Seelensplitter - Michael Schöck - kostenlos E-Book

Seelensplitter E-Book

Michael Schöck

4,8

Beschreibung

Einst brachte die Macht eines Dämons Krieg über den Kontinent Materia. Seitdem verzehren sich dunkle Kräfte danach, ihn wieder zu befreien. Doch dafür benötigen sie den Schlüssel zu dem Gegenstand, der die Seele des Dämons bewahrt – ein uraltes Artefakt. Als drei befreundete Diebe aus der Villa eines mächtigen Magiers einen leuchtenden Edelstein stehlen, ahnen sie nicht, welche Konsequenzen dies haben wird. Denn der Frieden ist brüchig geworden. Nur der Seher Luriel ahnt, dass Materia vor einer erneuten zerstörerischen Bedrohung steht und versucht, die Seele des Dämons zu verstecken. Doch zu diesem Zeitpunkt werden er und die Diebesfreunde bereits gejagt.

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Seelensplitter - Erwachen

Taschenbuchausgabe 1. Auflage 12/2015Copyright ©2015 by Eisermann Verlag, Bremen Printed in Hungary 2015Illustrationen: Alexander KopainskiBildmaterial: Tischenko Irina / shutterstock.comUmschlaggestaltung: Legendary Fangirl DesignShutterstock.com |68636200|31874938|30873784Satz: Hendrik ProchnowLektor: Petra Lorenz

http://www.Eisermann-Verlag.deISBN: 978-3-946172-01-7

Für meinen Sohn und meine Frau

für ihre Liebe und Unterstützung

Michael Schöck

Seelensplitter

- Erwachen -

In dem Leichenberg regte sich eine Gestalt und sah benommen an sich herab. Sie bemerkte, dass sie von oben bis unten mit Blut beschmiert war. Ein stechender Schmerz durchzog ihren Körper. Sie war verletzt. Blut sickerte aus einer klaffenden Wunde am Bauch. Die Kreatur wusste, dass die Verletzung nicht tödlich war, sie würde verheilen. Was war geschehen? Ihre letzte Erinnerung war, dass sie gerade einem Menschen den Arm ausgerissen hatte und dann war da dieses grelle Licht. Es war so gleißend hell, dass die Kreatur geblendet wurde und jeden ihrer Gefährten auf dem Feld umwarf. Irgendeine Kraft wurde entfesselt, und sie war sich sicher, dass diese Kraft nicht gegen die Menschen gerichtet war.

Völlig verwundert stellte die Kreatur fest, dass die Schlacht nicht mehr tobte. Unter Schmerzen kroch sie über die vielen Toten hinweg, bis hin zum reglosen Körper ihres Anführers. Als sie feststellte, dass er tot war, brüllte sie ihren Zorn heraus. Sie blickte sich um. Hier und da bewegten sich noch einzelne Körper, aber ihre Gefährten waren alle tot. Nur Menschen schienen noch zu leben. Warum hatte sie überlebt?

Kurzerhand schnitt sie dem Leichnam ihres Anführers eine Kralle ab und verstaute sie in einem kleinen Lederbeutel. In wildem Zorn ergriff sie ein Schwert, das gerade in ihrer Nähe lag. Sie schleppte sich über das Schlachtfeld und tötete jeden menschlichen Körper, dem noch Leben innewohnte. Danach kroch sie den Hügel hinauf, nach wie vor schwer vom Kampf gezeichnet und sichtlich erschöpft. Die Kreatur wusste, dass sie von hier verschwinden musste. Sie kannte ihr Ziel, denn nur dort konnte sie unterkommen. Es gab nur diesen einen Ort, wo sie vorerst nicht auffallen würde. Sie wollte in diese Stadt.

Die Stadt der Tore.

Prolog

Mein lieber Junge,

hier sitze ich nun, beschützt und behütet im Palast meines Freundes, und schaue aus dem Fenster hinaus in die friedliche Natur. Ich sehe die Bäume und Sträucher, den kleinen Bach unten im prachtvoll angelegten Park. Sehe viele Vögel, die zwitschernd durch die Lüfte gleiten. Es ist so perfekt, so ruhig, so friedlich. Und doch sieht es in mir ganz anders aus. Denn du bist irgendwo da draußen, und ich weiß nicht, wie es dir geht. Große Schuldgefühle plagen mich deswegen. Ich bin in der Überzeugung hierhergekommen, das Richtige zu tun, aber nun bin ich mir alles andere als sicher.

Ob ich dich jemals wiedersehen werde? Ich hoffe es so sehr. Wenn nicht, so sind diese Zeilen allein für dich bestimmt. Sie sollen kein Abschiedsgruß sein und ich will nicht sentimental werden. Aber ich möchte, dass du verstehst, was ich damals tat, warum ich es tat und wie alles begonnen hat. Wenn ich sterben sollte, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, dir die Wahrheit zu sagen, so wird mein Freund dir alles erzählen. Ich weiß, dass er es tun wird.

Wenn ich an damals denke, dann ist es, als wäre es erst gestern gewesen. Ich stehe neben mir selbst und betrachte mich, und je länger ich darüber nachdenke, desto schwerer fällt mir die Unterscheidung von Vergangenheit und Realität. Dabei ist es schon zwanzig Jahre her, zwanzig lange Jahre …

Damals fing alles mit einem Ende an. Es war still, totenstill. Noch nie hatte ich eine derartige Stille erlebt. Nicht einmal jetzt, wo ich endlich in Frieden leben könnte und die Entscheidungen anderen überlassen sollte. Der Wind zerrte an meiner Kleidung. Ich spürte die Hitze der unzähligen Feuer auf dem riesigen Schlachtfeld. Eine Hitze, die so unbeschreiblich war, dass es mir auch jetzt wieder eiskalt den Rücken hinunterläuft. Ich hatte den eigenartigen Geschmack von Blut in meinem Mund, von meinem Eigenen und jedem Einzelnen, der an diesem Tag sein Leben gelassen hatte. Ich spürte den beißenden Geruch von pechschwarzem Rauch, der in meinen Lungen brannte, und roch die Mischung aus Panik, Schweiß und Exkrementen. Der Duft von Fäulnis und verbranntem Fleisch war allgegenwärtig. Ich werde diesen Geruch wohl niemals vollkommen aus meinen Erinnerungen verbannen können.

Nur wenige Stunden zuvor hatte ein heilloses und ohrenbetäubendes Chaos in der Hochebene von Materia geherrscht, direkt an den Ausläufern des Drachengebirges. Es war eine gewaltige Schlacht. Zu Tausenden waren sie gekommen, diese verdammten Ausgeburten, angeführt von einem Dämon, einem Fürsten der Hölle. Niemand von uns hatte wirklich daran geglaubt, dass wir siegen würden, als wir die Heerscharen von Bestien erblickten. Am wenigsten wohl ich selbst. Und dann stand ich da, zusammen mit meinen Freunden, und blickte hinab auf den Berg aus Leichen. Ein offenes Massengrab, wie es diese und viele andere Welten wohl noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Ich atmete ruhig ein und aus, versuchte die Stille aufzusaugen, doch es gelang mir nicht. Und meinen Freunden genauso wenig.

Sicher, wir hatten gesiegt, aber zu welch einem horrenden Preis. Ich weiß damals wie heute nicht genau, wie viele wir waren, die sich gegen diesen scheinbar übermächtigen Feind stellten, aber ich sehe erneut all die Leichen vor meinem geistigen Auge und weiß, dass fast niemand unbeschadet aus dem Gemetzel entkommen war. Die meisten waren tot, lagen mit verdrehten Leibern und angsterfüllten sowie weit aufgerissenen Augen zwischen all den toten, klumpigen Körpern der Höllenbrut. Diejenigen, die das Pech hatten, noch am Leben zu sein, erfüllten die Luft mit einem leisen, klagenden Wimmern, welches vom Wind in alle Himmelsrichtungen getragen wurde. Doch niemand wollte darauf hören. Es war einfach still.

Wenn man sich den Himmel betrachtete, konnte man kaum glauben, dass es helllichter Tag sein sollte. Als unser Feind über den Hügelkamm marschiert war, hatte er die Nacht mit sich gebracht. Eine Schwärze, die alles zu verschlingen vermochte. Der Himmel hatte sich innerhalb weniger Sekunden verdunkelt und die Wolken blutrot gefärbt.

Auch als die Schlacht vorüber war und ich erneut zum Himmel blickte, war er noch wolkenverhangen. Er trug eine unnatürliche Dunkelheit in sich und trommelte Melodien von Tod und Vernichtung. Hier und da zuckten noch vereinzelte Blitze hervor, die die roten Wolken aufrissen und blutende Wunden hinterließen. Schon da hätte uns allen klar sein müssen, dass dieses glückliche Ende die Wahrheit trübte …

Viele gaben damals den Orks die Schuld. Immerhin waren sie es, die gelernt hatten, sich dunkler Magie zu bemächtigen und ein Portal zur Hölle zu öffnen, direkt in das Herz von Barathrum. Wie, das war uns nach wie vor ein Rätsel, denn bislang waren Orks nicht für ihre magischen Künste bekannt gewesen. Letztendlich spielte es aber auch keine Rolle mehr. Eines dieser Mistviecher hatte es jedenfalls geschafft, und allein das war schon Grund zur Sorge. Es konnte nur bedeuten, dass ihre Schamanen lernten, echte Magie zu wirken. Vielleicht wussten die Orks ja gar nicht, was genau sie da getan hatten. Oder doch? Immerhin wurden sie, soweit ich weiß, von den Bestien verschont. Als Dank dafür, dass man ihnen den Weg auf diese Welt geebnet hatte? Wohl kaum. Vermutlich wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch die Orks den unbändigen Hass der Höllenbrut zu spüren bekamen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Dämon die Orks als ebenbürtig angesehen hätte. Hatte also nicht doch die Nachlässigkeit und Überheblichkeit der Menschen dazu geführt, dass diese Hölle über sie hereinbrach?

Man könnte sich darüber streiten und man hätte nie eine befriedigende Antwort erhalten, aber letztendlich wurde die Arroganz der Menschen nun mit Blut bezahlt und der Blutzoll war wahrlich hoch. Innerlich empfand ich zu meiner eigenen Schande Genugtuung, dass es so gekommen war, da über viele Jahre hinweg niemand auf mich hören wollte. Die Menschen waren sich ihrer Sache schon immer zu sicher gewesen und hielten sich für unbesiegbar. Zumindest auf Materia. Hier war die Herrschaft der Menschen noch jung, aber dafür waren sie umso überheblicher. Was sind schon dreihundert Jahre Regentschaft? Nichts! Ich hatte immer gehofft, dass die Menschen durch diesen Krieg vorsichtiger werden würden, aber wenn ich auf mein Herz höre, zweifle ich daran. Auch heute noch.

Aber ich schweife ab. Warum sich über etwas Gedanken machen, was nicht mehr umzukehren ist? Eine gute Frage, nicht wahr? Vielleicht kannst du sie ja eines Tages beantworten. Lass mich zurückblicken auf die vielen Feuer und die vielen Leichen. So viele Tote! War es wirklich ein Sieg? Wir hatten zwar die Scheusale getötet, aber ihr Anführer war nicht tot. Nur seine fleischgewordene Hülle hatten wir zerschmettert. Ich sah an mir herab. Meine Kleidung war von Brandlöchern übersät und meine Hände wiesen große Brandblasen auf. Fast wäre ich bei den Kämpfen gestorben. Aber eben nur fast.

Plötzlich stand sie da vor meinen Füßen. Diese kleine silberne Truhe. Das Symbol unseres Triumphes. Es handelte sich dabei nicht um eine gewöhnliche Truhe. Unter großen Anstrengungen, mit stärkster Magie erschaffen, barg sie eine eigene Welt in sich, ein Gefängnis für die Seele des Dämons. Mehrere Tage Meditation und etliche Zauber waren nötig gewesen, um sie zu erschaffen. Fast wäre ich dabei wahnsinnig geworden, noch nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares hergestellt. Und ich spürte noch immer die kräftezehrenden Auswirkungen, doch es hatte sich gelohnt. Wir schafften es tatsächlich, die Seele des Dämons zu fangen und zu verbannen. Auf einen Splitter der verlassenen Welten, wo er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Zumindest hofften wir das. Denn um ihn zu fangen, musste auch ich dunkle Magie anwenden, und das war immer gefährlich und wird es stets sein. Ich weiß nicht, welche Wege du noch einschlagen wirst, aber ich bitte dich schon jetzt, hüte dich vor dem Gebrauch von Magie! Erst recht vor dunklen und bösen Zaubern! Zunächst habe auch ich mich gesträubt, denn dunkle Magie ist nie sicher. So chaotisch und wankelmütig sie ist, so liegt in jedem dunklen Zauber ein Hintertürchen. Sie ist heimtückisch und verführerisch, zu schnell kann man sich von ihr blenden lassen. Kein Wunder, dass sich die Orks über kurz oder lang dieser Magie hingaben. Und umso Verwunderlicher, dass die Menschen mit ihrem schwachen Geist sich noch nicht haben blenden lassen. Oder doch? Bei dem Gedanken wird mir ganz mulmig. Aber so weit sind wir hoffentlich noch nicht. Die Tatsache, dass es immer noch eine Möglichkeit gab, die Seele des Dämons wieder aus der Truhe zu befreien, war ein Geheimnis, wovon ich bislang nur wusste. Und so sollte es auch bleiben. Es ist besser, nicht jedes Wissen weiterzugeben, auch nicht an die engsten Weggefährten. So habe ich es schon immer gehandhabt. Auch das merke dir: Jeder noch so gute Freund kann dir mit seinem Wissen über dich das Genick brechen! Er muss es nicht einmal wollen, und doch passiert so etwas Tag für Tag. Lerne, gutmütig und gleichzeitig unnahbar zu sein. Glaub mir, es ist schwieriger, als du denkst. Und es wird dir Schmerzen und Kummer bereiten. Mehr als einmal. Selbst ich bin darin bis heute nicht perfekt.

Traurig blickte ich damals meine drei Gefährten an. Sie wären für mich in den Tod gegangen, blind konnte ich ihnen vertrauen. Und doch teilte ich dieses Geheimnis mit niemandem von ihnen. Denn auch wenn dieser Zauber den Sieg brachte, fühlte ich mich noch immer unbehaglich. Ständig hatte ich das Gefühl, etwas übersehen zu haben.

Zu viert standen wir damals dort oben auf dem Hügel, über den zuvor die Bestien gekommen waren. Fast eine Stunde standen wir alle schweigend da, unsere starren Blicke auf die zerfetzten Körper gerichtet. Manche der Bestien waren bis zur Unkenntlichkeit zerrissen und komplett entstellt. Und in fast jedem toten Blick lag so unendlich viel Angst. So viel, dass es vermutlich noch für mehrere Generationen reichen würde.

Zwei meiner Freunde verabschiedeten sich schließlich von uns. Es waren die beiden, die geholfen hatten, den Dämon zu fangen, indem sie ihn auf dem Schlachtfeld ablenkten und, wie ich vermute, mehr als nur ihr Leben riskierten. Der Dritte unter uns war der Einzige, der es körperlich mit der bösen Übermacht hatte aufnehmen können. Er war es gewesen, der den tödlichen Schlag gesetzt hatte, als ich am Ende den dunklen Bannzauber wob, der dem Dämon seine Seele entriss und in die Kiste sperrte.

Ein letztes Mal sahen wir einander an. Zufrieden, aber auch erschöpft. Wir alle hatten die traurige Gewissheit, dass wir uns wohl nie wieder sehen würden – zu viel war geschehen und zu viel hätte wieder geschehen können. Wir würden erst wieder vereint sein, wenn eine neue Zeit der Sorgen hereinbrechen würde. Und wir alle hofften insgeheim, dass dies nicht geschah, solange wir noch lebten. Vielleicht bin ich deshalb hierher gereist. Denn während ich dir diese Zeilen schreibe, kann ich nebenbei in die ruhige Natur hinausschauen, einen guten Kräutertee genießen und zwischendurch warmes, duftendes Gebäck knabbern. Vielleicht bin ich auch einfach nur hier, um sie nicht mehr wiedersehen zu müssen. Aus purer Angst …

Wir reichten uns die Hand, wortlos und ohne auch nur die kleinste Regung in unseren Gesichtern. Der eine würde in die Stadt der Menschen gehen und darauf achten, dass sich die Bewohner von Materia in Zukunft aufmerksamer und umsichtiger verhalten würden. Der Zweite kehrte nach Seldona, in die Stadt der Tore, zurück. Sie reisten wieder in ihre Heimat. Die Gefahr für sie und alle anderen Welten war vorerst abgewehrt.

Ich blickte ihnen nach, bis ihre Umrisse am Horizont nur noch schemenhaft wahrnehmen konnte. Dann stand ich dort nur noch allein mit meinem besten und ältesten Freund. Ihm vertraute ich noch mehr als den anderen beiden. Mehrere Minuten lang standen wir schweigend da, sahen herab auf das zerstörte Land, welches vor wenigen Stunden noch so voller Leben gewesen war. Ein idyllischer Landstrich, der zu weiten Ausritten entlang der schneebedeckten Gebirgsausläufer einlud. In meiner Jugend hatte ich das oft gemacht und die Berge hatten mich immer begleitet. Welche Jahreszeit auch gerade war, die weißen Spitzen der Berge waren stets zu sehen. Es war ein majestätischer Anblick, geschaffen für alle Zeiten. Doch selbst die schneebedeckten Gipfel waren von schwarzroten Wolken umschlungen und erinnerten an die blutigen Gebisse der unzähligen Toten. Man konnte denken, dass selbst diese riesigen Zeugen der Zeit ihren Tribut zahlen mussten. Wehmütig blickte auch mein Freund zu den Gipfeln hinauf, denn sie waren seine Heimat. Er atmete laut schnaubend aus, schüttelte einmal den Kopf, so als wolle er seine Gedanken ordnen, und blickte mich dann traurig an.

Dann fragte er mich, ob ich es tun würde.

Ich wusste, dass er mich genau das fragen würde, obwohl ich dieselbe Frage vor der Schlacht schon einmal beantwortet hatte.

Ich sagte ihm, dass er genau wisse, dass ich ihm mein Wort gegeben hatte und daran auch festhalten würde. Ich sagte ihm, dass er bereits bei mir wäre und ich auf ihn aufpassen würde. Dass er sich keine Sorgen zu machen bräuchte, weil es ihm gut ginge. Und dass wir ihn nicht bei den Menschen lassen könnten, weil sie zu einfältig und machthungrig seien. Niemand wusste, was geschehen würde, sollten sie es herausfinden. Das Risiko war einfach zu groß.

Er gab zu bedenken, dass auch ich ein Mensch sei. Aber ich konnte ihn besänftigen und ihm klarmachen, dass ich anders war. Ich versprach ihm hoch und heilig, ihn so gut es ging, von der Außenwelt abzuschirmen. Dass es ihm an nichts mangeln und er ein gutes Leben führen würde.

Er segnete meine Worte mit einem Nicken ab. Heute weiß ich, dass ich am Ende doch versagt habe. Leider. Doch ich möchte fortfahren.

So standen wir wieder eine ganze Zeit lang einfach nur da. Allmählich stieg uns der beißende Geruch von Tod und Verwesung immer stärker entgegen. Ich musste mir ein Tuch vor Mund und Nase halten, damit mir nicht übel wurde, so sehr stank es. Die ersten Krähen fingen an, hoch über dem Leichenberg zu kreisen, in der Hoffnung auf eine reiche Ausbeute. Angewidert blickte ich zu meinem alten Freund, doch der starrte nur gefühllos in das Tal und schnaubte verächtlich.

Dann kam die zweite Frage, die mir zu beantworten Bauchschmerzen bereitete. Er wollte wissen, was ich mit der Kiste tun wolle. Diese verfluchte Kiste. Ich nahm sie an mich, weil ich der Meinung war, sie wäre in seiner Welt nicht sicher. Irgendwie betrachtete ich wohl diese ganze Welt als unsicher. Auch wenn er argumentierte, mit den Schwächlingen in seiner Welt mühelos fertig zu werden. Kaum hatte ich meine Gedanken ausgesprochen, schwenkte sein Blick ruckartig zu mir und dann auf die Kiste. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und eine gewisse Boshaftigkeit lag darin.

Ich beruhigte ihn – er wisse genau, dass ich das nie behaupten oder an seinen Fähigkeiten zweifeln würde. Hätte ich das getan, wäre diese Schlacht verloren gegangen. Aber so schwach die Menschen sein mochten, so gefährlich konnten sie auch werden. Wenn ich bedenke, was sie in den wenigen Jahrhunderten alles erreichten, trotz ihrer offensichtlichen Schwächen. Und nicht zuletzt die Orks. Niemand hätte für möglich gehalten, dass sie die dunkle Kunst der Magie erwerben würden und doch war es so gekommen. Nur ihretwegen standen wir nun auf diesem Hügel. Nein, ich wollte die Kiste mitnehmen und sie an einem sicheren Ort verwahren. Weit weg von diesem Tal des Todes und auch weit weg von meinem ältesten Freund.

Er blähte seine Nüstern und schnaubte laut, sodass Staub aufgewirbelt wurde, der sich in kräuselnden Bewegungen wie kleine Wirbelstürme den Hang hinunter bewegte. Offensichtlich akzeptierte er meine Begründung, aber teilen wollte er meine Meinung nicht. Aber ich kannte ihn und wusste, dass er mir nicht böse war. So schnell er erregt war, so schnell beruhigte er sich auch wieder.

Ich musste ihm versprechen, seinem Sohn nie von ihm zu erzählen. Es sei besser für alle. So ein Narr.

Ich fragte ihn noch einmal eindringlich, ob er das wirklich wolle. Denn ich war mir sicher und bin es auch heute noch, dass er von seiner Forderung nicht vollkommen überzeugt war, obwohl er sehr heftig darauf reagierte, wie ich zugeben muss. Denn er bejahte es dermaßen vehement, dass es keine Widerrede gab. Ich wies ihn noch dezent darauf hin, dass mein neuer Zögling ja auch irgendwann einmal erwachsen werden und anfangen würde, Fragen zu stellen. Doch er schrie nur, dass ich mir dann etwas einfallen lassen müsse. So wie ich es immer tat.

Er brüllte mich derart an, dass selbst die Krähen vor Schreck aufgescheucht wurden, doch ich nahm es ihm nicht übel. Immerhin war er der Einzige, der trotz des Sieges nur verloren hatte und viel aufgeben musste. Jeder Sieg hatte seinen Preis, das wussten wir beide. Zumal es ungerecht erschien, dass nur einer dafür zahlen musste, aber so war das nun einmal. Regungslos hielt ich seinem wütenden Blick stand. Ich wusste, ich würde mir etwas einfallen lassen, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt noch keinen blassen Schimmer hatte, was.

Also gab ich mein Versprechen. Und er bat mich um Vergebung. Dafür, dass er mich angeschrien hatte und dafür, dass er diese Bürde bei mir ablud. Ich war nie böse auf ihn gewesen und hatte ihm bereits vergeben, als er seine Worte aussprach. Inzwischen muss wohl ich ihn um Vergebung bitten, denn mit diesem Brief breche ich meinen Schwur. Aber vielleicht habe ich das auch schon viel früher getan. Innerlich, in meiner Seele, ohne es zu wissen.

Wie auch immer, mein Freund drehte sich um und verschwand.

Noch lange blickte ich ihm nach. So lange, bis ich seinen Körper in den schwarzen und blutroten Wolken verschwinden sah. Es war ein Gefühl, als hätte der Himmel ihn regelrecht verschluckt. Ja, es war besser, wenn wir uns nie wieder sahen und so denke ich bis heute. Natürlich machte mich das auch unglaublich traurig, denn ich realisierte, dass er in diesem Moment nicht der Einzige war, der heute für den Sieg teuer bezahlen musste. Jeder hatte Verluste hinnehmen müssen. Auch ich.

Benommen und mit Tränen in den Augen hob ich damals die kleine silberne Kiste auf und starrte sie vorwurfsvoll an. Hoffentlich war es das wert, dachte ich mir. Ich verließ den Hügel, wandte mich vom Schlachtfeld ab und ließ den Tod hinter mir. Auf dem Weg zur Brücke blickte ich mich nicht mehr um. Ich hatte wirklich genug von all dem. Neue Aufgaben und ein hoffentlich ruhigeres Leben warteten auf mich. Die Gefahr war gebannt. Zumindest hoffte ich das.

Und es kam, wie es kommen musste. Denn wie ich heute weiß, waren meine Ängste berechtigt. Ich hatte etwas übersehen. Diese Vision überkam mich vor ein paar Wochen und ich will und darf sie dir nicht vorenthalten. Seitdem hat sich so vieles verändert …