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Stephenie Meyer

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Beschreibung

Planet Erde, irgendwann in der Zukunft. Sogenannte Seelen haben sich in den Körpern der Menschen eingenistet und ihre Kontrolle übernommen. Als die Rebellin Melanie von der Seele Wanda in Besitz genommen wird, setzt sie alles daran, nicht aus ihrem Körper verdrängt zu werden. Denn Melanie hat ein Ziel: Sie will ihren Geliebten Jared wieder­finden. Melanies Gefühle sind so stark, dass Wanda immer mehr in ihren Bann gerät und sich aufmacht einen Mann zu suchen, den sie nicht kennt. Und den sie dennoch zu lieben scheint, mit Körper, Geist und Seele …

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Stephenie Meyer: Seelen

Aus dem Englischen von Katharina Dieselmeier

Planet Erde, irgendwann in der Zukunft. Sogenannte Seelen haben sich in den Körpern der Menschen eingenistet und ihre Kontrolle übernommen. Als die Rebellin Melanie von der Seele Wanda in Besitz genommen wird, setzt sie alles daran, nicht aus ihrem Körper verdrängt zu werden. Denn Melanie hat ein Ziel: Sie will ihren Geliebten Jared wieder¬finden. Melanies Gefühle sind so stark, dass Wanda immer mehr in ihren Bann gerät und sich aufmacht einen Mann zu suchen, den sie nicht kennt. Und den sie dennoch zu lieben scheint, mit Körper, Geist und Seele …

WOHIN SOLL ES GEHEN?

  Buch lesen

  Danksagung

  Zusatzmaterial

  Vita

Für meine Mutter Candy, von der ich gelernt habe, dass die Liebe an jeder Geschichte das Beste ist

Frage

Körper mein Haus

mein Hengst mein Hund

was werd ich tun

wenn du fällst

Wo werd ich schlafen

Wie werd ich reiten

Was werd ich jagen

Wo kann ich hin

ohne mein Ross

das willige schnelle

Wie werd ich wissen

ob im Dickicht voraus

Gefahr harrt oder ein Schatz

Wenn Körper mein guter

kluger Hund nicht mehr ist

Wie wird es sein

unterm Himmel zu liegen

ohne Dach oder Tür

und statt Augen nur Wind

mit einer Wolke zum Schutz

wo find ich Zuflucht?

                              May Swenson

IMPLANTIERT – PROLOG

Der Heiler hieß Fords Deep Waters.

Wie alle Seelen war er von Natur aus gut: mitfühlend, geduldig, ehrlich, anständig und liebevoll. Nervosität war ungewöhnlich für Fords Deep Waters.

Gereiztheit erst recht. Da Fords Deep Waters jedoch in einem menschlichen Körper lebte, war Gereiztheit manchmal unvermeidlich.

Als er die Studenten der Heilkunst in der anderen Ecke des Operationssaals murmeln hörte, kniff er fest die Lippen aufeinander. Der Ausdruck schien auf seinem Gesicht, dem das Lächeln viel mehr lag, irgendwie fehl am Platz.

Darren, sein Assistent, sah die Grimasse und klopfte ihm auf die Schulter.

»Sie sind nur neugierig, Fords«, sagte er beruhigend.

»Eine solche Implantation ist wohl kaum eine interessante oder anspruchsvolle Prozedur. Jede Seele da draußen könnte sie im Notfall durchführen. Sie können durchs Zusehen hier heute nichts lernen.« Fords war überrascht von dem scharfen Unterton, der sich in seine sonst so ruhige Stimme geschlichen hatte.

»Sie haben noch nie einen erwachsenen Menschen gesehen«, sagte Darren.

Fords zog eine Augenbraue hoch. »Sind sie blind? Oder gucken sie sich nie gegenseitig ins Gesicht? Haben sie keine Spiegel?«

»Du weißt schon, was ich meine – einen wilden Menschen. Noch seelenlos. Einen der Aufständischen.«

Fords betrachtete den bewusstlosen Körper des Mädchens, das bäuchlings auf dem Operationstisch lag. Beim Gedanken daran, wie der arme zerschundene Körper zugerichtet gewesen war, als die Sucher ihn in die Heileinrichtung gebracht hatten, ergriff ihn tiefes Mitleid. Sie hatte solche Schmerzen ertragen müssen …

Jetzt war sie natürlich makellos – vollständig geheilt. Dafür hatte Fords gesorgt.

»Sie sieht genauso aus wie eine von uns«, sagte Fords leise zu Darren. »Wir alle haben menschliche Gesichter. Und wenn sie aufwacht, wird sie auch eine von uns sein.«

»Sie finden es eben einfach aufregend, das ist alles.«

»Die Seele, die wir heute implantieren, verdient Respekt. Ich will nicht, dass ihr Wirtskörper derart begafft wird. Sie wird während der Eingewöhnung schon mehr als genug Schwierigkeiten haben. Es ist nicht fair, sie das hier durchmachen zu lassen.« Mit das hier meinte er nicht das Begafftwerden. Fords merkte, wie der scharfe Unterton in seine Stimme zurückkehrte.

Darren klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Es wird alles gut. Die Sucherin braucht Informationen und …«

Beim Wort Sucherin schoss Fords einen Blick auf Darren ab, den man nur als feindselig bezeichnen konnte. Darren blinzelte erschrocken.

»Tut mir leid«, entschuldigte Fords sich sofort. »Ich wollte nicht überreagieren. Ich habe einfach Angst um diese Seele.«

Seine Augen wanderten zu dem Tiefkühlbehälter auf dem Gestell neben dem Tisch. Die Lampe leuchtete mattrot, was anzeigte, dass der Behälter belegt und die Kühlfunktion eingeschaltet war.

»Diese Seele ist für genau diese Aufgabe ausgewählt worden«, sagte Darren beschwichtigend. »Sie ist etwas ganz Besonderes, mutiger als die meisten von uns. Ihre Leben sprechen für sich. Ich bin sicher, sie würde sich freiwillig melden, wenn man sie fragen könnte.«

»Wer von uns würde sich nicht freiwillig melden, wenn wir etwas für das Allgemeinwohl tun könnten? Aber ist das wirklich der Fall? Nützt das hier dem Allgemeinwohl? Es geht nicht um ihre Bereitschaft, sondern darum, was man einer Seele zumuten kann.«

Die Studenten unterhielten sich ebenfalls über die tiefgekühlte Seele. Fords konnte ihr Geflüster deutlich verstehen; die Stimmen wurden vor Aufregung immer lauter.

»Sie hat auf sechs Planeten gelebt.«

»Ich dachte, sieben.«

»Ich habe gehört, dass sie keine Wirtsart zweimal bewohnt hat.«

»Ist das möglich?«

»Sie ist schon fast alles gewesen. Eine Blume, ein Bär, eine Spinne …«

»Seetang, eine Fledermaus …«

»Sogar ein Drache!«

»Sieben Planeten? Das glaube ich nicht!«

»Mindestens sieben. Angefangen hat sie auf dem Ursprung.«

»Wirklich? Dem Ursprung?«

»Ruhe, bitte!«, unterbrach Fords. »Wenn Sie nicht in der Lage sind, konzentriert und leise zuzusehen, muss ich Sie bitten zu gehen.«

Die sechs Studenten verstummten beschämt und traten auseinander.

»Lass uns weitermachen, Darren.«

Es war alles bereit. Die nötigen Medikamente waren neben dem Menschenmädchen zurechtgelegt. Ihr langes dunkles Haar war unter einer OP-Haube verborgen und ließ den schlanken Nacken frei. Tief betäubt, atmetete sie langsam ein und aus. Ihre sonnengebräunte Haut zeigte fast keine Spur ihres … Unfalls.

»Starte jetzt bitte den Auftauvorgang, Darren.«

Der grauhaarige Assistent wartete bereits mit der Hand am Temperaturregler neben dem Tiefkühlbehälter. Er löste den Sicherheitsriegel und drehte an dem Rad. Die rote Lampe über dem kleinen grauen Zylinder begann zu blinken, immer schneller, und veränderte ihre Farbe.

Fords konzentrierte sich auf den bewusstlosen Körper. Mit kleinen, exakten Bewegungen führte er das Skalpell durch die Haut unterhalb des Schädels. Dann sprühte er ein blutstillendes Medikament darauf, bevor er den Schnitt vergrößerte. Er bahnte sich vorsichtig einen Weg zwischen den Halsmuskeln, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu verletzen, und legte die bleichen Knochen am oberen Ende der Wirbelsäule frei.

»Die Seele ist so weit, Fords«, ließ Darren ihn wissen.

»Ich auch, bring sie her.«

Fords spürte Darren neben sich und wusste, ohne hinzusehen, dass sein Assistent mit ausgestreckter Hand bereitstand. Sie arbeiteten jetzt schon seit vielen Jahren zusammen. Fords hielt die Spalte auf.

»Gib ihr ein Zuhause«, flüsterte er.

Darrens Hand schob sich in sein Blickfeld, der silberne Glanz einer erwachenden Seele in seiner gewölbten Handfläche.

Fords war jedes Mal, wenn er eine nackte Seele sah, wieder überwältigt von ihrer Schönheit.

Die Seele leuchtete im strahlenden Licht des Operationssaals, heller als das silbern blitzende OP-Besteck in seiner Hand. Wie ein lebendiges Band wand und kräuselte sie sich, streckte sich, froh, dem Tiefkühlbehälter entronnen zu sein. Ihre dünnen, fedrigen Fortsätze – es waren über tausend – wogten sanft umher wie mattsilbernes Engelshaar. Obwohl alle Seelen zauberhaft waren, fand Fords Deep Waters diese hier ganz besonders schön.

Nicht nur ihm ging es so. Er hörte einen leisen Seufzer von Darren und das bewundernde Gemurmel der Studenten.

Vorsichtig legte Darren das kleine, schimmernde Wesen in die Öffnung, die Fords in den menschlichen Nacken geschnitten hatte. Die Seele glitt sanft in den vorgesehenen Raum und verflocht sich mit dem fremden Körper. Fords bewunderte die Geschicklichkeit, mit der sie ihr neues Zuhause in Besitz nahm. Ihre Fortsätze schlangen sich fest um die Nervenenden, manche von ihnen streckten sich weiter aus in Höhlen, die Fords nicht sehen konnte, unter und in das Gehirn, die Sehnerven, die Gehörgänge. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher. Bald war nur noch ein kleiner Teil ihres glänzenden Körpers zu sehen.

»Gut gemacht«, flüsterte er ihr zu, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. Die Ohren gehörten dem Menschenmädchen, und das schlief noch immer fest.

Der Rest war Routine. Er säuberte und heilte die Wunde, strich die Salbe auf, die den Schnitt, den er über der Seele geschlossen hatte, versiegelte, und streute dann narbenverringernden Puder auf die Linie, die auf ihrem Nacken zu sehen war.

»Perfekt wie immer«, sagte der Assistent, der den Namen Darren aus irgendeinem Fords unbekannten Grund von seinem menschlichen Wirt übernommen hatte.

Fords seufzte. »Aber was ich heute getan habe, bereue ich.«

»Du tust nur deine Pflicht als Heiler.«

»Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen Heilen zur Verletzung wird.«

Darren begann den Arbeitsplatz aufzuräumen. Offenbar wusste er nicht, was er antworten sollte. Fords ging seiner Berufung nach. Das genügte Darren.

Aber Fords Deep Waters, der durch und durch Heiler war, genügte es nicht. Besorgt betrachtete er den friedlich schlafenden Mädchenkörper, wohl wissend, dass es mit ihrem Frieden vorbei sein würde, sobald sie erwachte. Das grauenvolle Ende dieser jungen Frau würde die unschuldige Seele, die er gerade in ihr platziert hatte, mit voller Wucht treffen.

Er beugte sich über den Körper, und mit der inständigen Hoffnung, dass die Seele darin ihn jetzt hören konnte, flüsterte er ihm ins Ohr: »Viel Glück, kleiner Wanderer, viel Glück. Wie sehr ich wünschte, du würdest es nicht brauchen.«

ERINNERT

Ich wusste, es würde mit dem Ende anfangen, und das Ende würde in diesen Augen aussehen wie der Tod. Ich war gewarnt worden.

Nicht in diesen Augen. In meinen Augen. Meine. Das hier war jetzt ich.

Die Sprache, die ich plötzlich benutzte, war eigenartig, aber verständlich. Abgehackt, kantig, begrenzt und geradlinig. Unglaublich beschränkt verglichen mit vielen anderen, die ich benutzt hatte, aber trotzdem konnte sie flüssig und ausdrucksstark sein. Manchmal sogar schön. Dies war jetzt meine Sprache. Meine Muttersprache.

Den Urinstinkten meiner Spezies folgend, hatte ich mich fest mit dem Zentrum dieses Körpers verbunden, mich unlösbar mit jedem seiner Atemzüge und Reflexe verflochten, bis er kein unabhängiges Wesen mehr war. Er war ich.

Nicht der Körper, mein Körper.

Ich spürte, wie die Narkose nachließ und ich immer wacher wurde. Ich wappnete mich für den Angriff der ersten Erinnerung, die in Wirklichkeit die letzte sein würde – die letzten Augenblicke, die dieser Körper erlebt hatte, die Erinnerung an das Ende. Ich war eindringlich gewarnt worden. Die menschlichen Emotionen würden stärker, lebendiger sein als die Gefühle aller anderen Spezies, in deren Körpern ich gelebt hatte. Ich hatte versucht, mich darauf vorzubereiten.

Die Erinnerung kam. Und genau, wie man mir vorhergesagt hatte, war es unmöglich, darauf vorbereitet zu sein.

Sie brannte sich mit grellen Farben und dröhnendem Lärm in sie ein. Kälte auf ihrer Haut, Schmerz in ihren Gliedern, wie Feuer. Ein beißender, metallischer Geschmack in ihrem Mund. Und dann war da der neue Sinn, der fünfte Sinn, den ich bisher nie gehabt hatte, der Teilchen aus der Luft sog und sie in ihrem Gehirn in seltsame Botschaften und Freuden und Warnungen verwandelte – Gerüche. Sie lenkten mich ab, verwirrten mich, nicht aber ihre Erinnerung. Die Erinnerung hatte keine Zeit für die Neuigkeit des Geruchs. Die Erinnerung war reine Angst.

Diese Angst hielt das Mädchen wie in einem Schraubstock gefangen, trieb ihre müden, stolpernden Glieder vorwärts und behinderte sie gleichzeitig. Fliehen, rennen – das war alles, was sie tun konnte.

Ich habe versagt.

Die Erinnerung, die nicht meine war, war so erschreckend intensiv und deutlich, dass sie meine Kontrolle durchbrach; sie machte meine Distanz und das Wissen, dass dies nur eine Erinnerung war und nicht ich selbst, zunichte. Sie sog mich in die Hölle der letzten Minuten ihres Lebens. Ich war sie und wir rannten.

Es ist so dunkel. Ich kann nichts sehen. Ich kann den Boden nicht sehen. Ich kann meine ausgestreckten Hände nicht sehen. Blind renne ich weiter und versuche die Verfolger zu hören, die ich hinter mir spüren kann, aber mein Puls dröhnt so laut in meinen Ohren, dass er alles übertönt.

Es ist so kalt. Das spielt jetzt eigentlich keine Rolle mehr, aber es tut weh. Mir ist so kalt.

Der Geruch in ihrer Nase war unangenehm. Schlecht. Es stank. Einen Augenblick lang riss mich dieses Unbehagen aus der Erinnerung heraus. Aber es war nur ein kurzer Moment und dann wurde ich wieder hineingezogen und meine Augen füllten sich mit Tränen des Entsetzens.

Ich bin verloren. Wir sind verloren. Es ist vorbei.

Ich kann sie jetzt hinter mir hören, laut und nah. Da sind so viele Schritte. Ich bin allein. Ich habe versagt.

Ich höre die Sucher rufen. Der Klang ihrer Stimmen dreht mir den Magen um. Gleich muss ich mich übergeben.

»Ist ja gut, ist gut«, lügt eine von ihnen in dem Versuch, mich zu beruhigen, mich zu verlangsamen. Ihre Stimme klingt atemlos.

»Pass auf!«, ruft einer warnend.

»Tu dir nicht weh«, fleht ein anderer. Eine tiefe, besorgte Stimme.

Besorgt!

Hitze schoss durch meine Adern und Hass ließ mich beinahe ersticken. So hatte ich mich in all meinen Leben noch nie gefühlt. Mein Abscheu riss mich einen weiteren Augenblick aus der Erinnerung heraus. Ein hoher, durchdringend schriller Ton durchbohrte meine Trommelfelle und pulsierte in meinem Kopf. Das Geräusch schrammte durch meine Atemwege. Ich spürte einen leichten Schmerz im Hals.

Schreien, erklärte mein Körper. Du schreist.

Ich erstarrte und das Geräusch brach abrupt ab.

Das war keine Erinnerung.

Mein Körper – er dachte! Sprach mit mir!

Aber die Erinnerung war in diesem Moment stärker als meine Verwunderung.

»Bitte!«, rufen sie. »Gefahr! Vor dir!«

Die Gefahr ist hinter mir, schreie ich in Gedanken zurück. Aber ich sehe, was sie meinen. Ein schwacher Lichtstrahl, der von wer weiß wo kommt, beleuchtet das Ende des Flurs. Die Sackgasse, die ich fürchte und erwarte, endet nicht mit einer Wand oder verschlossenen Tür. Sie endet mit einem schwarzen Loch.

Der Aufzugschacht. Verlassen, leer und baufällig wie dieses Gebäude. Früher ein Versteck, jetzt ein Grab.

Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich, als ich weiterrenne. Es gibt einen Weg. Vielleicht keinen Weg, zu überleben, aber einen Weg, zu gewinnen.

Nein, nein, nein! Dieser Gedanke war einzig meiner und ich versuchte krampfhaft mich von ihr loszumachen, aber wir waren fest miteinander verbunden. Und wir rasten auf den tödlichen Abgrund zu.

»Bitte!« Die Rufe werden verzweifelter.

Fast muss ich lachen, als ich merke, dass ich schnell genug bin. Ich stelle mir vor, wie ihre Hände nur Zentimeter entfernt nach mir greifen. Aber ich bin schnell genug. Ich halte am Rand des Fußbodens noch nicht mal an. Das Loch springt mir entgegen.

Die Leere verschluckt mich. Meine Beine rotieren nutzlos. Meine Hände greifen nach der Luft, fassen hindurch auf der Suche nach etwas Festem. Kälte durchfährt mich wie ein Tornado.

Ich höre den Aufprall, bevor ich ihn spüre … der Wind ist weg …

Und dann ist überall Schmerz … alles ist Schmerz.

Lass es aufhören.

Nicht hoch genug, flüstere ich mir selbst durch den Schmerz hindurch zu.

Wann wird der Schmerz aufhören? Wann …?

Schwärze verschluckte den Todeskampf und ich war unglaublich dankbar, dass die Erinnerung zu ihrem unwiderruflichen Ende gekommen war. Die Schwärze verschlang alles und ich war frei. Ich atmete tief durch, um mich zu sammeln, so wie es dieser Körper gewohnt war. Mein Körper.

Aber dann kehrte die Farbe zurück, die Erinnerung bäumte sich auf und überwältigte mich von Neuem.

Nein! Ich geriet in Panik, hatte Angst vor der Kälte und dem Schmerz und der Angst selbst.

Aber es war nicht dieselbe Erinnerung. Dies war eine Erinnerung in der Erinnerung – die Erinnerung einer Sterbenden, wie ein letzter Atemzug – und doch irgendwie noch intensiver als die erste.

Die Schwärze verschlang alles außer der Erinnerung an ein Gesicht.

Das Gesicht war mir so fremd wie die gesichtslosen, verschlungenen Tentakel meines letzten Wirtskörpers diesem neuen Körper, der ich geworden war. Ich hatte solche Gesichter auf den Bildern gesehen, die man mir gezeigt hatte, um mich auf diese Welt vorzubereiten. Es war schwierig, sie auseinanderzuhalten, die winzigen Unterschiede in Farbe und Form zu erkennen, die die einzigen Kennzeichen der Individuen waren. Alle irgendwie gleich. Die Nase saß in der Mitte der Kugel, darüber die Augen und darunter ein Mund, die Ohren an den Seiten. Eine ganze Auswahl an Sinnen, alle außer dem Tastsinn, war an einer Stelle versammelt. Haut über den Knochen, Haar auf dem Kopf und in seltsamen pelzartigen Linien über den Augen. Manche hatten noch mehr Pelz weiter unten am Kinn. Die waren immer männlich. Die Farben variierten zwischen allen erdenklichen Brauntönen von Hellbeige bis Dunkelbraun, fast Schwarz. Abgesehen davon – wie hielt man sie auseinander?

Dieses Gesicht jedoch hätte ich unter Millionen wiedererkannt.

Es war länglich und die Knochen unter der Haut traten deutlich hervor. Es war von einem hellen Goldbraun. Das Haar war nur wenige Nuancen dunkler als die Haut, außer dort, wo es von flachsfarbenen Strähnen aufgehellt wurde, und es bedeckte nur den Kopf und den komischen Streifen über den Augen. Die runden Iris in den weißen Augäpfeln waren dunkler als das Haar, aber ebenfalls mit Lichtsprenkeln durchsetzt. Kleine Linien umrahmten die Augen und aus ihren Erinnerungen wusste ich, dass die Linien vom Lächeln und In-die-Sonne-Blinzeln stammten.

Ich hatte keine Ahnung, was bei diesen Fremden als attraktiv galt, und doch wusste ich, dass dieses Gesicht schön war. Ich wollte es weiter ansehen. Sobald mir das klarwurde, verschwand es.

Meins, sagte der fremde Gedanke, den es nicht geben durfte.

Ich erstarrte erneut ungläubig. Außer mir sollte hier eigentlich niemand sein. Und dieser Gedanke war so stark und präsent!

Unmöglich. Wie konnte sie noch hier sein? Dies war jetzt ich.

Meins, wies ich sie zurecht und das Wort war voll der Kraft und Autorität, die mir allein zustand. Das ist alles meins.

Weshalb antworte ich ihr dann überhaupt?, fragte ich mich, als Stimmen meine Gedanken unterbrachen.

MITGEHÖRT

Die Stimmen waren gedämpft und nah und, obwohl ich sie erst jetzt bemerkt hatte, offenbar mitten in einem gemurmelten Gespräch.

»Ich fürchte, es ist zu viel für sie«, sagte eine. Die Stimme klang sanft, aber tief, es war die eines Mannes. »Es wäre für jeden zu viel. Diese Gewalt!« Der Tonfall war voller Abscheu.

»Sie hat nur einmal geschrien«, sagte eine höhere, dünne Frauenstimme. Ihre Bemerkung klang fast fröhlich, als würde sie eine Auseinandersetzung gewinnen.

»Ich weiß«, gab der Mann zu. »Sie ist sehr stark. Andere wären aus geringerem Grund viel stärker traumatisiert.«

»Ich bin sicher, dass sie es gut überstehen wird, so wie ich es Ihnen gesagt habe.«

»Vielleicht haben Sie Ihre Berufung verfehlt.« Die Stimme des Mannes hatte etwas Scharfes an sich. Sarkasmus, ließ mich mein Sprachzentrum wissen. »Vielleicht hätten Sie auch Heiler werden sollen, so wie ich.«

Die Frau stieß einen belustigten Ton aus. Lachen. »Das bezweifle ich. Wir Sucher ziehen eine andere Art der Diagnose vor.«

Mein Körper kannte dieses Wort, diese Bezeichnung: Sucher. Es jagte mir einen Angstschauer über den Rücken. Eine verbliebene Reaktion. Natürlich hatte ich keinen Grund, Sucher zu fürchten.

»Ich frage mich manchmal, ob die Gewalt, diese menschliche Krankheit, die Vertreter Ihres Berufes infiziert«, sagte der Mann nachdenklich, und seine Stimme klang noch immer verärgert. »Gewalt ist Teil des Lebens, das Sie gewählt haben. Ist noch genug vom ursprünglichen Temperament Ihres Körpers übrig, dass Sie sogar Freude daran haben?«

Seine Anschuldigung, sein Tonfall überraschten mich. Die Diskussion klang beinahe wie … ein Streit. Etwas, das meinem Wirt vertraut war, ich aber noch nie erlebt hatte.

Die Frau begann sich zu verteidigen. »Wir haben die Gewalt nicht freiwillig gewählt. Wir nehmen sie in Kauf, wenn es nötig ist. Und es ist gut für euch alle, dass einige von uns stark genug für diese Unannehmlichkeiten sind. Euer Frieden wäre ohne unsere Arbeit nicht sehr dauerhaft.«

»Es war einmal. Ich glaube, dass Ihr Gewerbe bald überholt sein wird.«

»Ihr Irrtum liegt dort auf dem Bett.«

»Ein einzelnes, unbewaffnetes Menschenmädchen! Wirklich eine enorme Bedrohung unseres Friedens.«

Die Frau atmete heftig aus. Ein Seufzen. »Aber wo ist sie hergekommen? Wieso konnte sie mitten in Chicago auftauchen, einer schon seit Langem zivilisierten Stadt, Hunderte Kilometer von jeglicher Rebellenaktivität entfernt? Hat sie das alleine geschafft?«

Sie hängte die Fragen aneinander, ohne dass sie eine Antwort zu erwarten schien, als hätte sie sie schon oft gestellt.

»Das ist Ihr Problem, nicht meins«, sagte der Mann. »Meine Aufgabe ist es, dieser Seele zu helfen, sich ohne unnötige Schmerzen oder Traumata an ihren neuen Wirt zu gewöhnen. Und Sie sind anscheinend hier, um sich in meine Arbeit einzumischen.«

Immer noch nicht ganz bei mir, vollkommen damit beschäftigt, mich in dieser neuen Sinneswelt zurechtzufinden, wurde mir erst jetzt bewusst, dass sich das Gespräch um mich drehte. Ich war die Seele, von der sie sprachen. Das war eine neue Bedeutung für ein vertrautes Wort, ein Wort, das für meinen Wirt noch so viele andere Bedeutungen gehabt hatte. Auf jedem Planeten nahmen wir einen anderen Namen an. Seele. Ich glaube, es war eine passende Beschreibung. Die unsichtbare Macht, die den Körper lenkt.

»Die Antworten auf meine Fragen sind genauso wichtig wie Ihre Verantwortung der Seele gegenüber.«

»Darüber lässt sich streiten.«

Das Geräusch einer Bewegung war zu vernehmen und dann war ihre Stimme plötzlich ein Flüstern. »Wann wird sie ansprechbar sein? Die Narkose muss doch bald nachlassen.«

»Wenn sie so weit ist. Lassen Sie sie in Ruhe. Sie hat ein Recht darauf, so mit der Situation umzugehen, wie es für sie am angenehmsten ist. Stellen Sie sich ihren Schock beim Aufwachen vor – in einem aufständischen Wirt, auf der Flucht lebensgefährlich verletzt! Niemand sollte in Friedenszeiten so etwas durchmachen müssen!« Je mehr er sich aufregte, umso lauter wurde er.

»Sie ist stark.« Die Stimme der Frau klang jetzt beschwichtigend. »Sehen Sie doch, wie gut sie die erste Erinnerung, die schlimmste Erinnerung, überstanden hat. Was auch immer sie erwartet hat, sie ist damit fertiggeworden.«

»Aber warum war das nötig?«, murmelte der Mann, schien jedoch keine Antwort zu erwarten.

Die Frau antwortete trotzdem. »Wenn wir die Informationen kriegen wollen, die wir brauchen …«

»Brauchen, sagen Sie. Ich würde eher von wollen sprechen.«

»… dann muss jemand diese unangenehme Aufgabe übernehmen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Und nach allem, was ich von dieser Seele hier weiß, denke ich, dass sie die Herausforderung angenommen hätte, wenn es möglich gewesen wäre, sie zu fragen. Wie nennen Sie sie?«

Der Mann sagte lange nichts. Die Frau wartete.

»Wanderer«, antwortete er schließlich widerwillig.

»Das passt«, sagte sie. »Ich kenne keine offiziellen Statistiken, aber sie muss eine der ganz wenigen sein, wenn nicht sogar die Einzige, die so weit herumgekommen ist. Ja, Wanderer ist gut, so lange, bis sie sich selbst einen neuen Namen aussucht.«

Er schwieg.

»Natürlich kann es auch sein, dass sie den Namen des Wirts annehmen will … Wir haben in unserem Archiv allerdings keine Daten gefunden, die mit ihren Fingerabdrücken oder Netzhaut-Scans übereinstimmen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie hieß.«

»Sie wird den Menschennamen nicht annehmen«, murmelte der Mann.

Ihre Antwort war sanft. »Jeder findet auf seine Weise Trost.«  

»Dieser Wanderer wird mehr Trost nötig haben als die meisten anderen, dank Ihrer Art, Ihrer Berufung nachzugehen.«

Ein klapperndes Geräusch war zu hören – das Stakkato von Schritten auf einem harten Boden. Als sie wieder etwas sagte, befand sich die Stimme der Frau in einiger Entfernung von dem Mann auf der anderen Seite des Raumes.

»Mit der Anfangszeit dieser Besetzung wären Sie schlecht klargekommen«, sagte sie.

»Vielleicht kommen Sie schlecht mit dem Frieden klar.«

Die Frau lachte, aber es klang falsch, sie war nicht wirklich belustigt. Mein Gehirn schien sehr geübt darin, aus Klangfärbungen und Modulationen die eigentliche Bedeutung herauszuhören.

»Sie haben ja keine Ahnung, was meine Berufung mit sich bringt. Ich verbringe Stunden über Akten und Landkarten. Hauptsächlich Schreibtischarbeit. Der Konflikt oder die Gewalt, die Sie sich vorstellen, kommen nicht oft vor.«

»Vor zehn Tagen haben Sie schwer bewaffnet diesen Körper fast zu Tode gehetzt.«

»Die Ausnahme, wie ich Ihnen versichern kann, nicht die Regel. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Waffen, die Sie so hassen, auf unsere eigene Spezies gerichtet werden, wenn wir Sucher nicht wachsam genug sind. Die Menschen töten uns skrupellos, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Alle, die diese Feindseligkeit schon mal zu spüren bekommen haben, halten uns für Helden.«

»Sie klingen, als wären wir im Krieg.«

»Für die übrig gebliebenen Vertreter der menschlichen Rasse gilt das auch.«

Die Worte hallten laut in meinem Kopf nach. Mein Körper reagierte darauf; ich spürte, wie meine Atmung sich beschleunigte, hörte meinen Herzschlag lauter als bisher. Neben dem Bett, auf dem ich lag, registrierte eine Maschine den Anstieg mit einem gedämpften Signal. Der Heiler und die Sucherin waren zu sehr in ihren Wortwechsel vertieft, um es zu bemerken.

»Aber die Menschen haben diesen Krieg längst verloren, was sogar die, die noch übrig sind, realisiert haben dürften. Wir sind ihnen doch zahlenmäßig weit überlegen. Wie ist das Verhältnis? Eine Million zu eins? Ich nehme an, Sie wissen das besser.«

»Wir schätzen, dass unsere Überzahl sogar noch größer ist«, gab die Sucherin widerstrebend zu.

Der Heiler schien mit dieser Information zufrieden zu sein und den Streit nicht fortsetzen zu wollen. Einen Augenblick lang war es still.

Ich nutzte die Zeit, um meine Lage zu sondieren. Vieles war offensichtlich.

Ich befand mich in einer Heileinrichtung und erholte mich von einer ungewöhnlich traumatischen Implantation. Ich war sicher, dass der Körper, der mich beherbergte, vollständig geheilt worden war, bevor man ihn mir zur Verfügung gestellt hatte. Einen beschädigten Wirt hätte man ausrangiert.

Ich dachte über die unterschiedlichen Auffassungen des Heilers und der Sucherin nach. Nach den Informationen zu schließen, die ich erhalten hatte, bevor ich den Entschluss fasste hierherzukommen, hatte der Heiler Recht. Es gab kaum noch Gefechte mit den wenigen verbliebenen menschlichen Widerstandsnestern. Der Planet, der Erde genannt wurde, war genauso friedlich und ruhig, wie er vom Weltraum aus wirkte, einladend grün und blau, in harmlose weiße Dämpfe gehüllt. Überall herrschte jetzt Harmonie, die ureigenste Eigenschaft der Seelen.

Die Auseinandersetzung zwischen dem Heiler und der Sucherin schlug aus der Art. Sie war ungewöhnlich aggressiv für unsere Spezies. Das machte mich nachdenklich. War es möglich, dass doch etwas Wahres dran war an den geflüsterten Gerüchten, die wie Wellen durch ihre Gedanken gewogt waren, die Gedanken der … der …

Der Versuch, mich an den Namen meiner letzten Spezies zu erinnern, lenkte mich ab. Wir hatten einen Namen gehabt, das wusste ich. Aber jetzt, ohne Verbindung mit dem Wirt, konnte ich mich an das Wort nicht mehr erinnern. Wir hatten eine viel einfachere Sprache benutzt als diese hier, eine schweigende Gedankensprache, die uns alle zu einem großen Bewusstsein vereinte. Eine notwendige Vereinfachung, wenn man für immer in der feuchten schwarzen Erde verwurzelt war.

Ich konnte diese Spezies in meiner neuen menschlichen Sprache beschreiben. Wir lebten auf dem Grund des großen Meeres, das die gesamte Oberfläche unserer Welt bedeckte – einer Welt, die auch einen Namen hatte, aber den hatte ich ebenfalls vergessen. Wir hatten alle hundert Arme und auf jedem Arm tausend Augen, so dass uns durch unsere verknüpften Gedanken nichts in der unendlichen Weite des Ozeans entging. Geräusche waren nicht nötig, deshalb gab es auch keine Möglichkeit, sie zu hören. Wir schmeckten das Wasser und zusammen mit unserer Sehfähigkeit erfuhren wir so alles, was wir wissen mussten. Wir schmeckten das Licht der Sonnen, die hoch über dem Wasser standen, und verwandelten ihren Geschmack in die Nahrung, die wir benötigten.

Ich konnte uns beschreiben, aber ich konnte uns nicht benennen. Ich seufzte über das verlorene Wissen und kehrte dann zu meinen Gedanken über das Gehörte zurück.

Seelen sagten grundsätzlich immer die Wahrheit. Die Sucher erfüllten natürlich die Anforderungen ihrer Berufung, aber Seelen untereinander legten es nie darauf an, sich zu belügen. Mit der Gedankensprache meiner letzten Spezies war es erst recht unmöglich gewesen zu lügen, selbst wenn wir es gewollt hätten. Allerdings erzählten wir uns Geschichten, um die Langeweile unseres verankerten Daseins zu bekämpfen. Das Geschichtenerzählen war die Begabung, die am höchsten angesehen war, da sie allen zugutekam.

Manchmal vermischten sich die Tatsachen so gründlich mit dem Erdachten, dass man nicht sicher sein konnte, was genau wahr war und was nicht, obwohl keine Lügen erzählt wurden.

Wenn wir an den neuen Planeten dachten – die Erde, so trocken, so abwechslungsreich und bevölkert von derart gewalttätigen, zerstörerischen Bewohnern, dass wir sie uns kaum vorstellen konnten –, wurde unser Entsetzen manchmal von unserer Aufregung überdeckt. Schnell rankten sich Geschichten um das spannende neue Thema. Die Kriege – Kriege! Unsere Spezies war gezwungen zu kämpfen! – wurden erst genau beschrieben und später ausgeschmückt und in Geschichten verwandelt. Wenn die Erzählungen nicht mit den offiziellen Informationen, die ich ausfindig machte, übereinstimmten, glaubte ich natürlich den früheren Berichten.

Aber es gab Gerüchte: von menschlichen Wirten, die so stark waren, dass die Seele gezwungen war, sie zu verlassen. Wirte, deren Geist nicht vollständig unterdrückt werden konnte. Seelen, die eher die Persönlichkeit des Körpers annahmen als umgekehrt. Geschichten. Wilde Gerüchte. Verrücktheiten.

Aber etwas Ähnliches schien der Heiler dieser Sucherin zu unterstellen …

Ich verwarf den Gedanken. Der wahrscheinlichste Grund für diese Unterstellung war die Abneigung, die die meisten von uns den Suchern entgegenbrachten. Wer entschied sich schon für ein Leben voller Kampf und Verfolgung? Wen reizte die Aufgabe, unwillige Wirte ausfindig zu machen und sie gefangen zu nehmen? Wer konnte es ertragen, sich mit der ausgeprägten Gewalttätigkeit dieses speziellen Wirts abzugeben, dieser feindseligen Menschen, die so leichtfertig, so gedankenlos töteten? Hier auf diesem Planeten waren die Sucher praktisch zu einer Art … Miliz geworden – mein Gehirn versorgte mich mit dem Begriff für den ungewohnten Gedanken. Die meisten von uns glaubten, dass nur die Seelen, die am wenigsten zivilisiert waren, am wenigsten entwickelt, die Niederen unter uns, den Weg eines Suchers einschlugen.

Allerdings hatten die Sucher auf der Erde neues Ansehen gewonnen. Noch nie zuvor war eine Besetzung so aus dem Ruder gelaufen, noch nie zuvor hatte sie sich zu so einer erbitterten und blutigen Schlacht entwickelt und noch nie zuvor waren so viele Seelen ums Leben gekommen. Die Sucher bildeten einen mächtigen Schild und die Seelen dieser Welt hatten dreifach Grund, ihnen dankbar zu sein: für die Sicherheit, die sie erkämpft hatten; für das Risiko, endgültig zu sterben, das sie freiwillig jeden Tag von Neuem eingingen; und für die ausgewachsenen Wirtskörper, die sie immer noch beschafften.

Jetzt, wo die Gefahr fast gebannt war, schien die Dankbarkeit jedoch nachzulassen. Und das war zumindest für diese Sucherin hier unangenehm.

Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, was sie mich fragen würde. Auch wenn der Heiler versuchte, mir Zeit zu verschaffen, um mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen, wusste ich, dass ich mein Bestes tun würde, um der Sucherin zu helfen. Der Dienst an der Allgemeinheit war eine wichtige Aufgabe im Leben jeder Seele.

Also atmete ich tief durch, um mich darauf vorzubereiten. Der Monitor registrierte die Bewegung. Ich merkte, dass ich ein bisschen Zeit zu schinden versuchte. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber ich hatte Angst. Um die Informationen zu liefern, die die Sucherin brauchte, würde ich die grausamen Erinnerungen durchsuchen müssen, die mich vor Entsetzen hatten aufschreien lassen. Noch mehr Angst hatte ich vor der Stimme, die ich so laut in meinem Kopf gehört hatte. Aber jetzt war sie stumm, so wie es sein sollte. Sie war auch nicht mehr als eine Erinnerung.

Ich brauchte keine Angst zu haben. Schließlich hieß ich jetzt Wanderer. Und ich verdiente diesen Namen.

Ich atmete noch einmal tief durch und tauchte in die Erinnerung ein, die mir Angst gemacht hatte, stellte mich ihr mit zusammengebissenen Zähnen.

Ich ließ das Ende noch einmal Revue passieren – diesmal überwältigte es mich nicht. Im Schnelldurchlauf rannte ich erneut wimmernd durch die Dunkelheit und versuchte nichts zu fühlen. Es war schnell vorbei.

Sobald ich diese Hürde erst einmal genommen hatte, war es nicht schwierig, sich an weniger erschreckenden Dingen und Orten vorbeitreiben zu lassen, auf der Suche nach der Information, die ich brauchte. Ich sah, wie sie in diese kalte Stadt gekommen war, nachts in einem gestohlenen Auto, das sie wegen seines unauffälligen Aussehens ausgewählt hatte. Sie war im Dunkeln durch die Straßen Chicagos gegangen und hatte unter ihrem Mantel gezittert.

Sie war selbst auf der Suche. Es gab noch andere wie sie, oder zumindest hoffte sie das. Eine Bestimmte. Eine Freundin … nein, eine Verwandte. Keine Schwester … eine Cousine.

Die Worte kamen immer langsamer und zunächst verstand ich nicht, warum. Hatte sie das hier vergessen? War es durch das Trauma des nahenden Todes verschüttet? War ich noch benommen von der Narkose? Ich gab mir Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Dieses Gefühl war ungewohnt. War mein Körper noch betäubt? Ich fühlte mich ziemlich wach, aber mein Geist kramte erfolglos nach der Auskunft, die ich suchte.

In der Hoffnung auf klarere Antworten probierte ich einen anderen Weg aus. Was hatte sie vorgehabt? Sie wollte … Sharon – ich hatte den Namen herausgefischt – finden und sie würden …

Ich stieß gegen eine Mauer.

Da war Leere, ein Nichts. Ich versuchte es zu umgehen, konnte aber den Rand der Leerstelle nicht finden. Als wäre die Information, die ich suchte, ausgelöscht worden.

Als wäre dieses Gehirn beschädigt worden.

Heiße, wilde Wut durchfuhr mich. Überrascht von der unerwarteten Reaktion schnappte ich nach Luft. Ich hatte von der emotionalen Labilität dieser menschlichen Körper gehört, aber das hier übertraf meine Vorstellungen. In acht Leben war ich noch nie von einem so heftigen Gefühl überwältigt worden.

Ich spürte, wie das Blut durch meinen Hals pulsierte und in meinen Ohren rauschte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.

Die Apparate neben mir zeichneten die Beschleunigung meines Herzschlags auf. Diesmal wurde im Raum darauf reagiert: Das energische Klappern, das von den Absätzen der Sucherin stammte, kam näher, vermischt mit einem leiseren Schlurfen, das von dem Heiler stammen musste.

»Willkommen auf der Erde, Wanderer«, sagte die Frauenstimme.

WIDERSETZT

»Der neue Name sagt ihr vermutlich noch nichts«, murmelte der Heiler.

Eine neue Wahrnehmung lenkte mich ab. Etwas Angenehmes, eine Veränderung in der Luft, seit die Sucherin neben mir stand. Ein Geruch, wie mir klarwurde. Ich roch etwas anderes als das sterile, geruchlose Zimmer. Parfum, ließ mich mein neuer Verstand wissen. Blumig, intensiv …

»Können Sie mich hören?«, fragte die Sucherin und unterbrach damit meine Überlegungen. »Sind Sie bei Bewusstsein?«

»Lassen Sie sich Zeit«, mahnte der Heiler mit sanfterer Stimme als vorher.

Ich öffnete die Augen nicht. Ich wollte nicht abgelenkt werden. Mein Verstand gab mir die Wörter ein, die ich brauchte, und den Tonfall, der vermitteln würde, was ich sonst nur mit vielen Worten hätte sagen können.

»Bin ich in einen beschädigten Wirt eingesetzt worden, damit Sie die Informationen bekommen, die Sie brauchen, Sucherin?«

Ein Keuchen war zu hören, in dem sich Überraschung mit Ärger mischte, und etwas Warmes berührte meine Haut, bedeckte meine Hand.

»Natürlich nicht, Wanderer«, sagte der Mann besänftigend. »Vor manchen Dingen schrecken sogar Sucher zurück.«

Die Sucherin keuchte erneut. Schnaubte, korrigierte mein Verstand.

»Und warum funktioniert dieses Gehirn dann nicht richtig?«

Eine Pause entstand.

»Die Scans waren perfekt«, sagte die Sucherin. Ihre Worte waren nicht besänftigend, sondern sie verteidigte sich. Wollte sie mit mir streiten? »Der Körper war vollkommen geheilt.«

»Von einem Selbstmordversuch, der beinahe erfolgreich verlaufen wäre.« Mein Tonfall war spitz, immer noch ärgerlich. Ich war nicht an Ärger gewöhnt. Es war schwer, ihn zu unterdrücken.

»Es war alles vollkommen in Ordnung …«

Der Heiler unterbrach sie. »Was fehlt denn?«, fragte er. »Zur Sprache haben Sie ja offensichtlich Zugang.«

»Erinnerung. Ich habe versucht zu finden, was die Sucherin wollte.«

Obwohl kein Geräusch zu hören war, veränderte sich etwas. Die Atmosphäre, die sich durch meine Anschuldigung aufgeladen hatte, entspannte sich. Ich fragte mich, woher ich das wusste. Ich hatte das eigenartige Gefühl, als ob ich irgendwie mehr wahrnahm, als meine fünf Sinne mir übermittelten – es fühlte sich fast so an, als wäre dort noch ein Sinn, ganz am Rand, der nicht richtig genutzt wurde. Intuition? Das war fast das richtige Wort.

Als ob irgendein Wesen mehr als fünf Sinne benötigte.

Die Sucherin räusperte sich, aber es war der Heiler, der antwortete.

»Ah«, sagte er. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen partieller Gedächtnis…schwierigkeiten. Das war, nun ja, nicht gerade zu erwarten, aber es ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt …«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Dieser Wirt war Mitglied der menschlichen Widerstandsbewegung.« Die Stimme der Sucherin hatte jetzt einen aufgeregten Unterton. »Die Menschen, die vor der Implantation von uns wissen, sind schwieriger zu unterwerfen. Dieser hier widersetzt sich noch.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, während sie auf eine Antwort von mir warteten.

Widersetzte sich? Der Wirt blockierte den Zugang? Die Heftigkeit des Ärgers, der in mir aufwallte, überraschte mich von Neuem.

»Bin ich richtig verbunden?«, erkundigte ich mich mit gepresster Stimme.

»Ja«, sagte der Heiler. »Alle achthundertsiebenundzwanzig Verbindungspunkte sind fest in der optimalen Position verankert.«

Dieses Gehirn nutzte mehr meiner Verbindungsstränge als irgendein Wirt vorher und ließ nur hunderteinundachtzig Fortsätze frei. Vielleicht waren die zahlreichen Verknüpfungen der Grund für diese lebhaften Emotionen.

Ich beschloss, die Augen zu öffnen. Ich hatte das Bedürfnis, die Beteuerungen des Heilers zu überprüfen und sicherzustellen, dass der Rest von mir funktionierte.

Licht. Hell, schmerzhaft. Ich schloss die Augen wieder. Das letzte Licht, das ich gesehen hatte, war durch hundert Faden Ozean gefiltert gewesen. Aber diese Augen waren schon größerer Helligkeit ausgesetzt gewesen und kamen damit zurecht. Ich öffnete sie weniger weit und schirmte den Spalt mit meinen Wimpern ab.

»Soll ich das Licht runterdimmen?«

»Nein, Heiler. Meine Augen werden sich daran gewöhnen.«

»Sehr gut«, sagte er und ich realisierte, dass sich sein Lob auf meinen selbstverständlichen Gebrauch des Pronomens meine bezog.

Beide warteten schweigend, während sich meine Augen langsam ganz öffneten.

Mein Gehirn erkannte die Umgebung als ein gewöhnliches Zimmer in einer Heileinrichtung. Ein Krankenhaus. Die Platten der Deckenverkleidung waren weiß mit dunkleren Sprenkeln. Die Lampen waren rechteckig und genauso groß wie die Platten, die sie in regelmäßigen Abständen ersetzten. Die Wände waren hellgrün – eine beruhigende Farbe, aber gleichzeitig auch die Farbe von Krankheit. Eine schlechte Wahl, meiner schnell gebildeten Meinung nach.

Die Personen, die mich ansahen, waren interessanter als das Zimmer. Das Wort Arzt erklang in meinem Gehirn, sobald mein Blick auf den Heiler fiel. Er trug weite, blaugrüne Kleidung, die seine Arme frei ließ. OP-Kleidung. Er hatte Haare im Gesicht – von einer seltsamen Farbe, die meine Erinnerung Rot nannte.

Rot! Seit drei Welten hatte ich weder diese Farbe noch eine ihrer Verwandten gesehen. Sogar dieses goldene Rotblond erfüllte mich mit Nostalgie.

Sein Gesicht sah für mich so aus wie das aller Menschen, aber das Wissen in meiner Erinnerung verwandte das Wort freundlich.

Ein ungeduldiges Schnaufen lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Sucherin.

Sie war sehr klein. Wenn sie ruhig stehen geblieben wäre, hätte ich länger gebraucht, um sie dort neben dem Heiler zu bemerken. Sie zog nicht gerade die Blicke auf sich, ein dunkler Fleck im Raum. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet – sie trug einen klassischen Anzug mit einem seidenen Rollkragen-Shirt darunter. Ihr Haar war ebenfalls schwarz. Es war kinnlang und sie hatte es hinters Ohr gesteckt. Ihre Haut war dunkler als die des Heilers. Olivfarben.

Die Veränderungen in den Mienen der Menschen waren so gering, dass sie schwer zu deuten waren. Trotzdem konnte mein Gedächtnis den Ausdruck auf dem Gesicht dieser Frau benennen. Die schwarzen Brauen, die sich über den leicht hervortretenden Augen wölbten, boten einen vertrauten Anblick. Nicht direkt Ärger. Eher Härte. Verstimmung.

»Wie häufig kommt so was vor?«, fragte ich, wobei ich wieder den Heiler ansah.

»Nicht sehr oft«, räumte der Heiler ein. »Es stehen nur noch wenige ausgewachsene Wirtskörper zur Verfügung. Die unreifen Wirte sind komplett formbar. Aber Sie haben angegeben, dass Sie lieber als Erwachsene anfangen wollten …«

»Ja.«

»Die meisten verlangen das Gegenteil. Die Lebensspanne dieser Menschen ist viel kürzer, als Sie es gewohnt sind.«

»Ich kenne die Fakten, Heiler. Hatten Sie mit dieser Art … Widerstand schon zu tun?«

»Ich persönlich nur einmal.«

»Erzählen Sie mir von diesem Fall.« Ich machte eine Pause. »Bitte«, fügte ich hinzu, da ich das Gefühl hatte, dass meine Aufforderung nicht sehr höflich geklungen hatte.

Der Heiler seufzte.

Die Sucherin begann mit den Fingern auf ihren Arm zu klopfen. Ein Zeichen von Ungeduld. Sie hatte keine Lust, auf das, was sie wissen wollte, zu warten.

»Es ist vier Jahre her«, begann der Heiler. »Die betreffende Seele hatte einen erwachsenen männlichen Wirt bestellt. Der erste, der zur Verfügung stand, war ein Mensch, der seit den Anfangsjahren einer Widerstandsgruppe angehört hatte. Er … wusste, was nach seiner Ergreifung passieren würde.«

»Genau wie mein Wirt.«

»Äh, ja.« Der Heiler räusperte sich. »Es war erst das zweite Leben der Seele. Er kam aus der Blinden Welt.«

»Der Blinden Welt?«, fragte ich und legte nachdenklich den Kopf schief.

»Oh, Entschuldigung, Sie kennen unsere Spitznamen natürlich nicht. Aber dort waren Sie selbst auch, nicht wahr?« Er zog ein Gerät aus der Tasche, einen Computer, und sah schnell etwas nach. »Ja, Ihr fünfter Planet. Im einundachtzigsten Sektor.«

»Die Blinde Welt?«, fragte ich erneut, diesmal mit Missfallen in der Stimme.

»Nun ja, ich weiß, einige, die dort gelebt haben, nennen sie lieber die Singende Welt.«

Ich nickte langsam. Das gefiel mir viel besser.

»Und manche, die noch nie dort gewesen sind, nennen sie den Fledermausplaneten«, murmelte die Sucherin.

Ich sah sie an und merkte, wie sich meine Augen verengten, als mein Verstand das passende Bild des hässlichen Flattertiers hervorkramte, auf das sie anspielte.

»Ich nehme an, dass Sie zu denjenigen gehören, die noch nie dort gelebt haben, Sucherin«, sagte der Heiler leichthin. »Wir nannten diese Seele zunächst Racing Song – das war eine freie Übersetzung seines Namens in der … Singenden Welt. Aber er beschloss bald, den Namen seines Wirts, Kevin, anzunehmen. Obwohl er aufgrund seiner Erfahrung für eine Berufung als Musical-Sänger vorgemerkt war, sagte er, er wolle lieber den früheren Beruf seines Wirts weiter ausüben, der was mit Mechanik zu tun hatte.

All dies beunruhigte den ihm zugeteilten Helfer etwas, aber es bewegte sich noch im normalen Rahmen.

Dann begann Kevin darüber zu klagen, dass er immer öfter für einige Zeit ohnmächtig wurde. Sie brachten ihn wieder zu mir und wir führten umfassende Untersuchungen durch, um sicherzustellen, dass das Gehirn des Wirts nicht irgendwo einen verborgenen Defekt hatte. Während der Untersuchungen stellten verschiedene Heiler beträchtliche Unterschiede in seinem Verhalten und Charakter fest. Als wir ihn dazu befragten, gab er an, sich an bestimmte Aussagen und Handlungen nicht erinnern zu können. Wir beobachteten ihn weiterhin zusammen mit seinem Helfer und entdeckten schließlich, dass der Wirt Kevins Körper gelegentlich unter seine Kontrolle brachte.«

»Unter seine Kontrolle brachte?« Ich riss die Augen auf. »Ohne dass die Seele es merkte? Der Wirt eroberte den Körper zurück?«

»Leider ja. Kevin war nicht stark genug, um seinen Wirt zu unterdrücken.«

Nicht stark genug.

Würden sie mich auch für schwach halten? War ich schwach, weil ich diesen Verstand nicht zwingen konnte, meine Fragen zu beantworten? Weil seine Gedanken in meinem Kopf gewesen waren, wo es nichts hätte geben sollen außer Stille? Ich hatte mich immer für stark gehalten. Der Gedanke an Schwäche ließ mich zusammensinken. Ließ mich Scham empfinden.

Der Heiler fuhr fort. »Dann passierten gewisse Dinge und es wurde beschlossen …«

»Was für Dinge?«

Der Heiler sah zu Boden, ohne zu antworten.

»Was für Dinge?«, fragte ich noch einmal. »Ich denke, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.«

Der Heiler seufzte. »Das stimmt. Kevin hat eine Heilerin … angegriffen, als er nicht … er selbst war.« Er schauderte. »Er schlug sie bewusstlos und entwendete ihr dann ein Skalpell. Wir fanden ihn ohnmächtig. Der Wirt hatte versucht, die Seele aus seinem Körper zu schneiden.«

Es dauerte einen Augenblick, bevor ich in der Lage war, etwas zu sagen. Und selbst dann war meine Stimme kaum ein Hauch. »Was ist aus ihnen geworden?«

»Glücklicherweise war der Wirt nicht in der Lage, lange genug bei Bewusstsein zu bleiben, um großen Schaden anzurichten. Kevin wurde verpflanzt, diesmal in einen unreifen Wirt. Der problematische Wirt war in schlechtem Zustand und es wurde beschlossen, dass es nicht viel Sinn hatte, ihn zu retten.

Kevin ist jetzt sieben Menschenjahre alt und vollkommen normal … wenn man von der Tatsache absieht, dass er den Namen Kevin beibehalten hat. Seine Betreuer achten sorgfältig darauf, dass er ausgiebig mit Musik beschallt wird, und das tut ihm gut …« Letzteres fügte er hinzu, als wäre es eine gute Nachricht – eine Nachricht, die den Rest irgendwie auslöschen konnte.

»Warum?« Ich räusperte mich, so dass meine Stimme etwas an Lautstärke gewann. »Warum sind diese Risiken nicht publik gemacht worden?«

»In allen Anwerbeinformationen wird sehr wohl deutlich darauf hingewiesen, dass es eine viel größere Herausforderung ist, sich einen der verbleibenden erwachsenen Wirte anzueignen als ein Kind«, warf die Sucherin ein. »Ein unreifer menschlicher Wirt wird dringend empfohlen.«

»Das Wort Herausforderung trifft Kevins Geschichte nicht ganz.«

»Sie haben es eben vorgezogen, die Empfehlung zu ignorieren.« In einer versöhnlichen Geste hob sie die Hände, als sich mein Körper verkrampfte und der steife Stoff auf dem schmalen Bett leise knisterte. »Nicht dass ich Ihnen das vorwerfe. Die Kindheit ist unglaublich langweilig. Und Sie sind sicherlich nicht die typische Durchschnittsseele. Ich habe vollstes Vertrauen, dass Sie in der Lage sein werden, mit dieser Sache fertigzuwerden. Dies ist nur ein Wirt unter vielen. Ich bin sicher, dass Sie bald Kontrolle und uneingeschränkten Zugang haben werden.«

Nachdem ich die Sucherin nun bereits eine Weile beobachtet hatte, war ich überrascht, dass sie die Geduld gehabt hatte, auch nur den kleinsten Aufschub hinzunehmen, und sei es auch nur meine persönliche Eingewöhnungszeit. Ich konnte ihre Enttäuschung darüber spüren, dass ich nicht mehr Informationen liefern konnte, und das verursachte in mir erneut das ungewohnte Gefühl von Wut.

»Sind Sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass Sie sich auch selbst in diesen Körper implantieren lassen könnten, um die Antworten zu bekommen, die Sie suchen?«

Sie erstarrte. »Ich bin kein Springer.«

Meine Augenbrauen fuhren automatisch in die Höhe.

»Noch ein Spitzname«, erklärte der Heiler. »Für diejenigen, die keine komplette Lebensspanne in einem Wirt verbringen.«

Ich nickte. Auch in meinen anderen Welten hatten wir einen Begriff dafür gehabt. In keiner Welt war es gern gesehen. Also hörte ich auf, die Sucherin zu verspotten, und lieferte ihr, was ich konnte.

»Sie hieß Melanie Stryder. Sie ist in Albuquerque, New Mexico, geboren. Als sie von der Besetzung erfuhr, war sie in Los Angeles. Sie versteckte sich ein paar Jahre in der Wildnis, dann fand sie … Hmmm. Tut mir leid, das versuche ich später noch mal. Der Körper hat zwanzig Jahre erlebt. Sie kam nach Chicago aus …« Ich schüttelte den Kopf. »Es gab verschiedene Etappen, die sie nicht alle allein zurückgelegt hat. Der Wagen war gestohlen. Sie suchte nach einer Cousine namens Sharon, von der sie annahm, dass sie noch ein Mensch war. Bevor sie entdeckt wurde, hat sie niemanden gefunden oder kontaktiert. Aber …« Ich bot meine ganze Kraft auf, kämpfte wieder gegen eine undurchdringliche Mauer. »Ich glaube … Ich bin nicht sicher … Ich glaube, sie hat eine Nachricht hinterlassen … irgendwo.«

»Sie hat also damit gerechnet, dass jemand nach ihr suchen würde?«, fragte die Sucherin erfreut.

»Ja. Man wird sie … vermissen. Wenn sie nicht zu einem Treffen erscheint mit …« Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte jetzt wirklich. Die Mauer war schwarz und ich konnte nicht erkennen, wie dick sie war. Ich schlug dagegen, Schweißperlen traten mir auf die Stirn. Die Sucherin und der Heiler gaben keinen Laut von sich, damit ich mich konzentrieren konnte.

Ich versuchte an etwas anderes zu denken – an die lauten, für mich ungewohnten Geräusche, die der Motor des Autos gemacht hatte, an den aufregenden Adrenalinstoß jedes Mal, wenn die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs auf der Straße vorbeigesaust waren. Diese Bruchstücke hatte ich bereits aufgedeckt; an diesen Stellen hielt mich nichts zurück. Ich ließ mich von der Erinnerung weitertreiben, ließ sie die kalte Wanderung durch die Stadt im Schutz der nächtlichen Dunkelheit durchlaufen, ließ sie ihren Weg zu dem Gebäude finden, in dem sie mich aufgespürt hatten.

Nicht mich, sie. Mein Körper schauderte.

»Übertreiben Sie’s nicht …«, hob der Heiler an.

Die Sucherin brachte ihn mit einem »Psst« zum Schweigen.

Ich ließ meine Gedanken beim Entsetzen über die Entdeckung verweilen, beim unbändigen Hass auf die Sucher, der fast alles andere überlagerte. Der Hass war schlimm, er schmerzte. Ich konnte das Gefühl kaum ertragen. Aber ich ließ ihm seinen Lauf, in der Hoffnung, er würde sie ablenken, ihre Abwehr schwächen.

Ich sah genau hin, als sie versuchte, die Erinnerung vor mir zu verbergen, und dann merkte ich, dass es ihr nicht gelang. Eine Nachricht, mit einem zerbrochenen Bleistift auf einen Fetzen Papier gekritzelt. Hastig unter einer Tür durchgeschoben. Nicht irgendeine Tür.

»Der gesuchte Ort ist die fünfte Tür auf dem fünften Flur im fünften Stock. Dort befindet sich ihre Mitteilung.«

Die Sucherin hielt ein kleines Telefon in der Hand; sie murmelte eilig etwas hinein.

»Das Gebäude sollte eigentlich sicher sein«, fuhr ich fort. »Sie wussten, dass es baufällig war. Sie weiß nicht, wie es kam, dass sie entdeckt wurde. Haben sie Sharon gefunden?«

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.

Die Frage kam nicht von mir.

Es war nicht meine Frage, aber sie kam mir so natürlich über die Lippen, als wäre sie es. Die Sucherin bemerkte nichts Ungewöhnliches.

»Die Cousine? Nein, sie haben sonst keinen Menschen gefunden«, antwortete sie und mein Körper entspannte sich. »Der Wirt wurde beim Betreten des Gebäudes gesehen. Da allgemein bekannt war, dass das Gebäude baufällig ist, machte sich der Bürger, der ihn beobachtet hatte, Sorgen. Er hat uns angerufen und wir haben das Gebäude beschattet, um zu sehen, ob wir vielleicht mehr als einen zu fassen bekamen, und als das unwahrscheinlich erschien, sind wir reingegangen. Können Sie den Treffpunkt finden?«

Ich versuchte es.

So viele Erinnerungen, alle so farbenfroh und deutlich. Ich sah hundert Orte, an denen ich nie gewesen war, hörte ihre Namen zum ersten Mal. Ein Haus in Los Angeles, gesäumt von hohen, belaubten Bäumen. Eine Wiese in einem Wald mit einem Zelt und einem Lagerfeuer – außerhalb von Winslow, Arizona. Ein einsamer Steinstrand in Mexiko. Eine Höhle, deren Eingang von strömendem Regen abgeschirmt wurde, irgendwo in Oregon. Zelte, Hütten, primitive Verstecke. Je mehr Zeit verstrich, desto undeutlicher wurden die Ortsnamen. Sie wusste nicht, wo sie war, und es interessierte sie auch nicht.

Mein Name war jetzt Wanderer, aber zu ihren Erinnerungen passte er genauso gut wie zu meinen eigenen. Außer dass ich freiwillig auf Wanderschaft war. All ihren aufblitzenden Erinnerungssplittern haftete dagegen immer eine Spur von Angst an – der Angst einer Gejagten. Das war keine Wanderung, sondern eine Flucht.

Ich versuchte, kein Mitleid zu empfinden. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, die Erinnerung zu steuern. Ich musste nicht sehen, wo sie gewesen war, sondern nur, wo sie hinwollte. Ich durchsuchte die Bilder, die mit dem Wort Chicago verbunden waren, aber keins von ihnen schien mehr zu sein als ein zufälliger Schnappschuss. Ich vergrößerte mein Netz. Was befand sich außerhalb von Chicago? Kälte, dachte ich. Es war kalt und das war ein Grund zur Sorge.

Wo? Ich drängte vorwärts und die Mauer war wieder da.

Ich atmete heftig aus. »Außerhalb der Stadt – in der Wildnis … einem Nationalpark, weit weg von allen Ortschaften. Kein Ort, wo sie schon mal gewesen ist, aber sie weiß, wie sie dorthin kommt.«

»Wann?«, fragte die Sucherin.

»Bald.« Die Antwort kam automatisch. »Wie lange war ich hier?«

»Wir haben den Wirt neun Tage heilen lassen, um absolut sicher zu sein, dass er vollkommen wiederhergestellt sein würde«, erklärte mir der Heiler. »Die Implantation war heute, am zehnten Tag.«

Zehn Tage. Eine heftige Woge der Erleichterung durchströmte meinen Körper.

»Zu spät«, sagte ich. »Für den Treffpunkt … oder auch nur die Nachricht.« Ich konnte die Reaktion des Wirts darauf spüren – viel zu stark spüren. Der Wirt war beinahe … schadenfroh. Ich sprach die Worte, die er dachte, bewusst aus, um dadurch vielleicht mehr zu erfahren. »Er wird nicht da sein.«

»Er?« Die Sucherin sprang sofort darauf an. »Wer?«

Die schwarze Mauer krachte wieder herunter, heftiger als je zuvor. Aber sie kam einen winzigen Sekundenbruchteil zu spät.

Das Gesicht füllte erneut meine Gedanken aus. Das schöne Gesicht mit der goldbraunen Haut und den hell gesprenkelten Augen. Das Gesicht, das ein eigenartiges, tiefes Glück in mir hervorrief, während ich es so deutlich vor meinem inneren Auge sah.

»Jared«, antwortete ich. Und so schnell, als stammte er von mir, kam gleich darauf der Gedanke, der nicht meiner war, über meine Lippen. »Jared ist in Sicherheit.«

GETRÄUMT

Es ist zu dunkel, um so heiß zu sein, oder vielleicht auch zu heiß, um so dunkel zu sein. Eins von beidem ist irgendwie fehl am Platz.

Ich kauere in der Dunkelheit, dürftig getarnt hinter einem kümmerlichen Kreosotbusch, und schwitze alles an Flüssigkeit aus, was meinem Körper noch geblieben ist. Es ist eine Viertelstunde her, dass das Auto aus der Garage gefahren ist. Es sind keine Lichter angegangen. Die Terrassentür ist einen Spaltbreit geöffnet, damit der Verdunstungskühler seine Arbeit tun kann. Ich kann mir vorstellen, wie sich die feuchte, kühle Luft anfühlt, die durch das Fliegengitter geblasen wird. Ich wünschte, sie wäre bis hierher zu spüren.

Mein Magen knurrt und ich spanne meine Bauchmuskeln an, um das Geräusch zu ersticken. Es ist so still hier, dass das Grummeln weithin zu hören ist.

Ich habe solchen Hunger.

Aber da ist ein anderes Bedürfnis, das noch stärker ist – noch ein hungriger Magen, weit weg und sicher versteckt in der Dunkelheit. Allein in der Höhle aus rauem Fels, die vorübergehend unser Zuhause ist. Eine beengte Zuflucht, voll von spitzem Vulkangestein. Was wird er tun, wenn ich nicht zurückkomme? Die ganze Last der Mutterschaft und nichts an entsprechendem Wissen oder der dazugehörigen Erfahrung. Ich bin so ungeheuer hilflos. Jamie hat Hunger.

Es sind keine weiteren Häuser in der Nähe. Ich bin auf meinem Beobachtungsposten, seit die Sonne noch weiß und heiß am Himmel stand, und ich glaube, es gibt auch keinen Hund.

Ich rappele mich aus der Hocke hoch, wobei meine Waden heftig protestieren, bleibe aber gebeugt hinter dem Gestrüpp stehen. Der Weg die Böschung hinauf führt über weichen Sand, ein blasser Pfad im Licht der Sterne. Auf der Straße sind keine Autos zu hören.

Ich weiß, was passieren wird, wenn sie zurückkommen, diese Monster, die aussehen wie ein nettes Paar Anfang fünfzig. Sie werden genau wissen, was ich bin, und die Suche wird sofort losgehen. Dann muss ich weit weg sein. Ich hoffe wirklich, dass sie den ganzen Abend in der Stadt verbringen. Ich glaube, es ist Freitag. Sie haben unsere Gewohnheiten so komplett übernommen, dass es schwierig ist, einen Unterschied festzustellen. Weshalb sie ja überhaupt nur gewinnen konnten.

Der Zaun um das Grundstück geht mir nur bis zur Hüfte. Ich kann ohne Probleme hinüberklettern, geräuschlos. Die Einfahrt ist allerdings aus Kies und ich muss vorsichtig gehen, damit er nicht knirscht. Schließlich erreiche ich die Terrasse.

Die Fensterläden sind geöffnet. Das Sternenlicht ist hell genug, um zu erkennen, dass sich in den Zimmern nichts rührt. Das Paar hat es offenbar gern spartanisch und ich bin ihnen dankbar dafür. So ist es schwieriger für jemanden, sich zu verstecken.

Ich öffne zunächst das Fliegengitter und dann die Glastür. Beide lassen sich leise aufschieben. Vorsichtig setze ich auf den Fliesen einen Fuß vor den anderen, aber nur aus Gewohnheit. Ich muss nicht fürchten, dass hier jemand auf mich wartet.

Die kühle Luft fühlt sich himmlisch an.

Die Küche liegt links von mir. Ich kann die Arbeitsplatte aus Granit schimmern sehen.

Ich streife mir die Segeltuchtasche von der Schulter und wende mich als Erstes dem Kühlschrank zu. Als beim Öffnen der Tür das Licht angeht, erschrecke ich kurz, aber gleich darauf finde ich den Schalter und halte ihn mit meinem Zeh gedrückt. Ich kann nichts sehen, aber ich habe keine Zeit, zu warten, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ich taste mich voran.

Milch, Käsescheiben, Essensreste in einer Plastikschüssel. Ich hoffe, es ist das Gericht mit Huhn und Reis, das ich ihn zum Abendessen habe kochen sehen. Das essen wir heute Nacht.

Saft, eine Tüte mit Äpfeln, Babymöhren. Das ist auch morgen noch gut.

Ich laufe in die Speisekammer. Ich brauche Sachen, die länger halten.

Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, während ich so viel zusammenraffe, wie ich tragen kann. Mmmh, Chocolate Chip Cookies. Am liebsten würde ich die Packung sofort aufreißen, aber ich beiße die Zähne zusammen und ignoriere den Krampf in meinem leeren Magen.

Die Tasche wird zu schnell schwer. Damit kommen wir höchstens eine Woche aus, auch wenn wir es uns gut einteilen. Und mir ist nicht nach Einteilen zumute, mir ist nach Verschlingen. Ich stopfe Müsliriegel in meine Hosentaschen.

Eine Sache noch. Schnell gehe ich zur Spüle und fülle meine Wasserflasche auf. Dann halte ich den Kopf unter den Strahl und trinke direkt aus dem Hahn. Das Wasser macht komische Geräusche, als es in meinem hohlen Magen auftrifft.

Panik steigt in mir auf, jetzt, wo ich meine Aufgabe erfüllt habe. Ich will hier raus. Die Zivilisation ist tödlich.

Auf dem Weg nach draußen sehe ich auf den Boden, um mit meiner schweren Tasche nicht zu stolpern.

Deshalb bemerke ich die dunkle Silhouette auf der Terrasse auch erst, als ich schon die Hand am Glas habe.

Ich höre seinen gemurmelten Fluch genau im selben Moment, als mir ein ängstliches Quieken entschlüpft. Ich fahre herum, um zur Vordertür zu rennen, und hoffe, die Riegel sind nicht vorgeschoben oder zumindest nicht allzu schwer zu öffnen.

Ich komme keine zwei Schritte weit, bevor raue, grobe Hände mich an den Schultern packen und an seinen Körper pressen. Zu groß, zu stark für eine Frau. Die tiefe Stimme gibt mir Recht.

»Ein Mucks und du bist tot«, droht er schroff. Voller Entsetzen spüre ich, wie sich eine schmale, scharfe Klinge in die Haut unter meinem Kinn drückt.

Das verstehe ich nicht. Ich dürfte eigentlich keine Wahl haben. Wer ist dieses Monster? Ich habe noch nie von einem gehört, das das Gesetz bricht. Ich antworte auf die einzig mögliche Weise.

»Na los«, zische ich zwischen den Zähnen hervor. »Tu’s einfach. Ich will kein dreckiger Parasit werden!«

Ich warte auf das Messer und mir bricht das Herz. Jeder Herzschlag hat einen Namen. Jamie, Jamie, Jamie. Was wird jetzt aus dir?

»Ganz schön gerissen«, murmelt der Mann und es klingt nicht so, als würde er mit mir sprechen. »Muss eine Sucherin sein. Also ist das hier eine Falle. Woher wussten sie davon?« Der Stahl verschwindet von meinem Hals, nur um von einer eisernen Faust ersetzt zu werden.

Ich bekomme kaum noch Luft.

»Wo sind die anderen?«, fragt er, während er zudrückt.

»Ich bin allein!«, krächze ich. Ich darf ihn bloß nicht zu Jamie führen. Was wird Jamie tun, wenn ich nicht zurückkomme? Jamie hat Hunger!

Ich ramme ihm meinen Ellbogen in den Magen – und das tut höllisch weh. Seine Bauchmuskeln sind genauso eisenhart wie seine Hand. Was äußerst seltsam ist. Um solche Muskeln zu bekommen, muss man entweder ein hartes Leben führen oder besessen sein, und auf die Parasiten trifft keins von beidem zu.

Er ächzt noch nicht mal bei meinem Schlag. Verzweifelt ramme ich ihm meinen Absatz in den Spann. Das trifft ihn unvorbereitet und er wankt. Ich reiße mich los, aber er packt meine Tasche und zieht mich wieder zu sich heran. Seine Hand umklammert erneut meinen Hals.

»Ganz schön rebellisch für einen friedliebenden Bodysnatcher, oder?«

Seine Worte ergeben keinen Sinn. Ich dachte, sie wären alle gleich. Aber ich vermute mal, dass es auch unter den Parasiten ein paar Durchgeknallte gibt.

Ich kratze und schlage um mich, um seinen Griff zu lockern. Meine Nägel erwischen seinen Arm, aber er umfasst meinen Hals nur noch fester.

»Ich bring dich wirklich um. Ich bluffe nicht.«

»Na, dann los, tu’s doch!«

Plötzlich keucht er und ich frage mich, ob irgendeine meiner kämpfenden Gliedmaßen ihn getroffen hat. Ich spüre allerdings keine neuen blauen Flecken.

Er lässt meinen Arm los und packt mich an den Haaren. Das war’s dann wohl. Jetzt schneidet er mir die Kehle durch. Ich mache mich auf die Messerklinge gefasst.

Aber seine Hand tastet an meinem Nacken herum, seine Finger fühlen sich rau und warm an auf meiner Haut. Der Griff um meinen Hals lockert sich.

»Unmöglich«, schnauft er.

Die Hand verschwindet wieder von meinem Nacken und irgendwas fällt klappernd zu Boden. Hat er etwa das Messer weggeworfen? Ich überlege, wie ich drankommen könnte. Vielleicht, wenn ich mich hinfallen lasse? Der Griff um meinen Hals ist jetzt locker genug, dass ich hindurchrutschen könnte. Ich glaube, ich habe gehört, wohin das Messer gefallen ist.

Er dreht mich zu sich herum, wobei er meinen Hals weiterhin umfasst hält. Ein Klicken ertönt und ein Lichtstrahl blendet mein linkes Auge. Ich keuche und versuche mich automatisch wegzudrehen. Aber die Hand umklammert meine Kehle. Dann strahlt mir das Licht ins rechte Auge.

»Ich glaub’s nicht«, flüstert er. »Du bist noch ein Mensch.«

Er nimmt mein Gesicht zwischen beide Hände. Bevor ich ausweichen kann, drückt er seine Lippen fest auf meine.