Secret Citys Frankreich - Klaus Simon - E-Book

Secret Citys Frankreich E-Book

Klaus Simon

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Beschreibung

In Paris war jeder Frankreich-Urlauber schon einmal, in Marseille und Nizza auch. Aber kennen Sie Colmar und Le Mans, Port-Cros und Bonifacio? Falls nicht, brauchen Sie diesen Reise-Bildband. Secret Cities enthält 60 charmante Städte abseits des Trubels, wahre Geheimtipps für den Frankreich-Städtetrip. Hidden Places und unbekannte Insidertipps von der Bretagne bis zu den Pyrenäen ganz ohne Touristenrummel und mit ganz viel Frankreich-Flair.

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INHALTSVERZEICHNIS

SECRET CITYS FRANKREICH – Einleitung

DER NORDWESTEN

1LILLE – Willkommen bei den Sch’tis

2DIEPPE – Beachen und bummeln am Ärmelkanal

3FALAISE – Zur Wiege des Eroberers

4BAYEUX – Ein Teppich macht Staat

5GRANVILLE – Eine Insel für jeden Tag

6MORTAGNE-AU-PERCHE – Es geht um die Blutwurst!

7QUIMPERLÉ – Die Doppelstadt

8MORLAIX – Hafen im Hinterland

9SENLIS – Königsstadt der Kapetinger

10AMIENS – Kapitale der Picardie

11LE HAVRE – Poesie in Beton

12VALOGNES – Juwel der Bocage

13SAINT-GILLES-CROIX-DE-VIE – Tipp in der Vendée

14NANTES – Boomtown an der Loire

15CANDES-ST-MARTIN – Stadt, Heiliger, Fluss

DER OSTEN

16METZ – Strahlende Nächte

17SAVERNE – Taverne der Hausbootkapitäne

18SÉLESTAT – Die Lage macht’s

19ÉGUISHEIM – Ein Kreis schließt sich

20BESANÇON – Im Reich der Zeit

21SEMUR-EN-AUXOIS – Lauter nette Leute

22AVALLON – Im Nebel der Geschichte

23AUXERRE – Burgunds Schokoladenseite

24SENS – Die Stadt von Brennus

25TROYES – Historische Hauptstadt der Champagne

26LUNÉVILLE – Funkelndes Lothringen

27BRIANÇON – Ganz oben in Europa

28GRENOBLE – Frankreichs flachste Stadt

DIE MITTE

29LE PUY-EN-VELAY – Ort der schwarzen Madonna

30VICHY – Welche Quelle darf’s denn sein?

31MOULINS – Ort der Künste und der Kultur

32BOURGES – Schmuckstück im Berry

33LE MALZIEU-VILLE – Malerisches Truyère-Tal

34MENDE – Das Herz der Lozère

35ANDUZE – Tor zu den Cevennen

36VIVIERS – Alte Kapitale des Vivarais

37NYONS – Schwarze Perlen

DER SÜDWESTEN

38SAINTES – Musik in alten Mauern

39ARCACHON – Austern satt

40ST-JEAN-DE-LUZ – Die Perle der Corniche Basque

41REVEL – Bastide der Kunsttischler

42MINERVE – Im kargen Katharerland

43NAJAC – Region der Bastiden

44GAILLAC – Weinberg mit Stadt

45DAX – Auftanken am Adour

46CAMBO-LES-BAINS – Kurbad mit Kuchenfest

47CAUTERETS – Kuren mit Stil

48NARBONNE – Roms erste gallische Kolonie

49BANYULS – Das südlichste Seebad Frankreichs

50MIREPOIX – Juwel des Ariège

DER SÜDOSTEN

51COTIGNAC – Das Leben ist eine Bühne

52CUCURON – Wasser marsch!

53SIMIANE-LA-ROTONDE – Das Widerstandsnest

54FORCALQUIER – Markt der Hochprovence

55UZÈS – Der Provence so nah

56PORT-SAINT-LOUIS-DU-RHÔNE – Endlose Weite

57MARTIGUES – Zwischen Meer und Lagune

58CASSIS – Klassiker der Calanques

59GRASSE – Vom Handschuh zum Parfüm

60MENTON – Bilderbuch-Riviera

Register

Bildnachweis

Impressum

FRANKREICHS SCHÖNSTE SEITEN: EIN PICKNICK MIT KÄSE UND ROTWEIN, DIE GLASFENSTER VON MARC CHAGALL IN DER KATHEDRALE VON METZ, DUFTESSENZEN IN GRASSE, DER YACHTHAFEN DER CALANQUE VON PORT-MIOU BEI CASSIS UND JUNGE TEILNEHMER EINES FOLKLOREFESTS IN CAMBO-LES-BAINS

DAS ALTE CHÂTEAU WACHT ÜBER DEN HAFEN VON CASSIS.

SECRET CITYS FRANKREICH

Paris kennt jeder, und viele von uns waren schon einmal da. Nizza, Lyon, Rouen oder Montpellier sind feste Ankerpunkte auf der touristischen Landkarte. Doch besonders charmant kommt Frankreich abseits vom großen Reisestrom daher, ob die Städtchen nun Mortagne-au-Perche oder Lunéville, Gaillac oder St-Gilles-Croix-de-Vie heißen. Wer die geheimen Schönheiten Frankeichs erkundet, weiß: Jedes Ortsschild klingt wie eine Verheißung. Lassen Sie sich angenehm überraschen!

Sechzig Städte abseits des Trubels, wirklich nicht mehr? Selten war eine redaktionelle Vorgabe schwerer zu erfüllen! Die Beschränkung auf eine ganze fünf Dutzend Orte umfassende Liste französischer Secret Citys bedeutete ein langes Feilen und Feilschen. Zur Klärung: Knapp 35 000 Kommunen zählt das Land des Savoir-vivre. Ab 2000 Einwohnern wird aus der Commune offiziell eine Ville, doch die demografischen Grenzen werden locker gehandhabt. Le Malzieu-Ville pocht schon im Ortsnamen auf den Status als Stadt und zählt nur gut 700 Einwohner. Das ebenfalls hiervorgestellte Loire-Städtchen Candes-St-Martin kommt sogar auf nur gut 200 Einwohner und macht dennoch großen Eindruck. Größe ist eben nicht alles – so lautet eine erste Erkenntnis aus langen Recherchereisen kreuz und quer durch Frankreich.

Wahre Größe

Hinderlich aber ist Größe ebenfalls nicht, wie das Beispiel Lille zeigt. Die Hauptstadt Französisch Flanderns entpuppt sich mit Stufengiebeln und Arkaden als unbekannte Schwester von Gent oder Brügge und gibt mit spektakulären Neubauten der Architektur des 21. Jahrhunderts viel Raum. Oder Nantes: Die Metropole an der Loire-Mündung zählt inklusive ihres Großraums 650 000 Einwohner. Macht Platz 6 im Ranking französischer Städte. Die boomende Universitätsstadt gilt zudem als Hotspot für ungewöhnliche Kunst und aufregend neue Architektur. Beide Großstädte gehören zu den gut gehüteten Reisegeheimnissen Frankreichs. Beide zeigen: Geheimnis ist nicht gleichbedeutend mit Verstaubtheit, auch dies ist eine Erkenntnis aus unseren Recherchen.

BILDER EINES SEHENSWERTEN LANDES: DAS SCHLOSS VON SEMUR-EN-AUXOIS, EIN FAHRRAD VOLLER AUSTERN BEI ARCACHON UND DIE GANZE GESCHMACKLICHE VIELFALT AUF DEM MARKT VON UZÈS

Das Glück liegt in der Wiese

»Le Bonheur est dans le Pré« heißt eine französische Filmkomödie, die die Wonnen der Provinz feiert. »In der Wiese«, oder zumindest tief im Land liegen viele der 60 Secret Citys, manche sogar am Ende der Welt, wenn auch einem besonders charmanten. Valognes‘ barocke Eleganz kommt erst im weltabgewandten Nordwesten der Normandie voll zum Tragen. Der filigrane Belle Époque-Zauber von Vichy treibt in der rauen Auvergne besonders üppige Blüten. Im okzitanischen Mirepoix biegen sich die mittelalterlichen Balken fernab aller Moden der Moderne. Und in Simiane-la-Rotonde widerspricht die karge Hochprovence den gängigen Klischees vom lieblichen Süden.

Vive la différence!

Es lebe der Unterschied! Frankreich ist ein Land großer geografischer, kultureller und klimatischer Unterschiede. Es sind die Unterschiede, die sich in den vielen verschiedenen Gesichtern französischer Städte niederschlagen. Welten scheinen zwischen den Ortsbildern am Ärmelkanal im hohen Norden und denen im Roussillon an der Grenze zu Spanien, zwischen denen im fachwerkseligen Elsass und den austerngrauen Häfen der Bretagne zu liegen. Immer aber ist die Liebe der Franzosen zu den vieilles pierres, den alten Gemäuern, groß. Entsprechend gepflegt, aber nie zu herausgeputzt sind französische Orte.

Franzosen wissen zudem: Wahre Schönheit ist alterslos und immer auch eine Frage der persönlichen Vorliebe. Neben klassischen Städteschönheiten wie dem mit Platanenboulevard und einem bis unter die letzte Arkade reichenden Wochenmarkt urprovençalischen Uzès verblüfft eine Entdeckung wie Le Havre. Die im Zweiten Weltkrieg komplett zerstörte Hafenstadt an der Seine-Mündung wurde entschieden modern, aber in einem großen Wurf wiederaufgebaut. So viel schöner Beton ist in Frankreich selten. Weswegen die UNESCO Le Havre zum Weltkulturerbe erklärt hat – und wir die Hafenstadt in unsere Top 60 der Secret Citys Frankreich aufgenommen haben. Klaus Simon und Hilke Maunder

DER NORDWESTEN

Unter atlantischem Einfluss

WIE IN GRANVILLE PRÄGEN DIE GEZEITEN BIS TIEF INS LAND DEN ALLTAG. SELBST HOHE MAUERN ODER DIE LAGE AUF EINEM FELSEN SIND KEINE GARANTIE FÜR TROCKENE FÜSSE.

1

LILLE – WILLKOMMEN BEI DEN SCH’TIS

EINE STADT DRÜCKT AUFS TEMPO

»Der TGV hat alles verändert«, heißt es in Lille. Seit der Hochgeschwindigkeitszug in der Hauptstadt Französisch Flanderns hält, dauert die Fahrt nach Paris nur knapp fünfzig Minuten, die zur Londoner Waterloo Station eineinhalb Stunden, die nach Köln drei Stunden. Und auch sonst gibt die Stadt Gas.

Erst ein Film setzte die nördlichste Großstadt Frankreichs auf die touristische Landkarte. 2008 löste »Bienvenue chez les Ch’tis« ein Massenphänomen aus. Die turbulente Komödie um einen aus der sonnigen Provence in den vermeintlich tristen Norden verschickten Postbeamten war nicht nur in Frankreich ein Riesenerfolg. Seither möchten fast alle Franzosen und immer mehr ausländische Besucher wissen, wie sich das Leben mit Nuschellauten, Moules-frites und einer Pression, einem gezapften Bier, aushalten lässt.

Keine zehn Minuten Fußweg braucht man vom Bahnhof Lille-Europe über die Spannbetonbrücke Le Corbusier ins Herz der alten flämischen Stadt. Ein Banken-Tower von Christian de Portzamparc sprengt mit kühnem Schwung die Gesetze der Statik. Bahnhof und Gebäude gegenüber behauptet sich Euralille, ein gläsernes, von Stararchitekt Rem Koolhaas entworfenes, mit Bürotürmen auftrumpfendes Quartier. Das Hotel mit der goldchangierenden Fassade hinter dem Bahnhof Lille Europe? Von Jean Nouvel natürlich. Der Parc Henri Matisse, der sich zwischen die von Burgundern, Habsburgern und Spaniern geprägte alte Stadt und das von den Global Playern der Avantgarde geschaffene neue Viertel schiebt? Ein Werk von Gilles Clément, dem Star unter Frankreichs Gartenarchitekten.

Flämisch à la française

Rund um die Grand’Place mit ihren von Friesen und Girlanden verzierten Barockgiebeln kann Le Vieux-Lille, die zauberhafte, Straßenzug um Straßenzug sanierte Altstadt, die Verwandtschaft mit Brügge oder Gent nicht leugnen. Über roten Ziegeln und Stufengiebeln leuchtet die Reklame für Stella-Artois-Bier. In den Auslagen wiegen die Pâtisserien schwer, in den Feinkostgeschäften sind Wurst, Käse, Obst so drapiert wie auf flämischen Stillleben. Krumm legen sich die Gassen um die Kathedrale Notre-Dame-de-la-Treille.

FLÄMISCHER BAROCK, FRANZÖSISCHE BELLE ÉPOQUE, DIE AVANTGARDE DES 21. JAHRHUNDERTS: DIE MISCHUNG MACHT’S. EIN BISSCHEN VERRÜCKTHEIT WIE BEI DER MAISON FOLIE DARF ES AUCH NOCH SEIN.

Etwas weiter nördlich wechselt das flämische Stadtbild. Im Quartier Royal kommt Lille vornehm französisch daher. Die Straßen sind wie mit dem Lineal gezogen – der Sonnenkönig hat es so gewollt. Nachdem Ludwig XIV. 1667 unter dem Druck einer zehntägigen Belagerung die Hauptstadt Französisch Flanderns eingenommen hatte, beauftragte er Festungsbauer Sébastien Le Prestre de Vauban mit dem Bau der Zitadelle und ließ ein neues Viertel im staatstragenden Barock des Ancien Régime anlegen, genannt Quartier Royal.

Die Kunst ist am Zug

Einen Steinwurf entfernt spiegelt das neobarocke Palais des Beaux-Arts, Frankreichs bedeutendstes Kunstmuseum außerhalb von Paris, die zwei Seelen der Stadt. Einträchtig hängen die Flamen Rubens, Van Dyck, Snyders und die Franzosen David, Delacroix, Courbet in den rotgetünchten Sälen. Die Gemäldesammlung belegt Lilles reiche Kunstgeschichte, auch Frühgeschichte und Antike sind vertreten. Die Moderne kommt in Lille ebenso hochkarätig inszeniert zum Zug. Aus einer ehemaligen Brauerei im Vorort Moulins wurde eine Maison Folie, ein flippiges Kulturzentrum. Mitten im volkstümlichen Stadtteil Wazemmes etwa hat das Rotterdamer Büro NOX die Ziegelsteinburg der Spinnerei Leclercq ebenfalls zur Maison Folie verwandelt. Zum Kulturzentrum gehören neben Veranstaltungsbühne, Ateliers und Ausstellungssälen auch ein Hammam, eine Reverenz an die nordafrikanischen Zuwanderer aus der nahen Rue des Sarrazins. In der südlichen Randgemeinde Villeneuve-d’Ascq, die Teil des Gemeindeverbands Lille Métropole ist, eröffnete das Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art Brut, kurz LaM.

DER GENERAL GENIESST

Für Charles de Gaulle waren die Gaufres de Méert das, was für Proust die Madeleine bedeutete: eine Erinnerung an glückliche Tage. Die quietschsüßen Waffeln aus der Feinbäckerei hatte Klein-Charles in Kindertagen entdeckt: de Gaulle kam 1890 in der Rue Princesse 9 zur Welt, im Haus der Großeltern. An deren Hand ging es regelmäßig zur Confiserie Méert in der Rue Esquermoise. Als Präsident ließ de Gaulle die Waffeln per Eilzustellung in den Pariser Elysée-Palast liefern. Seit 1864 ist Méert zudem Lieferant des belgischen Königs. Das Ladenlokal sieht mit Emporen und lackierten Holzpaneelen noch immer so aus wie eine Bonbonniere des frühen 19. Jahrhunderts. Die mit Madagaskar-Vanillecreme gefüllten Waffeln stehen nach wie vor auf der Karte. Präsidenten und Könige kommen und gehen. Méert aber bleibt, und das seit 1839.

WEITERE INFORMATIONEN

Lille,www.lilletourism.com

Maisons Folie,https://maisonsfolie.lille.fr

LaM,www.musee-lam.fr

Confiserie Méert,www.meert.fr

2

DIEPPE – BEACHEN UND BUMMELN AM ÄRMELKANAL

DIE BÄDERPREMIERE

Dieppes Name geht auf das normannische »djepp« für tief zurück, was sich auf die Mündung der Arques bezieht, an der die Stadt entstanden ist. In den 1820er-Jahren lancierte die Herzogin von Berry hier die Mode, im Meer zu baden. Bald folgten ihr tout Paris und wahre Scharen von Briten.

Dank der Eisenbahngesellschaft Chemin de fer de Paris à la mer trafen ab 1846 immer mehr betuchte Sommerfrischler aus Paris im nur 161 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Strandbad ein. Dieppe avancierte zum gesellschaftlichen Treffpunkt, mit einem Ballett von Krinolinen, Spitzenschirmchen, steifen Jacketts am langen, von den bleichen Kalkklippen der normannischen Alabasterküste gerahmten Kieselstand. Eine Uferpromenade mit opulenten Villen und palastartigen Hotels entstand. Mit der Fähre aus Newhaven, die bereits 1790 den Betrieb erstmals aufgenommen hatte, gesellten sich Briten der damals »besseren« genannten Stände hinzu. Das mondäne Treiben währte bis zum Zweiten Weltkrieg. Beim gescheiterten Landungsversuch anglo-kanadischer Truppen im August 1942 ging jedoch vieles von der glanzvollen Uferfront im Bombenhagel unter. Doch nicht so das alte Dieppe aus der Zeit vor dem Bädertourismus.

Die Fähre aus Newhaven spuckt noch immer britische Besucher an die Kais. Mit dem Zug aber kommt man nur noch mit Umsteigen aus Paris nach Dieppe. Der Frachthafen hat an Bedeutung verloren, seit die Rolle als wichtigster Hafen für den Import von Bananen von den Französischen Antillen und als zweitwichtigster Hafen für den Import exotischer Früchte an Le Havre gegangen ist.

Aber die größte Stadt an der Alabasterküste entpuppt sich nach wie vor als sehr lebendig. Vor allem am Samstag, wenn der große Wochenmarkt sich mit einem Meer von Ständen rund um die gewaltige spätgotische Pfarrkirche St-Jacques ausbreitet, brummt es in der Altstadt. Im Café des Tribunaux, dem Treffpunkt der Locals seit Generationen, sind alle Plätze besetzt. In der verkehrsberuhigten Einkaufsmeile aus Grande Rue und Rue de la Barre wird flaniert, diskutiert, eingekauft. Hinter dem Fischhafen wird mittags in der schicken Brasserie Le Comptoir à Huîtres großes französisches Restauranttheater mit fliegenden Kellnern und an den Tisch jonglierten Meeresfrüchteplatten gegeben.

DIE BURG IST EINE MIT VUE SUR MER. DAS LEBEN EINE ETAGE TIEFER FINDET BEI SCHÖNEM WETTER AM STRAND STATT. SCHMACKHAFTE JAKOBS-MUSCHELN GEHÖREN AUF JEDE ANSTÄNDIGE RESTAURANTKARTE.

Umstrittene Schnitzkunst

Lange vor Erfindung des Bädertourismus war Dieppe für seine Elfenbeinschnitzer, die Ivoiriers, berühmt. Für zahlungskräftige Kunden schnitzten die Kunsthandwerker Haushaltsgegenstände und Dekoratives aus kostbaren Elefanten-, Nilpferd- und Pottwalstoßzähnen, die seit dem 16. Jahrhundert aus Übersee im Hafen angelandet wurden. Für den kleinen Geldbeutel gab es das Sortiment aus günstigeren Materialien wie Schafsknochen oder Kokosnussschalen.

Im Museum der mittelalterlichen Burg, die Dieppe von einer Anhöhe beherrscht, sind drei Säle mit Werken einheimischer Ivoiriers bestückt. Weit über 200 der hochspezialisierten Handwerker haben einmal zum Reichtum der Stadt beigetragen. Noch immer gibt es eine Werkstatt in der Rue Ango, die den Strandboulevard mit dem Quai Henri IV und dem Jachthafen verbindet.

Am Kai erinnern barocke Fassaden und Arkaden an die Glanzzeit von Dieppe. Hinter dem Kai werden die Fassaden bescheidener. Bis zur Mündung der Arques erstreckt sich das enge Fischerviertel. Es ist der passende Standort für das Meeresmuseum Cité de la Mer – L’Estran. Der Name bezeichnet eine Sandbank, die im Rhythmus der Gezeiten trockengelegt und wieder vom Ärmelkanal verschluckt wird. Im Museum geht es um Küstenschutz, ozeanografische Pioniertaten, Bootstypen, um Dieppe als Hafenstadt. Und natürlich um Doraden, Quallen und die mit den Seepferdchen verwandten Grasnadelfische.

ENTDECKUNGEN AN DER KÜSTE

Varengeville-sur-Mer heißt das nonchalante, zu Dieppe gehörende Küstendorf ein paar Kilometer weiter die Alabasterküste in Richtung Westen hinauf. Dichte Buchenwälder verbergen Herrenhäuser. Weitläufige Parks wie der Bois de Moutiers, Shamrock oder Le Vasterival sind das Ziel von Gartenfreunden aus aller Welt. Das bemerkenswerteste Gebäude ist der kreisrunde Taubenturm im Maison d’Ango. Auf dem Seemannsfriedhof an den Klippen etwas außerhalb liegt Georges Braque begraben. Der Kubist hatte bis zu seinem Tod 1963 im Dorf ein Atelier. Ein Fenster und der Tabernakel in der Friedhofskapelle sind seine Werke.

WEITERE INFORMATIONEN

Dieppe,https://de.dieppetourisme.com

Château-Musée,www.dieppe.fr/mini-sites/musee-de-dieppe

L’Estran,www.estrancitedelamer.fr

Seemannsfriedhof Varengeville-sur-Mer, www.varengeville-sur-mer.fr/cimetiere-marin

Alabasterküste,http://cote-albatre-tourisme.fr

3

FALAISE – ZUR WIEGE DES EROBERERS

BOMBENSICHERE BURG

Auf der Burg von Falaise kam Wilhelm der Eroberer 1027 zur Welt. Der massive Bau widerstand 1944 den schweren Bombardements der Alliierten, ebenso der Ring mittelalterlicher Stadtmauern. Wie die Zivilbevölkerung den Zweiten Weltkrieg erlebte, zeigt das Mémorial des Civils zu Füßen der Burg.

Unübersehbar thront das Château Guillaume-le-Conquérant auf einer Felskante über dem Tal der Ante. 1027 kam der spätere Herzog der Normandie, Wilhelm der Eroberer, im mächtigen Gemäuer zu Welt. Der Vater: Robert der Herrliche, sechster Herzog der Normandie. Die Mutter: Arlette, Tochter eines Gerbers, und damit nicht standesgemäß. Als Guillaume alias Wilhelm nach dem frühen Tod seines Vaters mit nur acht Jahren zum Herzog ernannt wurde, hieß der Junge daher noch »Wilhelm der Bastard«. Erst nach der Eroberung von England ging der unehelich Geborene als Wilhelm der Eroberer in die Geschichte ein. Zu den Fêtes Médiévales de Falaise, einem großen Mittelalterfest im August, wird Wilhelms Zeit mit Pferdeturnier, Mittelaltermarkt und vielen Kostümen wieder lebendig.

Mehrmals wurde die Burg zerstört. Und steht dennoch mit über einem Dutzend Türmen und bis zu vier Meter dicken Mauern wie unverwüstlich da. Bei der Sanierung in den 1990er-Jahren griff Architekt Bruno Decaris mit nacktem Beton und Panzerglas auf moderne Baustoffe zurück. Der Aufschrei war groß und ist längst vergessen. Decaris schuf auch die Aussichtsterrasse auf dem Donjon. Aus ihrer Höhe liegt einem ganz Falaise zu Füßen. Nach Norden rollt das Umland ins liebliche Pays d’Auge davon. Im Westen kündigen erste Hügel die wildromantische Suisse Normande an.

Wer in Falaise buddelt, der findet. So geschehen unter einem Verwaltungsbau aus den 1950er-Jahren, der vor ein paar Jahren zum Mémorial des Civils dans la Guerre umgebaut wurde. Bei den Arbeiten stieß man auf die Fundamente eines barocken Stadtpalais, mit einigen ramponierten Alltagsgegenständen. Man sicherte die Funde, die heute durch eine Panzerglasdecke im Filmsaal des Museums zum Alltag der Zivilisten im Zweiten Weltkrieg zu sehen sind. Im Stockwerk darüber laufen in der Dauerausstellung Zeichentrickpropagandafilme aus Nazi-Deutschland. Originale Fotos und Einrichtungsgegenstände lassen die dunklen Jahren Revue passieren. Zeitzeugen berichten vor der Kamera vom Elend der Besatzung, von Vergeltungsmaßnahmen, harten Restriktionen und tödlichen Bombardements.

Das Mémorial von Falaise ist eine Außenstelle des Mémorial de Caen, des bedeutendsten Museums der Normandie zu den Ereignissen der Jahre 1940 bis 45. Wie in Caen geht es nicht darum zu verurteilen, sondern zu erklären. 20 000 zivile Kriegsopfer waren in der Normandie zu beklagen. Dutzende Dörfer und Städte wurden zerstört oder wie Falaise schwer getroffen. Im Kessel von Falaise lieferten sich SS-Panzerdivisionen mit den vorrückenden Truppen der Alliierten im August 1944 eine schwere Schlacht. Als die Stadt am 17. August befreit wurde, lag sie zu fast 80 Prozent in Schutt und Asche.

Wiederaufbau mit Augenmaß

Beim Wiederaufbau gaben die erhaltenen, zwei Kilometer langen mittelalterlichen Mauern das Maß vor. Was dahinter lag, wurde gerettet, saniert, wiederaufgebaut. So auch am schönsten Platz der Stadt, der Place Guillaume-le-Conquérant, wo man vom Bronzestandbild Wilhelms des Eroberers auf die filigrane Pracht der Kirche La Trinité schaut. Etwas weiter nördlich versprüht das barocke Stadtpalais Hôtel de Souza den Charme des Ancien Régime. Unter den erhaltenen Stadttoren sticht die wuchtige Porte des Cordeliers mit ihrem dicken Turm hervor. Rund um die im Ursprung romanische Kirche St-Gervais verstecken sich weitere Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert, so etwa das Hôtel Lenteigne in der Rue du Sergent Goubin.

REKONSTRUKTION MIT SACHVERSTAND UND BETON – DAS EXPERIMENT IST NICHT NUR BEI DER BURG GELUNGEN. WIE SCHWER DIE ZERSTÖRUNGEN IM ZWEITEN WELTKRIEG WAREN, ERFÄHRT MAN IM MÉMORIAL.

WANDERUNG MIT HÖHEPUNKT

Knapp 20 Kilometer westlich von Falaise wird das Tal der Orne zur dramatisch von Felsen gerahmten Schlucht. Hügel erreichen mit 300 Metern normannische Rekordhöhe. Steilufer und Felsen bauen sich über dem Fluss auf, der sich ungehalten in seinem Bett windet – Normannische Schweiz wird das wildromantische Stück Normandie genannt, ein Paradies für Naturliebhaber und Aktivurlauber. Von Thury-Harcourt bis Putanges-Pont-Écrepin ist das Orne-Tal fest in den Händen von Kanuten, Bikern, Wanderern, Climbern. Falaise, das sich als Tor zur Suisse Normande versteht, ist für alle ein guter Ausgangspunkt zu landschaftlichen Highlights wie etwa der Roche d’Oëtre, einem Fels, von dem der Blick aus 118 Metern in die Schlucht Gorges de St-Aubert stürzt.

WEITERE INFORMATIONEN

Falaise,www.falaise-tourisme.com

Château Guillaume-le-Conquérant,www.chateau-guillaume-leconquerant.fr

Mémorial des Civils dans la Guerre,www.memorial-falaise

Suisse Normande,www.suisse-normande-tourisme.com

ÜBER VIELE JAHRHUNDERTE HING DIE TAPISSERIE DE BAYEUX IN DER KATHEDRALE. HEUTE WIRD DER GESTICKTE COMICSTRIP IM EIGENEN MUSEUM GEZEIGT.

4

BAYEUX – EIN TEPPICH MACHT STAAT

EINMAL NACH ENGLAND UND ZURÜCK

Die Stadt, der Teppich, das Museum. Alle Wege führen zur Tapisserie oder Tapestry, dem Teppich – der gar keiner ist. Weil von englischen Nonnen, vielleicht auch Mönchen im 11. Jahrhundert gestickt, und nicht geknüpft. So oder so, es geht um Großes: die Eroberung Englands!

Den 400 000 jährlichen Besuchern, die das 68 Meter lange Stück Stoff in den lichtgeschützten Räumen des Centre Guillaume-le-Conquérant besichtigen, dürfte es ohnehin egal sein, wer die Tapisserie de Bayeux angefertigt hat und wie. Wichtiger ist der Stoff, auf den die kostbare Arbeit zurückgeht. Denn die Eroberung von England, die in 58 Bildern erzählt wird, hat das Zeug zum Breitwandformat. Es geht um Lug und Betrug, Verrat und Königstreue, Rache und Eheversprechen, Liebe, Lust und Leid. Am Ende hat Wilhelm, Herzog der Normandie, den Schurken Harold in der Schlacht von Hastings am 14. Oktober 1066 vom Pferd geholt und England erobert. Wie Wilhelm das geschafft hat, ist spannend für Klein und Groß. Und so einfach zu verstehen wie ein Comicstrip.

Schaut auf diese Eroberung!

Erstmals gezeigt wurde das textile Wunderwerk wahrscheinlich schon 1077 in der romanischen Kathedrale. Der grandiose Bau, der skandinavische und orientalische Einflüsse vereint, wurde im 11. Jahrhundert von Odon, Bischof von Bayeux, Earl of Kent und Halbbruder Wilhelm des Eroberers, in Auftrag gegeben. Odon hat vermutlich auch die Tapisserie zu Ehren seines Halbbruders und zu seinem eigenen Ruhm anfertigen lassen. Bis zur Französischen Revolution wurde die monumentale Stoffbahn in der Kathedrale aufbewahrt. 1476 taucht sie im offiziellen Inventarkatalog des Gotteshauses auf. Dann zerschnitten Revolutionäre die Tapisserie, um daraus Planen für die Armee zu fertigen. 1793 aber retteten Einwohner von Bayeux das für die Stadt und die gesamte Normandie identitätsstiftende Kunstwerk. Napoleon holte den Teppich später nach Paris. Die deutschen Besatzer verfrachteten ihn in ein Raubkunstsammellager im Département Sarthe. Seit 1945 befindet sich die Tapisserie wieder komplett in Bayeux. Worüber nicht nur der britische Maler David Hockney froh gewesen sein dürfte, der den Teppich »besser als jeden Film« fand. Jetzt droht erneut Gefahr. Flecken, Falten und Löcher sind so zahlreich, dass eingegriffen werden muss. Zwei Millionen sind für die Restaurierung veranschlagt. 2024 soll es losgehen. Die Kosten sollen ausgerechnet die Engländer übernehmen, die den Teppich gern für eine Ausstellung ausleihen möchten. Was ihnen zur Krönung von Elisabeth II. 1953 und zum 900. Jubiläum der Schlacht von Hastings 1966 noch verweigert wurde. Ob es diesmal klappt?

Glückliches Bayeux

Es gibt in Bayeux Familien, deren Stammbaum bei Wilhelm dem Eroberer wurzelt. Das verbindet seit über 950 Jahren. Fast solange braucht es, um miteinander warm zu werden. Heißt es zumindest, doch der Briefträger, der hinter der Kathedrale gerade aufs Fahrrad steigt, ist sofort zu einem Schwatz bereit. Der größte Held von Bayeux? Nein, nein, nicht Wilhelm, sondern General de Gaulle. Bayeux wurde im Juni 1944 als erste Stadt Frankreichs befreit. De Gaulle kam und hielt eine Rede am heute nach ihm benannten Platz. Keine Bombe war gefallen. So viel Glück hatte nur Bayeux, das die einzige im Zweiten Weltkrieg unzerstörte Stadt der Normandie blieb. An der Aure, die sich längs durch die Gassen schlängelt, blättert eine Apéritif-Reklame der Belle Époque. Der Salon de Thé mit Namen La Reine Mathilde steht wegen der originalen Second-Empire-Einrichtung unter Denkmalschutz. Auf den Straßen rollen Bilder wie aus einem Chabrol-Film ab: die Apothekerin im gestärkten Kittel, der Metzger mit Schürze. Und immer erklingt ein artiges »Bonjour« beim Vorbeigehen. Im Fenster eines Herrenhauses legen wellige Glasscheiben den Himmel in Dackelfalten. Das Fensterbrett ist viel zu hoch, als dass man sehen könnte, wie es innen aussieht. Wuchtige Mauern und Portale schirmen Adelspalais und Bürgerschlösser ab. Merke, Luxus ist Privatsache! On n’affiche pas – »Man trägt nicht zur Schau« gilt in Bayeux als Alltagstugend.

LASST BLUMEN SPRECHEN! AN DEN UFERN DER AURE, DIE DIE ALTSTADT DURCHSCHLÄNGELT, IST DIE BOTSCHAFT ANGEKOMMEN.

Vor allem in den Vierteln westlich der Kathedrale reiht sich ein Hôtel particulier, wie die Stadtpalais auf Französisch heißen, ans nächste. Tagsüber stehen glücklicherweise viele Portale auf. Über rumpeligem Pflaster erheben sich Renaissancetürme und Freitreppen. Palmen staken in den Himmel, das dank Golfstrom und der Nähe zum Meer günstige Mikroklima macht es möglich.

Die trägen Wonnen des Bessin

Samstags kommt das Land, und gemeint ist damit das Bessin, in die Stadt, zum Markt auf die Place St-Patrice. In einem Winkel gackert und schnattert es. Enten, Hühner und Kaninchen ducken sich ins Stroh. Kinderhände streicheln, ganz sachte. Ein Gang gehört Bäuerinnen, deren rote Wangen mit hausgekochtem Johannisbeergelee um die Wette leuchten. Tout le Bessin karrt herbei, was die Scholle hergibt. Die Fischer aus Port-en-Bessin bringen den Fang der letzten Nacht. Alles steht am selben Tag auf der Schiefertafel der vielen Bistros, mit denen die Altstadt gesegnet ist.

Am Sonntag läuft es umgekehrt. Tout Bayeux fährt aufs Land, was »ans Meer« bedeutet. In Port-en-Bessin, das die Rolle als Hafen von Bayeux erfüllt, brummt es. Der wichtigste Fischereihafen des Départements Calvados ist zugleich die normannische Hauptstadt der Jakobsmuschel. In der Fischauktionshalle liegen Muscheln, Fisch und Schalentiere auf einem Eisbett. Ein paar Schritte weiter am Quai Général-de-Gaulle reiht sich Restaurantterrasse an Restaurantterrasse. Abends strömen alle zurück ins keine zehn Kilometer entfernte Bayeux. Wer den Weg nicht kennt, halte sich einfach an die Schilder zur Tapisserie.

FRACHT AUS FERNOST

Generationen von Paysagisten, zu deutsch und nicht ganz so elegant »Landschaftsgärtner«, haben die Normandie in eine wie beiläufig arrangiert wirkende Parklandschaft verwandelt. Längst hat sich ein eigener normannischer Gartenstil entwickelt. Nonchalant spielen die Gärten mit dem von Hecken strukturierten Bocage, der hier vorherrschenden Landschaftsgestaltung, und dem Reichtum an exotischen Pflanzen, die Kapitäne und Reeder von ihren Überseefahrten in die normannischen Häfen brachten. Der Jardin public von Bayeux an der Straße nach Port-en-Bessin zählt zu den vielen als »bemerkenswerte Gärten« klassifizierten Parks und Gärten der Normandie. Das 1859 von den Eugène Bühler angelegte Areal ist für seine gewaltigen Buchen und Exoten vom Japanischen Schnurbaum über Riesenmammutbäume bis zu chinesischen Blaseneschen berühmt.

WEITERE INFORMATIONEN

Bayeux,www.bayeux-bessin-tourisme.com

Port-en-Bessin,www.portenbessin-huppain.fr/office-de-tourisme

Jardin botanique,www.bayeux.fr/fr/decouvrir-bayeux/parcs-jardins-et-balades

DASS BAYEUX MEHR ALS DEN BERÜHMTEN TEPPICH ZU BIETEN HAT, ZEIGT EIN BUMMEL DURCH DIE ALTSTADT. DER ZAUBER DER VIEILLE FRANCE ENTFALTET SICH AUF SCHRITT UND TRITT.

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GRANVILLE – EINE INSEL FÜR JEDEN TAG

DIE ARCHIPEL-STADT

52 Inseln und Inselchen im tintenblauen Atlantik bilden den Archipel der Îles Chausey und damit das am weitesten vom Rathaus entfernte Viertel von Granville. 17 Kilometer trennen die Hauptinsel Grande Île vom Hafen der Küstenstadt. Ahoi!

Ankunft mit der Fähre auf Grande Île, der einzigen für Besucher freigegebenen Insel des Archipels der Îles Chausey. Hummerkörbe links, Hummerkörbe rechts säumen den Pfad ins Dorf. Ginster leuchtet goldgelb, Granitfelsen versinken im Sandstrand. Ein Leuchtturm und ein Fort sind Ziele der Inselumrundung, die man spielend zu Fuß absolvieren kann. Grande Île ist ganze zwei Kilometer lang und zwischen 400 und 700 Meter breit.

Im einzigen Hotel der Hauptinsel des Archipels ist wie üblich jedes Zimmer gebucht. Abends nach Abfahrt der Tagesgäste bleiben die zwei Dutzend Insulaner mit den wenigen Hotelgästen unter sich, und die Stille ist fast greifbar – Autos gibt es nicht. Ansonsten lebt der Archipel im Rhythmus der Gezeiten. Um 14 Meter hebt und senkt sich der Meerespegel zwischen Ebbe und Flut und lässt Hunderte von nackten Felsen und Inselchen aus dem Wasser auftauchen und wieder verschwinden. Aus den 52 Inseln und Inselchen werden dann vorübergehend 365, eine für jeden Tag. Seit 1804 gehört der Archipel zu Granville, das sich stolz ville archipel nennt.

La vie en rose

Graurosa war die Lieblingsfarbe von Christian Dior. Die Galionsfigur der französischen Haute Couture, der Erfinder des New Look verbrachte seine Kindheit in der bonbonrosafarbenen Villa Les Rhumbs. Der Bau auf den Klippen im Osten der Ville Haute, der Oberstadt von Granville, ist heute Dior-Museum. Abends schimmert der Himmel über dem Meer in genau dem Graurosa, das auf keiner Dior-Modenschau fehlen durfte und selbstverständlich auch im Museum durch ein Cocktailkleid oder eine Abendrobe vertreten ist.

DAS NEOBYZANTINISCHE GEBIRGE VON ST-PAUL ÜBERRAGT DIE OBERSTADT SEIT 1894. STIMMIG IST DAS STADTBILD AUCH ALS BÜHNE FÜR EIN OLDTIMERTREFFEN.

Treppen führen von der Villa Les Rhumbs hinunter an den Strand und über die Strandpromenade weiter zur Place du Maréchal-Foch, wo das Casino den Zugang zur Ville Haute markiert. Dicke Mauern und Klippen schützen die sich auf einer Felszunge erstreckende Oberstadt. Von der Rue du Nord, die an der Klippenkante verläuft, schweift der Blick übers Meer. In den schnurgeraden Straßen, die parallel dahinter verlaufen, stehen strenge Granitfassaden Spalier. An der Place Cambernon verkauft ein Antiquitätenhändler maritime Kuriosa. Etwas weiter markiert die aus dem unverwüstlichen Granit der Îles Chausey wie für die Ewigkeit gebaute Pfarrkirche Notre-Dame das westliche Ende der Oberstadt. Doch hinter dem Stadttor Porte Saint-Jean geht es noch weiter nach Westen, erst über die fußballplatzgroße Place d’Armes mit Kasernen aus dem 18. Jahrhundert, dann vorbei am Aquarium und dem Leuchtturm zur Pointe du Roc. Hinter der Felsspitze beginnt die tintenblaue Unendlichkeit des Atlantiks. 3400 Seemeilen weiter geradeaus liegt Amerika.

Drei Häfen sollt ihr sein!

Fischer-, Fähr- und Jachthafen bestimmen das Leben in der Ville Basse, der Unterstadt, die sich auf der Südseite des Oberstadtfelsens ausbreitet. Kutter liegen am Kai. Segelboote schaukeln munter. Die Fähren zu den Îles Chausey, zu den der britischen Krone unterstellten Kanalinseln Jersey, Guernesey und Sercq, schuften sich vorbei an der 1778 errichteten Mole auf die hohe See hinaus. In der Rue des Juifs reihen sich Szenebars, Vintage-Boutiquen, Galerien. Beim Glacier & Chocolatier Yver stehen Touristen und Einheimische für das beste Eis der Stadt – ach was: der gesamten Normandie! – brav Schlange. Und nur die Möwen krächzen frech.

ELEGANTE SEGLER

Granville blickt auf eine lange Seefahrertradition zurück. Entsprechend gehegt und gepflegt werden die historischen Segelschiffe im Hafen. Einige bieten Ausfahrten an. Darunter ist die »Bisquine La Granvillaise«, ein über hundert Jahre altes Segelschiff, das für den Fischfang in der Bucht des Mont St-Michel gebaut wurde. Oder der schnittige Dreimaster »Le Marité«, mit dem einst zum Kabeljaufang nach Neufundland in See gestochen wurde. Heute lädt das 45 Meter lange und genau 100 Jahre alte Segelschiff zu Törns zu den Chausey-Inseln ein.

WEITERE INFORMATIONEN

Granville,www.tourisme-granville-terre-mer.com

Musée Christian Dior,www.musee-dior-granville.com

Glacier & Chocolatier Yver,www.yver-chocolatier.fr

Bisquine La Granvillaise,www.lagranvillaise.org

Le Marité,www.lemarite.com

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MORTAGNE-AU-PERCHE – ES GEHT UM DIE BLUTWURST!

WIE AUS EINEM FLAUBERT-ROMAN

Es geht um die Wurst. Nicht um irgendeine natürlich, sondern den Boudin Noir, eine Blutwurst, als dessen Hauptstadt sich Mortagne-au-Perche feiert. Das schmucke Städtchen wirkt ansonsten wie einem Flaubert-Roman entsprungen. Dem provinziellen Charme entziehe sich, wer mag – wir nicht!

Fuchs und Hase scheinen sich in der alten Grafschaft Perche »Gute Nacht« zu sagen. Abgesehen vom allseits grassierenden Jagdfieber liegt der bukolische Landstrich im Süden der Normandie fernab vom Schuss. Entsprechend unberührt von den Aufgeregtheiten des 21. Jahrhunderts kommt Mortagne-au-Perche daher. Straßenzüge und Plätze versprühen den Charme der Vieille France. Ringsherum rollen die Hügel davon. Wälder sind dicht. Auf den Weiden stehen klobige Percheron-Pferde. Die Kaltblüter haben vor Erfindung der Métro die Pariser Omnibusse gezogen und sind noch heute der ganze Stolz des Perche.

Apropos Paris: Mehr Manoirs als im Perche gibt es in der ganzen Normandie nicht. Viele dieser Herrenhäuser wurden von betuchten Parisern gekauft, auch in Mortagne-au-Perche selbst. Was nicht immer auf Begeisterung unter den Einheimischen stieß. Als Filmstar Jean Gabin Anfang der 1960er-Jahre nördlich von Mortagne-au-Perche einen Hof samt 150 Hektar Land kaufte, um Pferde zu züchten, protestierten Hunderte von Bauern vor seinem Anwesen gegen den Ausverkauf des Perche. Der ging munter weiter, wenn auch diskret. Hier ein Haus zu besitzen gilt in Paris als Beweis guten Geschmacks und ist sophistiqué. Der Rest ist Schweigen.

Vier bis fünf Kilometer Blutwurst werden beim alljährlichen Fest des Boudin Noir im März verschlungen. Wie viel Kilometer Blutwurst auf dem jeden Samstag stattfindenden Marché fermier über die Theke gehen, ist hingegen unbekannt. Sicher ist nur, dass industrielle Ware auf dem Bauernmarkt verpönt ist. Frisch vom Hof oder vom Metzger muss die Blutwurst sein, darauf achtet auch die ehrwürdige Confrérie des Chevaliers du Goûte-Boudin. Die in bodenlange, tiefrote Gewänder eingekleidete Bruderschaft der Ritter der Blutwurstprobe organisiert alljährlich die Weltmeisterschaft der besten Blutwurst. Lokale Metzgereien wie die von Thomas Habert in der Rue Général Leclerc belegen zuverlässig Spitzenplätze und sind mehrfach prämiert für den klassischen Boudin noir tradition, den geräucherten Boudin noir fumé oder den mit Äpfeln und Apfelschnaps verfeinerten Boudin noir aux Pommes et au Calvados. Bon appétit!

Provinz zum Verlieben