SED, LSD und ein Hippie-Mädchen - Carsten Regel - E-Book

SED, LSD und ein Hippie-Mädchen E-Book

Carsten Regel

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Beschreibung

Eine rasante Komödie über (politischen) Irrsinn, Freiheit und die große Liebe - und darüber, dass Wahrheit manchmal zwei Seiten hat. Nach einer wahren Begebenheit. Als im West-Berlin der 68er-Zeit die Studentenrevolten ausbrechen, sieht die SED die historische Chance des Sozialismus gekommen: mit selbstproduziertem LSD soll die Westjugend wehrunfähig gemacht werden. Die Ost-Partei schmuggelt daraufhin die beiden als Hippies verkleideten Brüder Rainer und Lutz Kramer über die Grenze, um den Klassenfeind mit LSD-Kaugummis in den Wahnsinn zu treiben. Bis einer der beiden Brüder das Hippie-Mädchen Barbara kennen lernt und selber vor Liebe fast den Verstand verliert... Schon bald bekommen sich die ungleichen Brüder in die Haare: Der eine, einmal am Kelch der Freiheit gerochen, möchte nie wieder zurück in den Osten, der andere, streng parteilinientreu, sieht in dem irren Trip tatsächlich eine Mission für den Sozialismus.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

KAPITEL

1

Im Konferenzraum der SED hatten sich vierzig geladene Parteimitglieder versammelt. Als plötzlich das Licht ausging, blieben die Anwesenden artig stumm. In dem Saal war es sekundenlang stockfinster. Nur das schwache Surren des Super-8-Filmprojektors war zu hören, der schließlich einen weißen Lichtstrahl an die kahle Wand warf. Auf dem hellen Quadrat von der Größe einer Schultafel erschienen nun brandaktuelle Stummfilm-Aufnahmen der Westberliner Studentenunruhen. Die Monate Mai und Juni 1967 hatten für die Presse ergiebiges Material produziert. Alles hatte damit begonnen, dass mitten auf dem Prachtboulevard Kurfürstendamm Hunderte aufgebrachter junger Leute demonstrierten, streng abgeschirmt von der Polizei und begafft von Tausenden Schaulustigen. Die Jugend hielt den Spießbürgern selbstgemalte Schilder vor die Nasen, auf denen sowohl politische Parolen als auch bewusster Nonsens geschrieben standen. Neben Botschaften wie »USA raus aus Vietnam« oder »Make love not war« waren schräge Statements wie »Keine Macht für niemand« oder »High wollen wir leben« zu lesen.

Auch bei den linientreuen Sozialisten in der Ostberliner SED-Zentrale sorgten diese Plakate für Verunsicherung. Gebannt starrten die Parteigrößen auf die Schwarzweißbilder von Studenten, die, zu Pulks zusammengerottet und untergehakt, den Straßenverkehr im Westteil der Stadt lahmlegten. Ab und an hüpfte die gesamte Meute: Männer mit Zottelbärten, langen Haaren, verwaschenen Jeans und Hemden voller Kaffeeflecken; Frauen mit kurzen Röcken, Batik-Shirts und fettigen Frisuren. Aus einigen Häusern warfen empörte Bürger Tomaten und Mandarinen auf den Protestzug unten auf der Straße.

Die beiden jungen Volkspolizisten, die den Ausgang des Konferenzsaals bewachten, konnten nicht fassen, was sie dort an kapitalistischer Dekadenz mitansehen mussten. Südfrüchte waren in der DDR absolute Mangelware, nur wenige kamen in den Genuss von frischem Obst. Wie diese Filmaufnahmen bewiesen, warf die westliche Bevölkerung Lebensmittel aus dem Fenster, um ihre Verachtung zu demonstrieren. Angewidert blickten sich die Brüder Rainer und Lutz Kramer an. Sie schüttelten die Köpfe.

Es folgten Schnappschüsse vom Staatsbesuch des Schahs von Persien, zu dem sich reihenweise Studenten zu einer Kundgebung zusammengefunden hatten. Sie forderten die Freilassung von politischen Gefangenen im Iran. Während selbiges Regime im Rathaus Schöneberg von der lokalen Politik ehrenvoll empfangen wurde, ließ der Schah draußen seine Schlägertruppen mit Holzlatten auf wehrlose Demonstranten einprügeln. Unabhängig vom Geschlecht wurden Männer und Frauen gleichberechtigt von der persischen Miliz niedergeknüppelt. Die Berliner Polizei hielt sich dezent zurück, obwohl mitten in der Stadt ein fremder Geheimdienst auf deutsche Staatsangehörige einschlug. Das heizte die ohnehin bereits wütende Stimmung unter den Kommilitonen der Freien Universität auf. Noch am selben Abend zogen sie mit zahllosen Sympathisanten zur Deutschen Oper, um dort gegen den feierlichen Empfang des iranischen Despoten zu protestieren. Diesmal griffen die Polizisten ein. Sie kesselten die Studenten ein, um von allen Seiten auf sie einknüppeln zu können. Am Ende dieser Aktion lag ein Demonstrant in seinem Blut – er war grundlos erschossen worden.

»Nazi-Methoden«, zischte Lutz seinem älteren Bruder zu.

»Ich bin so stolz, ein Antifaschist zu sein«, nickte Rainer zustimmend. Beide hatten ihren Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee bereits hinter sich gebracht, waren jedoch nicht am Todesstreifen eingesetzt worden. Sie mussten nicht an der Mauer dienen, nicht bei den Selbstschussanlagen, mit denen die DDR ihre Bürger an einem illegalen Grenzübertritt in den Westen hinderte.

Nach der Filmvorführung ging das Licht wieder an und ein Oberst vom Zentralkomitee der SED schritt zum Kopfende des Saals. Ein gemütlich wirkender Mann von einiger Körperfülle und mit rosiger Gesichtshaut, dessen Uniform ihn als hochdekorierten Sozialisten und Kämpfer für das Vaterland auswies. Seit der Ostfront hatte er nie wieder als Soldat an einem Krieg teilgenommen, doch auch im Friedenseinsatz konnte man sich militärische Orden verdienen – und die trug er stolz auf der Brust. Sein mächtiges Organ prädestinierte ihn zum Redner.

»Liebe Genossen«, intonierte er, fast wie ein Operntenor, »wir haben es soeben mit eigenen Augen gesehen: Der Kapitalismus befindet sich im letzten Gefecht!«

Wie auf Bestellung jubelte das Publikum, als hätte der allen gemeinsame Lieblings-Fußballverein gerade ein Tor geschossen. Man nahm sich gegenseitig in die Arme, applaudierte, reckte triumphal die geballten Fäuste gen Himmel und feierte den sich anbahnenden Sieg über den Klassenfeind. Auch die Brüder Kramer klatschten Beifall und klopften sich gegenseitig zuversichtlich auf die Schultern.

Der Oberst gab durch Gestikulieren zu verstehen, dass er seine propagandistische Festrede fortsetzen wollte, woraufhin wieder andächtige Ruhe einkehrte. »Der Kapitalismus ist eine faule Banane mit vergammelter Schale. Es ist der Sozialismus, der die Saat für eine bessere Welt gelegt hat!«, rief er den Parteifreunden enthusiastisch zu. »Und nun ernten wir die Früchte dafür!«

Bei dem kämpferisch ausgerufenen letzten Satz sprangen die Genossen von den ungepolsterten Holzstühlen auf und johlten lauthals.

Rainer nutzte den Lärm und schob seinen Kopf dicht ans linke Ohr seines Bruders heran. »Auf mich wartet in einer Stunde auch mein Früchtchen«, flüsterte er voller Vorfreude. »Die zuckersüße Marianne. Auf dem Parkplatz vom Drogeriemarkt.« Rainer zwinkerte Lutz zu, aber der blieb stumm. Er nickte nur kühl und richtete wie beiläufig den Kragen seiner Uniform.

»Während sich die Westjugend gegenseitig die Köpfe einschlägt, repräsentiert unsere Jugend den Fortschritt«, fuhr der Oberst fort. »Daher möchte ich euch zwei Repräsentanten der Werktätigen vorstellen: zwei junge Menschen, die die Welt verändern wollen! Zwei Volkspolizisten im Dienste unseres Landes: Rainer und Lutz Kramer!«

Der Oberst deutete zur Doppeltür am Ende des Saals, vor der die beiden Wache standen. Alle Anwesenden drehten sich zu ihnen um. Die Brüder starrten erst die Menge, dann sich gegenseitig verdutzt an, bevor ihr Blick zum Oberst wanderte, der sie mit großer Geste zu sich heranwinkte. Lutz fing sich als Erster und schubste seinen Bruder, damit er sich in Bewegung setzte. Eigentlich hatte Rainer geplant, auf der Rückbank des Volkspolizei-Autos, versteckt auf einem Rastplatz am Waldrand, mit seiner Freundin herumzufummeln – stattdessen musste er nun mal wieder der Partei zur Verfügung stehen. Entsprechend war seine Laune, mit der er die vielen Huldigungen der Genossen entgegennahm.

Der Oberst begrüßte die Brüder mit einem Händedruck und einem Lächeln, anschließend bedeutete er dem Publikum, den Applaus nun einzustellen. Ruhe kehrte ein. Bevor er weitersprach, sandte der Oberst einen verklärten Blick zur meterhohen Decke des ehemaligen Reichsluftfahrt-Ministeriums empor.

»Nach dem Vorbild der kosmischen Streitkräfte der Sowjetunion, die den Weltraum bereits erobert haben, werden wir von der SED die Weltrevolution jetzt auf deutschem Boden vorantreiben«, verkündete er mit bebender Stimme und erhielt ordnungsgemäß den Beifall seiner Parteifreunde.

»Diese beiden jungen Menschen werden mit einem Geheimauftrag in den Kampf gegen die Imperialisten ziehen.« Bei diesen Worten zog er die beiden Brüder zu sich heran ins Rampenlicht. Mit väterlicher Geste legte er den verdutzten Volkspolizisten je einen Arm um die Schultern und setzte eine siegesgewisse Miene auf – ganz im Gegensatz zu Rainer und Lutz, die sich noch nie so unwohl in ihrer Haut gefühlt hatten wie in diesem Moment.

»Was für ein Geheimauftrag?«, fragte Lutz verständnislos, doch es ging im Trubel unter. Denn in diesem Augenblick öffneten sich beide Flügeltüren und sechs gelernte Kellner aus dem Interhotel Berolina betraten den Saal mit je einem Tablett voller Sektgläser, die den Gästen zur Feier des Tages gereicht wurden. Der Oberst ordnete an, dass auch den Brüdern Getränke gereicht würden, damit man mit ihnen anstoßen könne.

»Auf unseren Sieg bei der Volkskammerwahl!«, proklamierte er.

»Aber die Volkskammerwahl ist doch erst morgen«, warf Rainer ein.

Der Oberst lächelte. Das offizielle Endergebnis der Wahlen stand bereits seit Wochen fest. Es wurde vom Zentralkomitee der SED in einer internen Sitzung festgelegt: Was auch immer die Auszählung der Stimmzettel tatsächlich ergab, die Partei würde mit 99,93 Prozent haushoch gewinnen. Denn das anhaltende Wirtschaftswunder im Westen war der Bevölkerung im Osten nicht verborgen geblieben, und darum musste ein großer Sieg für den Sozialismus her, der sich beim Volk propagandistisch ausschlachten ließ. Deswegen musste jeder Bürger zur Wahl erscheinen. Wer nicht kam, der wurde von der Volkspolizei geholt und persönlich in die Kabine geführt, wo er sein Kreuzchen zu machen hatte. Schließlich war die DDR eine »Demokratische Republik«, wie sich das 1949 gegründete Land stolz nannte.

Rainer und Lutz durften nur einen Sekt trinken, denn sie hatten am nächsten Tag Dienst in ihrer Heimatstadt Ostberlin, wo sie im Bezirk Pankow in Uniform vor einer flachen Baracke standen, die als Wahllokal diente. Der lehmige Putz des maroden Gebäudes war von derselben Farbe wie der Himmel über der Hauptstadt. Grau und ungemütlich war es dort, drinnen empfing einen kaltes Neonlicht, das die aschfahlen Gesichter der Beamten und Helfer besonders gespenstisch wirken ließ. Die beiden Vopos registrierten jeden Bürger in Listen, die gegen Nachmittag kontrolliert und mit einer Reihe von Namen abgeglichen wurden: Namen von Personen, die als abtrünnig galten.

»Gregor Schleicher, wohnhaft am Ossietzkyplatz«, teilte der Wahlleiter den Brüdern Kramer einen dieser Staatsfeinde mit. Lutz salutierte, indes Rainer die Autoschlüssel aus der vorderen Hosentasche fischte und sich auf den Weg zum Dienstwagen machte, einem tschechischen Lada mit weiß-grünen Streifen.

Rainer startete den Motor, als Lutz einstieg und seine Mütze für den Einsatz vorschriftsmäßig gerade rückte. Noch ein rascher Kontrollblick in den Rückspiegel. Lutz legte den Sicherheitsgurt an und betrachtete seinen anderthalb Jahre älteren Bruder, der das Auto übers Kopfsteinpflaster lenkte.

»Meinst du, das ist jetzt der Geheimauftrag?«

»Glaube ich nicht«, zuckte Rainer mit den Achseln. »Natürlich handelt es sich um einen Feind des Sozialismus, aber wir müssen ihn ja nur in die Wahlkabine schleppen, damit er seinen Zettel ordnungsgemäß ausfüllt. Klingt nicht nach Weltrevolution, oder?«

»Was können die denn mit uns vorhaben?« Lutz war mulmig zumute.

»Keine Ahnung. Aber wir stehen das gemeinsam durch.«

Lutz nickte. Er fühlte sich schon wieder besser. »Und wie geht es Marianne so?«, wechselte er abrupt das Thema.

»Sie findet, dass wir zueinander passen.«

Lutz hörte das nicht gern, und Rainer wusste es. Daher schwiegen beide bis zur nächsten roten Ampel.

»Sie meldet sich kaum noch bei mir«, klagte Lutz. Und fügte hinzu: »Seitdem du sie mir ausgespannt hast.«

»Zum hundertsten Mal: Ich habe sie dir nicht ausgespannt.«

»Wie nennst du das denn sonst?«

»Du warst mit ihr nur gut befreundet. Du warst aber nie mit ihr zusammen. Deswegen brauchte ich sie dir gar nicht auszuspannen«, erläuterte Rainer ihm wie einem Lehrling.

»Ich kannte sie vor dir! Fast zwei Jahre habe ich um sie geworben. Aber dann kamst du. Wie lange hat es gedauert, bis ihr ein Paar geworden seid?«

»Zwei Wochen«, antwortete Rainer, der gerade zum Ossietzkyplatz einbog und sich nach den betreffenden Hausnummern orientierte. Lutz war noch immer gekränkt, obwohl Marianne schon seit Monaten mit seinem Bruder zusammen war. »Weißt du, wie oft ich sie in die Mokka-Milch-Eisbar ausgeführt habe? Weißt du, was da ein Getränk kostet?« Noch immer trauerte er seinem Ersparten nach.

Rainer parkte den Wagen und stellte den Motor ab. Er sah Lutz in die Augen. »Ich geb dir mal einen brüderlichen Rat: Hör auf mit deinen Fünfjahresplänen bei Frauen! So lange wartet keine. Und Abmarsch!«

Die Volkspolizisten klingelten bei Schleicher im zweiten Stock. Niemand machte auf. Also hebelte Lutz die Haustür kurzerhand mit einem Dietrich auf. Sie stapften die Treppe hoch und horchten an der Wohnungstür des Abweichlers. Rainer vernahm etwas. Anhaltendes Kichern. Von einer Frau.

Gregor Schleicher, der Mieter der Wohnung, verfügte über eine Badewanne, in der man gut zu zweit planschen konnte. Das nutzte er gerne aus. Heute badete er mit einer vollbusigen Blondine, die ihre Haare hochgesteckt hatte, damit sie nicht nass wurden. Allerdings lehnte sie nicht mit dem Rücken an Gregors Brust, sondern sie hockte auf seinem Schoß und streckte ihm ihre pralle Oberweite ins Gesicht. »Da, Towarischtsch, da!«, juchzte sie.

Die Sowjetschöne und der ostdeutsche Krankenpfleger vögelten, was das Zeug hielt, so dass eine Menge Wasser über den Wannenrand auf den Boden geschwappt war.

Eigentlich hatte der neunundzwanzigjährige Gregor Schleicher Biologie studieren wollen, aber aufgrund des Personalnotstands in mehreren Kliniken war ihm das untersagt worden und er musste eine Ausbildung im Hospital absolvieren. Anstatt naturwissenschaftliche Forschung zu betreiben, brachte er nun den Patienten das Frühstück und machte ihre Betten.

Im zackigen Ton der Volkspolizei unterbrach Rainer den bunten Nachmittag im Badezimmer. »Was treiben Sie denn da?«

Die Djéwushka kreischte vor Schreck und fluchte auf Russisch, während sich Schleicher umdrehte und die beiden Vopos erblickte. In seinem unbeholfenen Schul-Russisch forderte Lutz die nackte Frau auf, sich anzuziehen.

Rainer konzentrierte sich auf den Mann. »Was soll das hier?«, fragte er in streng dienstlichem Tonfall.

»Na, das sehen Sie doch! Ich vertiefe gerade unsere deutsch-sowjetischen Beziehungen.« Schleicher gab sich kooperativ.

»Aber nicht am Tag der Volkskammerwahl!«, konterte Rainer.

Schlagfertig deutete Schleicher auf seine Sexualpartnerin, die sich immer noch nicht wieder bekleidet hatte. »Ich wollte schon längst da gewesen sein, aber dann habe ich überraschend Besuch gekriegt. Die Dame ist aus dem fernen Kiew nach Berlin gekommen. 1399 Kilometer ist sie gereist.«

»Das ist vorbildlich«, sagte Lutz. »Sie hingegen haben nicht einmal die zwei Kilometer zum Wahllokal geschafft.«

»Ach, ich bin sehr zufrieden mit der Partei«, log Schleicher. »Alle Kandidaten auf der Einheitsliste haben meine volle Zustimmung.«

»Genau das hätten wir von Ihnen gerne schriftlich«, erklärte Rainer.

»Und zwar dalli«, bekräftigte Lutz. Dann salutierte er der Blondine. »Do swidanje«, sagte er förmlich, nachdem sie ihren Busen mit den Händen bedeckt hatte.

Für DDR-Bürger, die politische Orientierung brauchten, hing über dem Wahllokal ein Laken, auf dem eine richtungsweisende Parole prangte: ES LEBE DIE WELTREVOLUTION UND DIE SED.

Rainer und Lutz führten Gregor Schleicher in die spartanisch eingerichtete Baracke. Auf einigen Camping-Tischen waren Pappwände als Sichtblenden aufgestellt. Gleich hinter dem Eingangsbereich saßen vier Wahlhelfer an einem Bürotisch, um die Unterlagen zu verwalten. Gegen Vorlage seines Personalausweises erhielt Gregor Schleicher den Wahlzettel und erledigte missmutig seine Bürgerpflicht. Er stopfte das ausgefüllte Papier in eine Urne und traf am Ausgang erneut auf die beiden Volkspolizisten.

»War das nötig – gleich die Miliz zu schicken?«, beschwerte er sich.

»Sie sind vom Wahlkreisamt ausdrücklich aufgefordert worden, pünktlich zu erscheinen«, wies Lutz ihn mechanisch auf sein Versäumnis hin.

»Also, wenn ihr die Wahl hättet, mit wem würdet ihr denn lieber einen Sonntag verbringen?« Mit sarkastischem Blick musterte Schleicher die beiden Brüder. »Mit einer vollschlanken Genossin oder mit dem ollen Staatsratsvorsitzenden?«

»Subjekte wie Sie sollte man ausbürgern und zur Strafe in den Westen abschieben!«, wünschte ihm Lutz die Pest an den Hals.

»Au ja!«, frohlockte Schleicher, verdrückte sich dann aber eilig, bevor ihn die Vopos noch wegen Defätismus verhafteten.

KAPITEL

2

Rainer lenkte den Dienstwagen durch Lichtenberg in Richtung Friedrichsfelde, wo der Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg verursachten Zerstörungen voranschritt. Der Wohnungsbau war oberste Maxime für die Partei, und darum saß auch nicht Rainers jüngerer Bruder auf dem Beifahrersitz, sondern der Oberst vom Zentral komitee der SED. Lutz hatte zwar die ganze Rückbank für sich, kauerte jedoch zwischen den Vordersitzen.

Oberst Dombrowsky wirkte ruhig. Er war sich seiner Autorität bewusst. »Mit dem gestrigen Sieg bei der Volkskammerwahl wird der Führungsanspruch der Partei in der Verfassung unseres Landes verankert«, sagte er zufrieden. »Und zwar für alle Zeiten.«

Er verwies auf die Neubau-Siedlung, die aktuell aus den Ruinen des Dritten Reichs auferstand. Rainer parkte das Auto inmitten dieser erdrückenden Betonlandschaft – architektonische Tristesse, so weit das Auge reichte.

»Ist unsere Hauptstadt nicht schön?«, schwärmte der Oberst, als er inmitten der gigantischen sozialistischen Bunker aus dem Wagen stieg. Eingemauert von den riesigen Wohnblocks, standen die drei und blickten hoch hinaus auf die zehnstöckigen Neubauten. Stolz betrachtete Dombrowsky das Werk. »Moderne Waben für eine Armee namenloser, aber fleißiger Bienchen.«

»Da oben hätte ich gerne ein Zimmer«, sagte Rainer, »mit Blick über die ganze Siedlung und noch viel weiter.« Er wies auf die Dachetagen.

Lutz pflichtete ihm bei. »Ja, Herr Oberst, das wäre auch im Dienst hilfreich. Ein hervorragender Aussichtsposten, um für Recht und Ordnung zu sorgen.«

»Nun«, erwiderte der Oberst zur Überraschung der Brüder, »lassen wir Recht und Ordnung mal einen Moment beiseite. Denn die Partei will, dass Sie genau das Gegenteil tun! Sie beide erhalten offiziell den Geheimauftrag, das totale Chaos anzurichten.«

Rainer und Lutz starrten sich entgeistert an. Als wären sie einem hochrangigen Agenten der Amerikaner in die Hände gefallen, der sie zum Umsturz in der DDR anstiften wollte.

»Aber wir wollen doch unser Vaterland nicht ins Elend stürzen!«, protestierte Lutz.

»Das kann die Partei nicht von uns verlangen!«, rebellierte Rainer.

Dombrowsky schmunzelte und pflanzte sich in breitbeiniger Pose vor seinen beiden Untergebenen auf.

»Keine Sorge. Hiermit teile ich Ihnen mit, dass Sie mit sofortiger Wirkung nach Westberlin versetzt werden.«

»Wie? Versetzt?«, stammelte Lutz.

»Das heißt, wir müssen rüber?« Rainer konnte es nicht fassen.

»Jawoll. Verdeckter Einsatz hinter den feindlichen Linien«, konkretisierte Oberst Dombrowsky.

Rainer nahm seine Dienstmütze vom Kopf und fuhr sich durch die Haare. Lutz nahm erschrocken die Hände vor den Mund. »Aber das geht nicht«, teilte er seinem Vorgesetzten mit.

»Warum denn das nicht?«, entgegnete der Oberst barsch.

»Na, weil wir in der Brigade gerade den Tag der Sowjetarmee vorbereiten, nicht wahr?« Lutz blickte hilfesuchend zu seinem älteren Bruder.

»Ja, das kann ich bestätigen«, sagte Rainer, zu Dombrowsky gewandt. »Wir sind da unabkömmlich.«

»Der Tag zur Feier der Sowjetarmee ist selbstverständlich für uns alle ein Ehrentag, aber die Weltrevolution geht nun mal vor.« Der Oberst blieb unnachgiebig.

Mutig trat Lutz einen Schritt näher an den hochdekorierten Funktionär heran. »Westberlin hat zwei Millionen Einwohner. Und wir, wir sind doch nur zu zweit.« Noch wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Parteiführung ihre Pläne korrigieren würde.

»In Westberlin bekommen Sie Verstärkung«, versprach der Oberst siegesgewiss. »Dort werdet ihr zu dritt sein!«

»Und wer ist dieser dritte Mann?«, wollte Rainer wissen.

»Natürlich unser bester Geheimagent dort«, entgegnete Dombrowsky. »Seinen Berichten zufolge steht die dekadente westliche Kultur unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Ihr braucht sie nur noch umzustoßen.«

Stumm lenkte Rainer den Volkspolizeiwagen auf ein von roten Backsteinbauten bestandenes Werksgelände. Auch Lutz hatte seit einer Stunde kein Wort mehr gesprochen. Der Oberst wies Rainer an, den Wagen direkt vor dem Aufgang C zu parken. VEB CHEMIE stand auf einem Schild neben der Stahltür, die ins Gebäude führte.

Dombrowsky zückte einen Schlüssel und ging vor den beiden Brüdern hinein, die ihm durchs karge Treppenhaus in den ersten Stock folgten. Dort schloss er eine dunkle Tür auf, die er hinter ihnen sorgfältig wieder zusperrte. Die drei marschierten einen langen Flur hinunter, an dessen Ende ihnen ein etwa 60-jähriger Mann in weißem Kittel entgegentrat. Der Oberst begrüßte den Mann respektvoll mit der Anrede »Herr Professor«. Anschließend stellte er ihm die Brüder Kramer vor. Nach jeweils einem förmlichen Händedruck wandte sich der schmächtige Gelehrte wieder dem Besuch aus der Parteiführung zu.

»Ganz bald schlägt sie nun, die große Stunde der sozialistischen Weltrevolution.« Auch der Professor war beseelt von der Zukunft. Mit einer einladenden Handbewegung bat er seine Gäste, ihm zu folgen.

Das Labor des Professors befand sich in einem Raum mit gekachelten Wänden. Mehrere Industrieschreibtische standen als Arbeitsflächen zur Verfügung, in Metallregalen lagerten Flaschen, die mit chemischen Formeln beschriftet waren. Dazu gab es mehrere Bunsenbrenner und reichlich Reagenzgläser, Schutzbrillen und Atemmasken. Rainer und Lutz bestaunten die hervorragende Ausstattung, die sie aus ihrem Schulunterricht so nicht kannten. Der Professor hatte sogar einen mit der Hauswand verschraubten Safe, nicht größer als ein Schuhkarton, aber massiv. Er öffnete ihn mit einem Spezialschlüssel und holte eine Tupperware heraus, die er dem Oberst feierlich überreichen wollte. Der jedoch winkte dankend ab und ließ dem Gelehrten den Vortritt. Rainer und Lutz wurde allmählich übel, denn es lag ein beißender Geruch in der Luft. Der Professor entfernte den Deckel von der Tupperware und gab den Blick auf seine Briefmarkensammlung frei. Jedenfalls hielten die Brüder Kramer das, was sie sahen, für eine Art Briefmarkensammlung. Mit einer Pinzette entnahm der Professor dem Plastikgefäß vorsichtig eine der Marken und hielt sie wie eine Rarität in die Höhe.

»Meine Herren«, belehrte er die Anwesenden, »dieses unscheinbare Blättchen ist die Eintrittskarte zum Paradies. Oder zur Hölle.«

Mit ruhiger Hand führte er den staunenden Volkspolizisten sein Schätzchen vor, bis er schließlich die Bombe platzen ließ. »Die Rückseite der Briefmarke ist getränkt mit Lyserg-Säure-Diethylamid, einem psychedelischen Pharmazeutikum, besser bekannt als LSD.«

Abrupt ruckten die Brüder mit den Köpfen zurück, um auf keinen Fall mit diesem Teufelszeug in Berührung zu kommen.

»LSD!« Lutz begriff langsam, was ihm hier vorgeführt wurde.

Mahnend erhob der Professor einen Zeigefinger. »Wenn Sie diese Marke anlecken, um sie auf einen Brief zu kleben, explodieren in kürzester Zeit grelle Farben vor Ihrem inneren Auge.«

Da wischte sich selbst der Oberst mit einem Taschentuch etwas Schweiß von der Stirn. »Das ist ja Wahnsinn«, sagte er beeindruckt.

»Ob man davon wahnsinnig wird, hängt von der Dosierung ab«, korrigierte ihn der Professor, der bereits seit 1943 mit dieser Substanz aus beruflichen Gründen zu tun hatte.

Rainer und Lutz waren froh, als sie das Labor endlich verlassen durften. Sie begleiteten Dombrowsky und den Professor in einen anderen Trakt des weitläufigen Gebäudes. Der Wissenschaftler referierte währenddessen über sein Fachgebiet.

»LSD wurde ursprünglich zur Geburtshilfe entwickelt«, erklärte er seinen Zuhörern. »Ab zweihundertfünfzig Mikrogramm hat es Frauen von ihrer Frigidität geheilt.«

Die Schritte der Männer hallten laut durch den Flur, so dass der Oberst lieber nachfragte. »Wollen Sie damit andeuten, dass gehemmte Frauen der Vergangenheit angehören?«

»Jawohl, mein Oberst! Wir vom VEB Chemie bauen erneut am modernen Gesellschaftssystem.« Der Professor deutete auf eine Tür, für die er einen sperrigen Schlüssel am Hosenbund trug. Er öffnete sie und gab den Blick frei auf ein dahinter befindliches Zellengitter, wie in einem Gefängnis. »Überzeugen Sie sich selbst!« Mit einer knappen Handbewegung wies er auf den trostlosen Raum hinter den Gitterstäben. Dort hockte eine junge Frau mit ungepflegten braunen Haaren auf dem Boden, neben ihr eine schmale Pritsche und bemaltes Papier. Zeichnungen wie von dreijährigen Kindern.

»Diese Genossin war stets eine überzeugte Friedensaktivistin«, erläuterte der Professor. »Allerdings eher in ehelichen Fragen.« Er legte eine der präparierten Briefmarken auf die Ladefläche eines kleinen Spielzeug-LKWs, den er durch die Gitter der Probandin in der Zelle zuschob. Die Frau fixierte mit dem Blick das auf sie zurollende Modellfahrzeug. Sie stoppte es mit ihrem nackten Fuß, dessen Sohle dreckig war.

Rainer und Lutz beobachteten die Reaktionen der eingesperrten Probandin, als stünden sie im Zoo vor dem Gehege eines exotischen Tieres. Ganz langsam nahm die Frau das vermeintliche Postwertzeichen und leckte es an. Zuerst das Bild, dann die mit LSD getränkte Rückseite. Sie klebte die Marke auf ihr bemaltes Blatt.

»Dürfen wir mal hineingehen und uns die junge Frau aus der Nähe ansehen?«, flüsterte Lutz dem Professor zu.

»Oh, nein! Das wäre ohne Wärter viel zu gefährlich«, maßregelte der Gelehrte diesen jugendlichen Leichtsinn.

»Den Anweisungen des Herrn Professors ist hier unbedingt Folge zu leisten«, bekräftige der Oberst mit einem strengen Blick. Die Brüder antworteten mit artigem Nicken.

»Oh, mein Gott!«, rief die Zelleninsassin mit einem Mal. Ganz abrupt ging ihr Ausruf über in ein lustvolles Stöhnen, erst leise, dann immer lauter. Lutz schluckte, denn so etwas hatte er noch nie bei einer Frau erlebt. Rainer hingegen bemerkte, wie das beginnende Schauspiel ihn anheizte. Am liebsten wäre er zu der anscheinend willigen Genossin hineingegangen und hätte sich mit ihr vergnügt. Doch das behielt er für sich.

Mit unterkühltem Blick sah der Professor auf seine Armbanduhr und wartete noch einige Sekunden ab, dann schaute er pünktlich zu seiner Gefangenen, die nun enthemmt und willenlos auf dem Boden herumzappelte. Mit dem Becken vollführte sie ekstatische Bewegungen, bis ihr gesamter Körper zu vibrieren schien. Ihr Stöhnen gipfelte in einem animalischen Grunzen. Stolz blickte der Professor in die Runde. »Ja, wir vom VEB Chemie verstehen unser Handwerk.«

Der Oberst grinste, ohne seine Augen von dem Versuchskaninchen zu wenden. »Mit dieser Wunderdroge können wir die Geburtenrate unseres Landes steigern«, konstatierte er zufrieden.

»In zwanzig Jahren könnten wir doppelt so viele Werktätige wie der Klassenfeind haben«, frohlockte auch Lutz.

»Das ist gut möglich«, pflichtete ihm der Chemiker bei. »Aber LSD ist auch ein Halluzinogen. Es greift das Sprachzentrum an und führt zu ernsten Angstzuständen. Seelische Zusammenbrüche sind die unausweichliche Folge.«

»Genau deswegen ist es perfekt geeignet, um dem Klassenfeind im westlichen Ausland den tödlichen Stoß zu versetzen«, sagte Dombrowsky, ganz militärischer Stratege.

Der Professor geleitete seine drei Gäste zu einer Doppeltür schräg gegenüber, die er mit einem weiteren Schlüssel öffnete. Dahinter befand sich erneut ein Gefängnisgitter. Die Zelle war wesentlich größer, in ihr hauste ein halbes Dutzend erbärmlicher Gestalten. Rainer und Lutz brauchten einige Momente, um den Anblick zu verdauen. Sechs Kretins, die groteske Fratzen zogen oder sich am Kopf kratzten, als wären sie von einer Kolonie Läuse befallen. Statt Zwangsjacken wie in einer Irrenanstalt trugen sie Windeln. Es roch nach Erbrochenem.

»Freiwillige wissenschaftliche Experimente im Namen des Sozialismus«, schwärmte Lutz. »Welch tapfere Genossen!«

»Das? Ach, das sind nur Dissidenten«, klärte ihn der Oberst auf.

»Wie? Dissidenten?« Rainer blickte irritiert in die Runde.

»Na, Leute mit seltsamen Ideen im Kopf«, belehrte ihn der Professor.

»So wie die kapitalistische Bevölkerung von Westberlin, die wir sicherheitshalber eingemauert haben«, fügte der Oberst stolz hinzu. Er schnipste mit den Fingern, woraufhin der Professor ein flaches Päckchen aus der Seitentasche seines Kittels zog. Es sah aus wie eine handelsübliche Packung Kaugummis. Er legte es auf die flache Hand, damit alle es gut sehen konnten.

»Damit werden wir die Revanchisten endgültig besiegen!«, rief Oberst Dombrowsky mit blitzenden Augen.

»Mit Kaugummis?« Rainer hob skeptisch die Brauen.

»Mein junger Freund«, sagte Dombrowsky väterlich, »die West-Jugend ist ganz versessen auf Kaugummis.«

Der Professor räusperte sich kurz, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Es sieht aus wie Kaugummi. Es schmeckt wie Kaugummi. Aber in Wirklichkeit ist es hochdosiertes LSD aus unserem Labor.« Genüsslich strich der Gelehrte diesen Triumph der Wissenschaft heraus, den er offensichtlich als Höhepunkt seiner persönlichen Laufbahn betrachtete.

Rainer und Lutz waren baff. Denn auch sie liebten Kaugummis. Plötzlich ergab der Plan für sie einen Sinn. Und der Oberst spürte, dass er seine zwei frisch gebackenen Agenten nun an der Angel hatte.

»Mit dieser neuen Wunderdroge schicken wir ganz Westberlin in die Irrenanstalt«, grinste er die Brüder Kramer diabolisch an.

Der Professor warf das Päckchen den Dissidenten in der Sammelzelle zu. Hysterisch lachend stürzten sich mehrere von ihnen darauf. Sie rissen das Papier ab und steckten sich die grauen Streifen in den Mund.

»Ja, wir werden aus Westberlin einen einzigen Affenkäfig machen«, prognostizierte Dombrowsky. »Dann wollen wir mal sehen, ob sie dort immer noch genug Bananen für alle haben!«

KAPITEL

3

Die Kramers hatten sich in der Küche ihrer Zweiraumwohnung versammelt, die sie zu viert bewohnten. Eng zusammengerückt saß die gesamte Familie an dem kleinen Esstisch, um noch ein wenig Platz für ihren Gast zu schaffen. Oberst Dombrowsky suchte gerade die benachbarte Toilette auf, deren Spülung man durch die Wand hinter dem Esstisch laut vernehmen konnte.

Der Vater sah seine Söhne sorgenvoll an. »In den Westen?«, sagte er kopfschüttelnd. Rainer und Lutz zuckten fatalistisch mit den Schultern.

Der SED-Funktionär kehrte vom WC zurück, blieb jedoch mitten im Raum stehen, um die Arbeiterfamilie zu mustern. Die Mutter lehnte mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch und hatte ihre Hände vor dem Mund. Sie nahm all ihren Mut zusammen und blickte dem Oberst in die Augen.

»Sie schicken meine Söhne zu diesen Radaubrüdern? Die Westberliner Polizei hat gerade einen Studenten erschossen. In den Hinterkopf!« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Jetzt schon, bevor ihre Söhne die Reise überhaupt angetreten hatten, lagen bei ihr die Nerven blank.

Lutz ergriff ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde notfalls von meiner Dienstwaffe Gebrauch machen.«

Dombrowsky trat an den Tisch heran. »Frau Kramer, Ihre Söhne werden auf eine Mission geschickt, die man vielleicht eines Tages mit der bemannten Raumfahrt in einem Atemzug nennen wird. Mit einem Juri Gagarin!«, erhob er die Stimme wie ein begeisterter Sportreporter.

»Schicken Sie meine Kinder gerne ins Weltall«, ereiferte sich Frau Kramer, »aber doch nicht zu diesen Verrückten nach Westberlin!«

Herr Kramer bat den Oberst mit einer Handbewegung, ihr etwas Zeit zu lassen. Er kannte seine Frau und wusste, dass sie anfangs stets sehr emotional reagierte, bevor sich ihre Aufregung allmählich legte. Dombrowsky nickte ihm zu. Er lehnte sich mit beiden Händen und seinem gesamten Körpergewicht auf die schmale Tischplatte. Bei seinen folgenden Worten bemühte er sich ersichtlich um einen milderen Ton.

»Während Ihre Söhne dem Sozialismus zum Sieg verhelfen, haben Sie beide hier monatelang 13 Quadratmeter mehr Wohnfläche für sich.«

Herr Kramer griff diesen angepriesenen Vorteil dankbar auf und wandte sich an seine Frau. »Hast du das gehört? 13 Quadratmeter mehr! Ich hab doch immer zu dir gesagt: Der Sozialismus breitet sich unaufhaltsam aus.«

»Wir kehren als Helden zurück!«, rief Lutz voller Begeisterung. »Und dann kriegen wir endlich eine größere Wohnung zugeteilt, oder?« Zuversichtlich sah er den Oberst an.

Doch der nahm sich zuerst Rainer vor, der sich bisher erstaunlich zurückhaltend benommen hatte, was Dombrowsky, dem erfahrenen NVA-Oberst, längst aufgefallen war. »Wer dem Sozialismus nicht mit ganzem Herzen zum Endsieg verhelfen will, für den hat die Partei sogar eine eigene Wohnung: in Bautzen!« Mit diesem drastischen Hinweis stellte Dombrowsky unmissverständlich klar, dass er von den Brüdern Kramer bedingungslose Treue erwartete.

»Niemand hat die Absicht, dem Vaterland untreu zu werden«, versicherte Vater Kramer reflexartig.

»Das würde ich Ihnen auch nicht empfehlen.« Der Oberst reckte sich und nahm nun wieder eine gerade, militärische Körperhaltung an. »Denn sollte auch nur einer von den beiden Helden stiften gehen, dann besorgen wir der ganzen Familie eine neue Unterkunft. Mit Gardinen, und zwar schwedischen!«

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Vater Kramer seinen ältesten Sohn, nachdem der Oberst die Wohnung verlassen hatte.

Rainer war maulfaul und wandte sich ab, blickte scheinbar zum Fenster hinaus. Doch so leicht ließ sich der Vater nicht abspeisen. Als er sich zu Rainer gesellte, zog er das rechte Bein nach. »Sonst will doch die junge Generation immer so viel reden. Jetzt stelle ich mal eine Frage.«

»Na ja, monatelang ohne meine Freundin«, antwortete Rainer mürrisch, »das wird sie nicht sonderlich schick finden. Und ich auch nicht.«

Der Vater war beruhigt, dass es sich nur um ein Mädchen handelte. In diesem Augenblick betraten Lutz und die Mutter das Wohnzimmer. Frau Kramer setzte sich auf die Couch, die den Eltern nachts als Schlafsofa diente.

»Was für ein unangenehmer Typ«, beklagte sie sich über den SED-Oberst. »Und ständig dieser zackige Kasernenhof-Ton.«

»Aber in einer Sache hat er recht«, widersprach ihr ihr Mann. »Immerhin sind es unsere Söhne, die vom Vaterland auserwählt wurden, in einen heldenhaften Kampf zu ziehen.«

»Pah«, erwiderte sie mit ihrem Mutterinstinkt. »Außerdem erinnere ich mich, dass du auch schon mal fürs Vaterland in einen Krieg marschiert bist. Den ganzen weiten Rückweg von der Front bist du dann aber nur noch gehumpelt.«

»Das ist ja wohl was anderes!«, empörte er sich. »Unsere Söhne gehen freiwillig. Mich haben damals die Faschisten gezwungen, die Sowjetunion zu überfallen.«

»Wollen wir hoffen, dass das in Moskau keiner weiß.« Sie wähnte sich bereits vom KGB ausspioniert und in einen Gulag ins ferne und eiskalte Sibirien abtransportiert.

»Bevor ich nur einen Schuss abgeben konnte, wurde ich durch einen Granatsplitter schwer verwundet«, erzählte Vater Kramer mal wieder.

Rainer und Lutz sahen einander betreten an. Sie mochten es nicht, wenn sich ihre Eltern stritten.

»Gott sei Dank bist du überhaupt nachhause gekommen«, sagte Lutz.

»Und das werden wir auch tun«, versicherte Rainer.

Die Mutter schluckte. »Versprecht mir, dass ihr heil und gesund zurückkommt.«

»Natürlich«, beruhigte Lutz sie. »Wir sind geschult an unseren Handfeuerwaffen.«

»Wir haben Filmaufnahmen gesehen«, fügte Rainer hinzu. »Die meisten West-Studenten sind nur mit Farbbeuteln bewaffnet.« Die klare Überlegenheit der sozialistischen Truppen gegenüber der völlig kampfuntauglichen Ausrüstung des Klassenfeinds litt für ihn keinen Zweifel.

»Du weißt, was Bertolt Brecht schrieb?«, fragte Lutz seinen älteren Bruder, als sie ohne die Eltern wieder im Dienstwagen saßen. »Der Einzelne hat zwei Augen. Aber die Partei hat tausend Augen.«

Rainer lenkte den Wagen gemächlich durch den Bezirk. »Dann weißt du sicher auch, wie das Gedicht weitergeht?«, stellte er Lutz auf die Probe, antwortete aber dann doch selbst. »Die Partei kann nicht vernichtet werden, aber der Einzelne kann vernichtet werden.«

»Du meinst, die Partei würde unsere lieben Eltern verhaften und einsperren?«, fragte Lutz besorgt.

»Ja. Wenn wir beide in Westberlin versagen, dann sind wir alle geliefert.«

»Das würde aber den Tatbestand der Nötigung erfüllen!«, empörte sich Lutz. »Das sollte ein so hoher Dienstgrad doch wohl wissen.«

»Und du solltest wissen, dass für das Zentralkomitee der SED andere Gesetze herrschen als für normale Bürger wie uns.« Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder hatte Rainer einen einigermaßen unverstellten Blick auf den real existierenden Sozialismus.