Sechs Wochen im Herbst - Bettina Elpers - E-Book

Sechs Wochen im Herbst E-Book

Bettina Elpers

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Beschreibung

Als Jan ins Dorf zurückzieht, gerät die Welt von Pferdefreundin Katta ins Wanken. Erstens ist sie gerade frisch getrennt, zweitens bringt ihr Exmann seine neue Gattin mit – und diese Maria sucht ausgerechnet Kattas Nähe! Wie die beiden Frauen schließlich gemeinsam die Zügel in die Hand nehmen, um einen schlimmen Verdacht aufzuklären, erzählt diese abgründige, von Hufschlag und Heuduft begleitete Geschichte über Menschen und ihre mysteriösen Geheimnisse.

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BETTINA ELPERS

wurde 1969 in Frankfurt am Main geboren und lebt im Hintertaunus. Von Haus aus Mittelalter-Historikerin, arbeitete sie als Sprachtrainerin, Dozentin, Lehrerin und in der Personalberatung. Die Begeisterung für Pferde begleitet sie schon lange. Sie reitet seit ihrem zwölften Lebensjahr und hält seit zwanzig Jahren ein eigenes Pony. »Sechs Wochen im Herbst« ist ihr Debütroman.

Bettina Elpers

SECHS WOCHENIM HERBST

Roman

Für Mister O.

Mein Dank geht an alle Zwei- und Vierbeiner, die mich inspiriert, kritisiert und unterstützt haben.

Inhalt

Erste Woche

Katta

Maria

Ausritt

Einladung

Brief

Hiltrud

Treffen

Lächeln

Tee

Zweite Woche

Join up

Todesarten

Auftrag

Führarbeit

Julia

Begegnungen

Vergangenes

Wut

Pferdeleute

Ratschläge

Gespräche

Höhenmeter

Überfall

Dritte Woche

Scherben

Streit

Max’ Werkstatt

Zusammenstoß

Wetterbeobachtungen

Versöhnung

Später Besuch

Hunde

Rosen

Antrag

Widerhaken

Vierte Woche

Hinsehen

Detektivarbeit

Pläne

Hinterteile

Zwinger

Daten

Wissen

Privatsphäre

Verdacht

Zweifel

Geruchssinn

Rache

Auflösung

Fünfte Woche

Lack

Schokobraun

Leitartikel

Begehren

Finten

Sonntagsbrötchen

Kolik

Miteinander

Namen

Schneeberge

Erste Hilfe

Gedächtnislücken

Sechste Woche

Genesung

Erinnerung

Erdkraft

Entscheidung

Fische

Frieden

Falle

Schläge

Hellsichtigkeit

Haare

Komplott

Panne

Wehen

Engel

Erste Woche

Katta

Am Tag nach dem Sturm rüttelte der Wind immer noch an den Fensterläden. Katta erhob sich früh, schlüpfte in Reithose, Shirt und Pullover und verließ das Schlafzimmer, das sie seit der gestrigen Nacht mit niemandem mehr teilte. Sie stieg die Treppe hinab und warf einen Blick in alle Zimmer. Nirgendwo eine Spur von Rolf Jagoda, keine liegengelassenen Socken, kein Rasierapparat, keine Zahnbürste, kein Buch, kein Foto, noch nicht einmal eine alte Sportzeitung oder ein Kaugummipapier.

Einem Mann, der so wenig Spuren hinterließ, brauchte man wohl nicht nachzutrauern.

In der Wohnküche stellte sie Wasser auf und sah wartend aus dem Fenster. Rolf hatte diesen Ausblick geliebt. Wiesen und Felder, durch die sich der Krebsbach ins Tal schlängelte. Vor allem aber die Schafherde, die unterhalb des Hauses weidete. »Immer wenn ich diese Schafe sehe, habe ich das Gefühl, es ist in Ordnung.« Das hatte er jedes Mal gesagt, wenn er hinaussah. Was, hatte sie anfangs gefragt. »Nun ja, alles«, war seine Antwort.

Rolf war kein Mann großer Worte. Der einzige Tierarzt am Ort. Arbeitete viel. Unglücklich verheiratet.

Wer war das nicht.

Der Kessel stieß einen gellenden Pfiff aus. Katta goss das kochende Wasser in die Kanne und sah zu, wie die hellbraunen Blätter durcheinanderwirbelten, bevor sie auf den weißen Porzellanboden sanken. Sie hatte diesen Tick, Tee immer frisch aufzugießen. Rolf hatte sie damit aufgezogen, er, der nicht einmal die Sorten unterscheiden konnte, geschweige denn einen guten von einem schlechten Tee. Er müsse lediglich heiß und süß sein, mit einer Unmenge an Milch darin. Da Rolf sie kalt hineingab, war der Tee dann allerdings nicht mehr heiß, aber das war nur einer von seinen Widersprüchen, die sie nicht hatte lösen können. Sie goss den Tee in eine zweite Kanne ab, schenkte sich eine Tasse ein und führte sie an die Lippen, um sachte in den Dampf hineinzupusten.

Wenn auch nicht im Haus, aber wer weiß, vielleicht hatte dieser Mann auf andere Weise Spuren bei ihr hinterlassen?

Es dämmerte eben erst, als Katta an ihrem vor der Garage geparkten nachtschwarzen Geländewagen vorbei in Richtung Dorf ging. Der Weg war übersät von abgerissenen Ästen und Zweigen. Zum ersten Mal in diesem Jahr trug sie gefütterte Reitstiefel und ihre alte Daunenjacke. Ihr Atem bildete kleine Hauchwölkchen in der kalten Herbstluft. Drei Boxen waren auszumisten, drei Pferde zu bewegen. Sie zwang die Mundwinkel nach oben. Angeblich sollte die gute Laune sich dann von selbst einstellen. Sie wartete und ließ die Mundwinkel wieder fallen.

Rolf war also endgültig passé. Eine Affäre mit einem verheirateten Mann war eigentlich auch nicht ihr Stil, all das Verlogene, Geheime, Verschwiegene und Verborgene. Vorbei, vorbei, nie mehr Heimlichtuerei! Hey, das reimte sich …

Sie begann ihren kleinen Reim leise vor sich hin zu singen.

Beziehungen zu beenden, Männer zu verlassen, das war eher Alltag als Ausnahme seit ihrer Scheidung vor sieben Jahren, ihrer katastrophalen Scheidung. Meist war sie mit einem Mann nicht über zwei oder drei Monate hinausgekommen, wenn überhaupt, bevor sich diese gewisse Gereiztheit einstellte und am Ende nur noch Erleichterung, ihn los zu sein, kein Kummer. Bei Rolf waren es fast zwei Jahre gewesen. Fast zwei Jahre, das war lange. Sie spürte Erleichterung und fast keinen Kummer. Ihr Trällern verstummte. Wie viele Männer hatte es in ihrem Leben schon gegeben? Wie viele waren es? Neun? Zehn? Sie zählte sie an den Fingern ab. Ihre Mundwinkel sanken. Wenn sie den Jungen in der siebten Klasse mitzählte, waren es dreizehn. »Du meine Güte!«, entfuhr es ihr. Zwischen ihren noch zum Zählen erhobenen Fingern sah sie direkt in die Augen einer Frau, die versteckt zwischen den Bäumen stand und sich nun, da sie bemerkt worden war, hastig zurückzog, ohne zu grüßen. Riesengroße Augen und ein Leib, der dick und unförmig wirkte im Vergleich zu dem schmalen, halb unter einer Kapuze verborgenen Gesicht.

»Du meine Güte«, murmelte Katta noch einmal, während sie über einen großen Kiefernast stieg. Natürlich, da sie auf dem Grundstück von Jan stand, musste dies wohl seine Frau sein. Frisch verheiratet und erst vor Kurzem mit ihm hergezogen. Denn: Jan war wieder zurück. Jan Mortau war zurück, die Nummer sechs, und auch die Nummer zwei, den Jungen in der siebten Klasse mitgezählt, und eigentlich auch Nummer vier. Jan schien doppelt und dreifach zu zählen. Jan, verdammter Jan. Ihr Exmann, ihre verrückte Jugendliebe, ihr bester Kumpel für schräge Abenteuer, er war einmal alles für sie gewesen. Vorbei, auch dies vorbei. Sie hatte ihn vergessen in sieben langen Jahren. Es hatte geholfen, dass er weggezogen war, in den Norden, angeblich nach Hamburg.

Nun war er also zurückgekommen und wieder verheiratet.

Sie würde sich bemühen, nicht daran zu denken, den ganzen Tag lang und den nächsten Tag und den übernächsten. Sie war gut darin, sie würde das schaffen. Mit einiger Mühe steckte sie sich zwischen zwei Windböen die erste Zigarette des Tages an und beschleunigte ihre Schritte. Katarina Ann Eva Wolff, von jedermann Katta genannt, neununddreißig Jahre alt, Herausgeberin einer Pferdezeitschrift, Besitzerin dreier Pferde, finanziell unabhängig, allein und frei. Ein eisiger Wind zerrte den Bäumen die Blätter von den Ästen, als eine einzelne Träne warm über ihr Gesicht lief. Katta wischte sie weg und kickte mit ihren Stiefeln in einen Laubhaufen, dass die Blätter aufstoben.

Beim Stall angekommen, stellte sie missvergnügt fest, dass sie trotz der frühen Stunde nicht die Erste war. Um diese Zeit war sie normalerweise allein, und heute wäre sie es wirklich gerne gewesen. Doch da stand die alte Irene, mistete mit langsamen, arthritischen Bewegungen Stuarts Box aus, während sie ihr zotteliges, unerzogenes Pony in einem fort und völlig wirkungslos ermahnte, nicht am Griff der Mistkarre herumzuknabbern. Irene war in Kattas Augen irgendetwas zwischen fünfundsiebzig und hundert Jahren alt, ritt seit Ewigkeiten nicht mehr, wenn sie es denn je getan hatte. Dafür redete sie mit dem Pony, wenn sie es stundenlang auf dem Hof herumführte, und erklärte ihm mit leicht erhobener Stimme, warum es Dinge nicht tun durfte, die Ponys nicht tun durften. Irene gehörte definitiv zu den Einstellern auf dem Hof, denen Katta wohlweislich aus dem Weg ging.

Sie steckte sich eine Zigarette an und wollte schon unauffällig vorbeigehen, als ihr einfiel, dass Irene im Dorf wohnte. Vielleicht wusste sie mehr über die Frau, die sich in Jans Gebüschen versteckt hielt? Da sie noch nie mit der alten Frau gesprochen hatte, wusste sie nicht so recht, wie sie anfangen sollte. Da kam Stuart ihr zupass, indem er endlich die Mistkarre umkippte.

»Brauchst du Hilfe?«, rief sie Irene zu, die sie wohl eben erst bemerkt hatte, ignorierte deren Erstaunen und brachte mit ein paar schnellen Handgriffen die Sache wieder in Ordnung. Ganz nebenbei fragte Katta schließlich nach dem merkwürdigen Wesen oben im Wald. »Sie ist nicht sehr attraktiv, oder? Irgendwie unförmig. Ich meine, hat sie etwas?« Dabei fuhr sie sich vielsagend mit der Hand an die Stirn.

Irene sah sie verwundert an: »Sie ist eine ausgesprochene Schönheit, Katta. Die Frau ist nur schwanger.« Und nach einem weiteren langen Blick fügte sie hinzu: »Aber du hast sie doch schon gesehen! Auf der Party, auf der Party von Rolf!«

»Du meine Güte!«, platzte Katta heraus.

Sie hatte das Gefühl, wenn sie das heute noch einmal sagte, würde sie sich selbst ohrfeigen.

Maria

Maria Mortau hatte sich bei ihrem schnellen Rückzug durch die Tannen an der Hand verletzt. Dabei hatte sie die Frau gespannt erwartet und war trotzdem erschrocken, als sie an ihr vorüberging, mit diesen seltsam aufgefächerten Fingern, und dann hatten sie sich in die Augen gesehen, hatten im wahren Sinne des Wortes einen Augen-Blick ausgetauscht. Das wäre lustig, wenn sie jemandem davon erzählen könnte! Maria betrachtete den Kratzer, der sich vom kleinen Finger über den Handballen schräg nach unten zum Handgelenk zog. Sie versuchte das heruntertropfende Blut abzulecken, aber es kam zu viel.

Oder hatte die andere sie gar nicht wahrgenommen?

Konnte man in die Augen eines Menschen blicken, ohne dass er es bemerkte? Das war eher unwahrscheinlich, oder?

Schließlich fand sie in ihrer Tasche noch ein sauberes Taschentuch und wickelte es um die Hand, die nun auch wehtat. Wie sollte sie ihr das jemals erklären können? Entschuldigen Sie, ich war am Gärtnern, im Herbst ist ja immer so viel zu tun im Garten. Sie könnte sich über sich selbst lustig machen und beide würden lachen.

Aber wem konnte sie jetzt und heute davon erzählen? Ein nasser Zweig streifte ihr die Kapuze vom Kopf und kaltes Wasser lief ihr den Nacken hinunter. Sie schüttelte sich.

Egal. In nicht einmal zwei Monaten würde das Kind zur Welt kommen. Sie sollte sich darauf konzentrieren, glücklich zu sein. Langsam ging sie zum Haus zurück. Es war riesig und protzig und stand von Tannen dunkel umrahmt gegen die Dämmerung. Ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte, ganz anders, als Jan es ihr geschildert hatte. Es war kein bisschen romantisch oder idyllisch.

Mein wunderschönes Haus im Wald für meine wunderschöne, junge Frau – das hatte er gesagt und das Grün seiner Augen war vor Zärtlichkeit ganz dunkel geworden und sie hatte ihm so gerne geglaubt. Insgeheim schwebte ihr wohl so eine Art Blockhaus vor. Wie naiv. Die Wirklichkeit sah ziemlich anders aus. Es gab sogar Säulen und Marmor. Eine strahlend weiße Villa, anmaßend, kühl und arrogant, eine Art Miniaturpalast für eine eher unzulängliche Prinzessin. So hatte sie es anfangs beschrieben, als sie noch mit ihren Freundinnen in Hamburg telefoniert hatte, und sie hatten darüber gelacht. Nun telefonierte sie nicht mehr. Stattdessen verkroch sie sich hinter Bäumen und beobachtete heimlich Leute und ließ sich auch noch dabei erwischen.

Nachdem sie den Hintereingang durch die Spülküche genommen hatte, blieb sie im Flur vor dem großen Spiegel stehen und betrachtete sich. Tannennadeln waren in ihren dichten rotblonden Haaren haften geblieben. Sie umrahmten ein blasses, schmales Gesicht, in dem hellbraune Augen brannten. Ihr Hals ragte lang und schlank aus dem alten Regenmantel, der viel zu groß war, aber dennoch um den Bauch herum spannte. Sie spürte, wie die Zeit an ihr abtropfte. Gedanken an Hamburg, an ihr altes Zuhause, stiegen auf und mit ihnen die Tränen, die ihr über die Wangen liefen und vom Kinn herabfielen. Unverwandt starrte sie in den Spiegel, ihre Augen schauten daraus zurück. Nebelbälle mit darunterliegenden dunklen Schatten, durch den Tränenschleier weichgezeichnet.

Sie sah so jung aus, geradezu kindlich, ein übermüdetes Kind, keine vierundzwanzig Jahre alt. Jung genug, um dem Spiegelbild beim Weinen zuzusehen, kindisch genug, um sich vom Sturm der gestrigen Nacht wachhalten zu lassen. Regelrecht gefürchtet hatte sie sich allein in dem großen Haus.

Was war nur mit ihr los? Diese Stimmungseinbrüche, diese Traurigkeit. Ihre Frauenärztin hatte gesagt, das seien die Hormone, sie solle sich nicht sorgen. Aber in Hamburg hatte sie sich nie so gefühlt. In Hamburg war sie auch nie allein gewesen, in Hamburg waren sie immer zusammen, sie und Jan.

Wie sie ihn liebte und vermisste!

Endlich löste sie ihren Blick vom Spiegel, ließ sich auf den Boden gleiten und schloss die Augen. Unwillkürlich drehte sie an ihrem Ehering.

Wenn jemand sie so fände! Es stand nicht zu befürchten, dass irgendjemand sie in diesem Zustand fand. Sie hatte in den drei Monaten, die sie nun schon hier war, noch keine Freunde gefunden. Ihre alte, verhasste Schüchternheit war in der neuen Umgebung wieder stärker geworden, was wenig hilfreich war. Jan wollte immer nur mit ihr allein sein oder er war geschäftlich unterwegs, wie auch jetzt. Frühestens am Mittwochabend würde er wiederkommen. Er müsse sich durchsortieren, Bankkram erledigen, irgendetwas mit Immobilien und Aktien. Deswegen war er noch einmal nach Hamburg hochgefahren. Sie wusste nicht, was genau er tat.

Einmal gefragt, hatte er gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, er habe genug Geld, um für sie zu sorgen, er sei reich. Wenn sie nicht wolle, müsste sie niemals arbeiten und, wenn sie es so wollte, er auch nicht. Dabei hatten sie Champagner getrunken. Mit ihm schien das Leben leicht.

Es gab diese Momente der Leichtigkeit.

Das Telefon schrillte durch die Eingangshalle. Mit aller Kraft kniff sie die Augen zu. Es war herrlich dunkel, solange sie die Lider geschlossen hielt. Das Telefon klingelte erneut, sie bewegte sich nicht, es klingelte immer und immer wieder, bis der letzte Ton verhallte. Kurz darauf ertönte die Melodie, die sie für Jan auf ihrem Handy eingestellt hatte. Sie wollte nicht unter Tränen drangehen, wollte nicht, dass er es merkte: dass er dachte, sie weine, weil sie unglücklich sei oder nicht erwachsen genug, um ein paar Tage allein zu bleiben. Als es still wurde, hatte sie aufgehört zu weinen. Sie würde sich zusammenreißen.

Langsam stand sie auf, zog den Regenmantel aus und hängte ihn sorgfältig an die riesige Garderobe. Dabei suchte sie automatisch die Taschen ab, damit sie kein blutiges Taschentuch darin ließ, und hielt plötzlich einen glatten Stein in der Hand. Einen Amethyst, violett und leicht durchsichtig, als Handschmeichler geschliffen, ein kleines J war eingraviert und noch ein Zeichen, das sie nicht erkannte, aus verschlungenen Ringen. Sie würde Jan danach fragen, hätte gar nicht gedacht, dass er an Heilsteine glaubte. Gedankenverloren steckte sie den Stein in die Tasche ihrer Jeans und ging ins Kinderzimmer hoch, für sie der schönste Raum im Haus, groß und hell, dessen Fenster auf die weite Rasenfläche hinausgingen.

Jan hatte das Zimmer schon komplett einrichten lassen, bevor sie herkamen, und auch hier war irgendwie alles zu viel, zu perfekt. Er hatte sogar schon nagelneue Bücher in die Regale gestellt, auch eine komplette Märchensammlung. Das wiederum war so lieb von ihm. Er wusste, wie sehr sie Märchen liebte, Märchen und Kinderbücher. Und dennoch hätte sie diese Einrichtung hier gerne selbst in die Hand genommen.

Um sich aufzuheitern, nahm sie das Hochzeitsbild in die Hand. In jedem Raum hatte sie eines auf die Fensterbank gestellt. Jan sah so elegant aus in dem Zwanzigerjahre-Frack, den er zu ihrer Hochzeit getragen hatte. Er sah überhaupt sehr gut aus, niemand konnte etwas anderes sagen. Die leuchtend grünen, leicht schräg geschnittenen Augen, die oft etwas Abwartendes, Taxierendes hatten. Oft lag auch ein Hauch von Amüsiertheit darin, was sie noch nicht recht verstand. Die dunklen Haare, immer ein bisschen zu lang, sogar am Hochzeitstag hingen sie ihm in die Augen. Wie erstaunlich regelmäßig seine Gesichtszüge waren! Von engelsgleicher Schönheit, fast zu weich für einen Mann, wenn nicht die Narben gewesen wären. Kleinere helle Narben, die seinen Zügen etwas Raubtierhaftes verliehen. Wenn er den Kiefer anspannte, wie er es tat, wenn er vor sich hinbrütete, bekam er einen harten, nahezu höhnischen Zug um den Mund. Was öfter geschah, seit sie hier waren. Sollte sie dann fragen, was er dachte? Oder fragte man besser nicht? Sollte sie nicht vielleicht einfach wissen, was ihn bedrückte, als seine Frau? Sie war in vielen Dingen noch so unsicher. Meist ging sie einfach schweigend zu ihm, dann entspannte er sich, lächelte, und sein Mund verlor diese unheimliche Härte. Und wenn er sie küsste, wurde ihr immer noch schwindlig.

Ihre Freundinnen hatten gesagt, er sehe ein bisschen verlebt aus. Vielleicht stimmte das sogar, er war schließlich auch wesentlich älter als sie, fünfzehn Jahre. Auch trank und rauchte er zu viel und schlief zu wenig. Aber das würde sich ändern. Er schlief jetzt schon so viel besser. Als sie angefangen hatten, die Nächte miteinander zu verbringen, war sie erschrocken, wie oft er wach lag. Die Schlaflosigkeit quälte ihn schon seit Jahren.

Schlimmer waren seine Alpträume.

Er schrie im Schlaf, manchmal weinte er. Sie hatte sich nicht getraut, ihn darauf anzusprechen. Aber sein Schlaf sei besser geworden und das liege an ihr, sagte er immer wieder, worüber sie von ganzem Herzen glücklich war. Wenn er sie fest in den Arm nahm, sein Gesicht in ihren Nacken vergraben, dann konnte er einschlafen. Manchmal flüsterte er mit seiner tiefen Stimme, dass sie seine Fee sei, die erste Frau in seinem Leben, die ihm wirklich guttue; dass sie ihn heile mit ihrer Unschuld und Jugend; dass er sie brauche. Das waren die Momente, in denen sie restlos glücklich war.

Was genau dort heilen musste in ihrem Jan, das wusste sie nicht, wie so vieles. Aber schließlich war er ein Mann, der schon ein Leben gelebt hatte, er war so ganz anders als die jungen Kerle, die sie im Studium kennengelernt hatte und die im Grunde dumme Jungs gewesen waren, nett, aber unbeholfen. Jan war ein richtiger Mann, er hatte Charme und Witz und gute Manieren. Sie liebte seine tiefe Stimme und seinen Duft, bei dem sich erdiger Körpergeruch dezent mit einem Vintage-Parfüm mischte.

Überhaupt, sein Körper.

Jan war groß und muskulös vom Krafttraining und Kampfsport, und dann waren auch dort überall Narben, ein helles Muster geheimnisvoller Zeichen. Alter Schmerz, an den sie nicht zu rühren wagte. Nur manchmal, nach der Liebe, zeichnete sie die Linien sanft mit der Fingerkuppe nach.

Meine wilde Jugend, hatte er nur achselzuckend gesagt, als sie sich zum ersten Mal nackt sahen. Abenteuersport, Raufereien, Unfälle – und dann war es auch nicht mehr wichtig gewesen.

Beim Umzug hatte sie ein Jugendbild von ihm gefunden, auf dem er hochgewachsen und schlaksig war, ganz schmal, ganz anders. Der größte Unterschied hatte aber in seiner Haltung gelegen, in seinem Blick. Dort auf dem Bild hatte er etwas unendlich Verletzliches gehabt. Sie fragte sich, wie er es verloren hatte.

Ausritt

Als Katta am frühen Sonntagmorgen an Jans Grundstück vorbeikam, spürte sie erneut Blicke im Rücken, wandte sich aber mit hochgezogenen Schultern ab. Auf keinen Fall würde sie wieder hinsehen.

Wie lange lag diese neue Frau schon auf der Lauer, ohne dass sie es bemerkt hatte? Und was genau beobachtete sie? Den Weg, das Nachbarhaus, das ihr, Katta, gehörte, sie selbst?

Entschieden lenkte Katta ihre Gedanken auf andere Bahnen. Sie hatte hervorragend geschlafen, ordentlich gefrühstückt und wollte ausreiten. Jetzt, da es nach dem Sturm wieder windstill und klar war, freute sie sich auf einen ersten langen Ausritt mit Fürstprimas. Was für ein passender Name für den Trakehnerwallach! Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ein Pferd gekauft, einfach nur, weil sie es so schön fand. Inzwischen hatte sie eine Idee, warum das Tier trotz strotzender Gesundheit und edler Abstammung so günstig gewesen war. Vorsichtig ausgedrückt, war der Wallach unruhig. Das stürmische Wetter hatte ihn gewiss nicht ruhiger gemacht. Sie würde alle Hände voll zu tun haben, um ihn zu bändigen. Das hinderte am Denken. Gut so. Sie rieb sich über die Ohren und verwuschelte dabei ihr kurzes Haar. Es war empfindlich kalt, sie wünschte, sie hätte eine Mütze aufgesetzt, doch noch einmal an der Postenwache vorbei wollte sie nicht zurückgehen. Entschlossen beschleunigte sie ihre Schritte, während sie eine Zigarette aus der Jackentasche friemelte.

Um zum Pferdehof zu gelangen, musste man am Waldrand entlang ins Dorf hinunter, durch eine schmale Gasse direkt wieder aus dem Ort hinaus und einen von Weißdorn gesäumten Feldweg bergauf zur anderen Seite des Tales. Keine zwanzig Minuten zu Fuß, ein Weg, den Katta liebte. Dort auf der Anhöhe lag der Engelshof von alten Kastanien umgeben inmitten weitläufiger Wiesen und Weideflächen.

Nur wenig später tänzelte der große braune Trakehner um Katta herum, rannte fast gegen sie, als sie den Koppelzaun öffnete, stieg dann, als sie ihn zur Ordnung rief, und war zappelig, als sie ihn zum Putzen an der Stallwand festband. Seine Unruhe zerrte an ihren eigenen Nerven. Rolf hatte ihr abgeraten, hatte sie regelrecht gewarnt, das Temperament dieses Pferdes passe einfach nicht zu ihr.

Schon wieder Rolf. Es schien, als sollte sie den Mann heute noch nicht aus ihrem Kopf bekommen.

Sie holte das Putzzeug. Das Striegeln würde sie sich sparen, Fürstprimas mochte es nicht, vielleicht war seine Haut zu empfindlich, vielleicht hatte sie den Trick einfach noch nicht heraus, vielleicht sollte sie es googeln, wie striegele ich einen Trakehner, jedenfalls war ihr nicht danach, das gegenseitige Unbehagen noch weiter zu steigern. Sie nahm eine extraweiche Bürste aus dem Putzkasten, atmete bewusst tief ein und noch tiefer aus und bürstete mit großen, regelmäßigen Bewegungen sanft über das Fell. Immer und immer wieder, bis sie fühlte, dass sich das Pferd entspannte und schließlich mit gesenkten Lidern still dastand. Sie fuhr noch eine ganze Weile fort und genoss den Moment. Dann legte sie langsam die Bürste weg und streichelte Fürstprimas mit den Händen über das samtweiche Fell, während sie ihm leise erzählte, wie schön er war.

Es war das positivste Erlebnis, das sie mit diesem Pferd bisher gehabt hatte. Am besten brachte sie ihn jetzt wieder auf die Weide. Aber was sollte sie dann tun? Ihre Fjordpferde konnte sie nicht reiten, ein Pony zu alt und eins zu jung, aber reiten wollte sie. Also sattelte sie den Wallach, stieg auf und ritt über Feldwege zwischen den Koppeln und abgeernteten Feldern hindurch auf den Wald zu. Das Tier bewegte sich ruhig und gleichmäßig unter ihr, vollkommen entspannt.

Die Gedanken kamen ungebeten, Gedanken an die Party, Rolf Jagodas große Geburtstagsparty zu seinem Fünfzigsten vor zwei Wochen. Einmal da, waren sie nicht mehr beiseite zu schieben. Als ob jeder Schritt ihres Pferdes, jede schwingende Bewegung sie tiefer in die Erinnerung zurückfallen ließe. Definitiv ein schwieriger Abend! Zu viel geraucht, bei weitem zu viel getrunken. Sie war nun einmal nicht abgebrüht genug, um sich ungezwungen unter den Augen von Rolf Jagodas Frau bewegen zu können. Unglücklich und auseinandergelebt hin oder her, es war Betrug, Verrat und Lüge. Zwar war es sein Betrug und Verrat, schließlich hatte er seiner Frau Treue versprochen, aber sie hing mitten drin im Lügengespinst. Die heimliche Geliebte.

Ein Glas Wein in der Hand zu halten, zu essen, was Julia Jagoda zubereitet hatte, und dabei normal und entspannt auszusehen, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Eine Unmenge von Leuten hatte sich im großen Haus des Tierarztes gedrängt. Natürlich kannte sie nahezu jeden. Auch Irene war da, tatsächlich, in einem altmodischen Ballkleid hatte sie ein bisschen ausgesehen wie Miss Marple in »Der Wachsblumenstrauß«.

Katta hatte zu viel geredet und zu grell gelacht. Sie war witzig gewesen, hatte sich aber nicht amüsiert. Nur mit einem hatte sie sorgfältig zu sprechen vermieden und das war Rolf. Nachdem sie ihm so unpersönlich wie möglich zum Geburtstag gratuliert und ihm eine noch unpersönlichere Packung Pralinen überreicht hatte, vermied sie es, ihm zu nahe zu kommen.

Da war die Band gewesen, es hatte tatsächlich Livemusik gegeben. Sie hatte einige Zeit im riesigen Wohnzimmer verbracht und den Jungs beim Spielen zugehört und zugesehen. Sie kannte sie alle noch aus der Schulzeit. Merkwürdige Kerle alle miteinander, aber sie machten nette Musik, einen Mix aus nachgespieltem Latinojazz und ein paar schrägen eigenen Sachen. In einer der Spielpausen hatte sie mit Maik, dem Drummer, über alte Zeiten gequatscht und ein bisschen geflirtet – Nummer drei, wenn sie das richtig in Erinnerung hatte. Da Rolf auf Pferde spezialisiert war, stammten die meisten Gäste jedoch aus der Reitszene.

Sogar die ›Missmutige Elsa‹ war da. Irgendwann war Katta betrunken genug gewesen, um Elsa ein Kompliment über ihr Aussehen zu machen, was ihr nur einen mürrischen Blick eingetragen hatte. Nicht alle Leute sprühten vor guter Laune, wenn sie auf eine Party gingen.

Die Frau ihres ehemaligen Hausarztes, eine schon ältere, zarte Dame, hatte sie in der Küche angesprochen und sie waren sich gegenseitig behilflich gewesen, Kanapees und Salat auf ihre Teller zu häufen. »Herzchen«, hatte sie gesagt, wobei sie Kattas Hand mit beiden Händen umfasst hielt, »Herzchen, ich hoffe sehr, es geht Ihnen gut!«. Der warmherzige Blick aus ihren gütigen Augen ließ Katta ahnen, dass die Frau Doktor so manches gehört hatte, was dagegen sprach. In ihrem Fall fühlte sich das nicht schlecht an, denn die alte Frau verurteilte nicht, sodass sie den Blick aufrecht hielt und sie in ihren Augen lesen ließ. Daraufhin wurde ihre Wange getätschelt und sie wurde mit einem tröstlichen »Ja, ja. Ja, ja« entlassen.

Natürlich hatte sie getanzt. Sie hatte getanzt bis weit nach Mitternacht. – Und dann war da Jan gewesen. Eine schwungvolle Drehung, und plötzlich stand er, nach sieben Jahren, direkt vor ihr, gleich ein bisschen zu nah. Unwillkürlich atmete sie seinen Geruch ein. Grey Flannel! Dass er noch genau so roch, nach all der Zeit das gleiche Parfüm, machte sie fassungslos.

Er trat einen Schritt zurück, zog seine verfluchten Augenbrauen hoch und betrachtete ihr schwarzes, enganliegendes Kleid, ihre Pumps, ihr kurzes Haar, ihren rot geschminkten Mund. Betrachtete sie. Sein Lächeln, sanft und spöttisch zugleich, seine Stimme, zu rau, um cool zu sein.

»Du bist immer noch verdammt gut anzuschaun, mein Schatz.«

Denn du trägst keine Liebe in dir, summte der Text in ihr nach.

Er zitierte doch tatsächlich dieses Lied!

Die Wut kam mit einer vulkanartig eruptiven Kraft, rotglühend, vernichtend, ließ ihr keine Chance, den Ausbruch aufzuhalten. Gehirn tot, weggebrannt. Hatte sie ihn angeschrien? War der abnehmende Mond eine Sichel? Hieß sie Katarina Wolff? Schrieb man ihren Vornamen ohne ein verdammtes H?!

Danach hatte sie sich ernsthaft betrunken.

In der schwärzesten, verwünschtesten Dunkelheit eines sehr frühen Herbstmorgens war sie nach Hause gewankt. Irgendwer hatte sie gebracht, sie konnte sich nur nicht erinnern, wer. An diesem vermaledeiten Morgen, da hatte es angefangen, dass sie keine Geliebte eines verheirateten Mannes mehr sein wollte.

Ein vom Sturm heruntergerissener Ast lag auf dem Weg und Fürstprimas hörte auf, entspannt und gleichmütig unter ihr zu laufen, als sei er ein ganz normales, braves Pferd. Sein Rücken zog sich zusammen wie eine Sprungfeder, bevor er einen riesigen Satz zur Seite und noch fast in der Luft eine Kehrtwende machte. Schon waren sie im Jagdgalopp wieder auf dem Rückweg. Als sie ihn endlich durchparieren konnte, standen sie vor dem Stall. Der Wallach trompetete laut durch die Nüstern, um seinem Unbehagen Luft zu machen, und Katta hatte vor Zorn Tränen in den Augen. Das würde der erste und letzte Trakehner in ihrem Leben sein! Rolf hatte ja so recht gehabt.

Rolf, Rolf, Rolf, und immer noch einmal mehr Rolf.

Und doch hatte sie keine Lust mehr, seine Lügen zu leben.

Hiltrud, die Hofbesitzerin, eine stämmige, durch und durch robust wirkende Frau Ende fünfzig mit roten, drahtigen Locken und von der Kälte gerötetem Gesicht, kam ihr entgegen. »Hatte Euer Exzellenz einen seiner kleinen Ausfälle?«

»Einen seiner größeren, würde ich sagen«, schnaubte Katta und sprang ab.

Das hätte sie nicht tun sollen. Der Trakehner war wesentlich größer als ihre Ponys und sie hing noch in der Luft, als sie ihrem Gefühl nach längst auf dem Boden hätte gelandet sein müssen. Entsprechend hart kam sie auf und knickte um, was ihre Laune nicht verbesserte. Hiltrud hatte die Zügel genommen, half ihr hoch und erntete ein schmerzverzerrtes Lächeln als Dankeschön.

»Wann hast du zum letzten Mal in deinem Leben eine völlig falsche Entscheidung getroffen, Hiltrud?«, knurrte Katta.

Die große Frau lachte laut auf. »Oh, tagtäglich, oder?« Sie reichte die Zügel zurück. »Gerade heute Morgen habe ich mich in aller Frühe wieder beschwatzen lassen und den falschen Einsteller angenommen. Der wird mich Nerven kosten!« Sie lachte wieder und sah nicht im geringsten so aus, als ob ihr Nervenkostüm in Gefahr wäre. Dann klopfte sie Fürstprimas freundlich auf den Hals. »Und der hier war keine falsche Entscheidung. Du wirst schon sehen!«

Katta sah sie misstrauisch an. »Hast du das im Kaffeesatz gelesen?«

»Das habe ich im Gefühl, glaub mir.« Hiltrud lachte sie nochmals herzlich an, klopfte auch ihr freundlich auf die Schulter, was seltsam beruhigend wirkte, und ging zurück in die hinteren Stallungen.

Schließlich versorgte Katta den Wallach, der nun zufrieden und ausgeglichen wirkte, brachte ihn auf die Koppel und kümmerte sich kurz um ihre beiden Ponys. Sie humpelte immer noch leicht, als sie sich auf den Heimweg machte. Jetzt bereute sie, dass sie nicht gefahren war. Beim Verlassen des Hofes kam sie an einem schwarzen Mercedes vorbei, strich mit der Hand leicht über den altmodischen Kotflügel, ein leises Gefühl von Nostalgie. So ein altes Modell hatte sie schon sehr lange nicht mehr gesehen. Daneben parkten zwei Geländewagen, von denen jeder leicht ihr eigener hätten sein können, wäre sie heute dummerweise nicht zu Fuß unterwegs. Verdrießlich humpelte sie weiter.

Obwohl sie nur langsam gehen konnte, kam sie früher nach Hause, als ursprünglich geplant. Deswegen hatte Fritzi sie gleich am Telefon. Fritzi, das war Friedrich Walter, eine feste Größe in der Pferdewelt und Nummer fünf, der Sandwichmann nach Jan und vor Jan, ein hervorragender Reiter, ein begnadeter Trainer und Ausbilder, ein guter Mann. Jetzt sagte er mit seiner klaren Stimme: »Super, dass ich dich erreiche, Katta!«

»Bedank dich bei meinem spinnerten Pferd, sonst wäre ich noch nicht zu Hause.«

»Probleme?«, erkundigte er sich besorgt.

»Nein. Nichts.«

»Nichts …?«

»Fritzi, wegen des Lehrgangs: Ich komme. Samstagnachmittag, vierzehn Uhr. Ist fest eingeplant.« Katta hasste es, wenn der Mann empathisch wurde.

Fritzi räusperte sich: »Nein, ich wollte dich um etwas anderes bitten. Und ich wollte das nicht unbedingt am Samstag besprechen, wenn Anke dabei ist.«

»Du hast Geheimnisse vor deiner Frau? Ich bin entsetzt!«

»Katta. Es gibt da eine mysteriöse Sache. Vermutlich hat es mit Futtermitteln zu tun. Bei uns im Umkreis sind Pferde sehr krank geworden.«

»Und das darf Anke nicht wissen?«, unterbrach sie ihn.

»Natürlich weiß sie das. Sie gehört schließlich zu den Tierärzten, die die Pferde behandelt haben.« Fritzi atmete tief durch. »Ich bin ehrlich gesagt davon überzeugt, dass da etwas faul ist. Ich will dich engagieren. Als Detektivin. Anke muss davon nichts wissen.«

Katta versteifte sich. »Du weißt genau, dass ich das nicht mehr mache. Der Job ist vorbei.«

»Weil Jan dich damals dazu überredet hat.«

»Weil ich es nicht mehr wollte.«

»Du bist gut darin. Du kennst dich aus. Du kennst die Leute, hast das richtige Gespür für Mensch und Tier, wenn es darum geht, etwas herauszufinden. Wenn jemand Klarheit in diese Sache bringen kann, dann du.«

»Lass gut sein, Fritzi.«

»Es kann doch nicht sein, dass du dich immer noch danach richtest, was dieser Mann sagt!«

»Hey, ich bin damals zusammengeschlagen worden!«

»Eine Sache solltest du noch wissen, bevor du ablehnst. Es gibt einen besonderen Grund, warum du die einzige bist, die das aufklären kann.«

»Fritzi. Es gibt einen besonderen Grund, warum ich dieses Gespräch jetzt beende. Ich sterbe nämlich vor Hunger. Wir sehen uns am Samstag.«

Damit legte sie auf. Sie fühlte sich zittrig und tatsächlich sehr hungrig. Vorsichtig humpelte sie in die Küche, um sich Reste aufzuwärmen.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Fritzi es nicht dabei bewenden ließe. Und irgendwie beunruhigte sie das in einer Weise, die sie sich nicht erklären konnte.

Einladung

An eben jenem Sonntagmorgen war Maria fast gegen ihren Willen wieder in ihr Versteck gegangen. An der linken Hand trug sie einen sauberen Verband. Als wieder die zierliche Frau mit dem dunklen Haarschopf mit hochgezogenen Schultern vorbeiging, hätte sie am liebsten ihren Namen gerufen: Katta!

Katta! So hatten die Leute sie auf dieser seltsamen Dorfparty genannt, manchmal mit Empörung in der Stimme, oft mit Belustigung, aber immer mit Ausrufezeichen. Da hatte sie noch nicht gewusst, dass sie ihre nächste Nachbarin war in diesem unfreundlichen, düsteren Wald. Inmitten all dieser Fremden war sie ihr sofort aufgefallen. Doch Katta gehörte nicht zu den Leuten, mit denen Jan sie bekannt gemacht hatte.

Eher klein, mit kurzen schwarzen Haaren und der Ausstrahlung einer dunklen Gewitterwolke, leuchtete ihr Verstand wie ein heller Blitz in jeder boshaften Bemerkung auf, mit der sie ihre Umgebung traktierte. Und das hatte sie auf dieser Party zur Genüge getan. Maria war sofort fasziniert gewesen. Diese Frau war hinreißend frei von guten Manieren und schüchterner Zurückhaltung, beides ihr nur allzu wohlbekannte Fesseln. Mit dieser Frau lachen und Spaß haben musste herrlich sein! Es hatte einen Moment gegeben, als Maria von der Toilette kam und die andere allein stand, da hätte sie hingehen, sie ansprechen können, doch der Moment ging vorüber. Katta sah lediglich durch sie hindurch. Und so hatte Maria sich getrollt, zurück zu Jan, der sie auch noch dem letzten seiner Freunde und Bekannten vorstellen wollte, so stolz war er auf sie. Es war so anstrengend, dass sie sich früher nach Hause bringen ließ, von Übelkeit geplagt und müde.

Maria stand noch immer zwischen den Tannen, ihren rund gewordenen Bauch in den Händen haltend, den Blick ins Tal gerichtet. Dort unten lag das Dorf, das alles bot, was man zum Leben brauchte, und dennoch klein und ländlich genug war, um noch einige Bauern zu beherbergen. Oben auf dem Berg gab es nur noch wenige Häuser, in gebührendem Abstand zueinander von betuchten Leuten von außerhalb gebaut. Vor fremden Blicken im Wald verborgen, boten sie einen herrschaftlichen Ausblick ins Tal.

Diesen Anwesen vorgelagert stand ein einzelnes Haus gut sichtbar am Hang, dem Dorf zugewandt. Dort wohnten, nur wenige hundert Meter entfernt, ihre nächsten Nachbarn. Eine alteingesessene Familie, das hatte sie gleich am Anfang mitbekommen. Es war alt und im Vergleich zu den protzigen Villen in seinem Rücken nicht allzu groß. Das steile Dach hatte einen auffallend hohen Giebel, es gab neogotische Fenster, Erker und Türmchen. Nichts passte so recht zusammen und doch wirkte es einladend, gemütlich und gastlich. Maria betrachtete das Haus seit ihrer Ankunft mit sehnsüchtigen Blicken. ‚Ein wahres Hexenhäuschen!

Und dann hatte sie eines Morgens kurz nach der Party festgestellt, dass Katta die Besitzerin war. Ausgerechnet die Gewitterwolkenfrau bewohnte das Hexenhaus! Da waren die Assoziationen nur so geströmt. Die kleine Hexe droben im Wald, nur mit dem Raben Abraxas als Gesellschaft! Wenn sie es schaffte, einmal plötzlich genug um die Ecke zu biegen, würde sie sehen, wie der Rabe von Kattas Schulter flog, um ins Haus zurückzukehren. Als Kind ihre Lieblingsgeschichte, stand Preußlers Buch immer noch in jeder Küche, die sie bewohnte, neben den Kochbüchern.

Maria sah ihr nach, wie sie mit federnden Schritten den Weg ins Dorf entlangging, bis der dunkle Haarschopf den Berg hinab verschwunden war. Kein Vogel zu sehen.

In ihr brannte der Wunsch, mit dieser Katta zu sprechen, und wenn sie sich dafür in einen verdammten Raben verwandeln und jeden Satz mit »Krah, krah« beginnen müsste.

Alles, nur sich nicht mehr einsam fühlen.

Bei der Vorstellung, am Ende wirklich nur ein heiseres Krächzen zustande zu bringen, musste Maria einen Kicheranfall niederringen. Zurzeit war das so. Weinen und kichern, das konnte sie leicht, es überfiel sie förmlich. Mit dem Reden dagegen tat sie sich immer schwerer. Man kam aus der Übung. Mit einiger Anstrengung arbeitete sie sich aus dem dichten Tannenwäldchen heraus, das ans Südende ihres Grundstückes grenzte. Während sie in der Küche mit Wasserkocher und Rotbuschtee hantierte, fasste sie einen Entschluss …

Nach dem Mittagessen gab sie sich einen Ruck, duschte und wusch sich die Haare, wobei sie beim Ausziehen den Blick in die riesigen Badezimmerspiegel vermied. An manchen Tagen liebte sie ihren schwangeren Körper. An anderen fand sie ihn monströs und heute war definitiv einer der anderen Tage. Diesen Spiegeln aber zu entkommen, die einem den eigenen Körper von allen Seiten entgegenwarfen, war nicht einfach. Man musste im Grunde die ganze Zeit den Blick gesenkt halten, die Augen ganz zu schließen, wäre noch besser gewesen. Abtrocknen, föhnen, neue frische Sachen anziehen und richtige Schuhe, das waren die Äußerlichkeiten. Das Wichtigste jedoch: die mentale Vorbereitung. Maria trat in Jans Wohnzimmer, das die Ausmaße eines Tanzsaales besaß. Ein wenig musste sie in der umfangreichen CD-Sammlung suchen, bis sie auf die alten Grunge-Alben stieß. Das passe so gar nicht zu ihr, hatte Jan gesagt und sie ganz nach hinten gepackt, aber warum sollte eigentlich immer alles passen? Nirvana sollte es tun. Angelegentlich drehte sie die Anlage voll auf, warf ihre Haare nach vorne und fing an, so wild zu tanzen, wie es ihr Zustand zuließ.

Rübergehen, eine Einladung aussprechen, das war der tollkühne Plan. Als Maria schließlich vor dem Hexenhaus stand, war sie nervös. Sie zögerte, dann drückte sie auf eine alte, eingedellte Klingel, die so aussah, als sei sie jahrzehntelang nicht benutzt worden.

Nichts geschah.

Suchend sah sie die Hauswand entlang. Weiter links hing etwas, das ein Klingelzug sein mochte. Er sah eigentlich noch älter aus als die Klingel, trotzdem zog sie daran.

Nichts. Marias Entschlossenheit fing an zu bröckeln. Mein Gott, sie war noch nicht einmal mehr fähig, bei ihrer Nachbarin zu läuten und sie auf eine Tasse Tee zu sich nach Hause einzuladen! Da entdeckte sie den messingfarbenen Türklopfer – in Form eines Pferdehinterns! –, der eigentlich ins Auge stach, weil er so neu aussah. Sie betätigte ihn mehrmals sehr laut. Es dauerte lange, bis sie Schritte hörte und Katta die Tür öffnete. Ihr kurzes Haar war zerzaust. Ziemlich mürrisch sah sie aus. Jetzt, wo sie ihr zum ersten Mal wirklich gegenüberstand, konnte Maria erkennen, dass ihre Augen von einem sehr dunklen Blau, ja, nahezu schwarz waren, ihre Haut dagegen weiß wie Porzellan. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. Nein, keine Hexe. Wenn ihre Haare lang wären, sähe sie aus wie Schneewittchen.

Während Maria sie so ansah, weiteten sich die dunklen Augen der Nachbarin fragend – erschrocken, oder bildete sie sich das ein? Dabei hatte sie doch noch gar nichts gesagt. Sie hatte sich ein paar Worte zurechtgelegt, mehr als nur Worte, ein kleines Gespinst. Dass sie etwas gefunden habe, auf der Straße, zufällig, ob es vielleicht ihr gehöre; dass sie Nachbarinnen seien. Verborgen in der Manteltasche umklammerte ihre Hand eine alte Silberkette, die sie nie trug. Notlügen für Schüchterne, darüber hätte sie ein Buch schreiben können. Doch da war etwas in Kattas Miene, das sie abhielt. Ein derart intensives Misstrauen, dass Maria der Mut verließ. Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen, drehte an ihrem Ehering, als sei er ein Wunschring, dreimal rechts, zweimal links und sie wäre unsichtbar, siebenmal gegen den Lauf des Mondes und die letzten fünf Minuten wären nie geschehen.

Doch dann steckte sie die Hände in die Taschen und sagte einfach: »Wir hätten uns gestern beinahe begrüßt.«

Brief

Katta war einigermaßen fassungslos. Die Frau in Jans altem, gefüttertem Armeemantel starrte sie mit glänzenden Rehaugen an, während sie wie verrückt an ihrem Ring herumfingerte, was die eingearbeiteten Diamanten aufblitzen ließ. Ein Ehering mit Diamanten? Fancy, dachte sie, da hatte Jan sich ja selbst übertroffen.

Sie hörte und hörte nicht auf mit diesem Ring. Vielleicht würde sie ja anfangen, um sich selbst zu kreiseln, und mit einem Pling wieder verschwinden? So ungewöhnlich dies wäre, aber grundsätzlich käme ihr das durchaus entgegen.

Doch schließlich schob Jans neue Frau die Hände in die tiefen Manteltaschen und ihre Augen bekamen einen entschlossenen Ausdruck. Nun gut, dann würde sie wohl nicht verschwinden. Katta wappnete sich, als die Jüngere zu sprechen anfing.

Beinahe begrüßt? Katta sah wieder die unter einer Kapuze riesengroß aufgerissenen Augen vor sich, zwischen Büschen und Bäumen versteckt, und lachte laut heraus. »Beinahe begrüßt? Was machen Sie, wenn Sie jemanden nicht grüßen wollen? Legen Sie sich flach mit dem Gesicht nach unten auf den Boden?«

Die Frau lief zartrosa an, sah aber nicht weg und zeigte sogar ein vorsichtiges Lächeln. »Vielleicht versuche ich das mal. Bisher bin ich einfach schnell weggelaufen.«

Unerschrockenheit im Angesicht des Feindes! Katta war beeindruckt und so sagte sie zu, am Dienstagnachmittag zum Tee vorbeizukommen.

Sie würde also Maria Mortau besuchen, die wie selbstverständlich den Namen ihres Exmannes trug, den sie selbst nie angenommen hatte – und was für ein Zoff das damals gewesen war! Nun, warum nicht. Bizarr, aber warum nicht. Jan war auf Geschäftsreise und dieses seltsame junge Reh hatte sie neugierig gemacht.

Und dann, und nichts hätte Katta darauf vorbereiten können, zog Maria die Hände aus den Taschen des alten Mantels, damit sie sich zum Abschied die Hände schütteln konnten, und hielt plötzlich Jans alten Troststein in der Hand. Den Amethyst, den sie selbst ihm bei der Beerdigung seiner Eltern gegeben hatte, den Stein, mit ihrem alten Zeichen eingraviert. Erstaunt sah Maria darauf und steckte ihn wieder weg, um Katta die Hand zu reichen, die ihre innere Erschütterung erst begriff, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Bis zum darauffolgenden Montagmorgen hatte Katta sich erfolgreich eingeredet, dass eigentlich nichts geschehen war und sie gar nicht mehr an den Stein dachte. Sie musste in dieser Woche früh arbeiten, denn am Freitag war Redaktionsschluss. Der SATTLER war eine Pferdezeitschrift, die aus einem Gewerbeheft hervorgegangen war. Ursprünglich ging es darin tatsächlich nur um Sättel, Zaumzeug und Fahrgeschirre. Das Blatt stand vor dem Aus, als Katta es übernommen und wiederbelebt hatte. Inzwischen lief der SATTLER recht gut, erschien einmal im Monat und hatte eine Auflage erreicht, auf die sie stolz war. Allerdings hatte sie es nie dahin gebracht, dass sie Leute einstellen konnte, und ohne das Erbe ihrer Mutter und das Haus ihrer Großmutter, in dem sie lebte, hätte sie ihre Existenz nicht bestreiten können. Die meisten Artikel schrieb sie selbst, veröffentlichte aber auch Leserbeiträge, die sie nur leicht redigierte. Deren Qualität entsprach oft nicht ihrem eigenen Anspruch, dafür waren sie umsonst. Es gab einen breitgefächerten Veranstaltungskalender, für den sie den Input aus dem Stall nutzen konnte und die Tatsache, dass sie einen riesigen Bekanntenkreis unter den Pferdeleuten unterschiedlichster Couleur hatte. Natürlich hatten die unumgänglichen Kleinanzeigen ihren Platz in dem Blatt und, weitaus ungewöhnlicher, ein großer Literaturteil, in dem Katta alles besprach, was in Sachen Pferd auf den Markt kam. Sie widmete sich nicht nur Sachbüchern, sondern rezensierte gerne auch Romane, die mit Pferden zu tun hatten, ein kleines Tribut ans Germanistikstudium. Ein guter Draht zur Druckerei, die von Olaf, einem freundlichen ruhigen Mann, geleitet wurde – Nummer neun, mit dem sie zwei ruhige und leicht gelangweilte Monate verbracht hatte –, sicherte ihr einen gleichbleibend niedrigen Freundschaftspreis.

Für die letzten Tage, bevor alles in Druck ging, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, sehr früh aufzustehen, den ganzen Tag zu arbeiten und erst am späten Nachmittag für zwei Stunden in den Stall zu gehen, um danach noch einmal eine abendliche Korrekturschicht einzulegen. So stand sie auch diesmal in aller Frühe auf, trank in der Küche einen Tee und starrte hinaus ins Dunkel.

Es war eine Ewigkeit her, seit sie diesen Stein das letzte Mal gesehen hatte. Damals hatte Jan ihn immer mit sich herumgetragen, sie hatte ihr gemeinsames Zeichen eingravieren lassen. Gott, waren sie jung gewesen, so jung, romantisch, pathetisch, todtraurig und ekstatisch. Ich bin jetzt eine Waise und du bist alles, was ich habe, Katta! Katti, Kätzchen.

Mein Gott, was tat sie da? In Erinnerungen schwelgen? Entschlossen trug sie ihre Tasse ins Arbeitszimmer hinauf und startete den Computer. Plötzlich erinnerte sie sich an die Art, wie er mit dem Stein gespielt hatte, ihn durch die Finger einer Hand laufen ließ. Geschickt.

»Schluss jetzt!«, befahl sie laut.

Sie hatte gestern vergessen, die Post hereinzuholen. Das kam davon. Also ging sie wieder hinunter und legte schließlich ein Dutzend an den SATTLER adressierte Umschläge auf den dunklen Tisch, von denen etwa die Hälfte Einsendungen von Lesern versprachen. Die nahm sie sich zuerst vor. Die meisten schickten ihre Artikel ja inzwischen per Mail, aber es gab immer noch Traditionalisten, die ihr Handgeschriebenes auf richtigem Briefpapier zusandten. Auch wenn es mehr Arbeit machte, mochte sie diese Briefe, sie erinnerten sie an ihre Kindheit und Jugend. Eine andere Zeit, eine Zeit, in der man Dankesbriefe an Patentanten schrieb. Und Geheimsymbole auf Steine gravieren ließ, wenn sie schon mal dabei war.

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf und riss die Umschläge auf. Nachdem sie drei Leserbriefe zur Seite gelegt hatte, die sie veröffentlichen würde und zwei Veranstaltungshinweise, blieb ein weißer Umschlag übrig, an den SATTLER adressiert wie die anderen, aber ohne Absender. Die Adresse war auf einer Schreibmaschine getippt. Sie öffnete ihn und holte ein einzelnes, eklig riechendes Blatt heraus, auf dem ein einziger Satz stand. Ihr wurde schlagartig kalt, während sie auf die Schrift starrte: »Halt dich von den anständigen Frauen im Ort fern, du Hure.«

Katta ließ das Blatt fallen, als würde es ihr die Hände verätzen. Es glitt über den Boden.