nimmt mich an die Hand und ich folge ihm einen der unbefestigten, schmalen Pfade zwischen den Häusern entlang. Unter unseren Schuhen knirscht das Glas zerbrochener Flaschen. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass hier auch Nadeln und andere Hinweise auf Drogenkonsum zu entdecken sind. Ich bemühe mich, nicht in die grasbewachsenen Seitenränder des Trampelpfades zu treten und lasse mich mit pochendem Herzen von Benny leiten. Andy werde ich morgen entlohnen. Wenn er mich mit Benny sieht, kommt er nur auf dumme Gedanken.

Als wir auf eine der ungepflegten und unter der sommerlichen Trockenheit leidenden Grünflächen zwischen den Plattenbauten gelangen, stoppt Benny, stellt sich hinter mich und legt die Arme um meine Schultern. »Danke für deinen Mut«, raunt er. »Ich glaube, die wollten mich kaltmachen.«

»Gern«, flüstere ich und schmiege meine Wange an seinen Oberarm.

»Du bist krass seltsam. Bist du neu hier?«, fragt er.

»Ja«, lüge ich.

»Und du willst das echt?«, erkundigt er sich.

»Ja«, sage ich erneut, weil ich Angst habe, je mehr er mich sprechen hört, desto schneller könnte er bemerken, dass er womöglich der ist, der nicht will.

Benny schiebt seine Hand unter meinen Hoodie und streichelt mir zärtlich über den Bauch.

»Sieh dir die Sterne an«, schwärmt er. »Richtig geil hell heute Nacht.«

Er umfasst eine meiner Brüste, die der Sport-BH umhüllt und küsst meinen Hals. Ich stöhne leise, glaube vor Sehnsucht, seinen nackten Körper an meinem zu spüren, gleich zu vergehen.

Flink gleiten seine Finger unter meinen Hosenbund, bis in mein Höschen.

»Bist du etwa ganz rasiert?«, raunt er.

Ich erschaudere, als er mit der Hand forschend zwischen meine Schenkel gleitet. »Da steh ich drauf. Ich zeige dir gleich warum.«

Bennys Finger tauchen tief in meine Feuchtigkeit. Er berührt mich an meiner empfindlichsten Stelle und meine Schenkel erzittern.

»Fuck. Ich weiß nicht, ob ich schon mal so gefühlt hab, wie sehr mich eine will.«

»Ich …«, stammle ich verlegen, »habe das so noch nie getan.«

»Ich auch nicht. Die anderen Bitches wollen immer, dass ich so tu, als liebe ich sie bis ans Ende meiner Tage. Suchst du das?«

»Nein.« Ich atme schwer, als er mir seine Hand entzieht. »Ich will dich spüren. Heute Nacht. Das wars. Ich schwöre.«

»Na, dann komm.« Benny zieht mich in den Eingang des nächsten Plattenbaus. »Fast schade. Ich mag dich irgendwie. Vielleicht hätte das was werden können. Du hast Mut und bist kein Klammeräffchen.«

Ich antworte ihm nicht. Was soll ich auch sagen?

Im Fahrstuhl knutschen wir leidenschaftlich herum, ich meine Hand in seinem Schritt und er seine an meinem Hintern. Mittlerweile bin ich so benebelt und gleichzeitig auf Wolke sieben, dass ich nichts mehr außer ihm wahrnehme. Wir betreten eine Wohnung, hasten über den Flur. Er schließt die Tür. Das Zimmer ist finster, ich spüre das Laken unter mir, helfe ihm, sich die Kleider vom Leib zu reißen und warte sehnsüchtig darauf, dass er sich zu mir gesellt. Doch er kramt irgendwo herum.

Ich bin kurz davor, genervt zu sein, als er meine Knie packt und meine Beine spreizt. Benny mag viele Jahre jünger sein, aber schüchtern ist er wahrlich nicht. Ich spüre seine Lippen an meiner Scham. Das Kitzeln seiner Zunge raubt mir den Verstand. Verzückt vergrabe ich meine Finger in seinem Haar, genieße das Beben meines Körpers, der unter der ungewohnten Berührung bereits nach kurzer Zeit wie ein Feuerwerk explodiert.

Hämisch denke ich daran, dass Theo in dieser Sache vermutlich bis heute untalentiert ist. Nachdem ich heftig gekommen bin, grinst Benny mich in der schwachen Beleuchtung zufrieden an und möchte auf mich kriechen, doch das lasse ich nicht zu. Ich deute ihm an, er soll sich auf den Rücken legen.

Bebend voller Lust sehe ich im schwachen Licht in das Gesicht des jungen Mannes. Er ist wunderschön, sein Körper makellos und durchtrainiert. Mit den Fingerkuppen streichle ich voller Bewunderung über seinen muskulösen Brustkorb, spüre, wie er erschaudert. Ich zeichne mit dem Zeigefinger seinen Bauch hinab und berühre zart wie eine Feder seine Leiste. Zu meiner Freude keucht Benny bei der flüchtigen Berührung auf. Er ist eben doch nicht so abgebrüht, wie er sich gibt.

Ich fasse mit der Hand um seinen Schaft, umschließe die Spitze mit meinen Lippen, während ich sanft darüber lecke. Die Hand in Bewegung, erzeuge ich in meinem Mund einen leichten Unterdruck. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt eine solche Lust empfand, dass ich durch das Keuchen eines Mannes erregt wurde. Ich lausche Bennys sinnlichem Stöhnen, das mich anheizt, den Unterdruck zu erhöhen und ihn tiefer in meinen Mund aufzunehmen. Ich weiß nicht mehr, wann ich diese Variante mit meinem Mann einmal praktiziert habe. Vielleicht gar nicht. Mit Jaros Vater womöglich schon. Doch da war es niemals lustvoll, zumindest nicht für mich.

Nur noch wenige meiner Bewegungen genügen, um meinen jungen Freund zur Explosion zu bringen. Benny atmet scharf ein und spannt sein Becken an. »Stopp das«, raunt er und legt seine Finger in mein Haar.

Ich unterbreche den Blowjob, da er offenbar noch anderes im Sinn hat. Das möchte ich für nichts in der Welt verpassen.

Er dreht mich auf den Rücken und legt sich kurz darauf auf mich. Willig empfange ich ihn, schlinge meine Beine um seinen Unterleib, als er mich ausfüllt. Benny stöhnt auf und hält inne. Ich spüre, dass er ein Kondom übergestreift hat, und genieße unbeschwert den Augenblick. Er nimmt sich zurück, was mir einheizt und ihm noch mehr Sex-Appeal verleiht.

Langsam beugt er sich zu mir, küsst mich voller Leidenschaft. Dann schmiegt er sein Gesicht an meinen Hals und verwöhnt mich mit einigen langsamen Stößen. Ich klammere mich mit einer Hand an seinen muskulösen Rücken und streichle mit der andern seinen Haaransatz.

»Fuck«, entfährt es Benny plötzlich. Er hebt den Kopf und küsst mich erneut so intensiv, dass mein Unterleib allein schon durch diese Berührung erbebt.

»Das ist unfair«, raunt er in mein Ohr.

»Was meinst du?«, frage ich verwundert.

»Du fickst nicht«, sagt er.

»Aber«, stammle ich. Seine Bemerkung ist frech. »Was sonst …«

»Was du mit mir machst, fühlt sich wie Liebe an. Mit jeder Faser. Das ist gefährlich. Ich weiß nicht einmal deinen Namen«, flüstert er. Benny bäumt sich auf, ich lege meine Hände in seinen Nacken und spanne das Becken an. Er kommt keuchend so heftig, dass ich ihn deutlich in mir spüren kann. Niemals zuvor habe ich einen solch intensiven Genuss bei einem Mann beobachtet. Er zittert am ganzen Körper, als er neben mir auf die Laken sinkt und mich in seine Arme zieht.

»Wir haben ein Problem«, flüstert er.

»Welches?«, wispere ich erschrocken und denke an die Verhütung.

»Ich möchte dich wiedersehen.«

»Es ist wunderschön mit dir. Schlaf jetzt, Benny«, lenke ich ab.

Er küsst meinen Hals und streichelt meinen Körper voller Hingabe, während ich in seinen Armen liege und Dank meines vernebelten Verstandes einfach nur genieße, dass ich mich geborgen fühle, angeschmiegt an diesen kraftvollen, jungen Körper.

 

02 Zurück

 

Ich öffne die Augen und werde von einigen Sonnenstrahlen geblendet. Mein Kopf dröhnt, mein Mund ist trocken. Ich spüre den warmen Körper, der sich an mich schmiegt, und halte den Atem an, da ich keine Ahnung habe, wo ich bin und mit wem. So sehr ich mich anstrenge, mir fehlt ein gewaltiges Stück Erinnerung an letzte Nacht.

Behutsam löse ich mich aus der Umarmung und setze mich auf. Der Blick aus dem Fenster lässt meinen Atem stocken. Alles andere tritt in den Hintergrund. Angst steigt in mir auf, dass ich aus einem sich endlos anfühlenden Traum erwacht bin und meinem Gefängnis niemals wirklich entkam. Mit rasendem Herzen sehe ich den Mann im Bett an und bekomme feuchte Augen. Benny, der blutjunge Boxer, den ich gestern im Andys traf, schläft selig neben mir. Bei seinem Anblick kehren Erinnerungsfragmente zurück, mit ihnen die Angst vor der möglichen Krebsdiagnose.

Zugleich schäme ich mich, Benny verführt zu haben. Aber ist das so? Er küsste mich, bevor ich glasklar formulierte, wonach mir der Sinn stand. Ich betrachte ihn. Er liegt auf der Seite, die Decke ist heruntergerutscht und sein rechter Arm ruht dort, wo ich zuvor lag. Benny mag jung sein, doch rein körperlich spricht er mich als Mann an. Ungeachtet dessen ist er kein Vergleich zu meinem Sohn Jaro, der sicher gern ein bisschen mehr wie Benny gebaut wäre. Jaro ist ein dünner und schlaksiger Kerl, der manchmal noch heute seinen Ausweis vorzeigen muss, weil keiner glaubt, er sei schon älter als achtzehn.

Abgesehen davon, wird Benny mich nicht wiedersehen. Wir hatten Spaß für eine Nacht. Auch, wenn ich gern mehr dieser Begegnungen hätte, kommt das überhaupt nicht infrage, schon allein deshalb, weil das für ihn nicht gut wäre.

Ich reiße mich von seinem Anblick los und sehe wieder hinaus. Die Plattenbauten wirken trotz des warmen Morgenlichts in ihrem verdreckten Grau bedrohlich und erdrückend. Die Armut der Bewohner spiegelt sich in den gammligen Balkonausstattungen, den verrosteten Satellitenschüsseln und den ungepflegten Ecken.

Ich kenne die Sprüche und Fragen der Privilegierten, Armut müsse doch nicht mit ungepflegt sein und gammligem Umfeld einhergehen. Das sei ein Zeichen dafür, dass diese Menschen sich tatsächlich nicht verbessern wollen. Diese Aussagen kommen allerdings nur von Personen, die selbst nie in einer solchen Situation waren. Keiner weiß besser als ich, wie es sich anfühlt, sich selbst für wertlos zu halten, ohne Aussicht auf Besserung, ohne Unterstützung der Eltern und ohne Zugang zu Bildung, weil durch Unwissenheit auch diese Tür zufiel, bevor einem ihr Nutzen und die Wichtigkeit bewusst wurde.

Noch bevor ich so alt war wie Benny, hegte ich die Hoffnung, wenn ich mich attraktiv gab, durch mein Äußeres einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Tatsächlich war es so, wenn auch die Ereignisse von düsterer Natur waren. Letztlich verkaufte ich meine Seele an einen Kerl mit Geld und Macht. Würde ich Benny in mein Leben lassen, liefe ich Gefahr, die Person zu sein, der er sich als Opfer darbringt. Hinzu kommt der schrecklich große Altersunterschied. Schmachtend sehe ich ihn erneut an. Doch wie ich es auch drehe und wende. Er und ich – das kommt überhaupt nicht infrage.

Ich stehe auf und schlüpfe in meine Jogginghose. Aus meinem Hoodie rutscht das Mobiltelefon heraus und blinkt. Ich sehe siebenundsechzig unbeantwortete Anrufe, unzählige Nachrichten und Mails. Kein Wunder, denn ich werde seit gestern neunzehn Uhr vermisst. Glücklicherweise ist mir das heute Morgen auch ohne Drogenrausch egal.

Neugierig schaue ich mich im Zimmer um. Benny hat Ordnung. Bis auf die Kleidung von letzter Nacht liegt nichts herum, dennoch hängt im aufgeräumten Raum ein stickiger Geruch, der nicht von Benny ausgeht. So nah, wie wir uns waren, weiß ich, an ihm gibt es kein ungekämmtes Haar.

Grinsend denke ich an seinen sauber rasierten Intimbereich und betrachte die aufgeschlagenen Bücher auf dem winzigen und abgenutzten Kiefernholzschreibtisch. Sie sind die Bestätigung für meine Theorie: Benny versucht offenbar, seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Für einen ersten Versuch ist er nicht jung genug. Ich entdecke den Schimmel in der Zimmerecke, der schwarz die Tapete hochkriecht und erschaudere. Mein Blick schweift zurück zu meinem schlafenden Liebhaber. Benny ist ein wunderschöner Mensch. Der junge Brad Pitt der Plattenbausiedlung. Auch die wenigen seiner Charakterzüge, die ich gestern kennenlernte, haben mich fasziniert. Er ist ein charmanter Draufgänger, der sicher jede hier im Viertel haben kann. Wie gern würde ich ihm helfen, aus dieser sozialen Falle zu entrinnen. Doch wie sollte ich das nach dieser Nacht anstellen, ohne komplizierte Gefühle und Verwicklungen heraufzubeschwören? Ich möchte mich ohrfeigen für meine Dummheit. Hätte ich, statt meinem körperlichen Verlangen nachzugeben, Benny gestern auf einen Kaffee eingeladen, stünden mir nun alle Türen offen. Stattdessen lande ich mit einem Mann im Bett, der vermutlich jünger ist als mein Sohn.

Fluchtartig ziehe ich den Hoodie über, knipse ein Erinnerungsfoto des schlafenden Bennys und schaffe es geradeso, ihn nicht doch auf seine warmen Lippen zu küssen. Mit vor Trennungsschmerz pochendem Herzen trete ich leise in den Flur der Plattenbauwohnung. Essensgeruch nach altem Fett und Zwiebeln vermischt sich mit Zigarettenqualm und aufgebrühtem billigen Kaffee. Letzte Nacht ist mir der Gestank nicht aufgefallen. Im Flur steht ein Müllsack zwischen allerlei Kartons, daneben leere Schnapsflaschen und ein paar abgewetzte rosa Hausschuhe. Mein Herz rast los, denn erst jetzt wird mir klar, ich bin in der Wohnung von Bennys Eltern und soeben aus seinem Kinderzimmer gekommen. Ich haste zur Haustür, drücke eilig die Klinke herunter. Die Tür ist verschlossen, der Schlüssel steckt. Als ich ihn im Schloss drehe, klirrt der Anhänger daran.

»Benny?«, brüllt eine kratzige, von Alkoholismus und Zigarettenkonsum geprägte, Männerstimme.

Ich reiße die Tür auf.

»Benny! Bring mir Kippen vom Büdchen mit«, kräht er.

Ich knalle die Tür zu und hechte zum Aufzug. Verängstigt sehe ich immer wieder zur Wohnungstür und befürchte, Benny folgt mir. Oder noch schlimmer: Sein Vater entdeckt mich. Ich habe nicht länger die Nerven zu warten. Als sei ich auf der Flucht, stürze ich ins Treppenhaus und renne die Stufen hinunter.

Ich haste auf den Gehweg und sehe mich gehetzt um. Die hohen Häuser wirken auf mich, als schwanken sie in meine Richtung, um sich auf mich zu stürzen. Ich erinnere mich, aus welcher Richtung wir kamen, renne los und stoppe erst in der Lobby des Towers. Während ich mit der Kapuze auf dem Kopf, auf den Aufzug warte, holt Ricky mich ein.

Er räuspert sich neben mir. »Entschuldigen Sie bitte«, sagt er streng. »Sind Sie als Gast hier?«

Ich hebe den Kopf und mustere den Chef unseres Wachpersonals mit kritischem Blick.

Er blinzelt irritiert, schlägt sich die Hand vor den Mund und reißt erschrocken die Augen auf.

»Alle Welt sucht nach Ihnen, Chefin. Was ist Ihnen zugestoßen?«

»Ich war joggen«, murre ich.

Ricky bekommt vor Aufregung und Anstrengung rote Wangen. Ihn so abzufertigen, ist inakzeptabel. Immerhin ist Ricky einer der wenigen Menschen, denen ich vertraue, wenn ich ihn auch schon länger weitestgehend auf Abstand halte.

»Danke, Ricky. Mir geht es gut. Ich habe mir spontan eine Auszeit genommen, ohne mir Gedanken über die Auswirkungen zu machen. Ich regle das gleich. Sie machen einen exzellenten Job.« Ich nicke, wohl wissend, jegliche Aufmerksamkeit des Towerpersonals in der Lobby ist auf uns gerichtet.

Die Aufzugtür springt auf. Glücklicherweise bin ich der einzige Fahrgast. Ich trete ein und nicke Ricky zu, der mich nun auf seine gewinnende Art anlächelt und ebenfalls nickt.

Die Tür schließt sich. Vielleicht hätte ich den privaten Aufzug auf der Rückseite des Towers nehmen sollen, doch die Gefahr, allein auf Ricky zu treffen, und ihm schon am frühen Morgen Rede und Antwort zu stehen, war mir zu groß. Angespannt gebe ich die PIN für die Dachgeschosswohnung ein und atme tief durch. Ab jetzt bin ich wieder Maren Schweers, Hoteleigentümerin, Firmenchefin, Geschäftsfrau und …

»Mutter!«, ruft Jaro, als ich die Wohnung betrete. »Wo zur Hölle bist du gewesen und wie siehst du überhaupt aus?«

Ich trete stumm in den Flur und mustere ihn. Dass er in der Dachgeschosswohnung lauert, wenn ich verschwinde, war mir klar. Dennoch habe ich einen Funken Hoffnung gehegt, allein zu sein.

»Wir sind vor Sorge gestorben«, knurrt er.

»Ich habe Zeit für mich benötigt«, sage ich so lapidar, als sei ich lediglich zwanzig Minuten zu spät dran.

»Zeit für dich? Hast du auch nur eine Sekunde an mich gedacht oder an Vater?«, blafft er.

Ich mustere meinen Sohn müde. Alles dreht sich nur um ihn. Vielleicht habe ich bei seiner Erziehung auf ganzer Linie versagt, oder aber er ist das Opfer seiner Gene. Mit jedem Tag, den er älter wird, ähnelt er Armando Figueroa mehr. Ich fühle mich an manchen Tagen, als grinse mich mein Peiniger feist durch die Visage unseres Sohnes hinweg an. Dabei weiß Jaro nicht, was vorgefallen ist. Er hält Theo für seinen Vater. Wobei er längst hätte begreifen müssen, dass an dieser Geschichte etwas nicht passt. Wäre Jaro nicht das Opfer seiner Arroganz, müsste er nur über die Straße ins Andys gehen, dort würde er die Geschichte der Königin hören, die sich mit dem finsteren Drogenboss Armando einließ, der sie in den Turm sperrte, bis ihr schwanger die Flucht gelang.

Doch die Königin verzichtete auf ein Verfahren, nahm den Drogenboss finanziell aus und vertrieb ihn aus der Stadt. Zumindest damals dachte ich, das sei clever und schade ihm. Armando einigte sich außergerichtlich mit mir auf Schadenersatz, und ich band mich an das Haus, in dessen Kellerräumen er mich einst festhielt. Ich ließ mich einzig dadurch auf diesen Deal ein, weil dort unten etwas ist, das sowohl in Armandos als auch in meinem Interesse niemals ans Licht kommen sollte. Theo ist der Einzige, der dieses Geheimnis kennt. Das hat uns all die Jahre zusammengeschweißt. Allerdings schließt diese Sache auch aus, den Tower zu verkaufen. Für mich ist er jedoch ein Zeichen meiner Stärke. Da ich Jaro jeden Tag ansehen muss, kann ich vor meiner Vergangenheit ohnehin nicht davonlaufen.

»Nicht einen Augenblick«, antworte ich wahrheitsgemäß, als ich an ihm vorübergehe. Verflucht, ich glaube, er riecht mittlerweile sogar wie Armando.

»Fick dich«, zischt er, bevor ich die Badezimmertür hinter mir schließe.

Tränen rinnen über meine Wangen. Ist mein Leben nicht verkorkst genug? Benötige ich dazu noch diese schauerliche Verdachtsdiagnose? Ich ziehe meine Kleidung aus und betrachte mich im Spiegel. All mein Gesundheitswahn und mein Sport lassen mich aussehen wie Mitte dreißig. Doch was ist es wert, zehn Jahre jünger zu wirken? Warum umarmt mein Sohn mich nicht, wenn er mich gesucht hat, und glaubte, mir sei etwas zugestoßen? Warum möchte ich ihn nicht umarmen? Und warum will ich meinem eigenen Mann nichts über meine gesundheitlichen Probleme erzählen?

Ich hebe den Arm und schnuppere an meiner Haut. Bennys Geruch haftet an mir und fühlt sich in diesem Augenblick wie ein Schutzschild an. Ich lege die Arme um meinen Oberkörper, schließe die Augen und erinnere mich an die Geborgenheit, die ich in seinen Armen empfand. Diese Stunden waren wie Balsam für meine geschundene Seele. Ich verpacke sie gedanklich in eine gläserne Kugel, die wie eine Seifenblase schillert. So kann ich sie immer ansehen, aber nicht mehr daran anknüpfen. Unter der Dusche schwindet Bennys Geruch und ich schmiede Pläne, wie es in meinem Leben ohne ihn weitergeht.

Jaro ist verschwunden, als ich zurück in die Wohnung komme, also fahre ich zwanzig Etagen tiefer in den zwölften Stock. Dort befindet sich mein Büro. Ich setze mich mit einem Kaffee an den Schreibtisch.

Die Tür fliegt auf und Theo stürmt herein. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, schreit er mich an.

»Guten Morgen«, sage ich ruhig.

»Warum meldest du dich nicht?« Theo fährt sich durch sein angegrautes Haar und zuckt die Schultern, während er mich mustert.

»Ich habe mir beim Joggen den Fuß verstaucht, bin in die Kneipe gehumpelt und hab ein paar Gläser zu viel getrunken. Also habe ich in einem von Andys Gästezimmer geschlafen, damit mich keiner so sieht. Das wars schon.«

»Und dein Mobiltelefon?« Theo schüttelt den Kopf, mustert mich argwöhnisch. »Hast du dich mit Jaro ausgesprochen?«, erkundigt er sich.

»Nein. Das wird auch noch eine Weile so bleiben«, murre ich.

»Gut. Dann sind wir uns einig, dass er dieses Auto nicht bekommt.« Theo nickt.

»Zumindest nicht, so wie er sich gerade verhält.«

»Dann arbeite ich jetzt.« Mein Mann öffnet die Tür und geht hinaus.

»Gut«, murmle ich verstimmt. Mir ist nach Heulen zumute. Ich weiß nicht, wann meine Beziehung zu Theo sich in eine Eiswüste verwandelt hat. Seit Jahren stürze ich mich so in Arbeit, dass ich diese Situation nicht bewusst wahrgenommen habe. Heute ist die Erkenntnis über den Zustand meiner Ehe wie ein Schlag ins Gesicht. Ich ziehe die Postmappe heran und öffne sie. Während ich auf die Buchstaben des ersten Dokuments sehe, verschwimmt alles vor meinen Augen.

Ich spüre Bennys Lippen an meiner Wange. »Das ist unfair«, raunt er in mein Ohr. »Du fickst nicht. Was du mit mir machst, fühlt sich wie Liebe an.«

Ich schüttle den Kopf, atme stoßweise und presse mir die Hände auf die Ohren. Benny spricht einfach weiter in meinem Kopf. »Mit jeder Faser. Das ist gefährlich. Ich weiß nicht einmal deinen Namen.«

Nur mühsam verdränge ich die Erinnerung, klappe die Mappe zu und öffne eine E-Mail an meinen Arzt, zwecks Vereinbarung eines weiteren Termins. Erst wenn ich über meinen Gesundheitszustand mit Sicherheit Bescheid weiß, kann ich wieder klar denken. Vielleicht sollte ich mir tatsächlich ein wenig Pause vom Schreibtisch gönnen und mich den Dingen widmen, die ich lange vernachlässigt habe.

»Lassen Sie mich durch«, brüllt ein Mann vor meiner Bürotür, als ich die E-Mail an meinen Arzt absende.

Ich zucke erschrocken zusammen.

Die Tür wird aufgerissen. Andy stürmt herein, gefolgt von Beate, meiner Sekretärin.

»Verdammt noch mal, Maren! Sag denen, dass ich zu dir gehöre!« Andy wedelt mit meiner Baseballmütze in der Luft herum, bis Ricky ihn am Arm packt.

Blitzschnell liegt Andy zappelnd auf dem Bauch am Boden und Ricky legt ihm Handschellen an.

»Stopp!«, sage ich energisch. Alle halten inne und starren mich an. »Lass um Himmels Willen den Mann los. Was ist nur in euch gefahren?«

Beate sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an, schüttelt verstimmt den Kopf und geht. Ricky öffnet die Handschellen und lässt Andy unter strenger Beobachtung aufstehen. »Er stürmte in das Hotel, als ginge es um Leben und Tod. Verzeihung«, erklärt Ricky.

»Verfickte Scheiße, das dachte ich auch! Ihr Pisser gebt mir ja keine Auskunft, wenn ich mich nach Maren erkundige.«

Ricky sieht mich an und ich nicke. Kurz darauf sind Andy und ich allein im Zimmer.

»Krasser Ausblick.« Mit offenstehendem Mund tritt Andy an die Fenster. »Durch die Bäume sieht man die grässlichen Plattenbauten kaum. Nur den Eingang zum Andys.«

»Dennoch sind sie da.« Ich sinke seufzend auf meinen Stuhl und will Andy fragen, was er hier will. Dann fällt mir der Grund ein. »Sorry. Ich habe meine Zeche geprellt«, sage ich kleinlaut, ziehe meine Schreibtischschublade auf und suche meine Geldbörse.

Andy neigt den Kopf, verstimmt sieht er mich an. »Bist du echt so ’ne blöde Kuh? Oder ’ne Bitch, wie die Jungs heute sagen?«

»Weil ich die Zeche geprellt habe? Ich entschuldige mich auch gern noch mal und zahle dir Zinsen für deine Mühe, mich aufzusuchen.«

Andy schüttelt den Kopf und sieht mich traurig an, dabei wedelt er mit der Kappe. »Du bist zum Rauchen raus. Ich hörte einen Tumult und ging nachsehen. Auf dem Boden war Blut, deine Kappe lag da. Dich hatte der Erdboden verschluckt. Tausend Tode bin ich gestorben. Ich hab sogar die Bullen angerufen, aber die wollten nix machen. Die haben mir wohl nicht geglaubt. Dann rief ich Benny an, und der ging nicht ran. Da hatte ich noch mehr Schiss.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und senke den Blick. »Das tut mir echt leid. Ich war so blau, dass ich gar nicht auf den Gedanken kam, ich könnte so etwas auslösen.«

»Bist du denn okay?« Andy klingt versöhnt.

Ich nicke. »Bin ich. Danke.«

»So aufgemotzt in den Schickimicki-Klamotten hätte ich dich nicht erkannt«, sagt Andy grimmig.

»Dabei war ich früher auch immer aufgepimpt.« Ich lächle sanft.

»Und Benny?«, erkundigt sich Andy.

»Was soll mit Benny sein?«, stammle ich ertappt.

»Ich dachte, er war an dem Tumult beteiligt und hat dich vielleicht beschützt und nach Hause gebracht. Benny ist ein toller Junge. Ich hoffe echt, die haben ihn nicht gerippt.«

Ich beschließe, Andy einen Teil der Story von letzter Nacht zu erzählen, in der Hoffnung, er fragt dann nicht weiter bei Benny nach.

»Die Jungs hatten ihm wohl aufgelauert und haben ihn geboxt, aber Benny konnte sich wehren, als sie durch mein Erscheinen abgelenkt wurden. Er hat sie in die Flucht geschlagen. Dass ich meine Kappe verlor, hab ich gar nicht bemerkt. Ich war voll. Benny brachte mich nach Hause.« Ich staune, wie gut die Lüge sich anhört, wenn ich weglasse, wessen Zuhause es war.

»Guter Junge. Sag ich doch. Wenn du ’ne Möglichkeit hättest, jemanden zu unterstützen, wäre er das wirklich wert.«

»Wie meinst du das?«

»Das können wir ja mal bequatschen bei einem Scheißegal. Jetzt bin ich erst mal froh, dass es dir gut geht.« Andy nickt zufrieden, als die Tür erneut aufgerissen wird und Theo hereinplatzt.

»Ah. Sie müssen der Mann sein, der meine Frau letzte Nacht beherbergte. Ich danke Ihnen im Namen der Familie.« Theo drückt Andy einen Hunderter in die Hand. »Diskretion versteht sich sicherlich von selbst. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«

Andy sieht verstört von Theo zu mir. »Ähm …«

»Ich habe geahnt, so jemand wie Sie nutzt eine solche Situation schamlos aus. Sie stürmten ja bereits wie ein Trampeltier für alle sichtbar ins Gebäude. Also, wie viel wollen Sie?«, blafft Theo meinen Gast an.

Ich möchte Theo am liebsten für seine ätzende Arroganz erwürgen, zittere aber zugleich innerlich vor Angst, Andy könnte mein Alibi sprengen.

Der Wirt blinzelt verwirrt und zuckt hilflos die Schultern. »Um was …«

Theo steckt ihm fünfhundert Euro zu dem Hunderter in die Hand. »So. Dann muss es aber gut sein. So brisant war es sicher nicht.« Mein Mann nickt mir voller Stolz über seine heldenhafte Rettung meiner Ehre zu und schiebt Andy in Richtung Tür. Als dieser noch mal zu mir sieht, zwinkere ich, nicke in Richtung Fensterfront und hoffe, er versteht den Wink, dass ich mich bei ihm sehen lasse, um mit ihm zu sprechen.

Die beiden verlassen den Raum. Ich bleibe verwirrt, aber auch stinksauer auf Theo, zurück. Eine Zeit lang glaube ich, Theo kommt wieder herein, doch offenbar ist er der Auffassung, sein Auftritt benötige keine Erklärung.

Da ich auf einen Anruf von Doktor Schüttler warte, bleibe ich in meinem Büro und arbeite beinahe so, als sei nichts geschehen. Ich halte das ohnehin für besser. Wie ein aufgescheuchtes Huhn herumzuhüpfen, wird nichts an dem ändern, was kommt. Die Unwissenheit erzeugt allerdings ein fürchterlich zermürbendes Gefühl. Irgendwann lasse ich noch mal den Morgen Revue passieren und mir stellt sich die Frage, ob Theo meinen Besucher womöglich hinausbegleitet hat. Weiß Theo, dass dies Andy von gegenüber war? Ich stehe auf und sehe zur gegenüberliegenden Straßenseite. Andys Fackel brennt noch nicht und auch die Kneipenbeleuchtung ist aus. Ich muss noch mal mit ihm sprechen, um herauszufinden, ob er Theo etwas erzählt hat. Nervös setze ich mich wieder an den Schreibtisch und lese mir Bewerbungen durch. Personal suchen wir immer. In einem Haus unserer Größe fällt permanent irgendwo jemand aus. Entweder durch Krankheit, Schwangerschaft, Rente oder aber jemand stirbt. Auch das kam schon vor. Theo versucht mich schon lange davon zu überzeugen, auf Zeitarbeitende umzustellen, aber davon halte ich nichts. Ich bevorzuge Menschen, die für mich arbeiten wollen und wenn es mir irgendwie gelingt, dann möchte ich sogar, dass sie das aus Überzeugung tun. Der Tower ist wie eine kleine Stadt und wenn die Bewohner unzufrieden sind, wird ihn das langsam und von innen heraus zerstören.

Sicherheitschef Ricky ist so ein Mann, der aus Überzeugung für mich arbeitet. Meine Sekretärin Beate hingegen bereitet mir zunehmend Kopfzerbrechen. Ich stehe erneut auf, um hinunterzusehen. Nun brennen Fackel und Außenbeleuchtung. Ich beschließe, zu Andy zu gehen, und will den Blick abwenden, als ich einen blonden Haarschopf in der Sonne leuchten sehe. Mit wippendem Schritt kommt Benny die Straße herauf. Ich schmelze bei seinem Anblick. Er trägt wieder das Muskelshirt und die schwarze Sporthose. Ich atme schwer und wünsche mir nichts sehnlicher, als den Duft seiner Haut riechen zu können. Wie sollte es anders sein, biegt Benny bei Andys ab und geht ins Lokal.

Nun steigt meine Nervosität noch mehr an. Abgesehen davon, wird mir klar, dass ich mich erst umstylen und umziehen muss, bevor ich zu Andy gehe. Ich entdecke die Baseballkappe vor dem Schreibtisch und hebe sie auf. Benny möchte ich auf keinen Fall begegnen, doch wenn, dann so unverfälscht und wenig aufgehübscht wie am gestrigen Abend, damit er sieht, welchen Fehler er begangen hat.

 

03 Die Motten und das Licht

 

Ich bin froh, als ich um siebzehn Uhr keins meiner Familienmitglieder in der Dachwohnung antreffe. Vermutlich sind sie nach Hause gefahren, was mir nur recht ist. Ich dusche, ziehe einen meiner unauffälligsten Laufanzüge an und sehe kurz auf mein Handy. Jaro hat mir geschrieben: Abendessen zu Hause um neunzehn Uhr. Gruß Jaro.

Von meinem Sohn mitgeteilt zu bekommen, wann es Essen gibt, ist ungewöhnlich. Womöglich will er wieder um das Auto betteln, oder aber er möchte sich entschuldigen. Ich versuche, nicht sauer auf ihn zu sein und unser Abendessen positiv anzugehen. Jaro ist mein Sohn und ich liebe ihn. Spannungen in der Mutter-Sohn-Beziehung zu haben, ist normal und in jeder Familie der Fall. Das rede ich mir zumindest wie ein Mantra ein. Wir sind eben keine normale Familie, sondern Jaro das Kind eines Vergewaltigers und Drogenbosses. Ich schicke jeden Tag ein Stoßgebet zum Himmel, Jaro seine Herkunft nicht irgendwann im Zorn an den Kopf zu werfen.

Zunächst will ich mit Andy sprechen. Am wichtigsten wäre mir jedoch ein Gespräch mit dem Arzt und ein Termin, aber bisher hat mir Doktor Schüttler nicht geantwortet. Ich nehme dieses Mal den kleinen Aufzug, der am hinteren Ende des Flurs liegt und mich zum Notausgang bringt. Ein privater Bereich, in dem ich allenfalls Wachpersonal begegne.

Sicherheitsmann Harald schiebt gerade in dieser Ecke des Gebäudes seinen Dienst. Der Mann Mitte fünfzig erkennt mich sofort in meinem Laufoutfit und nickt mir zu. Allerdings bin ich ohnehin seit Monaten die einzige Person, die diesen Ausgang nutzt. Ricky hingegen ist seit Monaten mein Frontmann. Er schiebt seinen Dienst in der Lobby und am Haupteingang. Um diese Uhrzeit ist er bereits bei seiner Familie. Mit schlechtem Gewissen denke ich daran, dass ich Ricky dringend etwas zu erklären habe. Doch spätestens, wenn wir uns das nächste Mal zum Training treffen, werde ich ihm alles erzählen.

Um den wachsamen Blicken von Harald zu entgehen, laufe ich in Richtung Park, überquere nach einigen Metern die Straße und schlüpfe in eine der Gassen zwischen den Plattenbauten. Nichts hat sich hier verändert. Ich könnte blind den Zugang zu Andys Innenhof finden. Dort angekommen, spähe ich zum Eingang, kann aber niemanden entdecken. Vor dem Seiteneingang stoppe ich und blicke am Fenster hinein in den Gastraum. Der scheint weitestgehend leer, bis auf die üblichen älteren Herren, die sich am Bierglas festhalten.

Ich ziehe meine Kapuze über die Baseballmütze und öffne behutsam die Tür. Langsam gehe ich zur Ecke, bis ich freien Blick auf den Tresen habe. Als ich Andy dahinter erblicke, von Benny jedoch nichts mehr zu sehen ist, stoße ich den Atem aus.

»Hey. Danke, dass du dich um mich gesorgt hast«, sage ich kleinlaut. Ich setze mich dem Wirt gegenüber auf einen der Hocker.

Andy sieht mich mürrisch an und schiebt mir die sechshundert Euro über den Tresen. »Ich hatte gehofft, nachdem du den miesen Typen los warst, hättest du nun einen netten Mann. Er wirkt auf Bildern immer so elokänt.«

»Eloquent«, murmle ich. »Er ist Anwalt«, schiebe ich hinterher. »Und er ist mittlerweile emotional völlig taub.«

»Okay. Gut, dass ich das weiß. Der bekommt hier schon mal Hausverbot.«

»Nimm das Geld. Bitte.« Ich schiebe die Scheine zurück.

»Nicht von dem Arsch für was auch immer. Hab nich’ mal kapiert, was der wollte.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen, als Andy das sagt. Dann wird er nicht fragen, wo …

Eine Augenbraue in die Höhe gezogen, sieht er mich an. »Wenn du nicht zu Hause geschlafen hast und nicht, wie dein Mann offenbar annimmt, in einem meiner Gästezimmer, auch wenn ich so etwas gar nicht habe, dann frage ich mich: Wo warst du?«

Andy mustert mich mit einem Verkauf-mich-jetzt-nur-nicht-für-dumm-Blick und ich schlucke.

»Könnte ich einen Scheißegal haben?«, frage ich eingeschüchtert.

»Könnte ich eine Antwort haben, wenn ich schon für dich lüge?« Er verschränkt die Arme und schnaubt.

»Nach dem Schnaps. Außerdem musst du nicht für mich lügen.« Ich schäme mich tatsächlich vor Andy, was irritierenderweise ein wundervolles Gefühl der Vertrautheit vermittelt.

»Verscheißer mich nicht. Ich nahm von deinem Mann sechshundert Euro für eine Übernachtung, die es nicht gab und habe nichts dazu gesagt. Was ist das, wenn es keine Lüge ist?« Andy gießt den Scheißegal ins Schnapsglas.

»Willst du mir etwa drohen?«, frage ich Andy angriffslustig, bereue es aber umgehend, weil ich ihm gegenüber gar nicht in die Rolle der Königin rutschen will. Abgesehen davon, geht mir ein Licht auf. »Sorry. Du hast mit Benny geredet«, stelle ich betreten fest, denn laut meiner Version hat dieser mich ja zum Tower begleitet.

»Ja. Stell dir vor, der sucht verzweifelt die kleine Bitch von letzter Nacht«, raunt Andy und lehnt sich an den Tresen.

»Welche Bitch?«, versuche ich ein letztes Mal, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

»Na die, die ihm im Hinterhof den Arsch gerettet, ihn in der Nacht um den Verstand gevögelt hat und am Morgen sang- und klanglos verschwunden ist.«

»Wie sah sie denn aus?«, erkundige ich mich und trinke den Klaren.

»Das weiß Benny nicht so genau. Die Brille war futsch, er hat CS-Gas abbekommen. Sie war wohl dennoch einfach sein Typ. Er weiß, sie saß zuvor mit Basecap und Jogginganzug am Tresen. Nun sucht er sie überall.«

Ich schlucke.

Andy füllt mein Glas. »Wenn du mich fragst …«, sagt er.

»Das tu ich.« Angespannt trinke ich den nächsten Schnaps.

»Die Bitch ist nicht nur ’ne Bitch, sondern die dümmste Schlampe auf der Welt.«

Ich verschlucke mich bei Andys Worten am Klaren und muss fürchterlich husten. »Warum?«, krächze ich.

»Weil Benny ein toller Kerl ist und sich verknallt hat. So habe ich ihn noch nie erlebt. Die Bitch verpasst die Liebe ihres Lebens.«

Andy fixiert mich mit dem Blick seiner wundervoll braunen Augen.

»Meinst du das ernst?«, raune ich atemlos.

»Und wie.«

»Du fändest das nicht schräg?«

»Warum? Wegen der Kohle, wegen des Alters? Oder weil Welten dazwischen liegen? Das alles fragst du dich nur, weil er der Kerl ist und du die Frau.« Andy zuckt die Schultern. »Ich finde es schräger, der Liebe für Unglück aus dem Weg zu gehen.«

»Weiß er, wer ich bin?«

Andy schüttelt den Kopf. »Nein. Und ich denke, wenn er dich in der Aufmachung von vorhin sieht, ahnt er nicht einmal, dass du das warst. Also …«

»Was also?«, murmle ich.

»Magst du ihn denn?«, erkundigt sich Andy und mustert mich neugierig.

»Ich kenne ihn doch gar nicht wirklich, er ist jünger als mein Sohn.«

»Du könntest ihn doch ein bisschen unterstützen?« Andy zwinkert.

»Wie meinst du das?«

»Er muss zu Hause raus, benötigt einen Job und einen Sponsor.«

»Gib ihm die sechshundert Euro.« Meine Worte sind billig. Ich bereue sie im gleichen Moment.

»Du weißt, das nutzt nichts.«

»Andy! Eine Nacht mit ihm verbracht zu haben, verpflichtet mich zu gar nichts.« Ich blinzle meinen neu entdeckten Freund verzweifelt an und warte auf seine erlösende Bestätigung.

»Hier geht es nicht um Pflicht. Es geht um Ehre. Du hast sein Herz gebrochen.«

»Er sagte ficken, verflucht«, platzt es aus mir hervor. Tränen rinnen über meine Wangen, die anderen Gäste sehen zu mir.

»Lass es raus.« Andy grinst.

»Ich konnte doch nicht wissen, dass es sich wie Liebe anfühlt«, flüstere ich. »Außerdem ist das völlig unmöglich.« Ich starre auf das leere Glas.

»Du spürst es also auch?«, fragt Andy soft mit seiner wundervoll tiefen Stimme. Seine Worte fühlen sich wie ein Streicheln an.

»Ich habe vermutlich einen Tumor im Körper. Meine Emotionen fahren Achterbahn. Ich weiß nicht, was ich fühle.«

»Dann such dir eine Aufgabe darin, Benny zu helfen.«

»Da drüben steht ein millionenschwerer Klotz. Eine ganze Kleinstadt in einem Gebäude. Das ist wohl Aufgabe genug«, blaffe ich.

»Ja. Aber er macht dich nicht glücklich.« Andy grinst überlegen und wischt vor mir über das Thekenholz.

»Ist deine Theke so leer, weil du so ein beschissener Klugscheißer bist?«, fahre ich ihn an.

»Das ist so: Ich gebe derart hervorragende Ratschläge, dass die Menschen ihr Glück finden. Und glückliche Menschen saufen nicht in einer Spelunke wie dieser.« Er grinst so breit, dass es aussieht, als fletsche er die Zähne.

»Oder sind sie alle schon gestorben?« Ich mustere ihn vorwurfsvoll.

»Wenn du hier auf Mitleid und Bauchpinselei hoffst, muss ich dich enttäuschen.« Andy lächelt mich feist an.

Ich schweige und strafe ihn mit einem mürrischen Blick.

»Hast du im Tower keine Freunde?«, fragt er bissig.

»Theo war mal mein Freund.« Die Erkenntnis, wie sehr er und ich uns voneinander entfernt haben, schmerzt wie ein Schnitt in meinen Brustkorb.