Über dem Luftmeer - Martin Burckhardt - E-Book

Über dem Luftmeer E-Book

Martin Burckhardt

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Beschreibung

Was genau ist es, was die Moderne ausmacht: die Trennung von Natur und Kultur in den sich herausbildenden Wissenschaften, die politischen und sozialen Errungenschaften der Aufklärung oder doch deren Ende in der massenhaften industrialisierten Vernichtung von Menschenleben im Nationalsozialismus? Denn spätestens danach schien die Moderne auf jeden Fall verbraucht – und taucht doch jedes Mal aufs Neue wie eine Wiedergängerin, eine Untote in den Debatten der Gegenwart auf. Dass das kein Zufall ist, sondern eine Grundbedingung unseres Daseins, liegt an der Entwicklung der Maschine, die als das Unbewusste, die eigentliche Schöpferin der Moderne zu lesen ist. In einer geschichtenreichen Parallelführung, in der von der Entdeckung des Vakuums, des Galvanismus und von den Geheimnissen des Voodoo Haitis zu lesen ist, in der das Panoptikum von Jeremy Bentham, die Babbage-Maschine und Mary Shelleys Frankenstein ihre Auftritte haben, zeigt sich das Bild einer Moderne, die im Verhältnis des Menschen zu sich selbst begründet liegt – als eine Draufsicht von außen, die unser Selbstbild steuert wie ein Rechenprogramm. Dieses zutiefst erschütternde Verhältnis des Menschen zu sich selbst wäre ohne die Maschine nicht möglich, es zu ergründen ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen.

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MARTIN BURCKHARDT

Über dem Luftmeer

Vom Unbehagen in der Moderne

Psychologie der Maschine I

Inhalt

Einleitung

Am Nullpunkt

Geistesdiätetik

Vom Geist des Kapitalismus

Von den Grenzen der Vernunft

Kopflos

Zwischenspiel mit Zombies

Fernbedienung

Geburt eines Monsters

Der Mann in der Menge

Perverse Moderne

Im luftleeren Raum

Anmerkungen

Einleitung

Denken Sie sich die Luft weg.

GALILEO GALILEI, Dialog über die beidenhauptsächlichsten Weltsysteme

Wenn Totgesagte länger leben, so deswegen, weil die Rede über die Welt nicht mit der Welt deckungsgleich sein muss, ja weil das Totsagen, wie der Traum auch, eine Form des Wunschdenkens ist. Sigmund Freud hat diesen Zusammenhang auf überaus lakonische Weise festgehalten: Habe sich nach seinen Vorträgen ein Schweigen eingestellt, als habe er an den »Schlaf der Welt« gerührt, habe man später die Ausbreitung des psychoanalytischen Denkens nach Leibeskräften negiert – was Freud als Zeichen zunehmender Vitalität verzeichnete: »Totgesagt war doch ein Fortschritt gegen Totgeschwiegen!«1

Dieser Logik zufolge wäre auch die totgesagte, ins Postmoderne hinübergerutschte Moderne vitaler denn je. Denn wie häufig ist schon ihr Ende ausgerufen worden! Bereits im Jahr 1944 schrieben Adorno und Horkheimer, in der Antizipation des Atompilzes, die folgende Zeile: »Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«2 Waren mit der Atomspaltung Religion und materielle Welt zertrümmert, so war mit dem Holocaust auch der Glaube an die Menschheit Geschichte, mehr noch: das Vertrauen in jeglichen Fortschritt verloren. Mit dem Sturz in die Nachgeschichte erscheint die Moderne als eine Art Schattenreich.3 Trotzdem sollte das Vertrauen in die Moderne in der Nachkriegszeit einen überraschenden Aufschwung erleben – eine Zeit des Atemholens zumindest. Im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre jedoch wurden Stimmen laut, die mit dem Übergang in die postindustrielle und postmaterialistisch atomisierte Gesellschaft das Thema erneut aufgriffen.4

In Anbetracht dieser Vorgeschichte ist Lyotards Diagnose vom Ende der großen Erzählungen keine einschneidende Geste, vielmehr eine Rede am offenen Grab. Zwar ist seit der Ausrufung der Postmoderne bald ein halbes Jahrhundert vergangen, jedoch ist nicht einmal in Ansätzen sichtbar, was der Moderne nachfolgen könnte. Es scheint, als ob der Moderne das Schicksal eines Serienhelden bevorsteht, der, kaum dass man ihn glücklich aus der Welt rauskatapultiert hat, in neuer Gestalt wiederauftreten muss. Und weil diese postheroischen Wiedergänger zunehmend finster ausschauen, drängt sich der Eindruck auf, als stünde man einer Zombiegestalt gegenüber.5

Konnten sich Adorno und Horkheimer noch der Ahnung nahenden Unheils hingeben, beschreibt die Gedankenfigur des Anthropozäns eine Form des Futur II, genauer: eine Zukunft, die längst schon Vergangenheit ist. Dabei wird der erdgeschichtliche Auftritt des Weltzerstörers auf das Jahr 1784 angesetzt und mit der Erfindung der Dampfmaschine verknüpft.6 Kippt hier das Unbehagen an der Moderne in eine Form des Millenarismus hinüber, ist diese apokalyptische Geistesaustreibung zu einem regelrechten Schlachtgesang angeschwollen. Gewissermaßen erscheint das System als symbolische Zwangsjacke, die ihre Insassen einhüllt und nicht mehr in die Freiheit entlassen will. Als hätte sich das helle Licht der Aufklärung in eine schwarze Sonne, eine menschengemachte Finsternis verwandelt, erhebt das Monster einer weltlichen Apokalypse sein Haupt.

Das Gefühl, in einer Untergangskultur zu leben, ist so groß, dass fast alle gegenwärtigen Zeitstrebungen mit dem Präfix des Post- ausgestattet werden. Konnte der Postmaterialismus, von der Digitalisierung befördert, der Angestelltenkultur noch ein papierloses Büro in Aussicht stellen, lässt die postnationale, postdemokratische, postfaktische Trias keinen Zweifel daran, dass das moderne Selbstverständnis in einen Dämmerzustand, ja eine tiefe Depression verfallen ist. Weil das eigene Haus, wie in dem Film The Omega Man, von eine Zombiearmee belagert scheint, hat die zurückgebliebenen Einwohner das übermächtige Gefühl der Oikophobie7 erfasst. Es scheint nur mehr darum zu gehen, die passende Exit-Strategie zu finden. Aber da jeder Ausweg verstellt scheint, bleibt als einziger Fluchtweg die Apokalypse. Wenn es einfacher ist, »sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«,8 geht mit diesem Offenbarungseid der Einbildungskraft das bittere Eingeständnis einher: So wenig Zukunft war nie!

In schärfstem Kontrast zu den Untergangsfantasien, die seit den Siebzigerjahren die Köpfe beherrschen, steht der Umstand, dass die Moderne, als technologische Entwicklung begriffen, sich nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen anmerken lässt – ja dass sie sich auf eine Weise entfesselt, welche noch ihre leidenschaftlichsten Apologeten in Staunen versetzt hätte. Denn während sich im Psychologischen eine Zukunftsverzagtheit hat herausbilden können, erlebt die Gesellschaft technologisch eine grundstürzende Modernisierung. Ist das 19. Jahrhundert mit Eisenbahn und Telegrafie in den Geschwindigkeitsraum der Moderne eingetreten,9 hat die Digitalisierung die Welt in den Zustand des Instant Karma überführt: in das anything, anytime, anywhere der globalen Echtzeitkommunikation. Von daher ließe sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Moderne nicht vorüber ist, im Gegenteil, dass sie erst im Begriff ist, hochzufahren und zu ihrer Betriebstemperatur zu finden. Die Frage stellt sich: Wie konnte man sich zu der verwegenen Behauptung versteigen, dass die Moderne vorüber ist? Und: Wäre es möglich, dass dieses Totsagen nichts anderes ist als der Beweis unerschütterlicher Vitalität?

Die einzig plausible Antwort auf diese Fragen besteht in der Hypothese, dass die großen Erzählungen, die man sich über die Moderne erzählt hat, die falschen gewesen sein müssen, ja dass sich die Moderne auf denkwürdige Weise selbst missverstanden hat. Man könnte sogar einen Schritt weiter gehen und die Frage stellen, ob dieses Verkennen nicht ein verlässlicher Begleiter der Moderne ist, ihre Zwillingsgestalt geradezu. Bezeichnenderweise ist nämlich das Schreckbild der triumphierenden Moderne (in Form der Digitalisierung) keineswegs ein Produkt unserer Zeit, sondern nimmt seinen Ausgang bereits im 17., machtvoller noch im 18. Jahrhundert.10 Offenbar ist im Bauch der Moderne ein Monster herangereift, ein gesellschaftliches Unbewusstes, das sich peu à peu den Lebensverhältnissen eingeschrieben, das Denken formatiert und die Verhältnisse, im Wortsinn, auf den Kopf gestellt hat. Dass man ernsthaft von einem Digital Native sprechen kann, ist das Resultat dieses Wandels, ebenso wie es Ausdruck einer Begriffslosigkeit ist, wenn nicht gar einer flagranten Illiteralität. Denn wenn dieser Geisteskontinent nicht ebenso unversehens, wie die Insel Atlantis versunken ist, aus den Tiefen des Meeres aufgetaucht sein sollte, woher kommt er dann? Und worin bestehen seine geistigen Wurzeln?

Insofern diese Fragen weitgehend unbeantwortet geblieben sind, tut sich eine Leerstelle auf: die große Erzählung, die nicht erzählt worden ist. Tatsächlich überträgt sich das Paradox des totgesagten, gleichwohl quicklebendigen Monsters auch auf das Verhalten der Menschen. Denn die Bewohner dieses Kontinents, die sich als konsumistische Internationale aller digitalen Segnungen erfreuen, sind vor allem darauf erpicht, sich ihre Zumutungen vom Leib zu halten – dort jedenfalls, wo sie mit Kosten und Mühen verbunden sind. Folglich nehmen sie, wie die Apokalyptiker, Zuflucht zu einer Strategie des katechon, und diese gebärdet sich, je nachdem, als Entschleunigungs- oder als Entgiftungsmaßnahme: digital detox. Ex negativo ist damit das moderne Gesellschaftstriebwerk benannt. Und wie Freud uns gelehrt hat, ist das Totsagen ein Fortschritt. Die Welt scheint aus ihrem Schlaf aufgeschreckt.

Ist von einem Unbehagen in der Moderne die Rede, ist die Erinnerung an Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur nicht fern – und diese Doppelbelichtung wiederum gibt Anlass, das Verbindende wie das Trennende deutlich zu machen. Der Grundkonflikt, den Freud in diesem Werk zeichnet, läuft zwischen Trieb und Kultur – und das Unbehagen, das Freud zufolge den Zivilisierten ergreift, hat damit zu tun, dass der Kultivierungsprozess mit einem Triebverzicht, ja einer Form der Kulturversagung einhergeht.11 Aus der Freud’schen Warte betrachtet, kann jede Kultur nur ein Schattenreich ursprünglicher, mächtiger Strebungen sein, eine platonische Höhe, die ihren Insassen bloß das Schattenspiel jener schwarzen Sonne zuteilwerden lässt, die am Anfang allen Gesellschaftslebens steht: der Libido.12

Insofern diese Gedankenlinie eine unwandelbare, dunkle und per se ahistorische Triebstruktur voraussetzt, ist Freuds psychischer Apparat, seinem Namen zum Trotz, keine kulturelle Errungenschaft, sondern ein Residual der Urzeit. Und in dieser Dunkelzone wiederum tobt sich aus, was Freud die Urhorde in uns getauft hat. In Anbetracht dieser Tatsache läuft der Umstand, dass Freud mit dem Apparate-Begriff eine technische Konnotation durchklingen lässt, nachgerade auf eine Irreführung hinaus. Denn hier werden Apparat und Unbewusstes, Maschine und Natur als ein und dasselbe gedacht. Zudem widerspricht diese Gleichsetzung der Vorgeschichte des Apparates, den Freud als neuronale, elektromagnetische Maschine konzipiert hat – weswegen Begriffe wie libidinöse Ladung, Affektentladung etc. einen selbstverständlichen Platz in seinem Denken besitzen, während die Urhorde, ebenso wie die Urszenen, diesen Apparat erst in einem relativ späten Stadium besiedeln.13

Diese Vorgeschichte, die man ebenso gut als ein Unbewusstes des Unbewussten auffassen kann, wird uns im Folgenden noch häufiger beschäftigen – und sie wird auf eine Gedankenfigur hinweisen, mit der ein anderes, sehr viel geschichtsmächtigeres Modell des Unbewussten verknüpft ist: das Gesellschaftstriebwerk. Schon der Name verrät, dass man es mit einem kollektiven Unbewussten zu tun hat. Das unterscheidet es vom psychischen Apparat Freud’scher Prägung, der von dezidiert individualpsychologischem Zuschnitt ist. Freud trägt dem in der Wortprägung des Über-Ich Rechnung. Diese ist, was wenig bekannt ist, die Umformulierung eines Konzeptes, das erstmals in Heinroths Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlungen von 1818 erscheint, hier aber den Namen des »Über-Uns« trägt.14 Freud übernimmt das Konzept, aber verengt es auf den Einzelnen. Damit wird das kollektive Unbewusste privatisiert und der psychische Apparat erfolgreich in der bürgerlichen Welt angesiedelt. Und genau darin liegt auch seine erkenntnistheoretische Grenze, das Problem, das die Psychoanalyse mit der Moderne hat.

Es ist also nichts Geringeres als der psychische Apparat selbst, welcher der Erkenntnis dieses modernen Gesellschaftstriebwerks im Weg steht. Zwar konzediert Freud, dass der Mensch durch die Technik zu einem Prothesengott geworden sei, ja ein geradezu märchenhaftes Vermögen erworben habe – gleichwohl kommt Freud aber immer wieder auf den alten Adam zurück.15 Demgegenüber zeigt schon die Begriffsprägung des Gesellschaftstriebwerks die Richtung an, in die die Kritik geht. Denn der Trieb, der zum Triebwerk wird, lässt die Vorstellung einer unwandelbaren Libido hinter sich.16 Stattdessen tut sich der fremde Kontinent eines historischen Unbewussten auf, welches die Triebstruktur modifiziert – und auf diese Weise nie zuvor da gewesene, moderne Begierden ins Spiel bringt. Damit aber verschiebt sich der Schwerpunkt.

Denn während die klassische Psychoanalyse auf die immer wiederkehrenden Urszenen zurückkommt (Ödipus, den Vatermord etc.), verlangt das Gesellschaftstriebwerk, dass man sich mit dem je gegebenen historischen Triebwerk, und damit auch dem psychischen Treibstoff einer Epoche, auseinandersetzen muss. Das setzt voraus, dass man die Grenzen der Individualpsychologie überschreiten muss. Nur so kann sich der Blick auf jenes kollektive Unbewusste öffnen, das die Mentalität einer Epoche bestimmt. Genau das ist mit dem Begriff des Gesellschaftstriebwerks gemeint. Wir können es uns als einen kollektiven psychischen Apparat denken, der sich nicht mehr im Innenleben der Menschen befindet, sondern in die Realität ausgelagert worden ist: in ihre Werkzeuge, Institutionen, Diskurse. Man könnte – was vor dem Prospekt der Guillotine durchaus eine Sinnfälligkeit besitzt – von einem kopflosen Unbewussten sprechen, das heißt einer Kraft, die sich im Raum zwischen den Menschen artikuliert.

Schon der Begriff des Interesses, der als inter-est im Angelsächsischen für das zinsheckende Geld steht, verortet diesen Gedanken in der uns vertrauten Umgebung: dem modernen Kapitalismus. Diese Verortung unterscheidet das Gesellschaftstriebwerk auch vom kollektiven Unbewussten Jung’scher Prägung. Denn insofern dieses in die Welt der Mythen und Märchen hineinreicht – und mit seinen Archetypen die Problematik des Immer-schon esoterisch verkleidet17 –, gelingt es Jung, die Historizität der Psyche aus dem Blick zu verbannen. Der Kunstgriff besteht, wie im Fall Freuds, in einer psychologia perennis: einem psychologischen Grundverständnis, das die Gegenwart als Verkleidung uralter, immerwährender Problemstellungen begreift.

Demgegenüber stellt das Gesellschaftstriebwerk einen in die Wirklichkeit ausgelagerten, zugleich historischen apparatus communitatis dar – ein Phänomen, dem die Humanwissenschaften mit Verlegenheitsbegriffen wie Zeitgeist oder Mentalität begegnet sind. Dieser Apparat kann, obzwar allgegenwärtig und tagtäglich bearbeitet, zu großen Teilen unbewusst wirken. Man muss nicht lange suchen, um sich von der Gültigkeit dieser Aussage zu überzeugen. Schon ein Geldschein reicht aus, um zu sehen, wie sich ein abstraktes Zeichen der Psyche eines Menschen bemächtigt; das gilt nicht minder für jene sozialen Zauberwirkungen, die wir den Monstern unserer Vernunft, den Maschinen und Künstlichen Intelligenzen, angehängt haben. Das Gesellschaftstriebwerk setzt sich als Introjekt in das Denken der Menschen hinein – vor allem aber strukturiert es die Art und Weise ihres Begehrens. Folglich verwundern wir uns nicht weiter, wenn wir von einem Menschen hören, der sich einer Schönheitsoperation unterzieht, um endlich dem eigenen Profilbild ähnlich zu sehen. Erinnern wir uns daran, dass Freud den Zivilisationsprozess weitgehend als Kulturversagung auffasst – das heißt: als homöopathische Verdünnung einer ursprünglich übermächtigen Libido –, kommen mit den künstlichen Paradiesen der Moderne auch neuartige Gelüste ins Spiel.

Auf die gleiche Weise, wie wir von einem Biotop sprechen, könnte man demgemäß von einem Psychotop der Moderne sprechen – einem geistigen Raum, der auf die Individuen zurückwirkt und damit eine psychotrope, also bewusstseinsverändernde Größe darstellt. An diesem Punkt wäre die Frage zu stellen, inwieweit das Psychotop überhaupt eine Einheit vorzuweisen hätte – oder ob man es nicht mit einem Komplex zu tun hat, der sich nur in bildlicher Form als Einheit fassen lässt. Wir begegnen hier dem Dilemma aller Soziologie, die, wann immer sie mit der Problematik des Gesellschaftsganzen konfrontiert wird, sich in allerlei Hilfsbegriffe hineinflüchtet. So spricht man, je nachdem, vom Gesellschaftssystem – und assoziiert diesem eine Maschine oder einen Apparat, allerdings nur, um im gleichen Atemzug darauf zu insistieren, dass man das lediglich im metaphorischen Sinn tue, wie man etwa von einer machina mundi redet.

Aber auch das uneigentliche Sprechen bringt, mit der Wahl der Metapher, einen Realitätsbezug auf den Tisch – und damit: das Problem der Geschichte. Redet man beispielsweise davon, dass die Welt ein großes Räderwerk, ärger noch: eine Mühle sei, würde jeder aufgeweckte Student einwenden, dass das mechanische Zeitalter vorüber ist. In Anbetracht dieses Metaphernproblems ist es sehr viel eleganter, wenn man dem Freud’schen Vorbild folgend das System zu verewigen weiß – etwa dadurch, dass man es in einen übergeschichtlichen Rahmen verpflanzt. So hat Niklas Luhmann die der Biologie Maturanas entlehnte Formel vom autopoietischen System auf die Gesellschaft übertragen – und mit dieser biologisch-evolutionären Logik das Problem der konkreten Historizität abgestreift.18 Eine andere, nicht minder erfolgreiche Verleugnungstechnik besteht darin, dass man den Gesellschaftsbegriff versprachlicht: Das Begehren schreibt den Text, wie Roland Barthes formuliert hat. Das ist der Kunstgriff Foucaults, der eine alte rhetorische Technik aufgreift, das »Dispositiv«, um die Gesellschaft als écriture mecanique zu charakterisieren: einen sich selbst schreibenden Text, der vor allem die gesellschaftliche Macht-Batterie paraphrasiert, organisiert und verwaltet.19

Inwiefern nun unterscheidet sich das Gesellschaftstriebwerk von diesen Gesellschaftsmetaphern? Handelt es sich ebenfalls nur um eine Metapher – oder besitzt das Gesellschaftstriebwerk umgekehrt eine dingliche Kraft? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich auf das Konzept der universalen Maschine rekurrieren, das seit den Metamorphosen von Raum und Zeit ein Leitmotiv meines Denkens ist. Ausgangspunkt dieser Gedankenfigur war eine Frage, die in ihrer Schlichtheit einer Kinderfrage gleichkommt: Was ist ein Computer? Versucht man den Werkzeugcharakter eines Computers zu fassen, ist man mit der Verlegenheit konfrontiert, dass seine Zwecke unabschließbar sind, ja dass man es weniger mit einem Werkzeug als vielmehr mit einer Werkstatt zu tun hat, der alle erdenklichen Werkzeuge entspringen können – auch solche, die noch nicht einmal ersonnen sind. Die universale Maschine wirkt also morphogenetisch – das heißt: Sie erzeugt Formen nach ihrem Bild.20 Folglich skandiert jedes Stück Software, auch wenn es im Detail neu und unerhört sein mag, die Logik der Null und der Eins – und reiht sich auf diese Weise in eine gedankliche Kette ein. In diesem Sinn scheint in jedem Werkzeug, der forma formata, die formgebende Form, die forma formans, auf.21

Genau dieser nicht versiegenden Schöpfungskraft wegen kann das Verhältnis, das die Gesellschaft zu einem solchen Triebwerk entwickelt, eine libidinöse Aufladung erhalten. Die universale Maschine erscheint als magischer Spiegel, der einerseits das Gegebene auf den Begriff bringt, andererseits die Zukunft vorherzusagen vermag. Folglich spricht man der Maschine eine künstliche Intelligenz zu, die über den Kopf des Einzelnen deutlich hinausgeht – und macht sie solcherart zu einem kollektiven Phantasma, das die Position eines Gottes besetzt. Insofern wohnt dem Gesellschaftstriebwerk ein Doppelcharakter inne. Zum einen stellt es, in Gestalt der universalen Maschine, ein reales, wirkmächtiges Gesellschaftstriebwerk dar – zum anderen tritt es, als Verheißung der Zukunft, als transzendente Batterie in Erscheinung. Schon deswegen greift man zu kurz, wenn man sich lediglich mit der Gesellschaftsmetapher bescheidet. Denn wenn der Maschine eine phantasmatische Aufladung zuteilwird, ja wenn die Maschine als gesellschaftsüberwölbende Größe erscheint – als apparatus communitatis, als Über-Uns –, so besagt das umgekehrt, dass das Gesellschaftstriebwerk nicht bloß auf eine Positivität verweist, also das, was wir üblicherweise »Realität« nennen, sondern eine psychische Realität darstellt: das, was ich ein Psychotop nenne.

Das Psychotop, das sich mit dem neuen, digitalen Gesellschaftstriebwerk einstellt, lässt sich nicht als etwas Immer-schon-Dagewesenes begreifen, sondern verändert, mit der conditio humana, auch das Begehren. Charles Baudelaire hat diese Einsicht seiner Widmung zu Die künstlichen Paradiese vorangestellt, das sich vor allem mit der Wirkung von Haschisch und Opium beschäftigt: »Liebe Freundin, der gemeine Verstand sagt uns, dass die Dinge der Erde nur wenig Dasein haben, und dass es Wirklichkeit nur in den Träumen gibt.«22 Anders gesagt: Realität konstituiert sich über die Träume, denen eine Gesellschaft nachhängt und zu deren Realisierung sie sich symbolischer Formen bedient. Demgemäß ließe sich das Gesellschaftstriebwerk, in einem buchstäblichen Sinn, als Traumfabrik auffassen.

Ein advocatus diaboli könnte an dieser Stelle einwenden, dass der Begriff des Gesellschaftstriebwerks ebenso gut durch den Begriff der Kultur ersetzt werden könnte. Darauf wäre zu entgegnen, dass ein Kulturbegriff, der der Logik des Ackerbaus entspringt, also den Dingen der Erde, die Gedanken auf eine falsche Fährte führt, ja, sie stumpfsinnig die immergleiche Ackerfurche entlangtrotten lässt.23 Warum? Weil die diesseitigen Artefakte sich nicht der cultura, sondern einem Denken verdanken, das der Maschine entspringt.

Und die Maschine wiederum, die man, ins Altgriechische zurückübersetzt, als Betrug an der Natur auffassen muss, verlagert den Standpunkt: weg von den Dingen der Erde, hin zu den Fantasien, die sich mit den Symbolen verbinden. Mit ihr kommt ein Begehren ins Spiel, das man als Droge der Weltfremdheit auffassen kann: alien logic. In jedem Fall werden hier all die Gespenster in die Welt entlassen, die sich als die verlässlichsten Begleiter des Abendlandes herausgestellt haben.24 Das Begehren des Gnostikers – der, um seines Seelenheils willen, seinen Leib zu überwinden, ja abzutöten sucht – mag uns Nachgeborenen als Überspannung, geradezu als religiöses Delirium erscheinen. Aber strukturell nimmt es die Ratio vorweg, die unsere Gegenwart charakterisiert. Der Computerchip, der alle anderthalb Jahre eine Verdopplung der Geschwindigkeit bietet, bringt die Überwindung der Körperlichkeit auf den Begriff – denn mit ihm lässt sich das Wissen der Welt buchstäblich auf einem Sandkorn speichern. Während der Sand am Meer in der Bibel noch als Zeichen des Inkommensurablen gilt, hat sich die industrialisierte Gnosis seiner bemächtigt – und ein künstliches Paradies geschaffen, in dem das Glück stets nur einen Mausklick entfernt liegt. In dieses Gesellschaftstriebwerk verstrickt und vernetzt, muss jeder Rekurs auf die Erdgebundenheit – mag sie als unberührte Natur oder in Gestalt des edlen Wilden auftreten – auf die Verleugnung der wahren Kräfte hinauslaufen.

Wie im französischen Park die Wege schnurgerade auf das Zenstrum politischer Macht abzielen, während die Bäume wie Soldaten zum Defilee hintereinander aufgereiht stehen, gibt es im künstlichen Paradies kein urwüchsiges Wachstum, so wenig wie man eine unveränderliche Triebstruktur voraussetzen kann.25 Das Gesellschaftstriebwerk, das den Gesetzen der je vorherrschenden universalen Maschine folgt, bedient sich eines neuartigen Treibstoffs. Folglich hat es, als symbolische Form, mehr mit einer bewusstseinserweiternden Droge als mit einem Naturprodukt zu tun. Und weil die Droge, wie man weiß, abhängig macht, ist dem endogenen Trieb eine konkurrierende Triebstruktur zur Seite gestellt – ein Begehren, das wie eine synthetische Droge sich einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Laboratorium verdankt. Greifen wir die Frage nach dem Archetypen auf, so ist dieser nicht immer schon da gewesen, sondern modern, wie der Rave der Technokultur, der sich dem Blubbern eines Acid-House-Synthesizers verdankt.

Weil das Psychotop, das sich im Zeichen eines Gesellschaftstriebwerks herausbildet, formierenden Charakter besitzt, also psychotrop wirkt, spricht man von Digital Natives.26 Damit ist implizit gesagt, dass diese sich in ihrer Trieb- und Charakterstruktur wesentlich von ihren Vorfahren unterscheiden. Eine derartige Zäsur ist im psychischen Apparatur Freud’scher Prägung nicht vorgesehen – so wenig wie der Umstand, dass das Gesellschaftstriebwerk Rückwirkung auf die Individualpsychologie hat. Denn das würde implizieren, dass der individuelle psychische Apparat als Phänotyp eines je historischen Genotyps zu lesen ist, also eine mentalitätsgeschichtliche Codierung besitzt.

Eine solche Historisierung könnte erklären, warum die klassischen Krankheitsbilder wie Hysterie, Zwangsstörungen etc. einer diffusen Borderline-Symptomatik Platz gemacht haben und was das über die zeitgenössische Netzwerkgesellschaft aussagt. Damit verlöre der Begriff der »Moderne« seine Vagheit – wäre damit doch gesagt, dass die Modernität der Moderne genau darin besteht, dass die Gesellschaft sich eines neuartigen Gesellschaftstriebwerks bedient. An die Stelle der untauglich gewordenen großen Erzählungen würde nun eine neue Erzählung treten. Und eine ihrer ersten Aufgaben bestünde darin, das Paradox der totgesagten, de facto jedoch nur mehr sich beschleunigenden Moderne aufzulösen.

Denn wenn der Fortschrittsglaube der Moderne erlahmt ist,27 die Beschleunigung des Internetzeitalters jedoch ins Exponentielle übergegangen ist, so zeigt das nur, dass das Gesellschaftstriebwerk seinen Insassen über den Kopf gewachsen ist.28 Aus diesem Grund wird das System als unzugehöriger Fremdkörper erlebt, als toxische Größe, die dem Einzelnen uneinlösbare Forderungen auferlegt. Andererseits ist unübersehbar, dass die digitale Welt neue Begierden erzeugt und auf diese Weise den psychischen Apparat modifiziert. Deswegen greift das Freud’sche Konzept der Kulturversagung deutlich zu kurz, lässt sich das Gesellschaftstriebwerk ebenso gut als Kulturzumutung auffassen.

Dabei besteht die Zumutung darin, dass sich mit der Änderung des psychischen Apparats neue Praktiken, Persönlichkeitsstrukturen und Ziele einstellen. So kann das, was gestern eine Verheißung war und heute als Verpflichtung verbucht wird, morgen bereits die Gestalt einer unerträglichen Zumutung annehmen. Waren die ersten Benutzer des Internets verzückt, endlich »drin« zu sein, zeigt sich eine Generation später, dass die Immersion ihren Preis hat und dass dieser in einer beständigen Erreichbarkeit besteht: 24/7, allüberall, rund um die Uhr. Was Marx ominös »Entfremdung« genannt hat, hat in Gestalt des digitalen Zwillings Dingform angenommen. Dass man der Pflege seines Avatars eine solche Sorge angedeihen lässt, dass mancher auf den Gedanken verfällt, den eigenen Leib einer angleichenden Operation unterziehen zu müssen, belegt, dass die digitale Heimsuchung auf eine Dezentrierung hinausläuft: einen Exodus aus dem eigenen Ich. Das ist es, was sich mit der Postmoderne und dem Ende der großen Erzählungen verbindet: die Angst, aus den Selbstverständlichkeiten der Vergangenheiten vertrieben zu werden. Das Unbehagen in der Moderne.

Wie man weiß, ist ein Computer nicht denkbar ohne die materielle Überwindung der Körperlichkeit. Diese nimmt ihren Anfang in der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, die mit dem Koordinatensystem und dem Vakuum den geistigen Nullpunkt bietet, dem schließlich die Dampfmaschine, die Bemeisterung der Elektrizität und die binäre Logik entspringen. Diese Reihenfolge mag den Apologeten der Singularity sonderbar, mindestens aber ungewohnt vorkommen. Wenn jedoch, wie nahegelegt, die Maschine als Betrug an der Natur verstanden werden soll, ist es notwendig, die energetische Vorgeschichte unseres digitalen Gesellschaftstriebwerks ins Auge zu fassen.

Hier freilich stoßen wir auf ein Rätsel. Denn konsultiert man die Wissenschaftsgeschichte, so zeigt sich das 17. Jahrhundert nicht als Kindheitsphase unserer Computerwelt, sondern als Apotheose der universalen Maschine, die dem Computer vorausgeht – der mechanischen Uhr, genauer: des Räderwerkautomaten. Dieser Automat erlebt in der Gedankenwelt eines Descartes seine Himmelfahrt und gilt fortan als Sinnbild der reinen Vernunft. Weil nunmehr die Mechanisierung des Weltbildes dernier cri ist, stoßen Geister wie Huygens, La Mettrie, Baron d’Holbach oder Christian Wolff ins gleiche Horn. Zwar lässt sich beobachten, wie der eine oder andere Denker sich tastend auf die neue Welt einlässt – Leibniz beispielsweise, der sich die Logik der Null und der Eins auf seinen Sarg gravieren lässt –, dennoch werden die zarten Blüten des Neuen von den Gedankenfiguren des mechanischen Psychotyps überlagert.

Der Triumphalismus des mechanischen Denkens ist gleich aus mehreren Gründen bemerkenswert. Denn der Räderwerkautomat ist keineswegs ein Produkt der wissenschaftlichen Revolution, sondern bereits seit dem 12., spätestens aber dem 13. Jahrhundert bekannt. Von daher könnte man sich zu der Aussage versteigen, dass Descartes sich gleich um mehrere Jahrhunderte verspätet – oder umgekehrt: dass der Räderwerkautomat des Mittelalters so etwas wie ein Ding ohne Denker ist, eine geistige Apokryphe. Diese Vorgeschichte aber, welche die Nachwelt mit der Scham des Zuspätkommens konfrontiert (der Hysterese), fällt jedoch kurzerhand unter den Tisch. Stattdessen deutet Descartes das menschliche Artefakt zur metaphysischen Himmelsmaschine um. Damit ist jenes rein geistige Prinzip etabliert, das ihn zur Formulierung seines Cogito führt. Die Folge ist, dass jeder materielle Körper fortan als Symptom dieser Geistmatrix gilt – weswegen es nur folgerichtig ist, dass auch die Tiere als natürliche Automaten aufgefasst werden.

Psychologisch betrachtet könnte man von einer narzisstischen Selbstermächtigung sprechen, über die sich das Denken des Besitzes vermeintlich eherner göttlicher Gesetze versichert. Und weil diese Gesetze, in ein metaphysisches Über-uns hinaufkatapultiert, für alle gelten sollen, ist die retroaktive Verdunkelung der Vorgeschichte conditio sine qua non.29 So besehen erweist sich die Mechanisierung des Weltbildes nicht als Öffnung eines neuen Raums, sondern im Gegenteil: als eine Abschließung, als jener Augenblick, da das Psychotop der mechanischen Uhr in eine geistige Dunkelkammer gesperrt wird, wie der Türke in Wolfgang von Kempelens Schachautomat. Vergessen ist, dass man es hier mit dem Kraftwerk des Mittelalters zu tun hat, das in Gestalt von Wind-, Wasser- und Gezeitenmühlen am Werk war; vergessen, dass die mechanische Uhr bereits an den Kathedralen geprangt und als Notationsautomat Figurengruppen gesteuert hat; vergessen, dass sich der Uhr der Zins und das Ethos des Kapitalismus verdanken (»Zeit ist Geld«); vergessen, dass die Fürstenspiegel des 14. Jahrhunderts die Herrscher zum Takt und zur Pünktlichkeit anhalten; vergessen, dass mit Zentralperspektive und Kartografie der Raum transzendiert und erobert wird.

Gerade in dem Maß, in dem das Psychotop des Räderwerkautomaten zum unhinterfragten Gesellschaftstriebwerk wird, sinkt es in ein Unbewusstes hinab. Insofern sich die Apotheose der Mechanisierung als eine Form des Vergessens deuten lässt, markiert der Nullpunkt des cartesianischen Koordinatensystems ein Grab, eine Maßnahme, bei der die Erinnerung an die Vorgeschichte in ein Nichts hinein entsorgt wird: creatio ad nihilo. Nein, ganz richtig ist diese Beschreibung nicht. Denn mit der Löschung der Genealogie kann die Maschine zur Machtbatterie werden. Folglich stiftet Thomas Hobbes mit seinem Leviathan einen sterblichen Gott, der nach dem Bild eines Räderwerks gedacht ist: ein Wesen, in dem das Gesellschaftstriebwerk zur Staatsmaschine ordiniert wird. Wurde der Wechsel der mittelalterlichen Regentschaft mit dem Schlachtruf: »Der König ist tot! Es lebe der König!« besiegelt, hebt mit der Beerdigung der mittelalterlichen Welt ein neuer Geisteskontinent an.

Was die Geister dazu veranlasst, im Streit der Alten und der Neuen (querelle des Anciens et des Modernes) ein neues Zeitalter, eine strahlend neue Epoche herbeizuimaginieren, ist zu einem nicht geringen Teil Resultat einer Verblendung. Schon im Augenblick ihres Triumphs nämlich wird die Welt der Mechanik mit Phänomenen konfrontiert, die mit der vorherrschenden Ratio nicht zusammengehen wollen. Dem Koordinatensystem und der mathematischen Null gesellt sich das Vakuum zu – jene dunkle Größe, die die wissenschaftliche Welt in einen Glaubenskampf führt: zwischen Plenisten und Vakuisten. Und weil die Fronten hier neuartig sind, finden sich Geister wie Descartes und Hobbes auf der Seite der Traditionalisten, während philosophisch unbedeutendere Geister wie Boyle oder Papin die geistige Avantgarde anführen. Was sich in den Monstern der Vernunft artikuliert, ist nichts anderes als die Geburt einer neuen universalen Maschine, jener Macht, die in der Gegenwart, vor allem in Gestalt der Digital Natives, ihren Herrschaftsanspruch angemeldet hat: dem Computer, oder dem, was wir Digitalisierung, machine learning oder Künstliche Intelligenz nennen.

Mögen viele Zeitgenossen das Gefühl hegen, sie hätten es beim digitalen Gesellschaftstriebwerk mit einem Gebilde der jüngsten Zeit zu tun, wird unsere Erzählung zeigen, dass dieses Monster eine lange Vorgeschichte hat – ja dass es sich den naturwissenschaftlichen, energetischen Grundfragen der Moderne verdankt. In diesem Sinn kann das »Unbehagen in der Moderne« auf gar nichts anderes als eine neue Moderne-Erzählung hinauslaufen, eine Erzählung, die veranschaulicht, wie sich das neue Gesellschaftstriebwerk, ob als Faszinosum oder als Fremdkörper, in das Denken einschmuggelt – und dann, im Laufe seiner Entwicklung, auf untergründige, unterschwellige Art das Bewusstsein verändert. Dass die Veränderungen des Gesellschaftsgefüges nicht nur auf Begeisterung, sondern auf Befremden, nicht selten auf offenen Widerstand stoßen, rührt daher, dass der Drive dieses Triebwerks nicht nur neue Begierden freisetzt, sondern mit vielfältigen Zumutungen einhergeht. Die größte Zumutung besteht gewiss darin, dass die Gewissheiten des alten, mechanistischen Weltbildes hinfällig werden. In dem Maß, in dem die neuartigen Praktiken der Netzwerkgesellschaft sich in der Alltagswelt einhausen, kommt es nun zu Abstoßungsreaktionen. Von daher ließe sich das Unbehagen geradezu als Schatten der Moderne begreifen – und nicht selten mag es erscheinen, als seien sie eins.

In jedem Fall ist derjenige, der in diese Erzählung eintaucht, mit einer Gefühlsambivalenz aus Faszination und Widerwille konfrontiert – Empfindungen, die nicht selten ineinander übergehen. So mag dasjenige, was den Geist berauscht hat, dann zum business as usual ausgenüchtert sein mag, sehr bald schon als Machination einer entfremdenden, menschenfeindlichen Logik aufgefasst werden. Konnte das 18. Jahrhundert in einem Elektrizitätspionier wie Benjamin Franklin einen modernen Prometheus erblicken, ist der neue Prometheus bei Mary Shelley zu einem Wesen mutiert, das aus Leichenteilen zusammengenäht und von einem Blitz ins Leben gerufen worden ist. Karl Marx’ Lamento, dass der Mensch »zu einem Anhang aus Fleisch an einer Maschine aus Eisen« zurechtgestutzt wird, bringt das Erniedrigungsgefühl auf den Punkt.

Dabei ist diese Gefühlsambivalenz aus Enthusiasmus und Abscheu, die sich in den Antinomien von Natur und Entfremdung, Freiheit und Sklaverei wiederholt, nur ein Indikator für die psychische Gewalt, als die die Moderne erlebt wird – eine Gewalt, die nicht nur im Äußerlichen verbleibt, sondern wie ein Virus ins Körperinnere dringt und jeden einzelnen Menschen erfasst. Wenn Laurie Anderson in Anlehnung an William S. Burroughs einmal gesagt hat, dass die Sprache ein Virus aus dem Weltall sei (»Language is a virus from outer space«), so ist damit ein durchaus treffendes Motto angestimmt. Denn auch unsere Erzählung beginnt im luftleeren Raum, damit, dass der Geist, »über dem Luftmeer« thronend, einen extraterrestrischen Standpunkt einnimmt.

Mit dem Vakuum entsteht jener thermodynamische Energiebegriff, der schließlich, in Gestalt der Dampfmaschine, die sich industrialisierende Moderne antreiben wird. Dem folgt die Bemeisterung der Elektrizität, über die sich die Moderne von einer Gutenberg-Galaxis zu einer elektrisierten, nervös gewordenen Öffentlichkeit wandelt. Setzt das im Individuellen das Bild des empfindsamen Ästheten frei, hat hier das moderne Unbewusste seinen Ausgang. Im Gesellschaftlichen entsteht das, was wir »Öffentlichkeit« nennen. Und daraus wiederum entwickelt sich, was Gustave Le Bon »Massenpsychologie« getauft hat. Von der erregten Masse gelangen wir zur Guillotine, die als Schnittstelle zur Moderne den Kopf des Königs einfordert, zugleich aber als gesellschaftliche Rationalisierungsmaßnahme gelesen werden kann. Ihr folgt, in Gestalt der unsichtbaren Hand, die abstrakte Ratio des Marktes, wie sie Adam Smith, vor allem aber Jean-Baptiste Say gelehrt haben. Es folgt eine Exkursion in die Voodoo-Ökonomie, genauer in jenes Land, das, obzwar schon früh mit einer Verfassung gesegnet, die Zumutung des modernen Kapitalismus mit der Erfindung des Zombies beantwortet hat. Von Haiti geht es weiter zur Gothic Novel, genauer: zu Frankensteins Monster, in dem der neue Prometheus in Gestalt seines entlaufenen Doubles, seiner monströsen Zwillingsgestalt, seinen Schöpfer heimsucht. Im darauffolgenden Kapitel ist die Schauergestalt des Romans zum Mann in der Menge geworden – ein stochastisches Selbst, das nicht mehr seiner Besonderheiten wegen, sondern als Abstraktum Angst und Schrecken erregt. Von hier führt der Weg zum modernen Antisemitismus, genauer: zu jener Verschwörungstheorie, die die zeitgenössische Herrschaftstechnik zum Anlass nimmt, das Porträt des Unmenschen zu verfertigen. Ist damit dem Holocaust der Nazizeit der Weg bereitet, führt uns das letzte Kapitel in die Gegenwart, in der sich das digitale Gesellschaftstriebwerk voll ausgebildet hat – aber sonderbarerweise vor allem als toxische, weltzerstörende Megamaschine wahrgenommen wird. Dabei bietet die Flucht in die Apokalypse Anlass, die Frage zu stellen, in welcher Form sie in der Weltflucht eines Don Quijote präfiguriert ist – womit die Betrachtung über das Unbehagen in der Moderne ihren Abschluss findet.

Was dieses Buch, das zugleich den Auftakt zu einer auf mehrere Bände angelegten Psychologie der Maschine darstellt, leisten will, ist nichts Geringeres als eine neue, große Moderne-Erzählung. Anders jedoch als die großen Erzählungen, die von der Postmoderne zu Grabe getragen worden sind, ist diese Erzählung weniger eine Heldengeschichte als vielmehr die einer großen Kränkung. Denn hier wird erzählt, wie unter der Wahrnehmungsschwelle ein neues Psychotop entstanden ist, das eine Reihe von Phantomschmerzen, Missverständnissen und kollektiven Selbsttäuschungen zur Folge gehabt hat. Vor diesem Hintergrund ließe sich vieles, was wir als Charakteristikum der Moderne verstanden haben, als Symptombildung lesen, ja als ein kollektives Phantasma, das sich über das zugrunde liegende Gesellschaftstriebwerk hinwegtäuscht.

Es ist evident, dass diese Erzählung Dinge verhandelt, die in der traditionellen Geschichtsschreibung kaum berührt, geschweige denn in einen Zusammenhang gebracht werden. Dass diese Zusammenhänge gleichwohl existieren, wird offensichtlich, wenn man versucht, die Geschichte jener großen digitalen Kränkung nachzuvollziehen, die auch heute noch die Köpfe beschäftigt. All die Dinge, die in diesem Buch verhandelt werden – vom Vakuum, der Entdeckung der Thermodynamik, der Elektrizität und der Telegrafie, der Entstehung des Unbewussten, der Statistik, der Massenpsychologie und des Antisemitismus –, finden ihre Einlösung in der Entstehung der modernen Computerkultur. In diesem Sinn ist es kein Zufall, dass die Postmoderne und die Entfesslung des Internetzeitalters zusammenfallen – auch wenn die Postmoderne, um der digitalen Kränkung zu entgehen, das Kind mit dem Bade ausschüttet.

Wie die zeitgenössischen Zukunftsängste belegen, die ihr Heil, je nachdem, in der Apokalypse oder im Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter suchen – was auch immer das bedeuten mag –, verhandelt das Unbehagen in der Moderne eine drängende, noch immer unerledigte Frage. Dass einer solchen Erzählung die moderne Selbststilisierung zum Opfer fällt, ist unerlässlich; bedeutsamer freilich ist die Verschiebung des gedanklichen Schwerpunktes: weg vom heroischen Selbstzeugungsakt, hin zu einer Betrachtungsweise, die die sozio- und psychoplastische Bedeutung der Maschine zu würdigen weiß. Damit wäre das Leitmotiv der Psychologie der Maschine intoniert – dass wir nicht die Herren unserer Geschichte sind, sondern dass wir uns mit dem Gesellschaftstriebwerk ein historisches Unbewusstes eingekauft haben, einen psychischen Apparat, der unser Weltbild formatiert – weit stärker, als uns das bewusst sein mag. Warum sollte man das beklagen? Mag sein, dass man die Heldengeschichte zu Grabe tragen muss. Aber das hätte den Vorzug, dass die Moderne endlich anfangen kann.

Am Nullpunkt

Wenn wir das Verschwinden des Mittelalters im cartesianischen Nullpunkt festgemacht haben, so betrifft das nicht bloß die Mathematik und die Philosophie – es hat durchaus politische und gesellschaftliche Implikationen. Das 17. Jahrhundert löst eine Reihe von Problemen, die das ausgehende Mittelalter heimgesucht und in eine Serie nicht enden wollender Konflikte verstrickt haben. In der Figur des Leviathans, der ein sterblicher Gott und eine menschliche Sammelperson zugleich ist, formiert sich der moderne Nationalstaat und werden die Kleinkriege der Renaissance (die guerilla) zur Geschichte. Mit der Gründung der Bank of England, die den Zins und die Geldemission zentralisiert, wird die Staatsmaschine mit einem Motor versehen, der einen steten, verlässlichen Fortschritt ermöglicht: »Zeit ist Geld.« Sah man sich im Mittelalter, um Zinsen erheben zu können, noch zu einem Umbau des Himmels genötigt (in Gestalt des Purgatoriums, wo die Wucherer nun ihre Sünden abzuarbeiten hatten), stellen die Zinszahlungen fortan eine Form der Bürgerpflicht dar, und derjenige, der dieser Pflicht gewissenhaft nachkommt, seine bürgerliche Bonität unter Beweis. Der Soziologe Benjamin Nelson hat seine Dogmen- und Mentalitätsgeschichte des Zinses mit dem wunderbaren Untertitel From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood versehen. Die Weltreligion des Kapitalismus beruht auf der Idee der Fremdheit.