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Martin Burckhardt

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Beschreibung

Wir schaffen das Paradies auf Erden

In einer nicht allzu fernen Zukunft: Regierungen sind abgeschafft, Geld, Gewalt, Krankheiten, Umweltverschmutzung, Ungerechtigkeit ebenso. Nollet heißt das Unternehmen, das Glück für alle garantiert. Aber noch gibt es die „Zone“, wo ein erbarmungsloser Überlebenskampf tobt. Zwischen Utopie und Dystopie entwirft Martin Burckhardt mit dieser fundierten „Social Fantasy“ eine Gesellschaft, die uns viel näher ist, als wir denken.

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Martin Burckhardt

SCORE

Roman

Wir schaffen das Paradies auf Erden

Knaus

1. Auflage

Copyright © 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-15640-4

www.knaus-verlag.de

Für Philipp

1

§ 1. Wir, die Bewohner des ECO-Systems, erklären, dass Begriffe wie Geschlecht, Rasse, Religionszugehörigkeit, Kultur oder Identität dem Dunklen Zeitalter angehören, ebenso wie der Kapitalismus, der die Menschheit unter das Joch der Ausbeutung gezwungen hat. Demgegenüber vertreten wir die Überzeugung, dass der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt. Die Freiheit des Spiels endet dort, wo der Mitspieler psychisch oder physisch verletzt wird. Die Strafe für ein Zuwiderhandeln besteht darin, am eigenen Leib zu erleben, was man dem anderen zugefügt hat.

Sein Auge hatte zu tränen begonnen. Dummerweise hatte ein Staubkorn das linke Auge erwischt und Damian den klaren Blick auf die Datenbrille genommen. Mehr noch als die verschwimmende Zeichenkette lenkte ihn die Frage ab, wie dieses Staubkorn die Filteranlage hatte überwinden können. Zwar befanden sich die Räume der Social Design Planning Group weitab von den Serverfarmen, dennoch hatte man die hohen Lufthygienestandards auch auf die Verwaltungsräume übertragen. Vielleicht hatte das Staubkorn mit dem Kandidaten Einlass gefunden, dessen voller Name ihm entfallen war. »Und Sie sind«, sagte er tastend und dehnte die Silben des Vornamens über Gebühr in die Länge: »Symeon …« Seine Kollegin setzte ihr makelloses Lächeln auf und vollendete seinen Satz, wie ein Tennisspieler, der einen Volley verwandelt: »Castoriadis.« Als zwanghafte Perfektionistin hatte Carmen sich schon seit geraumer Zeit angewöhnt, die betreffende Personalakte gleich in ihren Zerebralspeicher zu laden. Damian hingegen misstraute der Technik. Grundlos eigentlich. Es fühlte sich einfach merkwürdig an, aus dem Nichts über ein Wissen zu verfügen, das mit keinerlei Empfindung verknüpft war. Natürlich ging auch er vorbereitet in ein solches Gespräch. Allerdings wusste er aus Erfahrung, dass sich bei ihm erst in dem Moment, da er die Stimme des Kandidaten hörte, so etwas wie ein Charakterbild einstellte. Und vielleicht war dies, neben der Existenz des Staubkorns und seinem eingeschränkten Sichtfeld, die dritte Irritation. Denn der Mann, der den Namen Symeon Castoriadis trug, war ohne ein Wort in den Raum getreten, hatte sich gesetzt und sich von jenem Moment an nicht mehr gerührt.

Ob er etwas zum Absacken seines Scores sagen könne? Diesmal klang Damians Stimme sehr viel fester. Was die Einhaltung der Inquisitionsregeln anbelangte, war er penibel. Entscheidend war, dass er mit wenigen Worten, ohne sich anzubiedern, ein Klima des Vertrauens herstellte. In der Regel war das nicht schwer. Er musste bloß erwähnen, dass er selbst wegen gewisser Irregularitäten in seiner Amygdala unter Beobachtung stand. Nicht nur, dass ein solches Eingeständnis die Zunge des Gegenübers löste, die Erwähnung dieser kleinen Anomalie schmückte ihn selbst, wie ein kleiner Schönheitsfleck. Jetzt freilich kam ihm diese Einleitung unpassend vor. Er schwieg. Gesenkten Hauptes, die Finger fest gegeneinandergepresst, stierte Castoriadis auf die Spitzen seiner Schuhe. Sein schwarz gelocktes, etwas zu langes Haar fiel ihm in einzelnen Strähnen über das schmale Gesicht. Auf seiner Oberlippe hatte sich eine Schweißperle gebildet.

»Wie kommt es, dass Ihr Score so abgesackt ist?«, wiederholte Carmen noch einmal. Wieder keine Antwort, nicht einmal ein Zeichen, dass er die Frage verstanden hatte. Carmens routiniertes Hasslächeln (woher fielen ihm nur diese Wörter ein?) wich einem Kopfschütteln. Weil Damian dies als Aufforderung verstand, die Gesprächsführung zu übernehmen, starrte er mit seinem tränenden Auge auf die Personalakte im Display, auf der Suche nach irgendeinem Anhalt für eine neue Gesprächsstrategie. Bis auf die Tatsache, dass vor drei Wochen dieser rasante Abfall seines Scores eingesetzt hatte, war Castoriadis kein besonderer Fall. Ein Statistiker wie Damian selbst, den man vor einem halben Jahr in die Desambiguisierungsabteilung aufgenommen hatte. Der einzige Ausreißer war vielleicht, dass in Castoriadis’ Vita die Stadt Beirut auftauchte, ein Punkt, der eigentlich, wie jede Verbindung zur Zone, ein Ausschlusskriterium hätte darstellen müssen. Dass man ihn bei Nollet trotzdem akzeptiert hatte, war seinen hervorragenden mathematischen Fähigkeiten zu verdanken. Allerdings waren dem keine besonderen Karrieresprünge gefolgt. Sein Psychogramm zeigte keinerlei Spitzen, nur eine geradezu auffällige Unauffälligkeit.

In Gedanken wog Damian ab, ob er Castoriadis auf seinen Vornamen oder auf Beirut ansprechen sollte – doch dieser kam ihm, mit einem merkwürdig lauten Schluckgeräusch, zuvor. Ob er vielleicht ein Glas Wasser bekommen könne? Symeon Castoriadis hielt den Kopf noch immer gesenkt. Seine Stimme, ein tonloses Flüstern, blieb so unergründlich wie seine Augen, die hinter schwarzen Strähnen verborgen lagen. »Selbstverständlich«, hörte Damian sich sagen. Er spürte ein Zucken im Finger, bezwang aber den Wunsch, sich das tränende Auge zu reiben. Stattdessen ließ er die Kameraeinstellung seiner Datenbrille näher an das Haupt des Kandidaten heranfahren. Sein ganzes Gesicht war jetzt von glänzenden Schweißperlen bedeckt. Ein Rinnsal rann seine Schläfe hinab und tropfte auf den weißen Arbeitsanzug, direkt neben das Logo der Firma Nollet.

Während sie auf das Wasser warteten und Damian noch einmal die Schritte dieses bislang so einseitigen Gesprächs durchging, wurde ihm klar, dass Castoriadis die ganze Zeit über nicht auf seine Fußspitzen geschaut, sondern mit geschlossenen Augen dagesessen hatte. Als die Tür aufging, erschien statt des Service-Bots eine jener Schönheiten, die für die Bedienung der Hierarchen zuständig waren. Gelegentlich wurden sie auch zur Deeskalation eingesetzt. Damian nahm es als Zeichen dafür, dass auch die Kollegen der Supervision das Befremdliche der Situation erfasst hatten. Mit einem hingehauchten »Bitte schön!« reichte sie dem Kandidaten das Glas. Er nahm es entgegen, ohne aufzuschauen. Sein Handrücken war von feinen schwarzen Härchen überzogen. Als die Tür sich mit einem kaum hörbaren Klicken schloss, führte er das Glas zum Mund und trank es in einem Zug aus.

»Verstehen Sie uns nicht falsch«, sagte Damian, »es wirft Ihnen doch niemand was vor.« Als Castoriadis das Glas absetzte, bemerkte Damian, dass sich sein Mienenspiel verändert hatte. Als säße da plötzlich ein anderer Mensch. Gelöst sah er aus. Ja, gelöst, das war das Wort. Als Castoriadis erst den Kopf, dann die Lider hob und ihm ins Gesicht schaute, schien ein Lächeln seinen Mund zu umspielen, eine spöttische Heiterkeit. »Wir fragen uns nur«, sagte Damian, »wie Ihr Score in so kurzer Zeit so dramatisch hat absacken können.« Noch während Damian diesen Satz aussprach, so steif, als ob er ihn von seinem Display abläse, begann er, sein tränendes Auge zu reiben; zugleich sah er, dass die Augen von Castoriadis sich röteten. Carmen, die bislang leicht vornübergebeugt dagesessen hatte, warf sich mit einem unterdrückten Schrei in ihren Sessel zurück. Im selben Augenblick ging das Wasserglas zu Boden und zersplitterte auf dem spiegelglatten Stein. In Damians rechtem Ohr war die Stimme des Supervisors zu hören: »Scheiße, was macht dieser Typ?«Instinktiv drehte er sich um, dorthin, wo sich die versteckte Kammer des Supervisors befand. Erst als er das Überwachungsbild auf seiner Datenbrille sah, begriff er, dass nicht eine äußere Störung, sondern Castoriadis die Ursache der ausbrechenden Panik war. Es waren seine Augen, die sich mit blutigen Tränen gefüllt hatten. Es war auch kein Schweiß mehr, der aus seinen Poren hervortrat, nein, es war Blut. Blut, das aus seinen Mundwinkeln lief, das tropfenweise aus seinen Haarwurzeln zu quellen schien, in langen Bahnen über Stirn und Schläfen hinabrann und auf seinen weißen Anzug tropfte. Als Castoriadis, von einem Krampf geschüttelt, urplötzlich einen Blutschwall erbrach, begann Carmen zu schreien. Für einen Moment richtete sich Symeon Castoriadis wieder auf, mit blutverschmiertem, unkenntlich gewordenem Gesicht. Kaum einen Atemzug später sackte er vom Stuhl, ganz langsam, seitwärts, ohne Anstalten zu machen, den Fall abzumildern. Der Klang, mit dem sein Schädel auf den Steinfußboden krachte, war so heftig, dass Damian das Bersten der Schädeldecke zu hören glaubte. Mit einem Stöhnen zog Castoriadis die Beine an und brachte den Körper in Embryonalstellung. Für einen Moment war Damian wie erstarrt. Als die Geräusche in ihn zurückströmten, Carmens hysterische Schreie, das Stimmengewirr aus der Supervision, sprang er auf. In dem Augenblick, als sich sein Körper in Bewegung setzte, zerfiel die Gegenwart in Einzelbilder, so schmerzhaft und grell, als hätte man ihm die Lider abgeschnitten. Das geschwollene Gesicht. Die Ödeme unter den Augen. Ein aufgerissener Mund. Seine eigenen blutbefleckten Handinnenflächen. Der Gestank von Kot und Erbrochenem. In seinen Gedanken ein Abgrund. Die gespreizten Beine einer Frau, die Schädeldecke eines Neugeborenen, ein verendendes Tier. Und während sein Hirn sich in einem Mahlstrom von Bildern verlor, spürte er, wie Panik von den Füßen aufstieg und die Gegenwart in eine allumfassende Schwärze einhüllte.

*

Entspann dich! Ruhig! Ganz ru-hig! Alles ist gut. Dein Herz schlägt ruhig und gleichmäßig. Du atmest ein, dann atmest du aus. Spürst du das? Es wird warm in deinem Arm. In deiner Hand. In deinen Fingerkuppen. Es war das erste Mal, dass er die Stimme seines PsychoBots im Audio-Extender hörte. Zunächst hatte es ihn verwirrt, denn er hatte sie keinem der Umstehenden zuordnen können. Dann erinnerte er sich, dass er sie sich selbst ausgesucht hatte: eine weiche Frauenstimme, die ihm, warum auch immer, wie ein Windhauch erschien, der über eine Sanddüne zieht.

»Geht es Ihnen besser?«

»Ich denke schon«, sagte Damian.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Wollen Sie eine Kleinigkeit essen?«

»Nein danke, es geht.«

»Es tut mir leid«, sagte die Psychologin, »aber wir müssen diesen Fragenkatalog durchgehen, das ist Vorschrift.«

»Verstehe«, sagte Damian. Tatsächlich aber verstand er nicht, sondern musste sich das Gehörte Wort für Wort erneut aufsagen. Zudem war er mit der Frage beschäftigt, woran ihn der kleine Kreuzanhänger erinnerte, der an dem Hals der Frau, vor ihrer hochgeschlossenen Uniform, hin und her baumelte.

»Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich während des Interviews, ob willentlich oder nicht, eines Fehlverhaltens schuldig gemacht haben?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Damian zwang sich, den Blick von dem Anhänger abzulenken. Er fragte sich, ob sie das Kreuz als modisches Accessoire oder als Glaubensbekenntnis angelegt hatte.

Die Psychologin schien seine Fahrigkeit zu bemerken, jedenfalls machte sie sich eine kleine Notiz.

»Standen oder stehen Sie unter dem Einfluss von Medikamenten, Drogen oder sonstigen Substanzen, die eine Beeinträchtigung der Hirnaktivität zur Folge haben?«

Damian schüttelte den Kopf.

»Sie müssen mit Ja oder Nein antworten.«

»Nein. Ich meine, jetzt schon. Man hat mir irgendetwas verabreicht, damit ich aus der Ohnmacht erwache.«

»Haben Sie Castoriadis vor diesem Gespräch schon einmal gesehen? Gab es einen fernmündlichen oder holografischen Austausch?«

»Nein, nichts dergleichen.«

»Wenn Sie eine Hypothese formulieren sollten: Was könnte zu dieser Gesprächsstörung beigetragen haben?«

»Ich weiß nicht. Ist das die genaue Formulierung: Gesprächsstörung?«

»Ja, genau so lautet die Frage. Und was ist Ihre Antwort?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Jetzt fiel es ihm ein! Auch seine Großmutter hatte ein solches Kreuz getragen, an jenem Morgen, als sie nach endlosem Klingeln die Haustür geöffnet und durch einen Spalt hinausgeschaut hatte.

Die Psychologin arbeitete unbeirrt ihre Liste ab. Das Geschehen, so klärte sie ihn auf, werde den Regeln der Firma gemäß als Vorfall der Kategorie A eingestuft.

»Um Sie vor einer posttraumatischen Belastungsstörung zu bewahren, müssen Sie eine Amnesiakapsel nehmen und sich einer ersten Desensibilisierungsmaßnahme unterziehen. Keine Angst! Auch wenn wir von Amnesia sprechen, so wird die Erinnerung nicht gelöscht. Was die Kapsel bewirkt, ist eine Neutralisierung der traumatogenen Anteile. Sie können sich noch immer an das Geschehen erinnern, aber es wird keine Panikanfälle mehr auslösen.«

Als es passiert war, hatte seine Großmutter im Salon gesessen und eine Partie Solitaire gelegt. Nachdem sie die letzte Karte ausgespielt hatte, hatte sie sich das Haar gerichtet und eine Weile aus dem Fenster geblickt. Damian hatte im Nebenzimmer seine Mailbox abgerufen. Als er aufgeschaut hatte, hatte sich sein Blick mit dem ihren gekreuzt. Sie schüttelte den Kopf und lächelte, dann setzte sie die Pistole, die sie urplötzlich in der Hand hielt, gegen die Stirn und drückte ab.

»Haben Sie das verstanden?«

»Ja«, sagte er und nahm die Kapsel entgegen, die sie ihm reichte.

»Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«

Damian schüttelte den Kopf, so heftig, als wollte er die Erinnerung an die klebrige Masse aus Hirn und Blut verscheuchen.

»Dann alles Gute!«, sagte die Psychologin, stand auf und machte einen Schritt Richtung Ausgang.

Damian bedankte und verabschiedete sich. Vor dem Büro wartete schon der Abteilungsleiter, Takao Tashimoto, auf ihn. Er würde ihn zum Hygieneraum geleiten und die Einnahme der Amnesiakapsel protokollieren. Eigentlich war Tashimoto ein Kollege, der schon aus Gründen der Höflichkeit stets ein Gespräch begann. Jetzt aber trotteten sie schweigend nebeneinanderher. Auf dem Weg zum Hygieneraum kamen ihnen zwei Männer von der Reinigungsbrigade entgegen. Die Tür zum Besprechungszimmer stand offen. Alles sah aus wie heute früh, bevor Castoriadis den Raum betreten hatte. Als wäre nichts weiter passiert.

*

Ganz ruhig. Konzentrier dich auf deine Fingerspitzen, und du wirst spüren, wie die Wärme in deinen Körper strömt. Damian hielt die Hände in den Partikelstrom der Reinigungsanlage und schaute zu, wie die Blutschlieren abgesaugt wurden. Bis auf das linke Auge, das blutunterlaufen war, war er, äußerlich betrachtet, wiederhergestellt. Die Uniform, als Resultat des Selbstreinigungsprozesses: blütenweiß. Allein die Körperdaten, die oberhalb seines Kopfes auf dem Spiegeldisplay eingeblendet wurden, muteten noch immer wie Ausschläge eines seismischen Bebens an. Jetzt, da er allein im Hygieneraum stand, erschien ihm der Zwischenfall wie eine jener Spielszenen, mit denen Nollets Erfahrungsdesigner die Welt unterhielten. Nur dass es kein Spiel gewesen war, sondern ein gewaltsamer, sinnloser Akt. Als er aus der Ohnmacht erwacht war, hatte ihm der Supervisor mitgeteilt, dass Castoriadis mit dem Wasser eine Kapsel geschluckt habe. Er müsse sie beim Betreten des Raums unter der Zunge versteckt haben. Ganz offenbar hatte er gewusst, dass die Fremdkörpererkennung im Bereich der Schleimhäute unvollkommen war und die toxische Substanz unbemerkt bleiben würde. Aber warum? Warum nur hatte Castoriadis das getan?

Den Blick auf seine Körperdaten gerichtet, löste Damian die Kapsel aus ihrer Verschweißung und schob sie sich in den Mund. Der glatte gelbe Kunststoff auf der Zunge verursachte eine Übelkeit, die ihn selbst überraschte. Da war der Blutschwall, den Castoriadis erbrochen hatte. Das Muster eines Samtbezugs. Das Loch auf der Stirn der Großmutter und das dünne Rinnsal Blut, das über Nase und Wange rann, bis es auf ihre weiße Bluse tropfte, dort, wo das kleine Kreuz hing. Da war ein Stück Himmel im Fenster – und das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Er atmete einmal tief durch, dann nahm er die Kapsel aus dem Mund. Einen Moment hielt er sie zwischen den Fingerspitzen, brach sie auf und entleerte das feine gelbliche Granulat ins Toilettenbecken. Er betätigte die Spülung und schaute zu, wie die Schliere mit einem hohlen Schlürfgeräusch abgesaugt wurde. Dann steckte er die leeren Kapselhälften in den Mund und schluckte sie hinunter. Die Anhaftungen des Amnesia hinterließen einen metallischen Geschmack. Zum ersten Mal, registrierte Damian verwundert, hatte er eine Vorschrift gebrochen, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.

*

Als er aus dem Hygieneraum trat, hatte sich Takao ein Arzt zugesellt, der für die Desensibilisierungsmaßnahme zuständig war. Noch bevor Takao ansetzte, wusste Damian, was er sagen würde. Was mit Castoriadis passiert war, war ein ernst zu nehmender Störfall, Damian würde zwei, drei Tage zu Hause bleiben und sich dann einem Wiedereingliederungsprogramm unterziehen müssen.

»Wenn wir dich suspendieren, so ist das keine Reaktion auf ein Fehlverhalten, sondern geschieht nur zu deinem Schutz.«

Suspendiert. Schon dieses Wort ließ ihn zusammenzucken. Er kannte nur eine einzige Person, der dies widerfahren war: eine Kollegin aus der Penalty Group, die sich bei einer Dienstreise in die Zone den Anti-Baby-Chip hatte entfernen und schwängern lassen. Zwar war sie der Firma wiedereingegliedert worden, aber dann eines Tages spurlos verschwunden. Man munkelte, sie habe sich einer jener Terrorgruppen angeschlossen, die die ausländischen Stützpunkte des ECO-Systems mit Bombenanschlägen heimsuchten. Ganz offenkundig stand Damian der Schreck ins Gesicht geschrieben, denn Takao hielt inne und versuchte ihn zu beschwichtigen.

»Niemand wirft dir etwas vor, Damian. Es geht allein darum, dich vor einer posttraumatischen Stressreaktion zu beschützen.«

»Ich verstehe schon!«, sagte Damian tapfer. »Vorschrift. Nicht persönlich gemeint.«

Takao lächelte dankbar und fuhr dann in seinem Vortrag fort, so mechanisch, dass klar war, dass er die Instruktionen von seiner Datenbrille ablas.

»Ein wesentlicher Punkt, den ein traumatisierter Mitarbeiter häufig übersieht, betrifft den Umstand, dass er nicht nur sich selbst, sondern die Firma repräsentiert. Nichts von dem, was geschehen ist, darf nach außen dringen. Selbst in Hinblick auf die Angestellten anderer Abteilungen musst du absolutes Stillschweigen bewahren. Ausgenommen davon sind nur die Mitglieder des Vorstandes.«

Takao machte eine Pause, als wollte er fortfahren oder die Seite umblättern, aber dann war doch schon alles gesagt.

»Wie hat es Carmen verkraftet?«, fragte Damian.

»Sie hat das Haus schon verlassen. Wir haben ja eine ganze Weile gebraucht, um dich wieder auf die Beine zu bringen.«

Takao versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Weil ihm dies allzu förmlich erschien, versetzte er Damian einen kollegial gemeinten Stoß gegen die Schulter und sagte, er müsse jetzt gehen, er werde ihn der Fürsorge dieses Herrn überlassen. Er winkte ihm zu und ging mit schnellen Schritten davon.

Damian fragte den Arzt, was mit Castoriadis geschehen sei. Der Arzt zuckte die Schultern und setzte eine Miene auf, die bekundete, dass schon die Frage überflüssig sei.

Damian schaute auf den Kittel seines Gegenübers. Kein Namensschild.

»Wie heißen Sie?«

Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte, es sei ein Prinzip, dass der Arzt, der die Desensibilisierungsmaßnahme durchführte, namenlos bleibe. Das habe die Wirksamkeit der Behandlung deutlich erhöht.

Der Arzt bedeutete Damian, ihm zu folgen. Ganz offenbar war er um die Vermeidung eines Gesprächs bemüht. Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, ging er mit ausgreifenden Schritten voran. Unter seinem ausrasierten Nacken war ein kleines Feuermal zu sehen. Im Fahrstuhl drückte er den Knopf für das dritte Untergeschoss, das laut Anzeige die Gebäudetechnik beherbergte.

»Wir fahren in die Gebäudetechnik?«, fragte Damian.

Ein knappes Nicken. Keine Erklärung. Stattdessen fixierte er die Anzeige, so angestrengt, dass sich über seiner Nasenwurzel eine Falte bildete. Ein Glockenton, dann öffnete sich die Fahrstuhltür und ein Geruch von feuchtem Beton und Metall schlug ihnen entgegen. Durch eine Reihe schwach beleuchteter langer Gänge gelangten sie zu einer Treppe, die zu einer schmalen, leicht rostigen Metalltür hinabführte. Darauf prangte ein Biohazard-Aufkleber. Umso erstaunter war Damian, dass das Erste, was er dahinter zu sehen bekam, ein großer Zitteraal war, der hinter einem Stein lauerte. Tatsächlich schien es, als ob sie sich nicht in einem Kellertrakt, sondern in einer riesigen Unterwasserstation befänden. In einiger Entfernung sah Damian zwei große Haie durchs Wasser gleiten. Überzeugt, dass auch die Frage nach dem Sinn dieses Ortes unbeantwortet bleiben würde, folgte er dem Arzt, der in unvermindertem Tempo voranschritt. Sie gingen, begleitet von einem Heringsschwarm, durch einen langen schlauchartigen Gang. Durch eine Schleuse gelangten sie in einen runden Trakt, der wie ein Lichttrichter anmutete und von dem aus Damian tatsächlich in den Himmel schauen konnte. In Kreisform waren hier mehrere Behandlungszimmer angeordnet. Allesamt unbeschildert.

Man hatte sie erwartet. Ein schlanker älterer Herr kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand, an der ein großer Siegelring prangte. Sein Händedruck war fest. Dann lockerte er den Griff und berührte auf sonderbar intime Weise seinen Zeigefinger. Das Blau seiner Augen entsprach der Farbe des Rings. Damian bemerkte verwundert, wie ein Lichtschein über das Gesicht seines Gegenübers wanderte und eine solche Benommenheit ihn erfasste, dass er sich rücklings, wie ein Taucher, in die Tiefe hinabsinken ließ. Carmen war dort und Castoriadis und jemand Dritter, der, wie er verwundert bemerkte, er selbst war. Alles war still, die Bewegungen zeitlupengleich. Als Carmen den Namen Castoriadis aussprach, sah er, wie Luftblasen aus ihrem rot geschminkten Mund hervorsprudelten, wie sie aufstiegen und auf dem Weg ins Licht wieder zerplatzten. Selbst als Castoriadis von seinem Stuhl fiel, wirkte es nicht wie ein Sturz, sondern eher wie das Austrudeln eines Astronauten. Alles wird leicht, hörteer eine Stimme sagen. Als er wenig später wieder zu sich kam, lächelte ihn sein Gegenüber an und sagte jovial, er habe es schon hinter sich. Der Kollege werde ihn wieder ans Tageslicht bringen. Auf dem Rückweg zum Fahrstuhl versuchte Damian sich zu vergegenwärtigen, welche Wirkung die Hypnose auf ihn gehabt hatte. Der Vorfall mit Castoriadis stand ihm noch klar vor Augen, nur dass es ihm vorkam, als ob er die Ereignisse wie hinter Glas beobachten könnte, wie all die Fische, die hier kaum eine Handbreit entfernt an ihnen vorüberglitten.

Am Fahrstuhl angelangt, nickte ihm der Arzt militärisch knapp zu und sagte: »Sie finden allein wieder zurück, nicht wahr?«

Die Fahrstuhltür schloss sich, und Damian spürte einen Druck in den Ohren. Als der Fahrstuhl sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, kehrte die Erinnerung an jenen 21. März des Jahres 2023 zurück, als er in San Francisco ins Flugzeug gestiegen war. Erleichtert darüber, dass er den Flug noch erreicht hatte, hatte er während der Startvorbereitungen seine Textnachrichten abgerufen. Storniere den Flug und komm nicht!!!, hatte seine Großmutter geschrieben. Aber dafür war es zu spät. Die Stewardess hatte schon damit begonnen, die Notfallhinweise zu verlesen. Als er nach dem Start die Nachrichten sah, begriff er den Grund. Überall in London war es zu Plünderungen, Brandschatzungen und gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Mit Knüppeln und Smartphones bewaffnete Hundertschaften drängten in die Stadtviertel, um die Verursacher des neuerlichen Bankencrashs heimzusuchen. Als Damian die Adresse seiner Großeltern in die Suchmaske eingab, Belgrave Square, London, sah er, dass der vornehme Straßenzug sich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Ein abgestürzter Polizeihubschrauber, Rauchschwaden, brennende Häuser. Vor allem ein Video hatte es binnen Minuten zu ikonischer Bekanntheit gebracht: Aus dem Park kommend, war eine Menge in einer Wohnstraße aufmarschiert. Während Vermummte sich anschickten, die parkenden Autos in Brand zu setzen, machten sich einzelne Trupps daran, die Türen der Häuser aufzubrechen. Als sie sich dem Gebäude mit der Nummer 31 näherten, trat ihnen ein kleiner Mann entgegen und verwickelte die Rädelsführer in eine kurze Diskussion. Das Kamerabild war verwackelt. Ein Lidschlag jedoch hatte Damian gereicht, um in diesem kleinen Mann seinen Großvater zu erkennen. Wenige Sekunden lang schien die Bewegung des Mobs ins Stocken geraten. Dann aber löste sich ein einzelner Mann aus der Gruppe. Er sprintete auf Damians Großvater zu, schwang seinen Baseballschläger und ließ ihn auf dem blanken Schädel des alten Mannes niedersausen. Der Schlag traf ihn mit einer solch fürchterlichen Wucht, dass der Körper einfach in sich zusammensackte. Zugleich löste sich die Erstarrung der Menge. Plötzlich drängten sich die Umstehenden heran und fielen mit ihren Knüppeln über den reglos am Boden Liegenden her. Der Initiator, der sich nach seinem Schlag abgesondert und eine Art Tanz aufgeführt hatte, hatte ein Selfie gemacht und es in die sozialen Netzwerke eingespeist. Darauf war das beseelte Gesicht eines rothaarigen jungen Mannes zu sehen, der seinen Schläger triumphierend gen Himmel reckte, das Gesicht der Revolte, wie begeisterte Kommentatoren notierten.

Als Damian in den frühen Morgenstunden in Heathrow ankam, hatte er Schwierigkeiten, einen Fahrer zu finden, der gewillt war, ihn zum Belgrave Square zu fahren. Man hatte die Toten fortgeschafft, aber überall sah man verkohlte Autowracks, zerbrochene Bierflaschen, Blut und Erbrochenes. Als Damian die riesige Blutlache vor den Stufen der Treppe sah, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Nach mehrmaligem Klingeln öffnete seine Großmutter die Tür. Obwohl sie das Rauchen lange schon aufgegeben hatte, hatte sie eine Zigarette zwischen den Lippen. Ihr Atem roch nach Rotwein, und das Kostüm, das sie trug, war so zerknittert, als hätte sie darin geschlafen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Damian sah sich dem überlebensgroßen Porträt von Cheng gegenüber. Darüber der Slogan: WIRSCHAFFENDASPARADIESAUFERDEN. Wie hatte er das nur vergessen können?! Heute war die Generalprobe, bei der Khans geheimnisumwitterte Resurrection-Technik vorgestellt werden sollte. Und wirklich herrschte in den Gängen eine ungewohnte Betriebsamkeit. Schon nach wenigen Schritten traf Damian auf eine Gruppe Entwickler, in deren Mitte er Olsen entdeckte. Jedes Mal, wenn Damian ihn sah, war er fasziniert von der Hässlichkeit dieses Mannes. Und jedes Mal ertappte er sich bei dem Gedanken, dass dieses Gesicht nach den heutigen Standards Anlass zu einer Genveränderung, wenn nicht gar zu einer Extinktion gegeben hätte. Mit seinem pferdeähnlichen Gesicht, einem gewaltigen Überbiss und schief stehenden Zähnen erschien Olsen wie das Überbleibsel eines fantastischen Mittelalters: eine Versammlung physiognomischer Übertreibungen, die nur übertroffen wurde von der Schärfe seines Verstandes. Von Haus aus Psychiater, war Olsen Leiter der Penalty Group, deren Aufgabe darin bestand, statistisch abweichendes Verhalten zu identifizieren und mit einer Sanktion zu belegen.

Eigentlich mochte Damian ihn. Heute allerdings fand er die Aussicht, sich eines seiner Fallbeispiele anhören zu müssen, höchst abschreckend. Tatsächlich begann Olsen, kaum dass sie einander begrüßt hatten, von einer rechtsphilosophischen Delikatesse zu erzählen.

»Was machen Sie mit einem Wiederholungstäter, der mehrfach eine Schäferhündin vergewaltigt hat, aber jetzt einen Rüden zu sexuellen Aktivitäten animiert. Was machen wir damit? Sie können den Hund ja nicht danach fragen, ob er den Delinquenten freiwillig bespringt oder nicht!«

Die Frage schien ihn zu belustigen, denn er ließ ein wieherndes Gelächter folgen. Zum Glück wurde jede weitere Erörterung des Falles von Olsens Assistentin vereitelt, die ihn schon eine Weile gesucht hatte und sogleich in ein dringliches Gespräch verwickelte. So fand sich Damian in einer Gruppe junger Leute wieder, die allesamt in Richtung Haupthalle strebten. Währenddessen tauschten sie sich in ausgelassener Stimmung darüber aus, was sie bei der Vorstellung des Resurrection-Programms wohl erwarten würde. Ein junger Mann, der ihn schon während der Unterredung mit Olsen aufmerksam gemustert hatte, näherte sich Damian und fragte: »Sind Sie Damian Christie?«

»Ja, warum?«

»Na ja, ich dachte, Sie wissen vielleicht, was uns erwartet. Immerhin haben Sie und Khan, Sie wissen schon …«

Weil Khan in der Firma, aber auch im gesamten ECO-System so etwas wie eine lebende Legende war, war die Frage nicht ungewöhnlich. Jeder, der auch nur in entferntem Kontakt zu ihm stand, musste ein solches Interesse gewärtigen. Seit er sich mit seiner Tochter Justine angefreundet hatte, wurde Damian bei allen erdenklichen Fragen herangezogen; aber ebenso gut konnte dieser Popularitätsschub mit dem hartnäckigen Gerücht zusammenhängen, dass Khan ihn dazu ausersehen hatte, eine größere Mission zu leiten.

Damian schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid, ich weiß nicht viel mehr als Sie.«

»Stellen Sie sich vor, was das fürs Gamedesign bedeuten wird«, sagte der junge Mann, »unglaublich! Eine Revolution!«

Wie alt mochte er sein? Zwanzig, einundzwanzig vielleicht. Wahrscheinlich war er eines dieser Wunderkinder, die sich über ihre Spielleistungen für die Entwicklungsabteilung qualifiziert hatten. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, unbedarft. Wie konnte man den Sinn dieser Feier zu einer Frage des Gamedesigns machen?! Als Damian das Gesicht seines toten Großvaters gesehen hatte, war es nichts weiter als ein blutiger Brei gewesen. Dass man diesen Schrecken vergessen und Nollet als bloßen Unterhaltungskonzern missverstehen konnte, erschien ihm unbegreiflich, wie eine Herabwürdigung dessen, was Nollet für die Welt getan hatte. Wie viele Menschen hatten dafür ihr Leben lassen müssen! Schon als er 2018 nach Amerika gegangen und sich in Stanford für Angewandte Statistik und Machine Learning eingeschrieben hatte, war fühlbar gewesen, dass da ein Weltbeben heraufzog. Nicht bloß, dass die Bewohner der Bay Area die Internetkonzerne für die überteuerten Mieten und den dramatischen Verlust an Arbeitsplätzen verantwortlich machten, auch in der Politik hatte eine Bürgerkriegsstimmung um sich gegriffen. Mit dem jungen Senator Williams hatte sich ein kryptofaschistischer Politiker für das Präsidentenamt beworben, der nicht nur die Verstaatlichung Googles versprach, sondern eine Rückkehr zu amerikanischen Werten beschwor. Schon bei der Einreise in San Francisco war Damian aussortiert und einer peinlichen Leibesvisitation unterzogen worden. Und während man ihn, mit Blick auf seinen Geburtsort, verhörte, erbosten sich die Beamten der Homeland Security über die Aliens, die man aus dem Land herausschaffen müsse. Später im Taxi sah er, wie ein Mann auf offener Straße von einem Einsatzkommando umringt und niedergeknüppelt wurde. In der Wohnung, die er bezog, hatte sich der Vormieter, ein Wertpapierhändler, erschossen. Seine Kommilitonen, denen er von diesen ersten Eindrücken erzählt hatte, hatten sich über sein Befremden belustigt. Und auch er selbst hatte nach einer Weile ihren Spott darüber geteilt, wie er, dieser unschuldige Absolvent einer englischen Boarding School, mit der großen Welt in Berührung gekommen war. Erst später, als mit dem Großen Crash die Metropolen in Flammen aufgingen, hatte er begriffen, dass die Vorzeichen die ganze Zeit über am Himmel gestanden hatten.

*

Als sie die große Eingangshalle betraten, war schon ein Großteil der Belegschaft versammelt. Die Fensterfront war abgedunkelt. Auf der Bühne waren die Konturen eines holografischen Käfigs zu sehen. In der Mitte zählte ein Timer die verbleibende Zeit herunter, 4:23, 4:22, 4:21. Alle Mitarbeiter der Firma hatten diesem Augenblick entgegengefiebert. Auch wenn jeder über die Ziele des Resurrection-Programms unterrichtet war, hatte Khan alles dafür getan, die Einzelheiten geheim zu halten. Da er sein Büro, und mit ihm die Entwicklungsstudios, vor Jahren schon vor die Tore der Stadt verlagert hatte, war ihm das weitgehend gelungen. Damian spürte, wie die Spannung auch auf ihn übergriff. Automatisch stimmte er in den Chor der Menge ein, die die letzten Sekunden des Countdowns herunterzählte.

»Drei – zwei – eins – null!«

Die Ziffer verschwand, und die Gestalt Chengs erschien. Unter den Versammelten brach frenetischer Jubel aus. Die Erscheinung war so überzeugend, dass Damian sich regelrecht einreden musste, dass hier nicht ein wiederauferstandener Cheng, sondern eine Simulation stand: ein kleiner, zierlicher Mann, der, um die Begeisterung seines Publikums einzudämmen, abwehrend die Arme hob. Am überraschendsten war, dass dieses Simulacrum mit seiner Gestik auf die Bewegungen im Publikum reagierte. Als der Applaus abebbte und Stille einsetzte, lösten sich Chengs Züge. Er grimassierte kurz, schloss die Augen und fuhr sich, bevor er zu sprechen begann, mit der Hand an die Nasenspitze.

Als kleiner Junge, so sagte er, habe er sich für Comics begeistert und keinen größeren Wunsch gehabt, als Primatenforscher zu werden. Unversehens aber habe er sich in der Informatik, in der Sprach- und Intentionsanalyse wiedergefunden. »Und trotzdem war ich noch immer derselbe, ein schüchternes, vielleicht etwas zu wissbegieriges Kind.«

Seine Stimme war leise und verhalten. Im Saal wurde es mucksmäuschenstill, wie früher, wenn Cheng den Raum betreten hatte. Jetzt, da Damian ihn wieder vor sich sah, fluteten Erinnerungen in sein Gedächtnis zurück: mit welcher Aufgeregtheit er die Räume der Firma betreten und hinter jeder Tür Chengs Anwesenheit gespürt hatte.

»Mein Vater«, so fuhr Cheng fort, »war ein chinesisches Einwandererkind. Er war stolz darauf, ein Amerikaner zu sein, stolz auf das, was er sich in seinem Leben erarbeitet hatte. Hätte ihm jemand gesagt, dass nicht nur die Banken, sondern die Staaten in kurzer Zeit zusammenbrechen würden, hätte er denjenigen für verrückt erklärt. Und doch ist es passiert!«

Sein Vater freilich habe dies nicht mehr erlebt, denn er sei schon zu Beginn der ersten großen Finanzkrise 2008 aus dem Leben geschieden.

»Damals«, sagte Cheng, »ist der Amerikanische Traum zu Ende gegangen.« Die schnöde Wahrheit war, das hatte Khan einmal erzählt, dass Chengs Vater sich aus Scham über seine Fehlspekulation umgebracht hatte. Für Nollet allerdings, hatte Khan lachend hinzugefügt, sei das ein Segen gewesen, denn Cheng sei endlich genötigt gewesen, selbst ein bisschen Geld zu verdienen.

Cheng begann nun davon zu sprechen, wie sehr es ihn überwältigt habe, dass ihm die Mitglieder der Weltbank auf ihrer letzten Krisensitzung im Jahr 2024 angetragen hatten, den Score zu einer Not-, ja zu einer Weltersatzwährung zu machen. »Es war nicht die Technik, die mich hat zweifeln lassen! Nein, wenn ich eine Heidenangst ausgestanden habe, so deswegen, weil unklar war, ob die menschliche Psyche auf ein solches Experiment vorbereitet ist, ein Experiment, das mir radikaler erschien als alles, was mir aus der Geschichte bekannt war. Wenn es schiefgeht, so habe ich gedacht, wird man uns für das Elend, ja für den Tod Abertausender Menschen verantwortlich machen.«

Sonderbar, dachte Damian. Da ist ein Lichtbündel und eine Stimme – und man fühlt sich zurückversetzt, spürt das Gewicht einer Zeit, die längst vorüber ist. Selbst der junge Mann neben ihm konnte sich dem nicht entziehen.

»Man hat gesagt, ich sei ein Genie. Was wir Genie nennen, ist eine Einbildung, oder wenn es doch existiert, so ist es eine Idee, die in der Luft liegt, die wir alle, so oder so, schon einmal gedacht haben.«

Chengs Erscheinung, seine Bescheidenheit und sein zurückhaltendes Wesen hatten den ganzen Raum still werden lassen. Natürlich wusste Damian, dass diese Rede eine grandiose Inszenierung war, eine Erfindung, die Khan in Szene gesetzt hatte. Trotzdem erschien sie ihm wahr – als wäre Cheng wiederauferstanden, um der Welt seine Mission begreiflich zu machen.

»Ursprünglich«, so erzählte Cheng, »bestand unsere Motivation allein darin, dem Computer beizubringen, was Menschen sich mit ihrer Sprache, ihrem Mienenspiel und ihren Gesten übermitteln. Die Ergebnisse waren ermutigend. Trotzdem hatten wir nicht vor Augen, dass Banken und Versicherungen unsere Bots zur Kundenberatung einsetzen würden. Nicht um Geld ging es uns, sondern um Geist, darum, der Maschine beizubringen, von den Menschen zu lernen. Die Entdeckung des Menschen, das war die Revolution!«

In der Tat lag hier die Geburtsstunde Nollets, die Innovation, mit der sich die Firma von allen Konkurrenten abgesetzt hatte. Weil es nicht um eine abstrakte künstliche Intelligenz, sondern um jeden einzelnen Menschen ging, musste jeder Sprechakt des Nutzers festgehalten und analysiert werden. Dadurch entstanden Psychogramme, die präziser waren als alles, was die bis dato avanciertesten Algorithmen hatten festhalten können. Und da das neuartige System sensorbestückten Mobilgeräten implantiert wurde, die vom Blutzucker bis zum Hämoglobinwert alles festhielten, hatte das Programm Zugriff auf fast alle Lebensäußerungen seiner Benutzer, kam so etwas wie ein personenbezogener Lifestream zustande. Folglich lag es nahe, diesen Lifestream zur Verschlüsselung zu benutzen. Der Identitätsausweis war nicht mehr ein beliebiger Schlüssel, sondern das, was jemand tatsächlich gedacht, gesagt oder getan hatte. Anders als bei den biometrischen Verfahren, die auf die Unverwechselbarkeit eines einzelnen Körpermerkmals setzten, lag hier nicht fest, welche Körperdaten oder Kommunikationsakte zur Generierung eines Schlüssels genutzt wurden.

»Als man uns vorschlug, unseren Score zu einer Währung zu machen, hat es uns nicht überrascht. Denn das Verfahren bot sich zur Authentifizierung von Botschaften oder Tauschakten geradezu an.«

Über Chengs Kopf erschien, aus einer Gedankenblase heraus, der Slogan IDENTITÄTISTVERSCHLÜSSELUNG. Die kleine Anspielung auf die Comicwelt verfehlte nicht ihre Wirkung. Die Umstehenden lachten, Cheng jedoch schüttelte unwillig den Kopf, als ob er die Störung seines Gedankengangs verscheuchen wollte. Stattdessen stand er bloß da, mit ausgestreckten Armen, und rang nach Worten. Seine Stimme zitterte, ja sie schien ihm zu versagen, als er nach einer langen Pause die Frage stellte: »Aber haben wir all dies geplant?« Und als er, nach einem noch längeren Schweigen, die Antwort gab – »Nein, wir haben nichts von alledem geplant!« – spürte Damian, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Ja, das war die Wahrheit! Was passiert war, war keine Zwangsläufigkeit, sondern eine zufällige Laune oder eine Fügung des Schicksals, wer konnte das wissen? Obwohl all dies fünfzehn Jahre zurücklag, stand ihm die Erinnerung an die Geschehnisse noch deutlich vor Augen, so deutlich wie der Moment, da sich seine Großmutter die Pistole an die Stirn gesetzt und abgedrückt hatte. Mit der Einführung des Scores war alles anders geworden. Was man ehedem die industrialisierte Welt genannt hatte, war zum ECO-System geworden, wobei ECO für den Enriched Cybernetic Organism stand. Dieses Akronym sollte deutlich machen, dass die Welt nicht mehr den Nationalstaaten gehörte, sondern dass man sie als einen globalen Organismus verstand. Der Krieg war vorbei. Die Unruhen in den Metropolen hatten schlagartig aufgehört, auch die Meldungen über Terrorakte waren zurückgegangen. Wie ein Vorbote des Frühlings hatte eine Zukunftsgewissheit die Menschen erfasst, die Überzeugung, dass man gemeinsam in eine neue Zeit aufbrechen könnte.

Offenbar ging es allen Anwesenden wie ihm. War Chengs Rede zuvor von gelegentlichem Juchzen unterbrochen worden – einer Begeisterung, die weniger der Rede als der technischen Perfektion galt –, war es plötzlich mucksmäuschenstill. Denn die Behauptung stand in ihrer Schlichtheit in einem fundamentalen Widerspruch zu der Art und Weise, wie sich Nollet in den letzten Jahren präsentiert hatte. Mochte sie ihre Wirkung auch nicht verfehlen, so schien sie doch nicht allen zu gefallen. Damians Nachbar zischte, es sei eine Unverfrorenheit, Cheng einen solchen Satz in den Mund zu legen. Freilich, die Unmutsäußerungen blieben spärlich. Denn nun begann Cheng davon zu reden, dass der Aufstieg der Firma in einer dunklen Zeit vielleicht das größte Wunder gewesen sei und dass dieser Glücksfall wiederum gefeiert werden müsse, eine Bemerkung, die in einen langen Applaus einmündete. Nachdem er verklungen war, leitete Cheng langsam zum Ende der Rede über. Denn der Mensch müsse sich endlich klar darüber werden, dass er die Welt nicht ausbeuten dürfe. Im Gegenteil, er müsse lernen, der Natur zuzuschauen. »Das Gras wachsen zu hören, das ist die Aufgabe, die uns bevorsteht. Nur wenn wir das Unerhörte erhören, das Undenkbare denken, werden wir das Paradies auf Erden schaffen!«

Obwohl er schon zehn Jahre in der Firmenzentrale arbeitete, hatte Damian Cheng nur ein einziges Mal aus nächster Nähe erlebt. Er habe, so hatte er ihm damals erzählt, ursprünglich Primatenforscher werden wollen. Aber dieser extravagante Berufswunsch hätte in seinem strengen Elternhaus nicht einmal artikuliert werden können. So sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich mit dem Homo digitalis herumzuschlagen, jener Spezies, die manche, so fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu, auch als typewriting chimps titulierten. Ein paar Monate nach dieser Begegnung hatte Cheng, zur Überraschung aller, die Leitung der Firma aus den Händen gegeben und sich auf eine Farm in New Mexico zurückgezogen. Eine Handvoll Bediensteter kümmerte sich um die Besorgung der Ranch, er verbrachte die Zeit vor allem mit seinen Schimpansen. Der Kontakt zu Nollet, seinem Lebenswerk, brach fast vollständig ab. Nur Khan, der mit ihm zusammen die Firma ins Leben gerufen hatte, hatte ihn gelegentlich noch besucht. Eines Tages hatte man ihn tot auf der Terrasse seiner Ranch gefunden, erschlagen von seinem Lieblingsaffen.

Nachdem Chengs Double sich unter dem frenetischen Jubel der Angestellten verabschiedet hatte, ging das Licht an und ein Mitarbeiter aus Khans Arbeitsgruppe trat vor, um sich bei den Entwicklern, aber auch bei allen Anwesenden zu bedanken. Khan selbst habe der heutigen Veranstaltung leider nicht beiwohnen können. Ein Murmeln ging durch den Raum, zwei oder drei Zuschauer begannen zu pfeifen. Dennoch war die Demonstration der Resurrection-Technik so überzeugend gewesen, dass sie für seine Abwesenheit entschädigte. Überall begannen lebhafte Diskussionen. Damians Nachbar verkündete pathetisch, das Zeitalter der Silikon-Geminoiden sei mit dieser Technik Geschichte, niemand werde sich jetzt noch mit solch billigen Theatereffekten begnügen. Als irgendjemand seinen Namen rief, erkannte Damian einen Kollegen aus der Social Design Planning Group, ein paar Meter weiter Takao Tashimoto. Ihr Anblick rief ihm ins Gedächtnis, dass er suspendiert worden war. Weil der Eindruck von Chengs Rede damit schlagartig verblasste, tat Damian so, als sähe er die beiden nicht. Stattdessen bahnte er sich seinen Weg durch die noch immer begeistert klatschende Menge und ging mit schnellen Schritten Richtung Ausgang.

2

§ 2. Ziel allen Lebens ist die Glückseligkeit. Insofern ist das Streben nach Glück die Pflicht jedes Einzelnen. Es ist die einzige Pflicht, der die Bewohner des ECO-Systems unterliegen. Die Wege, auf denen sich das Glück finden lässt, liegen nicht von vorneherein fest. Fest steht nur, dass das Glück eine Sache der Gemeinschaft ist. Aus diesem Streben erwächst der Wunsch nach persönlicher Vervollkommnung, der Wunsch, sich vor anderen auszuzeichnen, all die nützlichen Dinge, die frühere Gesellschaften nur unter Einsatz von Zwangsmitteln oder Geldanreizen haben bewerkstelligen können. Der Score ist der Träger des Wertes, aber zugleich Ausdruck der sozialen Wertschätzung. Folglich geht das Streben nach Glück einher mit der Sorge um den eigenen Score. Vernachlässigt ein Mensch diese seine Bestimmung, begeht er ein Verbrechen an sich selbst und der Gemeinschaft.

Als er hinaustrat, empfing ihn gleißender Sonnenschein. In der Frühe, als er in die Firma gefahren war, hatte es geregnet. Jetzt war der Asphalt so heiß, dass er zu flimmern schien. Normalerweise ließ sich Damian, wenn er die Firma verließ, gleich zu seinem Apartment kutschieren. Jetzt, da man ihm einen Zwangsurlaub auferlegt hatte, fand er es angemessen, ein paar Schritte zu gehen. Vielleicht lag es daran, dass er sich als Statistiker ohnehin mehr in der Welt der Zahlen aufgehoben fühlte, auf jeden Fall fühlte sich der Gang in die Außenwelt noch immer fremdartig an. Das lag nicht unbedingt an der Stadt. Nachdem Nollet, wie Google, Facebook und andere Internetfirmen, Opfer von Bürgerprotesten im Silicon Valley geworden war, hatte man die Zentrale nach Berlin verlegt. Dort hatte man sich mit dem Berliner Senat über den Kauf des Tempelhofer Flugfeldes einigen können. Der Londoner Architekt Usman Haque hatte hier ein Gebäude errichtet, das wie ein riesenhaftes Ufo aussah, das nur zufällig auf diesem Flugfeld gelandet war. Damian, der nie zuvor in Deutschland gewesen war, hatte sich von Anbeginn in diesen Anblick verliebt. Als er sich ein Büro hatte aussuchen dürfen, hatte er eines gewählt, von wo er auf das alte Terminal sehen konnte: ein steinernes Halbrund, das wie eine Art Bugwelle vor dem landenden Raumschiff wirkte.

Wie immer war der Firmensitz von Neugierigen umgeben. Neben Touristen, die wegen des monumentalen Bauwerks, der Ikone des ECO-Systems, gekommen waren, waren es Fans, die auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, was im Innern des Raumschiffs ausgetüftelt wurde, in Scharen hierherpilgerten. Hätte sich Damian normalerweise umgezogen, so fiel er in seiner blütenweißen Nollet-Uniform schon von Weitem auf. Schon nach wenigen Schritten poppten auf seiner Datenbrille diverse Kontaktangebote auf, und das, obwohl er die üblichen Sexangebote geblockt hatte. Da die Anbieter bereits für ihre Offerte einen Obolus entrichten mussten, konnte er an den Bewegungen des Balkens das Steigen seines Scores verfolgen. Veranlasste diese Aussicht vor allem die jungen Entwickler dazu, des Öfteren ein Bad in der Menge zu nehmen, stellte sie überhaupt eine Motivation dar, bei Nollet arbeiten zu wollen. Selbst Carmen, die ansonsten alles dafür tat, um den Eindruck der Unnahbaren zu kultivieren, war, wie er gerüchteweise gehört hatte, von Zeit zu Zeit den Angeboten muskulöser Nollet-Aficionados erlegen.

Weil Damian das Aufsehen, das sein Erscheinen erregte, höchst unangenehm war, betrat er eines jener luxuriösen Etablissements, die vor allem von Lobbyisten genutzt wurden. Hatte die Gegend um das Tempelhofer Feld vor einigen Jahren noch eine kleinbürgerliche Prägung besessen, so hatte die Landung des Ufos eine tiefgreifende Veränderung des Stadtteils bewirkt. Überall waren Hotels und Prachtbauten entstanden, die der Ästhetik des extraterrestrischen Flugkörpers nacheiferten. Jetzt freilich hatte Damian keinen Blick für die Raffinesse der Architektur. In seinem Kopf stand, wie eine große, dunkle Wolke, nur ein einziges Warum. Warum hatte Castoriadis sich auf diese schreckliche Weise getötet? Hatte er irgendetwas übersehen? Lag es vielleicht daran, dass Castoriadis, in einer völligen Verkennung der Situation, das Inquisitionsgespräch als eine Disziplinarmaßnahme aufgefasst hatte? War sein Freitod also die Vorwegnahme einer Strafe, die niemals im Raum gestanden hatte?

Auf sonderbare Weise fühlte sich Damian von dem, was passiert war, selbst befleckt. Zudem ging ihm nach, dass er, als er seine Kollegen von der Social Design Planning Group entdeckt hatte, einfach das Weite gesucht hatte. Schon der Umstand, dass man ihn suspendiert hatte, rief ein ebenso tief sitzendes wie unbestimmtes Schuldgefühl in ihm wach. Negroponte, bei dem er wegen der Störungen seiner Amygdala in Behandlung war, hatte behauptet, dass sich in diesem Schuldgefühl die Überreste des vergangenen Zeitalters artikulierten, wie Damian überhaupt, mit seinem übertriebenen Pflichtgefühl und seiner Ernsthaftigkeit, ein altmodischer Charakter sei.

Wenn es so war, war es nur die halbe Wahrheit. Gewiss hatten seine Großeltern Sorge getragen, ihm eine, wie sie es nannten, ordentliche Erziehung zukommen zu lassen. Die Lebensumstände seiner Eltern hingegen waren unorthodox. Schon seine Mutter hatte dem Reichtum ihrer Eltern den Rücken gekehrt. Mit einem Künstler-Intellektuellen, den sie in der City of Dreams, einem Casino in Macao, kennengelernt hatte, hatte sie sich in Marrakesch niedergelassen, dieser Stadt, die Damian noch heute als märchenhaften Kindheitsort in Erinnerung hatte. Als Damian vier Jahre alt gewesen war, war seine Mutter an einem Hirnschlag gestorben. Danach hatte sich sein Vater, der eine schlecht bezahlte Stelle an der Cadi-Ayyad-Universität innehatte, um ihn gekümmert. Trotzdem hatten die Großeltern alles darangesetzt, den einzigen Enkel dem Einflussbereich seines, wie sie fanden, vollkommen verantwortungslosen Vaters zu entziehen. Letztlich war es zu einem Kompromiss gekommen: Als Gegenleistung für sein Einverständnis, den Sohn auf die St. Edwards Boarding School in Oxford zu bringen, hatten die Großeltern seinem Vater ein Besuchsrecht und eine finanzielle Unterstützung eingeräumt.

Was das Arbeitsethos anbelangte, hatte der großelterliche Einfluss Damian nachhaltig geprägt. Dass man, wie es die Masse im ECO-System tat, sich den Genüssen des Rollenspiels und damit einem durch und durch hedonistischen Lebensentwurf hingeben konnte, widerstrebte ihm zutiefst. Natürlich wusste er um die Paradoxie dieser Empfindung. Denn als Mitglied der Social Design Planning Group wareran der Gestaltung dieser Wirklichkeit maßgeblich beteiligt. Fast alle Gespräche drehten sich darum, wie sie das Spielerlebnis optimieren könnten. Mochte Damian auch unfähig sein, die Früchte der eigenen Arbeit genussvoll zu konsumieren, so zweifelte er nicht im Mindesten am Sinn dieser Aufgabe. Schon als er sich während seines Studiums in Chengs Sprach- und Interaktionstheorien versenkt hatte, war ihm klargeworden, dass sich die alte Welt überlebt hatte, hatte er im Zeitraffer verfolgen können, wie sie zusammenbrach. Mithilfe intelligenter Programme und einer kleinen Schar von Systemarchitekten ließ sich eine riesenhafte Maschinerie betreiben, die ehedem die Arbeit von Abertausenden, ja Millionen von Menschen eingefordert hätte. Nunmehr wurde nicht mehr bloß die Muskelkraft der Industriearbeiter durch Roboter ersetzt, auch akademische Qualifikationen fielen der Rationalisierung zum Opfer. Der Hass, der sich in den Bürgerkriegen von 2023 bis 2024 entlud, galt also nicht den Profiteuren der Krise allein, sondern war Symptom einer tiefen Entwürdigung, dem Gefühl, letztlich nutzlos und überflüssig zu sein. Erstaunlicherweise war die Maschine, die die Menschen überflüssig gemacht hatte, zugleich ihre Rettung. Denn der ungeheure Erfolg der neuen Währung war nur die Folge einer radikalen Digitalisierungsmaßnahme: der Ersetzung der Arbeit durch Spiel. Im Spiel löste sich ein, wovon die Politiker nur hatten träumen können: das bedingungslose Grundeinkommen, Zugang zu Bildung, eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft.

Hatte Cheng mit seiner Verschlüsselungstechnik die Grundlage für eine neuartige Weltwährung geschaffen, so hatte sein Weggefährte Khan mit seinem Nachkriegsspiel Amnesia eine neue Form der Unterhaltung entwickelt, bei der die Realität selbst zur Spielfläche geworden war. Im Schatten des Erfolgs, der alle Maßstäbe sprengte, wurde der Konzern nicht mehr als Garant des Scores und der Währungsstabilität betrachtet, sondern als Unterhaltungskonzern, der die Spieler mit immer neuen Thrills und Sensationen bespaßte.

Die Bedienung brachte den Eistee, um den Damian gebeten hatte. In den gewöhnlichen Restaurants hatten längst Service-Bots derlei Aufgaben übernommen, hier erklärten sich die astronomischen Preise vor allem dadurch, dass Bedienen zu einer kultischen Verrichtung geworden war. So wetteiferten die Kellner darum, den Kunden ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Als er einmal mit Justine hier gewesen war, hatte sie ihm erzählt, das Aldebaran habe sich vor allem als Schule der Devotheit einen Ruf erworben. Wollte man in ein höheres SM-Level aufsteigen, galt es, hier eine zweiwöchige Ausbildung zu absolvieren. Neben zehn Stunden hingebungsvoller Gästebetreuung bestand die Herausforderung darin, dass die Aspiranten für die Dauer der Ausbildung jeder sexuellen Aktivität entsagen mussten. Die junge Frau, die ihm den Eistee servierte, schenkte ihm, als er sie musterte, ein dankbares Lächeln. Dann stöckelte sie hüftschwingend zu ihrem Tresen zurück. Auch dieser Gang war ein Catwalk, der allein seinem Pläsier diente und ihr wiederum einen erklecklichen Score-Betrag einbrachte. Als er die Abbuchung auf seinem Konto registrierte, erfüllte ihn das mit einer gewissen Befriedigung. Denn dieser Mechanismus war alles andere als trivial. Ganze zwei Jahre hatte die Abteilung daran gearbeitet, diese unterschwelligen Tauschakte in eine Ökonomie der Mikrogefühle zu übersetzen.

Am Nebentisch saß eine ältere Dame, die ihrem bleichgesichtigen Kellner leise, aber unmissverständlich klarmachte, dass sie an einem Ort wie diesem sehr viel besser manikürte Fingernägel erwarte. Der junge Mann errötete. Dennoch bedankte er sich höflich für die Zurechtweisung, ja gab der Dame zu verstehen, dass er begonnen habe, an seiner Physis zu arbeiten.

»So?«, sagte sie zweifelnd und kräuselte ihre Nase.

»Aber ja, ich zeig’s Ihnen gerne«, sagte der junge Mann beflissen und bot ihr das Screensharing eines Videos an. Reflexhaft versuchte Damian, in den Supervisionsmodus überzuwechseln. Auf diese Weise konnte er sich einen Überblick darüber verschaffen, ob die Psychodynamik zwischen den einzelnen Spielern funktionierte. Dieses Privileg stand allein den Mitgliedern der Social Design Planning Group zu. Während gewöhnliche Nutzer nur die allgemeinen Spielerinformationen einsehen konnten, war ihm und seinen Kollegen erlaubt, Einblick in den Lifestream der Nutzer zu nehmen und sich über alle Aspekte eines Nutzerkontos zu informieren. Heute allerdings erhielt Damian eine Warnmeldung, die ihn daran erinnerte, dass er suspendiert sei. So blieb das Video der älteren Dame vorbehalten. Ob sie mochte, was ihr darin präsentiert wurde, war nicht auszumachen. Sie strich sich mit dem schwarz lackierten Fingernagel über ihre trockenen Lippen und entfernte einen Krümel, der sich im Mundwinkel festgesetzt hatte.

*

Für einen Moment hatte Damian das beinah körperliche Bedürfnis, Justines Stimme zu hören. Bis vor ein paar Tagen hatten sie täglich miteinander gesprochen, manchmal hatte Justine ihm auch Zeichnungen geschickt, die sich, wie Storyboards, im Laufe des Tages zu kleinen, absurden Geschichten auffächerten. Manche waren düster, andere von einer großen Heiterkeit, wie die Geschichte jenes dilettierenden Chirurgen, der, wie sie behauptete, dem heiligen Damian nachempfunden sei: einem Märtyrer, der sich als Schutzpatron der Kranken, Friseure und Zuckerbäcker einen Namen gemacht habe. Folglich waren auf den Zeichnungen lauter Personen zu sehen, die auf falsche Weise zusammengenäht worden waren, sah er Kopffüßler, Dreibeiner oder solche, die sich auf allen vieren bewegten.

So wenig Damian hätte sagen können, worin ihre beiderseitige Anziehung bestand, so dunkel war ihm, was genau dazu geführt hatte, dass sich in einer einzigen Nacht eine so große Barriere zwischen ihnen aufgebaut hatte. Das ganze Wochenende über hatte er nachgedacht, ob es nur daran gelegen hatte, dass er ihrer Bitte, sie zu würgen, nicht hatte nachkommen können. Um die beiderseitige Enttäuschung zu überspielen, hatten sie einen Trip genommen. Er war eingeschlafen. Als er aufgewacht war, war Justine verschwunden. Seither hatte er nichts mehr von ihr gehört. Plötzlich hatte er das Gefühl, übergenau hören und sehen zu können, spürte er, wie die Erinnerung an diese Nacht eine Migräneattacke heraufbeschwor. Der Kellner am Nebentisch beugte sich hinab und flüsterte der älteren Dame etwas in Ohr. Sie lachte und entblößte ein makellos weißes Gebiss. Im Gegenlicht sah Damian einen Speichelfaden aufblitzen, der von ihrem spitzen Kinn herabhing. Ihr Gelächter hatte einen durchdringenden, metallenen Klang, der sich tief in seinen Kopf hineinbohrte.

Damian stand auf und stieg die Treppe zu einem der luxuriösen Hygieneräume im Untergeschoss hinab. Er setzte sich in einen der geräumigen Clubsessel, die neben den Hologramm-Kabinen standen, nahm eine Relax und wartete darauf, dass die Wirkung einsetzte. Es war still. Von irgendwoher wehten sanfte Klänge herüber. Während er mit geschlossenen Augen der besänftigenden Stimme seines PsychoBots nachhing, spürte er, wie sich der Anfall wieder legte. Als er die Augen öffnete, sah er, dass sich auch seine Körperdaten wieder eingepegelt hatten: Alles im grünen Bereich. Da er allein war und die Zeit nutzen wollte, stellte er Takao Tashimoto ein paar Vorschläge zusammen, die bei der Nachmittagssitzung diskutiert werden könnten. Weil die meteorologischen Institute vorausgesagt hatten, dass Atlantic City vom Wirbelsturm Stanley getroffen werde, regte er an, dort eine Sondermission zu organisieren. Seiner Einschätzung nach wären dafür die Absolventen der Catastrophe-III-Levels bestens geeignet. Schon die letzten Einsätze hatten gezeigt, dass die Spieler herausragende Leistungen erbracht hatten, die denen der berufsmäßigen Katastrophenhelfer kaum nachstanden. Damit aber waren sie der lebendige Beweis, dass nicht nur alltägliche Verrichtungen wie die Arbeit in einem Café oder in einer Bäckerei als Spielhandlung organisiert werden konnten, auch Katastropheneinsätze funktionierten als Spielmissionen und konnten entsprechend gestaltet werden. Die wirklichen Toten und Verwüstungen, denen man gegenüberstand, waren kein Problem gewesen. Im Gegenteil. Der Ernstfall hatte jene Spielertypen auf den Plan gerufen, die ansonsten, ihrer Gewaltfantasien wegen, eher als kritisch eingestuft wurden. Wenn es aber möglich war, eine Gewaltneigung zu sublimieren, war das Dogma der abweichenden Spielerpsychologie hinfällig. Fortan würde die Aufgabe der Social Design Planning Group darin bestehen, die verschiedenen Spielertypen mit passenden, aber auch sozial nützlichen Aufgaben zu versorgen.

So wie Arbeit zum Spiel, das Spiel zur Arbeit geworden war, war auch der Unterschied von Geld und Score aufgehoben. Jede Interaktion bedeutete einen ökonomischen Akt, auch wenn es den Menschen häufig nicht mehr bewusst war. Das Lächeln, das die junge Frau einem Bewunderer in der Menge zuwarf, hatte eine ökonomische Transaktion zur Folge, ebenso wie der Umstand, dass jemand sich den Namen eines anderen gemerkt hatte. Gewiss, es gab noch immer Unbelehrbare, die in der Ökonomie der Mikrogefühle vor allem eine perfide Unterdrückungsmaßnahme sahen. Hatten sich diese Stimmen zu Anfang mit Gewalt und Terroranschlägen Gehör verschafft, so waren auch die ärgsten Kritiker weitgehend verstummt. Gedanken dieser Art waren nur noch in der Zone zu vernehmen, wo religiöse Eiferer oder Warlords mit ihrer Kritik das eigene Versagen maskierten. Nicht einmal die Voraussage, dass die Menschheit zu einer Masse gleichförmiger und dumpfer Konsumenten herabsinken würde, hatte sich eingelöst. Im Gegenteil. Mithilfe des Scores hatte sich in der Gesellschaft eine Rangordnung ausgebildet, war der Score letztlich das Medium, mit dem man sich vor anderen auszeichnen konnte. Fand jemand eine besondere Befriedigung darin, andere Menschen zu unterrichten, durchlief er die entsprechenden Levels und war ab einem bestimmten Grad tatsächlich als Lehrer einsetzbar. Genauso lief es im Gesundheits- und Pflegesystem. Nirgends herrschte mehr Mangel, und auch die Qualität hatte sich rapide verbessert, schließlich gab es für jede Interaktion Punkte, und wie viele, konnten Damian und seine Kollegen bestimmen. Einzig die Mitarbeiter Nollets, die für die Aufrechterhaltung des Systems zuständig waren, wurden mit Score-Punkten entlohnt, ohne sich im Gegenzug in Spielhandlungen verwickeln lassen zu müssen.

Wenn Damian, etwa weil er mit seinen Kollegen die Funktionsweise einzelner Module simulierte, sich die ablaufenden Transaktionen vor Auge führte, so stellte er sich das System wie einen gigantischen Schwamm oder eine von Adern durchzogene Qualle vor. Obwohl er all das, in tausenderlei Variationen und statistischen Visualisierungen, tagtäglich vor sich hatte, wurde er nicht müde, dieses System zu bestaunen. Nein, mehr noch, es sprach ein tiefes Gefühl von Ehrfurcht in ihm an, wie es die Menschen der Vergangenheit großen Naturschauspielen gegenüber empfunden haben mochten.

Umso verstörender erschien ihm, was mit Castoriadis geschehen war. Wie hatte der Score eines Kollegen so tief sinken können? Eigentlich war das unmöglich. Niemals zuvor hatte er von einem Fall gehört. War es denkbar, dass jemand seinen Score manipuliert hatte? Oder war Castoriadis mit seiner Selbstopferung nur den bösen Absichten eines anderen zuvorgekommen?

Damian schickte seine Vorschläge ab und bekam wenig später ein kleines Dankschreiben Takaos. Selbstverständlich werde er seine Anregungen in die Diskussion einfließen lassen. Gleichwohl müsse er ihn, der Form halber, daran erinnern, dass er suspendiert sei. »Vielleicht«, so schloss er, »entspannst du dich einfach ein bisschen.« Pflichtbewusst, wie Takao war, hatte Damian so etwas erwartet, gleichwohl warf es ihn auf seine Gegenwart zurück. Als er die Treppe hinaufstieg, die ins Café zurückführte, poppte ein Schreiben auf. Es bestand nur aus einem einzigen Satz und trug als Absender das Logo der Firma: »Eine Gesellschaft, die den Anblick des Blutes so scheut wie der Teufel das Weihwasser, ist totalitär.« Derlei Schreiben waren nicht ungewöhnlich. Immer wieder wurden kleine Merksprüche von Cheng oder anderen Größen der Weltgeschichte an die Mitarbeiter versandt – Gedanken, die sie motivieren oder sonst wie anregen sollten. Was dieser Text allerdings sollte, war ihm vollkommen rätselhaft. Vielleicht war er ja witzig gemeint, und er verstand die Pointe bloß nicht. Kopfschüttelnd schloss er die Anwendung, durchquerte das Aldebaran und trat ins Freie.

*

Vom hellen Sonnenlicht geblendet, bemerkte er das Wesen, das sich ihm in den Weg stellte, erst, als es beinahe zu einem Zusammenstoß gekommen war. Ob Mann oder Frau, war nicht auszumachen. Die Personendaten zeigten das Bild eines Mannes, der erst kürzlich aus der Zone in das ECO-System eingewandert war. Sein Score war so niedrig, dass er auf der Ebene eines Parias rangierte. Auf jeden Fall tänzelte dieses merkwürdige Wesen, das in ein Paillettenkostüm aus altmodischen Chips gekleidet war, wie ein Sambatänzer vor ihm her. Mochten die Bewegungen des Körpers auch selbstverliebt scheinen, begriff Damian schnell, dass sie allein ihm galten. Versuchte er an ihm vorüberzuziehen, so stellte er sich ihm in den Weg. Offenkundig arbeitete das Wesen mit einem Rückspiegel, denn als Damian stehen blieb, hielt es in der Fortbewegung inne und tänzelte einfach auf der Stelle vor sich hin, bückte sich und ließ zum Amüsement der Umstehenden das Gesäß kreisen. Um die Einladung zu unterstreichen, lupfte es das Röckchen und entblößte, oberhalb altmodischer Netzstrümpfe, einen behaarten Hintern. Entnervt machte Damian kehrt und wandte sich zurück in Richtung Haupteingang. Schon nach ein paar Schritten hörte er die klickenden Absätze des Tänzers hinter sich. Als er im Gedränge der Menschenmenge kurz innehalten musste, spürte er den Atem des anderen in seinem Nacken. Dann drängten sich ein Unterleib und ein erigiertes Glied gegen sein Gesäß. Er löste sich, begann zu rennen, überquerte den breiten Boulevard und fand endlich, zu seiner Erleichterung, die Firmenlimousine, die er im Augenblick seines Richtungswechsels bestellt hatte.

Zu seiner Überraschung war es nicht die komfortable Version, die seinem Status angemessen war, sondern das Basisgefährt, das ansonsten vom Wachpersonal der Firma genutzt wurde. Kein eisgekühlter Orangensaft, nur eine kleine Flasche Mineralwasser, eine defekte Klimaanlage und Flecke auf den Sitzen, die wie Körperflüssigkeiten aussahen. Gewiss, er hätte sich sofort eine standesgemäße Limousine kommen lassen können, aber er war erleichtert, der Zudringlichkeit des Tänzers entkommen zu sein. Eigentlich war es merkwürdig, dass es überhaupt zu diesem Vorfall gekommen war. Von Rechts wegen hätte seine vom System protokollierte Gegenreaktion den Verursacher mit der entsprechenden Penalty abstrafen müssen. Damian rief sich noch einmal die Personalakte des Mannes auf den Schirm. Als er sie jedoch genauer studieren wollte, erschien abermals die Nachricht, dass ihm der Eintritt in den Supervisionsmodus verwehrt sei.

Was war das nur für ein Tag? Mit dem Augenblick, da Symeon Castoriadis in den Raum getreten war, war alles durcheinandergeraten. Um sich zu beruhigen, rief Damian seinen täglichen Nachrichten-Feed auf. Auf dem Schirm erschien das Logo der Marsexpedition und die Information, dass die Crew der Terra Nova nur noch zehn Tage, sieben Stunden und zweiundfünfzig Minuten vom Eintritt in die Marsatmosphäre entfernt war. Der Commander hatte eine kleine Videobotschaft übermittelt. Sie hätten einen kleinen Sonnensturm überstanden, ansonsten aber laufe alles nach Plan. Die Habitate auf dem Mars seien vorbereitet, das kleine Kraftwerk produziere Methanol, sie hätten genug Sauerstoff, um die sechsköpfige Crew ein Jahr lang zu versorgen. Eigentlich liebte es Damian, sich über den Fortgang der Expedition zu informieren, selbst der Anblick des Logos bereitete ihm Vergnügen. Heute freilich konnte er dem Geschehen nicht viel abgewinnen. Sein Auge tränte wieder, und Schweiß hatte sein Gesicht mit einem regelrechten Film bedeckt.