Secret Fire 2. Die Entfesselten - C.J. Daugherty - E-Book
BESTSELLER

Secret Fire 2. Die Entfesselten E-Book

C.J. Daugherty

4,5
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn ein Fluch dein Schicksal ist, vertrau' auf die Liebe! Taylor und Sacha haben im St. Wilfred College Zuflucht gefunden. Hier sucht man fieberhaft nach einer Möglichkeit, die furchterregenden Todbringer zu vernichten. Nur noch wenige Tage bleiben bis zu Sachas 18. Geburtstag, dem Tag, an dem er sterben wird, falls die zwei es nicht schaffen, den uralten Fluch zu bezwingen. Ein Wettlauf gegen die Zeit, der von Sacha und Taylor verlangt, sich dem zu stellen, was sie am meisten fürchten, um nicht zu verlieren, was sie am meisten lieben. Spannung hoch zwei: Action trifft Romantik! Spektakuläres Finale des Mystery-Zweiteilers von der Autorin der Bestseller-Serie "Night School"!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 401

Bewertungen
4,5 (63 Bewertungen)
41
13
9
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Wenn das Schicksal dein Fluch ist und die Liebe deine Erlösung

 

Sacha wird sterben. Taylor kann das verhindern.

Taylor muss ihren Kräften trauen.

Sacha an Taylor glauben.

Es gibt nur einen Weg. Nur diesen einen Kampf.

1

»Stell dich nicht so an. Los, versuch’s noch mal.«

Louisa hob einen Stein hoch, der fast so groß war wie ihr Kopf und so schwer, dass ihre Muskeln vor Anstrengung zitterten und die bunten Tattoos auf ihren Armen tanzten, als sie ihn über den dunklen, nassen Sand des Flussufers schleppte.

Nachdem sie ihn auf einem bedrohlich schwankenden Stapel mit weiteren Steinen abgelegt und ausbalanciert hatte, trat sie schnell zurück, als hätte sie Angst, die Konstruktion könne ihr gleich um die Ohren fliegen.

Mit verschränkten Armen stand Taylor in der strahlenden Nachmittagssonne und sah ihr zu. Ein altes Bootshaus, das mitten auf der sattgrünen Wiese stand, war das einzige Gebäude weit und breit.

Sie waren allein. Vor einiger Zeit waren auf dem Fluss ein paar Ruderer vorbeigefahren, doch jetzt hatten sie schon länger niemanden mehr gesehen. Man hörte nur den Wind, der durchs Gras strich, und das Summen der Bienen.

Der perfekte Trainingsort.

Es war ein heißer Tag, Taylor klebten die Haare in der Stirn. Skeptisch betrachtete sie den Steinstapel.

»Mensch, Lou. Wieso denn so viele?«

Louisa lehnte sich gegen die Wand des Bootshauses und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Wenn ich für jedes Mal, wenn du dich beschwerst, Geld bekäme, wäre ich jetzt bestimmt nicht hier und würde Steine schleppen«, stichelte sie. »Konzentrierst du dich jetzt vielleicht mal, oder was?«

Ihr gefärbtes Haar fing die Sonne ein und verwandelte ihre Strahlen in hellblauen Funkenregen.

Taylor gab sich geschlagen. Sie schloss die Augen, und sofort erstand in der Dunkelheit hinter ihren Lidern die alchemistische Welt. Energiemoleküle umtanzten sie und wurden von ihrem Bewusstsein in greifbare Objekte umgewandelt – wehende goldene Bänder aus dem hohen Gras hinter dem Bootshaus, glänzende Kupferschnüre aus den Lichtmolekülen in der Luft.

Die größte Energie kam jedoch aus dem Fluss: ein Strom aus bernsteinfarbener, geschmolzener Lava, der sich langsam durch das Blütenmeer rechts und links wälzte.

Für das menschliche Auge sind Moleküle unsichtbar, doch Taylor hatte gelernt, sie zu sehen. Sie musste sehen können, wonach sie greifen wollte. Was sie manipulieren, verändern wollte.

Sie holte tief Luft, wählte eins der dünneren Bänder aus dem Wasser aus und lenkte es zu den Steinen.

Hoch mit euch!

Sie spürte es, wenn die Alchemie funktionierte. Pure Energie schoss dann durch ihre Adern.

Sie öffnete die Augen.

Die Steine, die eben noch auf einem Haufen gelegen hatten, schwebten nun hoch über dem träge dahinfließenden Fluss wie Luftballons, hübsch ordentlich übereinander.

Zufrieden betrachtete Taylor ihr Werk. »Bitte schön.«

»Toll.« Louisa klang wenig beeindruckt. »Und jetzt vorsichtig auf dem Wasser absetzen.«

Leichter gesagt als getan. Genau damit nämlich hatte Taylor schon den ganzen Tag ein Problem. Die Steine fliegen zu lassen, war nicht schwer. Sie dahin zu bekommen, wo sie wollte, dagegen schon.

Sie konzentrierte sich, packte das Energieband und versuchte, die Steine so vorsichtig wie möglich auf den Wellen abzusetzen.

Schwimmt!

Sie konnte beinahe spüren, wie das Gewicht der schweren Steine an ihren Kräften zerrte. Die Schwerkraft war erbarmungslos.

Taylor mobilisierte all ihre Energie. Schwitzend, die Hände zu Fäusten geballt, versuchte sie, die Kontrolle zu behalten.

Einen Augenblick lang machten die Steine, was sie sollten, und schwebten sanft wie Rosenblätter hinab in Richtung des graublauen Wassers. Dann plötzlich, ohne Vorwarnung, löste sich das goldene Energieband und vollführte am Rand ihres Sichtfelds einen wilden Tanz.

»Nein!« Taylor streckte die Hände aus, als könnte sie es so noch verhindern, doch es war zu spät.

Die Steine schossen in alle Richtungen davon, einer direkt auf Louisa zu, die fluchte und blitzschnell die Hand hob.

Wie von einer unsichtbaren Mauer prallte der Stein zurück und landete mit einem dumpfen Schlag auf der Wiese.

Ein Stück stromaufwärts klatschten zwei weitere Steine ins Wasser, ein vierter verschwand irgendwo am anderen Ufer.

Plötzlich herrschte Totenstille. Selbst die Vögel waren verstummt, als könnten sie es gar nicht fassen, wie man sich so dämlich anstellen konnte.

»Mist.« Taylor wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Blöde Steine.« Sie wandte sich an Louisa. »Können wir nicht lieber wieder Kerzen anzünden? Kerzen find ich super.«

Louisa schüttelte nur den Kopf. »Die Kontrolle ist das Entscheidende, Blondie. Du hast nun mal von Natur aus diese irre Fähigkeit. Jetzt musst du lernen, sie richtig einzusetzen, bevor noch einer dabei draufgeht.«

»Vielen Dank auch, Lou.« Mit einer genervten Handbewegung schob Taylor sich das Haar aus dem verschwitzten Gesicht. »Da geht’s mir gleich besser.«

Ehe Louisa etwas erwidern konnte, klingelte ihr Handy. »Bin gleich wieder da«, sagte sie zu Taylor und ging zum Bootshaus, um ungestört zu telefonieren.

Taylor sah ihr nach. Noch immer gab es Dinge, über die sie nichts wusste, weil Louisa sie nicht einweihte. St. Wilfred’s steckte voller jahrhundertealter Geheimnisse. Und Taylor war mittendrin.

Seufzend ließ sie sich auf einer verwitterten Holzbank nieder. Das Training hatte sie ausgelaugt, sie fühlte sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Der Schweiß lief ihr übers Gesicht, und ihr Körper war erschöpft. Das weiße T-Shirt mit der Aufschrift »Ich steh auf BÜCHER und kann nicht lügen« klebte ihr am Oberkörper.

Sie nahm einen lauwarmen Schluck aus der Wasserflasche und ließ den Blick über die Wiese schweifen. In der Ferne ragten die steinernen Turmspitzen von St. Wilfred’s hoch in den Himmel – eine weiße Burg, die in der Sonne schimmerte.

Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass dieser Ort nun ihr Zuhause war. Jeden Morgen wachte sie in dem ungewohnten Zimmer auf, betrachtete die schneeweißen Wände und das altmodische Mobiliar und wunderte sich, wo zur Hölle sie gelandet war. Bis ihr alles wieder einfiel. Der Kampf in Woodbury. Die Todbringer, die sie auf der Straße bedroht hatten. Sacha, der plötzlich auf dem Motorrad angebraust gekommen war. Die überwältigende Macht, als sie zusammen die dämonischen Kreaturen vernichtet hatten.

Ihr Handy vibrierte in der Tasche und unterbrach ihre Gedanken. Eine Nachricht von ihrer Mutter.

Ich vermisse dich so, Liebes. Rufst du heute Abend mal an?

Taylors Brust schnürte sich zu, sie drückte das Handy fest an sich.

Louisa und die anderen Alchemisten hatten Sacha und Taylor zu ihrer eigenen Sicherheit nach St. Wilfred’s gebracht. Möglicherweise war es dort tatsächlich sicherer für sie – so sicher es unter den gegebenen Umständen eben sein konnte. Trotzdem, wie zu Hause fühlte es sich nicht an.

Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, ihre Mutter fehlte ihr sehr.

»Ja!«, tippte sie enthusiastisch zurück. »Ich meld mich vor dem Abendessen.«

Sie vermisste ihr Zuhause total, sogar ihre kleine Schwester Emily. Aber vor allem vermisste sie Georgie, ihre beste Freundin. Sie simsten sich zwar oft, doch mittlerweile waren sie nicht nur räumlich meilenweit voneinander entfernt. Georgie saß in Woodbury, bereitete sich auf die Abiprüfung vor und träumte schon von der Spanienreise mit ihrer Familie, wenn alles vorbei war.

Und Taylor lernte, wie man gegen Monster kämpft.

Sie warf Louisa, die immer noch telefonierte, einen verstohlenen Blick zu, holte tief Luft und verdrängte die düsteren Gedanken. Niemand durfte wissen, was sie fühlte. Alle mussten glauben, dass sie bereit war. Blieb ihnen ja auch gar nichts anderes übrig.

Louisa steckte das Handy wieder in die Tasche ihrer abgeschnittenen Jeans und kam zielstrebig auf sie zu.

»Wir müssen zurück«, verkündete sie. »Jones will mich sprechen.«

Jones, genauer gesagt: Jonathan Wentworth-Jones, war der Dekan von St. Wilfred’s. Die Hierarchie im College war zwar nicht sehr ausgeprägt, doch wenn der Dekan rief, dann ließ man besser alles andere stehen und liegen.

Erleichtert, dass das Steine-landen-lassen vorbei war, folgte Taylor Louisa über den Pfad, der sich durch die Flusswiese zur Schule schlängelte. Der Weg war schmal, eingesäumt von hohen Gräsern und Wildblumen, die ihre Beine kitzelten.

Taylor wickelte ihre widerspenstigen blonden Locken zu einem Knoten, damit der Wind ihren Nacken ein wenig kühlte. Es war der heißeste Juli, an den sie sich erinnern konnte, und mit jedem Tag wurde es schlimmer. Als würde die Welt untergehen.

Sie war so in Gedanken verloren, dass ihr erst auf halber Strecke auffiel, dass Louisa kein Wort mehr gesagt hatte. Normalerweise hätte sie Taylor beschimpft, weil sie das mit den Steinen nicht hingekriegt hatte, und ihr damit gedroht, noch härter zu trainieren. Doch jetzt war sie still, und ihr Gesicht war angespannt und nachdenklich.

Taylor musterte sie interessiert. »Ist was?«

Louisa sah auf. Im Sonnenlicht hatten ihre Augen die Farbe von warmem Karamell.

»Nichts.« Sie zuckte mit den Schultern und schaute wieder weg. »Jones macht sich immer über irgendwas Sorgen.«

Taylor hätte schwören können, dass Louisa ihr etwas verheimlichte, doch sie fragte nicht weiter nach. Sie hatte genug eigene Probleme.

Mit jedem Tag wurden ihre alchemistischen Fähigkeiten stärker. Steine konnte sie vielleicht noch nicht kontrollieren, doch dass sie immer besser wurde, stand außer Frage. Selbst jetzt fiel es ihr schwer, sich auf den Weg vor ihr zu konzentrieren, weil die Energiemoleküle sie zu verfolgen schienen. Um sie herum waren lauter goldene Kugeln und zähflüssige Energietropfen. Ständig wurde sie abgelenkt, und es machte sie ganz verrückt, wenn sie im Gehen direkt hinschaute. Sie musste sich zwingen, die Welt so zu sehen, wie normale Menschen sie sahen. Blaue und rosa Blumen. Grünes Gras. Sonnenlicht.

Der Weg endete an einer Holzpforte, die in eine Steinmauer mit tief liegenden Fenstern eingelassen war. Über der Tür waren alte Symbole eingraviert. Bei ihrer Ankunft hatte Taylor sie kaum wahrgenommen, doch nun fielen sie ihr ständig auf, sie fanden sich überall im College: der mächtige Uroboros, eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Ein schlichter Kreis, verflochten mit einem Dreieck. Das perfekte allsehende Auge. Dutzende waren es, und jedes stellte ein Element der alten Alchemie dar – Kupfer, Quecksilber, Zinn –, alles starke Kräfte zur Abwehr dunkler Magie. Sonne und Mond, die für Gold und Silber standen, waren die mächtigsten Symbole. Sie fanden sich überall, über jedem Durchgang, jedem Fenster, an jeder Wand.

Alle zusammen bildeten sie eine Barriere rund um St. Wilfred’s, die eigentlich ausgereicht hätte, um das College zu schützen. Doch die Dinge hatten sich geändert.

Nichts war mehr sicher.

Die Tür hatte keine Klinke, doch das war kein Problem für Louisa. Sie presste die Fingerspitzen an das ramponierte Holz, es ertönte ein metallisches Klicken, und die Tür öffnete sich.

Dahinter sah man Studenten und Professoren über eine Rasenfläche eilen, die auf allen Seiten von hohen Steinbauten umgeben war. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein ganz gewöhnliches Oxforder College – und das war es in gewisser Hinsicht ja auch.

Sie folgten den Studenten.

»Wegen der Steine vorhin …«, sagte Louisa so unvermittelt, dass Taylor zusammenzuckte. »Mach dir nichts draus, das wird schon. Du machst Fortschritte.«

»Ich weiß«, sagte Taylor. »Wenn es nur schneller ginge.«

Louisa lächelte grimmig. »Es geht doch schnell. Kommt einem nur nicht so vor, weil wir es so verdammt eilig haben.«

Ein paar Mädchen, die an einer Steinsäule standen, starrten unverblümt zu Taylor herüber und versuchten erst gar nicht, ihre Neugier zu verbergen. Ihr Getuschel rauschte Taylor in den Ohren.

»Ist sie das?«

»Sieht gar nicht aus wie was Besonderes.«

Eigentlich hätte Taylor daran gewöhnt sein müssen, so oft, wie ihr das schon passiert war. Doch es ging ihr trotzdem auf die Nerven. Ihre Wangen röteten sich, Wut stieg in ihr auf.

Gerüchte über sie und Sacha hatte es seit ihrer Ankunft gegeben, doch was hinter der ganzen Geschichte wirklich steckte, wussten die meisten in St. Wilfred’s nicht, weil Jones sich zu den Details nicht äußerte, damit keine Panik ausbrach. Dass das, was auf sie zukam, mit ihnen beiden zu tun hatte, war jedoch allgemein bekannt. Und es machte sie nicht unbedingt beliebt.

Noch ehe sie sich eine passende Antwort ausgedacht hatte, baute Louisa sich mit verschränkten Armen vor den Mädchen auf und blitzte sie herausfordernd an.

»Hey, wir sind hier nicht im Kindergarten, kapiert? Verschwindet, oder ich verpetze euch bei Jones.«

Mit Louisa wollten die Mädchen sich lieber nicht anlegen. Im Nu war das Grüppchen im allgemeinen Gewusel untergetaucht.

»Blöde Tussis«, brummte Louisa. »Komm weiter.«

Sie griff nach Taylors Ellbogen und zog sie mit sich den gepflasterten Weg entlang bis zu dem großen gotischen Verwaltungsgebäude mit den drachenköpfigen Wasserspeiern, die auf die Vorübergehenden heruntergrinsten. Vor der Eingangstreppe blieb sie stehen.

»Wenn du willst, kannst du hier warten, aber ich weiß nicht, wie lange es dauert.« Sie dachte kurz nach. »Nein, am besten, du gehst zu Alastair ins Labor.«

»Okay«, erwiderte Taylor wenig begeistert. Ständig wurden Sacha und sie überwacht, selbst auf dem College-Gelände. Zu ihrer eigenen Sicherheit natürlich, aber sie hatten es beide satt, dass man sie wie Kinder behandelte.

Louisas Gesichtsausdruck wurde streng. »Du gehst direkt zu Alastair ins Labor, haben wir uns verstanden?«

Taylor verkniff sich die Widerworte. Stattdessen setzte sie eine freundliche Miene auf und nickte. »Versprochen.«

Doch als Louisa im Gebäude verschwunden war, machte sie sich nicht etwa auf den Weg ins Labor, wo die Wissenschaftler noch immer dabei waren, die sterblichen Überreste der Todbringer, die sie aus Woodbury mitgebracht hatten, zu untersuchen.

Entschlossen drehte sie sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.

2

Die Bibliothek von St. Wilfred’s war ein runder, von Säulen getragener Bau, der aus dem gleichen goldfarbenen Kalkstein errichtet war wie die meisten Gebäude in Oxford. Ihr kuppelförmiges Kupferdach schimmerte grün unter der heißen Sonne. Taylor schlüpfte durch die breite, mit alchemistischen Symbolen überzogene Tür ins kühle Halbdunkel des großen Lesesaals.

Rechts und links waren die Tische in zwei symmetrischen Halbkreisen aufgebaut; auf jedem thronten zwei Leselampen aus Messing, davor standen lederbezogene Stühle. Die meisten Tische waren leer, allerdings nicht, weil die Studenten von St. Wilfred’s faul waren, sondern weil dieser Saal nur der Repräsentation diente. Die eigentlichen Arbeitsräume der Bibliothek erstreckten sich jenseits des dekorativen Gebäudeteils über mehr als einen Straßenzug. Auf vier Etagen und in Tausenden Regalen lagerten Massen von Büchern, dazu kamen mehrere Kellergeschosse – ein gewaltiges Labyrinth voller Lesefutter.

Trotz der enormen Größe des Ortes wusste sie genau, wo sie Sacha suchen musste.

Mit schnellen Schritten durchquerte sie den stillen Raum, vorbei an baumstammdicken, behauenen Marmorsäulen, und steuerte auf eine hohe Doppeltür zu, die in ein riesiges marmornes Atrium führte. Kaffeeduft aus dem Studentencafé im Untergeschoss stieg ihr in die Nase und weckte ein heftiges Verlangen nach den dekadenten Schoko-Cookies, doch sie blieb stark und wandte sich der Haupttreppe zu, die sich um eine Statue mit vier springenden Pferden emporwand.

Keine drei Wochen waren sie jetzt in St. Wilfred’s, doch Taylor hatte sich längst an alles gewöhnt. In dieser neuen, komplexen Welt, in der alle älter und selbstsicherer als sie waren und sich – soweit sie wussten – nicht in akuter Todesgefahr befanden, hatten Sacha und sie rasch tägliche Gewohnheiten angenommen, denen sie mit beinahe religiöser Strenge folgten. Jeden Nachmittag trainierte Taylor mit Louisa, während Sacha sich in der Bibliothek in alte französische Bücher vergrub. Und nach Antworten suchte.

Taylor würdigte die steinernen Rösser kaum eines Blickes, sondern stürmte vorbei an herumlungernden Studenten und dahinschlurfenden Professoren nach oben.

Im ersten Stock tauchte sie ins Reich der Bücher ein, die rechts und links in hohen Regalen standen.

Er trug wie immer ein schwarzes T-Shirt und Jeans und saß allein über seine Bücher gebeugt am letzten Tisch in einer Ecke, den Kopf leicht auf die Finger einer Hand gestützt. Glattes braunes Haar verbarg sein Gesicht. Die langen Beine hatte er in den Gang ausgestreckt.

Sacha war ganz anders als die Alchemisten mit ihrer warmen, hellen Energie. Er strahlte eher eine kühle blaue Ruhe aus, eine Oase, die von Dunkelheit gesäumt war. Und er hatte etwas Gefährliches an sich, von dem Taylor sich magisch angezogen fühlte.

Seit sie gemeinsam die Todbringer getötet hatten, waren sie irgendwie miteinander verbunden. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Taylor wusste, dass er das Gleiche empfand. Sie sah es ihm an – dieser Wachsamkeit in seinen Augen.

Jetzt aber hatte er nur Augen für seine Bücher. Er war so vertieft in seine Lektüre, dass er erschrocken aufsprang, als sie sich in den ledernen Stuhl gegenüber plumpsen ließ.

»Merde, Taylor. Musst du dich so anschleichen?!«

Sein französischer Akzent klang einfach unglaublich. Unwillkürlich musste Taylor lächeln.

»’tschuldigung.«

Jetzt erst bemerkte er ihre geröteten Wangen und das wirre Haar, und der Ärger wich aus seinem Gesicht.

»Wie war das Training?«

Sie seufzte. »Ist voll in die Hose gegangen.«

Er runzelte die Stirn und warf einen misstrauischen Blick auf ihre nackten Beine. »In die Hose? Was soll das heißen?«

Taylor brachte ihm Englisch bei, nicht das, was man in der Schule lernt, sondern die wichtigen Kleinigkeiten. Fluchen. Und so Sachen wie »in die Hose gehen« eben.

»Na, in die Hose gehen. Scheitern. Ablosen.« Sie lehnte sich zurück. »Wenn du’s genau wissen willst: Ich bin die schlechteste Alchemistin, die die Welt je gesehen hat. Lass mich von Steinen erschlagen. Wie peinlich.«

»Du bist gut genug, um Todbringer zu killen«, bemerkte er. »Was kein anderer kann.«

Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

»Schade, dass du nicht da warst, um Louisa daran zu erinnern.«

»Immer noch das alte Problem?«, fragte er. »Die Sache mit der Kontrolle?«

Sie nickte. »Louisa meint, ich sei wie eine wild gewordene Atomrakete.«

Der Vergleich schien ihn zu amüsieren.

»Krass.«

»Ja, oder?«

Sachas Miene wurde wieder ernst. Mit den Fingern trommelte er auf das Buch, das geöffnet vor ihm lag – das einzige Indiz dafür, dass er eigentlich nicht mit amüsanten Dingen beschäftigt war.

»Und, was glaubst du, woran es liegt? Was hält dich zurück? Ich meine, ich hab doch mitgekriegt, wie du deine Kräfte kontrollierst. Es sah ganz einfach aus.«

Seine Stimme enthielt keinerlei Vorwurf, doch Taylor zögerte trotzdem mit der Antwort. Ich weiß es nicht, wäre ihre spontane Antwort gewesen, doch so einfach wollte sie es nicht sagen. Sachas Leben – alles – hing davon ab, dass sie die beste Alchemistin wurde, die es je gegeben hatte. Und davon war sie meilenweit entfernt.

»Irgendwie fällt mir das mit dem Kontrollieren unheimlich schwer, wenn keiner da ist und versucht, mich umzubringen … uns, meine ich natürlich«, sagte sie nach einer Pause. »Ich bin besser als früher, aber ich verliere immer noch die Kontrolle, ohne dass ich weiß, warum. Louisa meint, ich muss einfach weiterüben. Nur, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«

»Du wirst es schaffen«, sagte er. »Einfach weitermachen.«

Falls er nervös war – also, falls er Angst hatte, sie könne scheitern und er würde deshalb sterben –, zeigte er es nicht.

Um davon abzulenken, wie besorgt sie selbst war, griff Taylor sich ein Buch von dem Stapel auf dem Tisch. Der Titel war französisch, sie brauchte eine Weile, um ihn zu übersetzen.

»Die Hexenverbrennungen von Carcassonne.« Sie zog die Nase kraus. »Klingt ja fröhlich.«

»Mmh … He, Taylor, ich glaub wirklich nicht …«

Er streckte die Hand aus, als ob er ihr das Buch abnehmen wollte, doch sie hatte es bereits aufgeschlagen. Auf der ersten Seite prangte ein lodernder Scheiterhaufen. Eine Frau stand darauf, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Trotz der groben Linien der Gravur sah man deutlich, dass ihr Gesicht vor Angst und Qual verzerrt war.

»Da stehen ziemlich verstörende Sachen drin.«, sagte Sacha leise.

Taylor erwiderte nichts. Musste sie auch nicht.

Viel wussten sie nicht über den Fluch, der sein Leben bedrohte, doch alles hatte mit Isabelle Montclair begonnen, einer Vorfahrin von Taylor. Isabelle, eine Alchemistin, die im siebzehnten Jahrhundert in Frankreich gelebt hatte, hatte die Glaubenssätze und Werte ihrer Zunft verworfen und sich der Teufelslehre zugewandt – der »dunklen Kunst«, wie sie von den Alchemisten bezeichnet wurde. Wie so viele Alchemisten ihrer Zeit hatte auch sie auf dem Scheiterhaufen geendet. Zwei Dinge jedoch machten ihr Ende besonders.

Ihr Richter war ein Vorfahre von Sacha gewesen.

Und als sie gestorben war, hatte sie einen unbekannten Zauber benutzt und seine Familie auf dreizehn Generationen verflucht.

Dieser Fluch war schuld, dass über die Jahrhunderte zwölf erstgeborene Söhne in seiner Familie an ihrem achtzehnten Geburtstag gestorben waren.

Sacha war der dreizehnte.

Rastlos blätterte Taylor die Seiten um, als könnten darin versteckte Hinweise auftauchen und sich ihr offenbaren.

»Steht denn was drin? Über den Fluch, meine ich?«

»Nichts Neues. Die Verbrennung von Isabelle Montclair wird erwähnt, aber sonst nur wenig. Nie das, was wir brauchen.«

Er schlug so plötzlich das alte Buch zu, dass Taylor hastig die Finger wegziehen musste.

»Irgendwo muss es mehr Informationen darüber geben, wie man diesen Fluch bricht. In dieser Bibliothek stehen Tausende Bücher über Alchemie und Schwarze Magie. Also müssen wir auch das, was wir suchen, hier finden. Wir müssen einfach.«

Taylor hörte den Frust in seiner Stimme. Sie hätte ihn gern aufgemuntert, doch die Wahrheit war simpel: Wenn sie verhindern wollten, dass dieser Fluch Sacha tötete, dann mussten sie ihn verstehen. Nur, dass die Alchemisten aus St. Wilfred’s sich schon viele Jahre vergeblich daran versucht hatten. Und dass es bis zu Sachas achtzehntem Geburtstag nur noch sieben Tage waren.

Langsam verlor sie die Hoffnung.

»Es ist hier«, versicherte sie ihm und nahm ein neues Buch vom Stapel. »Wir werden die Lösung finden. Ich helfe dir.«

Sacha entgegnete nichts. Doch als sie ein weiteres altfranzösisches Buch nahm und durchblättern wollte, von dem sie nur Bahnhof verstand, stand er auf und streckte sich, sodass das schwarze T-Shirt einen Spaltbreit braune Haut über seinem flachen Bauch preisgab.

»Ich sitz jetzt schon den ganzen Tag hier drin und blättere Bücher durch«, sagte er. »Ich muss mal raus hier.« Seine Augen funkelten verwegen. »Komm, wir gehen ein paar Steine schmeißen.«

3

Zehn Minuten später überquerten sie den in der Nachmittagssonne liegenden Innenhof. Sacha setzte die Sonnenbrille auf und ignorierte die neugierigen Blicke der Studenten, an denen sie vorbeikamen. Anders als Taylor mochte er das Gefühl, dass man ihn ansah und über ihn tuschelte. Es amüsierte ihn.

Da geht dieser Franzose, der den Tag kennt, an dem er sterben wird.

So ziemlich der bescheuertste Grund, aus dem man berühmt sein konnte.

»Wenn Louisa merkt, dass wir weg sind, flippt sie aus.« Taylor machte ein Gesicht, als hätten sie ein Auto geklaut.

Sacha unterdrückte ein Lächeln.

Immer bemühte sie sich, die Regeln zu befolgen, stets und überall. Es war liebenswert und frustrierend zugleich. Die Welt stand kurz vor dem Untergang, und sie wollte immer noch um Erlaubnis fragen, ob sie rausdurfte.

»Wenn wir dein Problem mit der Kontrolle lösen, verzeiht Louisa uns bestimmt«, erinnerte er sie.

»Das bezweifle ich«, brummte Taylor, ging aber weiter.

Aus dem Clip, der ihr Haar zusammenhielt, hatten sich blonde Locken gelöst und wippten nun rings um ihr Gesicht wie ein goldener Heiligenschein. Ihre Wangen waren vor Hitze gerötet.

Sie schaute auf und bemerkte, dass er sie ansah.

»Was ist?«, fragte sie und hob verlegen eine Hand an ihr Haar.

Schnell sah Sacha weg. »Nichts.«

Als sie unter den schattigen Bogengang traten, der am Gebäude für Naturwissenschaften entlangführte, beschleunigte Sacha seine Schritte. Er wollte jetzt nur noch raus hier, und sei es nur für ein paar Minuten.

Die Blicke der Studenten machten ihm nichts aus, aber dieses College mochte er nicht. Er passte einfach nicht nach St. Wilfred’s. Nicht der Sprache wegen – sein Englisch war sehr gut. Sondern einfach deshalb, weil alle hier Alchemisten waren und er nicht.

Er gehörte nicht hierher.

Andauernd wurde er daran erinnert, dass er nichts Besonderes war. Zum Beispiel von den Professoren, die etwas in der Bibliothek nachschlagen wollten und die Bücher herauszogen, ohne einen Finger zu rühren. Vor Kurzem hatte er sogar einen dabei beobachtet, wie er eine Tasse mit kaltem Tee zum Kochen gebracht hatte, einfach indem er sie anschaute, zumindest soweit Sacha es beurteilen konnte.

Dass es mit der Alchemie noch viel mehr auf sich hatte, wusste er, aber er konnte es nicht sehen. Taylor hatte ihm von Energiesträngen und Molekülen erzählt, doch für ihn waren sie unsichtbar. Er sah nur, dass er anders war als alle anderen. Gewöhnlich eben.

Und das machte viel aus. Er fühlte sich immer ausgegrenzt, obwohl sich alles um ihn drehte.

Als sie an eine Tür kamen, die am Rand des Karrees im Schatten verborgen lag, streckte Sacha automatisch die Hand nach der Klinke aus – aber es gab keine. Einen Moment lang schwebte seine Hand in der Luft.

»Lass mich«, sagte Taylor entschuldigend.

Er trat zurück und sah zu, wie sie ihre Fingerspitzen gegen das Holz drückte, woraufhin ein Schließmechanismus klickte und sich die schwere Tür öffnete.

Sacha hatte sie schon viel außergewöhnlichere Taten vollbringen sehen, als eine klinkenlose Tür zu öffnen, dennoch erstaunte ihn, wie beiläufig sie das seit Kurzem tat. Ständig äußerte sie laut Zweifel an ihrem Können, doch er bemerkte, wie sie unbewusst mit jedem Tag sicherer wurde. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was sie möglicherweise anrichten könnte oder was sie war.

Er folgte ihr durch die Tür und stand plötzlich vor einer weiten, ungezähmten grünen Fläche aus Gras und Wildblumen. Erstaunt hielt er inne und betrachtete die Wiese. Taylor hatte ihm davon erzählt, doch er hatte sie nie mit eigenen Augen gesehen. Der Dekan hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm streng untersagt war, das College zu verlassen, und deshalb war Sacha seit seiner Ankunft immer innerhalb der Universitätsmauern geblieben.

Jetzt kam es ihm so vor, als würde er eine andere Welt betreten. Als würde er seine Freiheit wiedererlangen.

Seit Tagen war er angespannt gewesen, doch nun ließ diese Spannung etwas nach. Eine Weile stand er einfach nur da und nahm alles in sich auf. Taylor, die bereits ein Stück den Pfad entlanggegangen war, drehte sich um und sah ihn an.

»Was ist?«

»Nichts.« Er schob die Hände in die Taschen und folgte ihr.

Im Gehen atmete er tief ein. Die Luft duftete nach süßem Gras und Blumen, und der Boden unter seinen Füßen war weich. Nach all den Wochen in staubigen, alten Räumen fühlte es sich einfach phantastisch an.

In der Ferne hörte er das Rauschen des Verkehrs. Irgendwo dort hinten spielte das wahre Leben. Ganz weit weg.

»Das ist wie im Himmel hier«, sagte er und legte den Kopf in den Nacken.

Taylor lächelte und sah ihn wissend an. »Schön, mal aus der Bibliothek rauszukommen, was?«

Ohne sein Gesicht von der Sonne abzuwenden, nickte er. Allein bei dem Gedanken, zu diesen Büchern zurückzukehren, wäre er am liebsten losgerannt und nie mehr stehen geblieben. Endlich senkte er den Blick wieder und sah sie an.

»Das Lesen ist nicht das Schlimmste«, gestand er. »Oder die Studenten, die über uns tratschen, als ob ich fliegen könnte oder was. Das Schlimmste sind die Professoren.«

»Ja«, pflichtete Taylor ihm bei. »Der eine mit Bart …«

Sacha verzog das Gesicht. »Der ist ätzend. Ich saß erst unten im Erdgeschoss, aber da konnte ich nicht bleiben, weil der die ganze Zeit niest, und zwar richtig laut. Und jedes Mal guckt er mich an, als ob ich dran schuld wäre.«

Sie musste lachen.

»Ich glaub, der hat ’ne Allergie gegen Franzosen.«

Sie kicherte noch mehr, und plötzlich fiel Sacha auf, dass es lange her war, seit er sie zum letzten Mal so hatte lachen hören.

In letzter Zeit war alles so ernst gewesen.

»Und du?«, fragte er.

Ihr Lächeln verschwand.

»Weißt du doch.« Sie schaute weg. »Ich bin jeden Tag hier und vermassele es.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Sacha hatte wieder die Hände in die Taschen geschoben und schielte ab und zu in ihre Richtung. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und schien ihren Sorgen nachzuhängen.

Er wusste, wie sehr sie sich wünschte, Erfolg zu haben. Gern hätte er ihr was Nettes gesagt, von wegen, sie solle nicht so hart mit sich sein oder so, doch wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass es ihn jedes Mal wie eine Faust in den Magen traf, wenn sie ihm erzählte, was alles im Training mal wieder schiefgegangen war. Wie sehr sie sich auch wünschen mochte, dass sie Fortschritte machte – er wünschte, brauchte es noch mehr.

Sie musste stark genug werden, um es mit dem Schwarzmagier aufzunehmen. Stark genug, um sein Leben zu retten. Er hasste es, dass er das nicht selbst konnte. Es war unfair, dass sie für sein Überleben verantwortlich war. Sie kannten sich ja erst seit wenigen Wochen, und schon sollte sie sein Leben retten.

Deshalb vergrub er sich jeden Tag in der Bibliothek zwischen seinen alten französischen Büchern, um wenigstens irgendetwas zu seiner Rettung beizutragen.

Und er würde Taylor jetzt nicht noch mehr bedrängen.

»Du wirst immer besser«, versicherte er ihr.

Sie sah zu ihm auf, Zweifel in den kühlen grünen Augen.

»Wirklich«, bekräftigte er. »Du merkst es nur nicht, weil du nur auf die Dinge achtest, die schiefgehen. Ich sehe aber die Dinge, die nicht schiefgehen. Du wirst immer besser.«

Sie gingen weiter, und als sie antwortete, war ihre Stimme so leise, dass er erst nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte.

»Aber nicht schnell genug.«

Noch ehe ihm eine Antwort einfiel, wechselte sie das Thema und zeigte nach vorne.

»Da wollen wir hin.«

Schnell steuerte sie auf den Fluss zu, der sich wie ein silbernes Band zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Sacha folgte ihr die wenigen Steinstufen hinunter zu einem verwitterten Bootshaus nah am Ufer.

Ein Windhauch wehte vom dahinfließenden Wasser herüber und blies ihm die Haare in die Augen. Die Luft roch grün und feucht. Hier unten war es kühler als oben im College.

»Da wären wir.« Taylor breitete die Arme aus. »Hier bin ich jeden Tag und übe.«

Neben dem Bootshaus und einer alten Bank gab es dort nichts außer einem matschigen Ufer und einer anmutig mit ihren langen Zweigen wehenden Trauerweide, an deren Blättern das Wasser zupfte und zerrte. Still und abgelegen, war es der perfekte Ort, um zu trainieren.

Sacha hob einen Kiesel auf und schleuderte ihn flach Richtung Fluss. Er tanzte übers Wasser, ehe er geräuschlos in den Wellen versank.

Dann wandte er sich wieder Taylor zu. »Dann zeig mal, was du kannst.«

Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, sie wolle protestieren. Oder sich ganz weigern.

Doch dann zuckte sie nur beiläufig die Achseln und begann, mit den Augen den Strand abzusuchen. Als sie gefunden hatte, was sie suchte, streckte sie die Hand aus.

Mit einem Ruck erhob sich ein schwerer Stein, der am Ufer lag, und schwebte fast schwerelos in der Luft. Taylor, der plötzlich Schweißperlen auf der Stirn standen, hielt ihn dort in Position, als plötzlich zwei Dinge gleichzeitig passierten.

Sie schreckte zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Der Stein fiel mit einem lauten Knall in den weichen, nassen Schlamm am Wasser.

»Ups«, sagte Sacha in die Stille hinein.

»Tja.« Enttäuscht wischte Taylor sich den Schweiß von den Brauen. »Ups.«

»Und das passiert jedes Mal?«, fragte er und betrachtete interessiert den schweren Stein.

Sie nickte betreten. »Jedes Mal.«

Eigentlich hätte es völlig unwichtig sein sollen, ob sie den Stein nun schweben lassen konnte oder nicht. Eigentlich hätte sie alle Zeit der Welt haben sollen, um an ihren Fähigkeiten zu feilen, zu studieren und zu lernen. Aber es war nun mal so, dass sie diese Zeit nicht hatte. Sie hatte nur wenige Tage. Und es war verdammt wichtig.

Alle waren davon überzeugt, dass Taylor aufgrund ihrer Abstammung den Fluch, der Sacha zu töten drohte, aufhalten und die dämonischen Pläne des Schwarzmagiers durchkreuzen konnte. Nur, dass keiner so recht wusste, wie.

Deshalb war es so wichtig, ob Taylor Steine ordentlich absetzen konnte. Darum tuschelten die Leute hinter vorgehaltener Hand über sie.

Alle hatten Angst.

Der Schwarzmagier würde sie alle holen. Bald.

Sacha zog die Hände aus den Taschen. »Lass uns was anderes ausprobieren.«

***

Sie schleppten die schwersten Steine, die sie finden konnten, zusammen und stapelten sie am Ufer aufeinander. Die Arbeit war schwer, und als alles fertig war, waren sie beide schweißgebadet.

Anschließend wich Taylor zurück, bis sie fast in der Wiese stand.

Belustigt sah Sacha ihr zu.

»Geh lieber in Deckung«, warnte sie ihn. »Die fliegen in alle Richtungen.«

Er schnaubte nur. »Mir passiert schon nichts.« Dann setzte er sich aber doch in Bewegung und stellte sich neben sie. »Na, dann wollen wir die Steine mal fliegen lassen.«

Taylor konzentrierte sich, holte tief Luft und reichte ihm die Hand. Sacha nahm sie und schlang seine Finger in ihre. Ihre Haut war samtweich und trotz der Hitze kühl.

Sie drückte fest zu und sah ihn mit ihren weidengrünen Augen an.

»Nicht loslassen.«

Gebannt von diesem strahlenden Blick, brachte er einen Moment lang keinen Ton heraus. Es kostete ihn sehr viel Kraft, zu antworten.

»Nie im Leben.«

Auf einmal fuhr knisternde Elektrizität durch Sachas Körper. Überrascht hielt er die Luft an.

Er spürte, wie Taylors Körper erstarrte.

»Jetzt«, sagte sie mit plötzlich tiefer Stimme. Sie blickte stur geradeaus.

Sacha sah sich um und versuchte zu erkennen, wohin sie guckte.

Die Steine, die sie kurz zuvor aufgestapelt hatten, flogen hoch über dem Wasser, hin und her wie Papierdrachen.

Sachas Herz begann zu hämmern. Er spürte, wie die Energie ihn durchströmte, von ihm zu Taylor und wieder zurück, und sie miteinander verband wie ein Stromkabel. So hatte es sich auch angefühlt, als sie in Woodbury gegen die Todbringer gekämpft hatten. Als könnten sie alles schaffen.

Ein Rausch, wie er ihn noch nie erlebt hatte.

»Und jetzt?«, fragte er atemlos.

»Jetzt«, sagte sie, »setzen wir sie wieder ab.«

Taylors Hand umklammerte seine Finger so fest, dass es wehtat. Gebannt blickte sie auf die Steine.

Wie gewünscht, begannen diese, sanft Richtung Wasser zu schweben, und schwammen, als sie es erreicht hatten, in einer perfekten Reihe hintereinander, wie kleine Entchen.

»Wahnsinn«, murmelte Sacha beeindruckt. »Wie hast du das gemacht?«

Sie strahlte ihn an. Schweiß tropfte ihr von der Stirn, ihre Wangen waren knallrot.

»Ich glaub’s nicht. Tagelang hab ich das geübt, aber ich hab es nie hingekriegt. Zusammen mit dir war’s ganz einfach!«

»Das ist es«, erklärte Sacha. »Die irren sich. Wir müssen das zusammen machen. Ich muss mit dir zusammen trainieren.«

»Das glaube ich auch«, sagte sie. »Zusammen könnten wir es hinkriegen.«

Einen kurzen Augenblick lang gab Sacha sich der warmen Illusion der Hoffnung hin. Und vielleicht war das der Grund, weshalb er das komische Geräusch erst nicht bemerkte. Ein leises Grollen, wie Meereswellen, die auf einen Strand zurollen.

Als es ihm auffiel, blickte er zum Wasser und fasste vor Schreck ihre Hand fester.

»Taylor …«

Alarmiert vom warnenden Unterton in seiner Stimme, folgte sie seinem Blick.

Der Fluss hatte begonnen, in ihre Richtung zu schwenken. Er löste sich vom anderen Ufer und kam über den matschigen Strand auf sie zugeschwappt. Er schien sich zu ihnen herüberzubeugen wie eine Blume, die sich nach der Sonne reckt.

Und oben auf den Wellen tanzten fröhlich die Steine.

Taylor erbleichte.

»O nein«, flüsterte sie, und dann, mit letztem Atem: »HALT!«

Sie schleuderte einen Arm nach vorn und konzentrierte all ihre Kraft auf den Fluss.

Unbeeindruckt strömte das Wasser weiter in ihre Richtung. Das Flussbett leerte sich immer mehr, dunkler Morast glitzerte in der Sonne. All das Wasser, das sonst zu Tal floss, überschwemmte nun das Ufer und griff nach der Wiese. Schon erreichten die ersten Wellen das Bootshaus. Unaufhaltsam.

Sacha schaute sie an. »Taylor …«

»Ich versuch’s ja. Komm schon«, flehte sie den Fluss an, die Augen weit aufgerissen vor Panik. »Bitte halt an.«

»Du musst loslassen«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Sie fuhren herum. Da stand Louisa, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestützt, das Haar blau leuchtend im Sonnenlicht. Und stinksauer.

»Entweder lässt du jetzt los, oder ihr werdet beide ersaufen.«

4

»Ich schaff’s nicht«, sagte Taylor. Ihre Unterlippe zitterte.

»Du musst die Kraft wiederfinden, die sie zum Schweben gebracht hat. Und lass los, bevor mein verdammtes Bootshaus weggespült wird.«

Louisas Stimme war ruhig, doch Sacha wusste, dass auch Taylor der eisige Unterton nicht entgangen war.

Taylor wandte sich wieder dem Fluss zu und schloss die Augen. Ihr Atem ging schnell, und sie umklammerte Sachas Hand so fest, dass er unter ihrer Haut die Knochen spüren konnte. Sie flüsterte etwas, das er nicht verstand, doch plötzlich spürte er, wie die Verbindung zwischen ihnen abriss. Die Energie, die seine Adern mit Licht erfüllt hatte, verschwand.

Ohne sie fühlte er sich leer.

Mit einem Geräusch, das sich wie ein Seufzen anhörte, glitt das Wasser zurück ins Flussbett. Die Steine, die erstaunlicherweise obenauf geschwommen waren, sanken still auf den Grund.

Taylor ließ Sachas Hand fallen.

Louisa kam durch den Matsch auf sie zugestapft. »Zur Hölle, ihr zwei«, schnaubte sie. »Was habt ihr hier draußen verloren? Ich hab euch überall gesucht.«

»Hast du die Steine gesehen?« Taylor konzentrierte sich lieber auf die positiven Dinge. »Wir haben’s geschafft. Einfach perfekt.«

»Und hättet dabei beinahe ganz Oxford überflutet«, blaffte Louisa. »Wir haben das doch geklärt. Für dich allein ist es hier draußen zu gefährlich. Das weißt du. Du darfst nie allein unterwegs sein.«

»Sie ist nicht allein.« Sacha war die Ruhe selbst. »Ich bin doch bei ihr.«

Louisa nagelte ihn mit dem Blick fest. »Womit wir beim nächsten Problem wären. Mensch, Kleiner, du bist ein Ziel auf zwei Beinen, völlig schutzlos. Verdammt, was hast du dir dabei gedacht?«

Sacha zeigte keine Regung.

»Dass ich Taylor vielleicht bei ihrem Training helfen kann«, sagte er cool.

Louisa setzte zu einer scharfen Antwort an, beherrschte sich dann aber, und als sie sprach, schwang durchaus Mitgefühl in ihrer Stimme mit.

»Hab’s kapiert, Kleiner, wirklich«, sagte sie. »Aber Taylor muss lernen, wie sie das allein hinkriegt. Wenn es um ihre Sicherheit geht, darf sie sich nicht auf eure vereinten Kräfte verlassen. Was, wenn du bewusstlos geschlagen wirst und sie mit dem Typen allein fertigwerden muss? Oder wenn du als Geisel genommen wirst und sie dich dann retten muss? Wenn sie sich nur auf dieses Energiedings verlassen würde, das da zwischen euch beiden abgeht«, ihre Hand wedelte zwischen beiden hin und her, »dann macht sie sich verwundbar, sobald du von der Bildfläche verschwindest. Was du jetzt übrigens tun solltest, Kleiner. Ich muss ihr nämlich beibringen, wie man allein kämpft.«

Sacha spürte, wie Wut in seiner Brust aufstieg. Er hasste es, wie Louisa sie beide runtermachte. Er hasste es, dass Taylor nicht mit dem Training vorankam. Er hasste St. Wilfred’s und alle, die dort lebten. Er hasste es, dass er auf sie angewiesen war, wenn er überleben wollte.

»Hör auf, mich dauernd Kleiner zu nennen, okay?«, fuhr er auf. »Ich soll mich wie ein verantwortungsvoller Erwachsener verhalten? Dann behandle mich auch so, sonst kannst du den Kleinen mal richtig kennenlernen!« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Ist es das, was du willst? Dich mit einem Kleinen anlegen? Pass bloß auf, Louisa!«

»Halt die Luft an, Kleiner.« Louisa verdrehte die Augen. »Entspann dich.«

»Louisa«, zischte Taylor und trat zwischen die beiden. »Kannst du jetzt mal die Klappe halten?«

Über ihre Schulter hinweg starrten Sacha und Louisa sich an.

Wenn’s nach Sacha gegangen wäre, hätte er nichts dagegen gehabt, die Sache jetzt ein für alle Mal mit Louisa zu klären. Seit er in St. Wilfred’s war, ärgerte sie ihn, ohne dass er wusste, warum. Immer hatte sie irgendwas zu meckern. Es war nicht fair.

Nur dass sie diesmal recht hatte. Taylor war die Hauptfigur in diesem Kampf. Und sie musste stärker werden, zu ihrer eigenen Sicherheit. Er konnte nicht immer an ihrer Seite sein.

Trotzdem, so einfach würde er das nicht schlucken. Er hatte schon zu viel in seinem kurzen Leben durchgemacht, als dass irgendeine dahergelaufene blauhaarige Tattoo-Elfe so mit ihm umspringen durfte.

»Du solltest dich entschuldigen, Louisa«, drängte Taylor, die immer noch sauer war.

Sacha trat einen Schritt zurück.

»Ist schon okay, Taylor, ich gehe. Mir reicht’s.« Er schleuderte Louisa einen warnenden Blick zu. »Aber wenn sie weiterhin so eine Bitch ist, bin ich weg. Je me casse.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte mit gesenktem Kopf über die Wiese davon. Zum hundertsten Mal wünschte er sich, er wäre wieder in Paris. Er konnte jederzeit zurückkehren, wer sollte ihn aufhalten? In seinem Zimmer wartete das Rückfahrtticket für die Fähre. Aber ohne Taylor würde er nicht fahren, und er wusste, dass sie St. Wilfred’s niemals verlassen würde, da brauchte er gar nicht erst zu fragen.

Abgesehen davon wusste er nicht, wo sein Motorrad stand. Bei ihrer Ankunft hatte man ihm die Schlüssel abgenommen und versichert, es werde »sicher verwahrt«.

Das hasste er auch. Es war sein Motorrad.

Wütend kickte er mit voller Wucht einen Stein in die Wiese. Aber das reichte nicht. Er wollte rennen. Jemanden eine reinhauen.

An Tagen wie diesen sehnte er sich nach seinem alten Leben, so beschissen das auch gewesen sein mochte. Und auch wenn er da wahrscheinlich nur rumgesessen und auf den Tod gewartet hätte – wenigstens wäre er frei gewesen.

Im Moment fühlte er sich wie ein Gefangener.

Erst als er vor der Tür in der Steinmauer stand, bemerkte er seinen Irrtum. Nur Alchemisten konnten sie öffnen. Von selbst kam er nicht hinein.

Typisch.

»Wie ich diesen Ort hasse.« Er stieß einen verzweifelten Schrei aus und hämmerte mit der Faust gegen das Holz.

Die Tür erzitterte nicht mal.

Leise fluchend stapfte er davon.

Da er hier noch nie gewesen war, wusste er nicht, wie er am schnellsten zum Haupttor kam. Ihm blieb nur, sich für eine Richtung zu entscheiden und der Mauer zu folgen, die das College umgab. St. Wilfred’s erstreckte sich über eine ziemlich große Fläche. Erst nach einer Viertelstunde erreichte er das Ende der Wiese, wo der weiche Grasboden hartem Asphalt wich und der Lärm von Autos und Bussen das Vogelzwitschern und Insektensummen verdrängte.

Nach einer Weile stieß Sacha auf eine schmale Gasse. Rechts lag die abweisende Mauer von St. Wilfred’s, auf der anderen Straßenseite erhob sich eine weitere Mauer, vermutlich die Grenze zu einem anderen College. Jenseits der Mauern konnte er die Turmspitzen von Gebäuden und Kirchen erkennen. Er hasste St. Wilfred’s, aber die Stadt selbst war zweifelsohne außergewöhnlich – vor langer Zeit hatte sein Vater hier gelebt und sie geliebt. Vielleicht war er ja sogar diese Straße entlanggegangen.

Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes, und seine Wut ließ langsam nach.

Er folgte der Mauer, die einen Knick nach rechts machte, und begegnete nun mehr Menschen – meist waren es Studenten zu zweit oder in Gruppen, die redeten und lachten, aber Touristen und Einheimische waren auch darunter.

Versteckt hinter seiner Sonnenbrille, betrachtete Sacha sie mit einem Interesse, dass er nie zugegeben hätte. Sie sahen so entspannt aus, so normal. Kunststück, sie hatten auch noch nie erlebt, dass ein Todbringer auf sie zugeglitten kam, mit leblosen Augen. Sie wussten ja nicht mal, dass es solche Dinge überhaupt gab.

Ich wünschte, ich wüsste auch nichts davon!

Sacha fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Fernab der Wiese war es heißer, und er war schon ewig unterwegs. Wann kam bloß dieses blöde Tor?

Es musste ganz nah sein.

Er ging schneller, schob sich durch eine Gruppe plappernder Studenten, die ihm den Weg versperrten.

Erst da entdeckte er das mächtige Torgebäude des Colleges, von dessen Spitze rot-goldene Banner herunterhingen.

Erleichterung machte sich in ihm breit. Er hatte es fast geschafft.

In diesem Augenblick erklang ein unheilvolles, tiefes Brummen.

Wie angewurzelt blieb er stehen. Das Brummen war nicht laut, aber irgendetwas an diesem Geräusch war seltsam. Nicht menschlich.

Dann wurde es lauter. Ein knirschendes, beinahe maschinelles Ächzen. Als würde sich tief unter ihnen, irgendetwas Furchtbares in Gang setzen.

Die feinen Haare in seinem Nacken richteten sich auf. Sacha drehte sich um und suchte nach der Ursache.

Offenbar hatte er es nicht als Einziger gehört. Die Studenten mussten es ebenfalls bemerkt haben, denn auch sie sahen sich verdutzt um und tuschelten aufgeregt.

Sacha wollte sie warnen – wovor auch immer. Doch dazu war es zu spät.

Plötzlich bebte der Boden so heftig, dass Sacha sich an einem Laternenmast festhalten musste, um nicht zu stürzen. Und dann explodierte die Welt um ihn.

5

Nachdem Sacha in Richtung College davongestürmt war, standen die beiden Mädchen am Fluss und schrien sich an.

Louisa wusste, dass sie zu weit gegangen war. Aber der Dekan hatte ihr die Hölle heißgemacht und es »unverantwortlich« genannt, dass sie die beiden aus den Augen verloren hatte. Panisch hatte sie das ganze College nach ihnen abgesucht. Als sie sie schließlich an einem Ort entdeckt hatte, an dem sie gar nicht hätten sein dürfen, waren Anspannung und Frustration der vergangenen Wochen einfach übergekocht.

Was sie sofort bereut hatte – Sachas gekränkter Blick und die verwirrte Enttäuschung in Taylors Augen hatten eine deutliche Sprache gesprochen. Doch ihr Dickkopf (der für die meisten schlechten Entscheidungen in ihrem Leben verantwortlich war) erlaubte es ihr einfach nicht, sich zu entschuldigen.

»Willst du vielleicht, dass dir was passiert?«, blaffte sie Taylor an. »Willst du sterben?«

»Saublöde Frage.« Taylor verschränkte die Arme.

»Antworte«, legte Louisa nach.

»Du kannst mich mal«, erwiderte sie knapp. »Abgesehen davon: Wenn einer das verhindern kann, dann bin ich das.«

Louisa hatte schon den Mund geöffnet, um etwas Passendes zu erwidern, da begann der Boden unter ihren Füßen zu beben.

Ihr Streit war sofort vergessen.

»Was zur Hölle war das?«, murmelte sie und sah hinter sich, Richtung College.

In der plötzlichen Stille hörte sie einen dumpfen Knall. Und einen Herzschlag später ein gewaltiges Dröhnen.

Danach markerschütternde Schreie.

Zwischen den steinernen Turmspitzen der Stadt stieg eine dünne schwarze Rauchsäule in den blauen Sommerhimmel auf.

»Lou …«, begann Taylor, aber vor Panik verschlug es ihr die Sprache.

Ehe sie ihren Satz beenden konnte, war Louisa schon losgesprintet, Richtung College.

»Mitkommen!«, rief sie über die Schulter. »Und bleib verdammt noch mal in meiner Nähe!«

»Was ist da los?«, schrie Taylor.

»Ich weiß es nicht.« Louisas Stimme ruckte bei jedem Schritt. »Nichts Gutes, so viel steht fest.«

Sie rannten so schnell, dass die Blüten um sie herum zu einem undeutlichen Grün-Weiß verschwammen. Die Vögel waren verstummt. Man hörte nur das Keuchen der beiden und die schrillen Schreie, die immer lauter wurden, je näher sie der Schulmauer kamen.

Als sie die Tür in der Mauer erreichten, erschütterte ein weiterer ohrenbetäubender Knall den Erdboden und rüttelte Louisas ganzen Körper durch. Und dann nahm sie es wahr, wenn auch weit weg. Ein schmieriges Schimmern von Dunkler Energie.

Der Himmel verdunkelte sich. Schutt und Steine hagelten auf sie herunter. Sie kauerten sich vor der Tür zusammen und legten schützend die Hände über den Kopf.

Als der Steinregen nachließ, streckte Louisa die Hand nach der Tür aus, doch Taylor fiel ihr in den Arm. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Sacha. Du hast ihn doch zurückgeschickt!«

Louisas Magen zog sich zusammen. Den hatte sie in der Panik ganz vergessen.

Insgeheim verfluchte sie ihr Temperament. Wieso waren sie nicht alle zusammen zurückgegangen? Wie hatte sie bloß so dämlich sein können?

Doch sie ließ sich nichts anmerken.

»Wir finden ihn«, versprach sie, obwohl sie sich keineswegs sicher war. »Hör zu, Taylor – ich glaube, er ist das. Bist du bereit?«

Taylor schluckte, dann nickte sie. »Ich bin bereit.«

War sie zwar nicht, und das wussten sie beide. Aber es blieb keine Zeit, um groß Pläne zu schmieden.

»Dann los.« Louisa drückte mit der Hand gegen die Tür. Sie sprang auf.

Der sonst so ordentliche Campus von St. Wilfred’s war in Aufruhr. Staub und Rauchschwaden hingen in dicken Wolken in der Luft und machten die Szene irgendwie unwirklich, so als wäre sie nicht von dieser Welt.

»Bleib bei mir«, schrie Louisa und stürzte sich in das Chaos.

Studenten, Professoren und Angestellte klammerten sich hustend aneinander und taumelten in alle Richtungen. Aus den Gebäuden kreischten die Alarmtöne der Rauchmelder.

Seite an Seite rannten die beiden Mädchen durch die Menge, bis Louisa abrupt stehen blieb, unschlüssig, wohin sie gehen sollte.

Ein Pförtner mit staubbedecktem schwarzem Jackett stand, den Bowler schief auf dem Kopf, vor einem der Seiteneingänge zur Bibliothek und schrie: »In die Schutzräume! Alle Studenten in die Schutzräume!«

In Scharen stürmten verschreckte Studenten an ihm vorbei ins matt erleuchtete Innere. Mit Taylor im Schlepptau rannte Louisa in die andere Richtung, gegen den Strom, geradewegs auf die Rauchsäule zu. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, sie versuchte zu begreifen, wie in den paar Minuten, die sie unten am Fluss gewesen waren, alles so falsch hatte laufen können.

Der Schwarzmagier musste herausgefunden haben, dass Taylor und Sacha sich hier aufhielten, und hatte offenbar beschlossen, sie zu überrumpeln.

Cleverer Schachzug, dachte sie widerwillig, während um sie herum Qualm wirbelte. Und wie sollen wir ihn jetzt aufhalten?

Je näher sie dem Haupteingang kamen, desto mehr Dunkle Energie waberte durch die Luft und füllte ihre Adern mit Eis.

Das kam zu früh. Sie waren noch nicht so weit. Sie hatten gedacht, ihnen bliebe mehr Zeit.

Louisa fuhr herum, um nachzusehen, ob Taylor bei ihr war. Da war sie, blass und abgespannt, aber immer noch dicht hinter ihr.

Louisas Herz füllte sich mit Stolz. Verdammt tough, die Kleine. Tougher, als alle dachten.