Seelenverrat - Roukeiya Peters - E-Book

Seelenverrat E-Book

Roukeiya Peters

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Beschreibung

Hexenseelen sterben nicht Die junge Hexe Felicity tritt als Seelentransporteurin in die Fußstapfen ihrer Mutter. Neben der Herstellung von Elixieren, die in ihrem Café verkauft werden, kümmert sie sich darum, dass die verstorbenen Hexen und Hexer ihren Platz im Jenseits einnehmen. Dies ermöglichen besondere Bücher, die Felicity herstellt, um die Seelen der Verstorbenen zum Wunschort zu transportieren. Als der Hexer Niclas auftaucht und Felicity beschuldigt, die Seele seines Onkels ohne seine Zustimmung in den Tod befördert zu haben, kann die Hexe dies nicht auf sich sitzen lassen. Doch das Buch von Kaspar Eisenmann ist unauffindbar und Felicity ahnt, dass sie in ein böses Spiel verwickelt wurde Softcover mit Farbschnitt

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Seitenzahl: 417

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Seelenverrat

Roukeiya Peters

Copyright © 2023 by

Drchenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Sarah Nierwitzki – Wortkosmos

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-790-2

Alle Rechte vorbehalten

Contentwarnung:

Verlust eines geliebten Menschen, Trauer, Blut, Waffen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Alte Sprache

Danksagung

Drachenpost

Für jene,

die geliebte Seelen loslassen mussten

Kapitel1

Summend saß Felicity an ihrem Schreibtisch und mischte das Blut von Clemens Lehmann mit den Fingernägeln, die sie zuvor im Mörser zerkleinert hatte. Sie hielt das Reagenzglas in die Höhe und schwenkte es im Kreis, stellte es dann in den Halter und griff nach einer weißen Dose.

»Das wollte ich ungern tun, Clemens«, sagte sie. » Aber Sie wollen es anscheinend nicht anders.«

Mit einem Plopp öffnete sie den Deckel und ein blaues lebloses Auge sah der jungen Frau im schwarzen Kittel entgegen. Mit ihren Latexhandschuhen griff sie nach dem Körperteil und hielt es über das Gemisch.

»Nur eine Träne, mehr wollen wir nicht«, nuschelte sie sich selbst zu.

Ihre grünen Augen glühten, und durch ihre Finger fuhr ein Kribbeln. Magie, die die letzte Träne von Herrn Lehmann hervorlockte. Die durchsichtige Flüssigkeit fiel in das Blut. Dampf stieg zischend empor und verflüchtigte sich im Raum, der nichts barg außer Schränke mit gläsernen Behältnissen, gefüllt mit unterschiedlichsten farbigen Flüssigkeiten – Felicitys Arbeitsplatz. Die hellen Farben an den Wänden und auf dem Boden strahlten Sterilität aus, ihr Schreibtisch glich eher dem Abklatsch einer metallischen Bahre. Von oben drang leises Stimmengewirr zu der Hexe, das sie die meiste Zeit ausblendete.

»Tadaa«, flüsterte sie und legte das Auge wieder zurück.

Das blutige Gemisch, das aus den Überresten von Clemens Lehmann bestand, blubberte leise vor sich hin und war bereit für den Seelentransport. Anhand der Reaktion der Flüssigkeit wusste Felicity, dass es glücken würde.

Das goldene Buch lag schon parat und glänzte im Licht der Deckenlampe. Sie hatte sich alle Mühe gegeben. Das tat sie immer. Ein Klopfen riss ihren Blick vom Buch.

Ihre Cousine stand im Türrahmen und lächelte schmal. Ihre glatten braunen Haare reichten ihr bis zur Taille. »Seine Familie ist da.«

Die Hexe nickte. »Haben sie den Tee getrunken?«

»Alle mit dem üblichen Schuss. Nur sein Bruder hat verzichtet.«

Es gehörte zu ihrem Seelentransportservice, den Angehörigen einen Tee mit einer gewissen Nuance anzubieten. Selbstverständlich kein gewöhnlicher Alkohol, für so etwas war sich die Hexe zu schade. Die Trauernden durften sich aussuchen, mit welchem Tropfen ihr Tee angereichert wurde. Ob Sehnsucht, Liebe, Hoffnung oder Frieden, es war so gut wie alles möglich. Normalerweise wählten die Angehörigen Letzteres. Allerdings hatte Felicity auch schon einige Partnerinnen und Partner betreut, die sich von der Sehnsucht mitreißen lassen wollten. Hierbei achteten sie speziell auf die Dosierung. Was beim Frieden nicht genug sein konnte, war bei der Sehnsucht besonders gefährlich.

»Danke, Lexi«, antwortete Felicity und zog ihre Handschuhe aus. Sie hängte ihren Kittel an einen der Haken nahe der Tür und befreite ihre roten Haare aus dem Zopf. Glatt fielen sie über ihre Schulter.

Lexi seufzte und sah auf den Schreibtisch. »Ich bin so froh, dass ich diesen Teil unseres Familienerbes nicht weiterführen muss und du das übernimmst.«

Felicity lächelte. »Tante Darcy war nie scharf darauf, mit Toten zu arbeiten. Ich schätze, diese Einstellung hast du von ihr.«

Lexi lachte. »Eindeutig. Verglichen mit ihr war Tante Cathina dafür geboren. So auch du.«

Felicitys Mutter Cathina liebte ihre Arbeit. Doch genauso hatte sie sich danach gesehnt, mit ihrer Freundin Elsie und ihrem treuen Besen eine Weltreise anzutreten.

In der Vergangenheit hatte sich Feli von ihrer Mutter einiges abgeguckt, den Umgang mit Trauernden in die Wiege gelegt bekommen und das Ritual zum Transport von klein auf gelernt. Was bei vielen Leuten für Unbehagen sorgte, war für Felicity Normalität. Sie hatte keine Angst vor dem Tod. Es war eher die Furcht vor der Trennung und der Trauer, jedoch nicht die Sorge davor, was nach dem Ableben passierte. Das Leben danach wurde geformt, und man musste darauf vertrauen, dass die eigenen Wünsche von Seelentransporteuren wie Felicity umgesetzt wurden. Diese Verantwortung trug die Hexe mit Stolz.

Sie zupfte sich ihren schwarzen Rock und Pullover zurecht und griff nach dem goldenen Buch und dem Reagenzglas, in dem das Gemisch vor sich hin zischte.

»Ach was. Ich habe es nun mal gelernt.« Sie winkte ab und schnipste mit den Fingern.

In Windeseile zerbrach der Raum in einzelne Teile, als wäre er ein riesiger Spiegel.

Lexi und Felicity standen in Dunkelheit da, bis sich vier neue Wände um sie herum aus dem Boden emporhoben. Drei Türen bildeten sich. Eine, die zu ihrem Café Spellman’s führte, eine weitere zum Seelenarchiv und eine zum Warteraum für die Trauergesellschaft. In Sekunden rollte sich der weiße Marmorboden unter ihnen aus und ein runder Holztisch schälte sich aus der Erde. Auf ihm ein breiter Buchständer aus Eiche, neben ihm eine schwarze Halterung aus Eisen, in die Feli das Reagenzglas steckte. Behutsam schlug sie das Buch auf und legte es auf den Ständer.

Farbrollen schwebten an den Wänden auf und ab, um den Raum in Weiß anzustreichen. Die Decke puzzelte sich zusammen und ein schwarzer Kronleuchter drang durch sie hindurch. Schwankend kam er zum Stillstand. Der Geruch von Weihrauch verbreitete sich sanft.

Lexi verfolgte das Geschehen. Langsam schüttelte sie den Kopf und sah zu Felicity hinüber. »Manchmal frage ich mich, ob ich eine richtige Hexe bin.« Sie blickte zum Buch. »Ich wäre zu alldem nicht in der Lage. Mutter Alwina hat dich wirklich mit ihrer Macht gesegnet, Feli.«

»So viel sie mir zusprechen mag«, erwiderte Felicity automatisch.

»So viel sie dir zusprechen mag.« Lexi sah zur geschlossenen Tür. »Ich werde die Angehörigen holen. Die Wirkung des Tees sollte eingesetzt haben.«

»Ich danke dir.« Feli zögerte und drehte sich zu ihrer Cousine, die bereits auf die Tür zusteuerte und sich umdrehte, als sie ihren Namen sagte. »Du bist eine wunderbare Hexe. Die Talente jeder Hexe und jedes Hexers liegen in unterschiedlichen Bereichen. Mutter Alwina wusste, dass das nötig sein wird. Wenn wir zu allem fähig wären, würde es doch schnell langweilig werden, oder?« Sie lächelte die Frau an, die für sie mehr eine Schwester als eine Cousine war.

Lexi nickte. »Danke, Feli.« Sie griff nach dem Türknauf, hielt jedoch inne. »Hast du meine Nachricht gelesen?«

Felicity erstarrte. Sie presste die Lippen zusammen und musterte ihr Gegenüber. Sie hatte gehofft, dass es sich erledigt hatte. Dass es ein Irrtum war, sich jemand ein Scherz erlaubt hatte. Einen äußerst makaberen, aber dennoch. Sie hatte sich selbst zum Narren gehalten. »Es ist kein guter Moment, darüber zu sprechen.«

Lexi seufzte. »Warum habe ich das Gefühl, dass es keinen guten Moment gibt?«

»Weil du weißt, dass deine Vorgehensweise ungewöhnlich ist.«

»Und du dich immer penibel an alles hältst.« Sie warf es ihr vor, als wäre es etwas Negatives, doch Felicity war es wichtig. Es ging hier schließlich um Hexenseelen.

»Du weißt, dass das alles hier kein Scherz ist. Wie respektlos wäre es, wenn ich das Protokoll nicht ernst nehmen würde?« Felicity schluckte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Hör zu, Lexi. Ich will mich nicht streiten. Du wirst deine Gründe haben, aber du weißt auch, dass ich mich auf jede Seele, die ich transportiere, einlassen möchte. Und jetzt geht es um Clemens Lehmann, okay?«

Lexi nickte steif. »Ich hole seine Angehörigen.«

Kapitel2

Trauer benebelte den Raum. Das Gefühl zupfte an ihren Gliedern, doch Feli blieb zum Wohl von Herrn Lehmanns Familie stark. Wie immer sagte sie ein paar nette Worte zu dem Hexer und sah in die traurigen Gesichter seiner Angehörigen.

Seine Frau trug einen dunklen Schleier, vermutlich um ihre Augen zu verdecken, und schniefte immer wieder in ein Stofftaschentuch.

Die Hexe nahm das Reagenzglas in die Hand und stellte sich vor das aufgeschlagene Buch, zwischen der Familie und ihr nur noch der kleine Holztisch.

»So kehrt Clemens Lehmann heute zurück in Mutter Alwinas Hände, wo er für immer ein heiliges Leben führen wird.«

»So viel sie ihm zusprechen mag«, murmelte die Trauergesellschaft, und Feli neigte das Glas, um die Überreste des Hexers über das Buch fließen zu lassen.

»Hyan un mati … hyan un mati«, wisperte Felicity wie ein Mantra, während die rote Flüssigkeit dampfend in die Buchseiten drang und schließlich makelloses cremefarbenes Papier hinterließ.

Die Hexe visierte das Buch an und spiegelte die Seiten vor ihrem inneren Auge. Sie sah wieder zu der Familie hoch.

Frau Lehmann, ihre Tochter, so alt wie Feli selbst, und der Bruder des Verstorbenen hielten die Luft an und blickten ihr flehend in die Augen. Obwohl die Hexe allen Angehörigen vorhersagte, dass der Transport immer gelang, schien sich das Gerücht zu halten, dass Mutter Alwina einige Seelen von sich stieß.

Im Laufe der Zeit entwickelten die Seelentransporteure ein besseres Gefühl dafür, wie die Beschaffenheit des Elixiers sein musste, um die Seele heil zum Wunschort zu bringen. Es gab einige Horrorgeschichten aus dem Mittelalter, in denen der Geist des Verstorbenen aus dem Buch gedrungen war und ruhelos durch die Gegend spazierte. Gleichwohl hielt sich das Gerücht, dass die Seelen Körper übernahmen, sodass ein Exorzismus durchgeführt werden musste. Feli wusste allerdings nicht, ob es mehr der Fantasie der Hexengemeinschaft entsprang, als dass es der Wirklichkeit entsprach.

Felicitys Sichtfeld verschwamm leicht, in ihrem Kopf spürte sie einen Druck. Sie atmete ein, schloss die Augen und atmete aus. Sie gestattete der fremden Seele einen letzten Augenblick in der Lebendwelt. Ihre Lider öffneten sich, und es fühlte sich an, als säße sie in ihrem eigenen Körper in der zweiten Reihe. Es machte Feli keine Angst, weil sie wusste, dass sie nur ein Wort davon entfernt war, wieder die Kontrolle zu gewinnen. Die Hexe lächelte die Trauergemeinschaft mitfühlend an, wusste, dass sie nun die Augen des Verstobenen in ihren eigenen erblickten. Als sie ihre Lippen öffnete, drang eine tiefe Stimme aus ihr.

»Meine Lieben. Ich kann es kaum glauben, dass die Zeit gekommen ist, doch in meinem Jenseits lässt es sich gut leben. Mutter Alwina, so viel sie mir zusprechen mag, war gütig zu mir. Ich habe alles, was ich brauche. Ich werde euch vermissen, aber trauert nicht lang um mich. Die Sonne strahlt mich an, die Wellen rauschen und«, ein fremdes Lachen donnerte durch Felicitys Kehle, »eine Bloody Mary steht an der Strandbar für mich bereit. Die Seelenfrau hat exzellente Arbeit geleistet, ihr solltet gutes Trinkgeld geben.« Es mündete in einem traurigen Lachen. »Doch nun wird es Zeit. Für euch, zu leben, für mich, den Frieden zu genießen. Passt auf euch auf.«

Felicity schloss ihre Augen und trat wieder in die erste Reihe. Ihr Kehlkopf wurde wieder zu ihrem, sie schluckte und atmete durch, bevor sie abermals zu den Angehörigen sah, die sich umarmten und die Tränen wegtupften.

Frau Lehmann nahm ihren Schleier ab, kam um den Tisch herum und drückte Feli fest. »Sie sind ein Schatz, wissen Sie das? Danke.« Ihre braunen Haare waren in einem strengen Dutt gefangen, ihre Wangenknochen wirkten ungewöhnlich hoch und ließen sie ernst erscheinen. Doch auf ihrem Gesicht lag pure Dankbarkeit, auch wenn die Trauer wie Nebelschwaden in ihren Augen hing.

»Sehr gern, Frau Lehmann. Lassen Sie uns Ihren Mann gemeinsam in das Seelenarchiv bringen.« Die Hexe trat einen Schritt zurück.

Wie gerufen, erschien Lexi im Türrahmen. Zwischen ihnen eine Schwere, die Feli kaum aushielt. Doch in der Regel wurde die Beisetzung im Archiv von zwei Menschen bezeugt. Wenn im Spellman’s allerdings der Besen tanzte, kam es vor, dass Feli allein mit den Familien war. Sobald der Vorgang ausschließlich von ihr bestätigt wurde, war es ihr wichtig, dass die Kameras einwandfrei funktionierten. Neben diesen gab es Schutzzauber, um die Bücher in Sicherheit zu wissen. Die Familien sollten das Gefühl bekommen, dass die Seelenbücher ihrer Liebsten in guten Händen waren.

Langsam stiegen sie die massiven Holzstufen hinunter. Felicity und ihre Cousine griffen jeweils nach einer Laterne aus schwarzem Edelstahl. Das Innenleben erinnerte an ein Dutzend Glühwürmchen, die der Gruppe neben dem schummrigen Kerzenlicht Helligkeit spendeten.

Die gespenstige Atmosphäre legte sich wie eine schwere Decke um ihren Körper. Manch einer würde in dieser dunklen Bibliothek Angst verspüren, doch Feli fühlte vor allem Respekt und Ehrfurcht.

Das Seelenarchiv lag metertief im Erdreich und lief unter einer Straße im Kölner Stadtteil Sülz entlang, die sich einige Kilometer lang erstreckte. Das Archiv nahm knapp einen Viertel der Straßenlänge ein und gehörte damit zu den kleineren Instituten, doch es war damit nicht weniger beliebt. Insgesamt barg das Archiv achtundzwanzig Flure, an jedem Eingang stand ein anderthalb Meter hoher Kerzenständer. Der Saal endete mit einer riesigen Statue von Mutter Alwina, deren Hände über die Regale ragten, als würde sie die Seelen hüten.

Die Wände aus Sandstein waren erschreckend hoch, und an der Decke erkannte Feli ein eindrucksvolles Gewölbe, das sie an eine gotische Kirche erinnerte. Es war deutlich, dass mit Magie ausgeholfen wurde, um diese gewaltige Illusion aufrechtzuerhalten. Bei genauer Betrachtung entdeckte man steinerne Gargoyles in eingelassenen Nischen, die von den an der Wand angebrachten Fackeln sanft angeleuchtet wurden. Das Feuer war seit dem Bestand des Archivs kalt gezaubert, sodass es keinen Schaden verursachen konnte.

Die Schritte der Gruppe hallten im Archiv wider, während sie auf die Statue zusteuerten.

»Hat Mutter Alwina ihm eine gute Position zugesprochen?«, fragte die Witwe brüchig.

Feli blickte zu ihr hinüber. Im Licht sah ihre Haut noch blasser aus, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Ihre Tochter und ihr Schwager waren dicht an sie gedrängt.

»Sein Platz ist im Flur vierundzwanzig«, gab Felicity preis.

Frau Lehmann atmete erleichtert auf und nickte. »So viel sie ihm zusprechen mag.«

Und sie hatte ihm viel zugesprochen. Je näher man der Statue kam, umso mehr Ansehen hatte der Hexer oder die Hexe in den Augen der Mutter. Für die Hinterbliebenen bedeutete es die Sicherheit, dass sie sich im Jenseits um ihre Liebsten kümmerte und dass die Gebete dieser gehört wurden, da sie näher an Mutter Alwina lagen.

Ein Zauber mit Lavendel, Gewürznelke, Teesatz, selbstverständlich aus schwarzem Tee, einem Tropfen Blut und Eisenhut entschied über die Zahl des Flurs.

Es war einer der Gründe, warum die Arbeit eines Seelentransporteurs eine äußerst angesehene war. Feli war vielen Leuten begegnet, die der Meinung waren, dass sie einen direkten Draht zu Mutter Alwina hatte. Die Hexe belächelte dies stets und versuchte es herunterzuspielen. Doch die Menschen fassten es als falsche Bescheidenheit auf.

»Hier wären wir«, kündigte Felicity an und betrat den Flur. Die massiven Buchregale verschluckten das meiste Licht, sodass nur noch ein kreisförmiger Schein von der Laterne ihren Weg durch den schmalen Gang offenbarte.

Die Witwe blieb stehen und sah auf einen freien Buchständer. »Hier ist es schön«, sagte sie und suchte die Zustimmung ihrer Familie. »Oder?«

»Ich denke, es würde ihm hier gefallen«, stimmte Herr Lehmanns Bruder zu. Die Tochter nickte wortlos und wischte sich eine Träne von der Wange.

»In Ordnung.« Felicity strich über das goldene Buch, auf dessen Einband in Schwarz der Name Clemens Lehmann eingestickt war.

»Möge Mutter Alwina seine Seele in Frieden ruhen lassen.«

Ein leises Schluchzen erklang im Saal und ein zustimmendes Murmeln folgte. Sanft stellte Felicity das Seelenbuch auf den gläsernen Buchständer und knipste die eingelassene Lampe direkt darüber an, sodass das Buch im Schein glänzte.

An einer Regalseite war eine Halterung für die Laterne befestigt, in die die Hexe diese platzierte. Sie nickte den Angehörigen zu und schritt an ihnen vorbei zu Lexi, die respektvoll Abstand hielt, um der Trauergemeinschaft genug Privatsphäre zu geben. Als sich Feli neben sie stellte, stupste ihre Cousine sie leicht mit der Schulter an und schenkte ihr ein stolzes Lächeln, in ihren Augen lag eine Entschuldigung für etwas, was noch für Ärger sorgen würde.

Felicity lächelte flüchtig, doch das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verschwand nicht.

Nachdem die Angehörigen ihren Blumengruß abgelegt und sich in Ruhe von der Seele verabschiedet hatten, verließen sie das Seelenarchiv und ließen die Ehrfurcht hinter sich. Die Witwe bedankte sich und legte beim Verlassen des Gebäudes ein Kuvert in den Kummer- und Dankeskasten.

Felicity nahm es und steckte das Trinkgeld oben im Café in die Spendenkasse für Magie für Kinder.

»Kaffee?«, riss Lexi sie aus ihren Gedanken.

Felicity öffnete die Augen. »Kaffee klingt gut.«

Ihre Cousine drückte ihr eine dampfende Tasse in die Hand. »Schwarz, wie du ihn am liebsten magst.«

Feli nickte. »Danke.« Sie nippte daran, während Lexi den Raum musterte. Es war wieder das übliche Arbeitszimmer.

»Mun kursi«, sprach Felicity, und ein Stuhl erschien neben ihrem. Mit einer Handbewegung bedeutete sie Lexi, sich zu setzen. »Also, was ist los? Erklär es mir noch einmal.«

Ihre Cousine warf sich ihr braunes Haar zurück und sah sie ernst an. »Es geht um Kaspar Eisenmann. Seine Familie möchte ihn nicht begleiten. Sein Neffe wohnt seit einigen Monaten in London und kommt für seine Beisetzung nicht zurück.«

Felicity zog die Augenbrauen hoch. »Das sind nur zwei Stunden Flug.«

Lexi zuckte mit den Schultern. »Anscheinend hatten sie keine besonders enge Beziehung. Er hat keine weitere Familie. Der Neffe bittet darum, dass er ohne Anteilnahme beigesetzt wird.«

Feli verschränkte die Arme vor der Brust. Nichts Ungewöhnliches, aber warum ging der Neffe über Lexi und nicht den gewohnten Weg über die Pathologie oder kontaktierte sie direkt? »In welchem Krankenhaus liegt er? Ich werde mit ihnen sprechen. Das ist das Angebot, das ich dir machen kann.«

Lexi presste die Lippen zusammen und sah sie verzweifelt an.

Die Hexe verengte die Augen. »Was?« Ihre Cousine hob ihre Tasche an und Feli stand auf. »Du willst mir jetzt nicht sagen …« Wütend schnaubte sie und hob ihren Finger hoch. »Sag mir nicht …«

Sie schüttelte den Kopf und ging ein paar Schritte, um Abstand zu gewinnen. Als Lexi eine kleine Kühlbox aus ihrer Stofftasche rausnahm und eine weiße Schatulle entblößte, malmte Feli mit den Zähnen.

»Das ist nicht dein verdammter Ernst, Lexi! Den ganzen Tag trägst du das mit dir herum? In diesem Gefäß? Wir haben nicht mal abgemacht, dass ich das übernehme.« Sie riss ihr die Schatulle aus den Händen, die kaum noch Kälte aussandte, und stellte sie in den Kühlschrank.

»Es tut mir leid, Felicity«, erwiderte Lexi kleinlaut.

»Das sollte es.«

Die Hexe sah auf die geschlossene Kühlschranktür. Ihre Gedanken rasten. Wenn sie diese Überreste heute nicht verarbeitete, dann bekam dieser Hexer möglicherweise nicht den Transport, den er verdiente. Seine Körperteile waren bereits nicht mehr kühl genug, und Felicity könnte Lexi den Hals dafür umdrehen, doch stattdessen schloss sie für einen Moment die Augen und atmete durch. Sie kniff sich in den Nasenrücken.

»Woher hast du sie?«, fragte sie gefährlich leise, immer noch dem Kühlschrank zugewandt.

»Aus der Pathologie. Sie haben sie mir direkt überreicht.«

Kurz entschlossen öffnete die Hexe mit einem Ruck die Kühlschranktür, um die Schatulle zu entnehmen. Hier waren sie. Die Überreste von Kaspar Eisenmann. Und keiner nahm sich die Zeit, ihn zu begleiten. Es war nicht so, als wäre es die erste einsame Beisetzung. Doch es war die erste, die den Richtlinien nicht folgte. Entweder meldeten sich die Verwandten oder die Pathologie des Krankenhauses bei ihr. Danach brachte der Lieferant Tommy die Überreste gesichert zu ihr. Dass das Krankenhaus diesen Vorgang nun überging, wunderte die Hexe. Und dass Lexi das Material seit Stunden in ihrer Tasche herumtrug, machte sie rasend. Wie in Mutter Alwinas Namen war sie nur auf diese irrsinnige Idee gekommen? Sie hatte für vieles Verständnis, allerdings nicht dafür. Ihre Cousine hätte die Box schon längst in den Kühlschrank stellen können.

Feli stellte das Kästchen auf den Schreibtisch und öffnete es. Sah einem braunen Augapfel entgegen, Fingernägel, Knochensplitter, Haare und ein Beutel, gefüllt mit Blut.

»Was machst du?«, fragte Lexi. Als sie die Überreste sah, verzog sie die Miene und wich einen Schritt zurück.

Ärgerlich sah die Hexe zu ihrer Cousine. »Das alles hast du stundenlang in deiner Stofftasche herumgetragen. Findest du das respektvoll? Hast du dir mal vorgestellt, dass jemand mit deinem Augapfel durch die Gegend läuft?«

Ihr Gegenüber hob die Hand. »Ich verstehe schon. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Wirst du es nun tun oder nicht, Fi?«

Fi. So hatte Lexi sie lang nicht mehr genannt. Als sie Kinder gewesen waren, hatte sie diesen Kosenamen immer genutzt, um Felicity zu etwas zu bewegen. Wie passend.

»Ich werde mir die Informationen besorgen, die du mir nicht geben kannst oder willst.«

»Vertraust du mir nicht?«, fragte sie.

Feli drehte sich ruckartig zu ihr um. »Darum geht es nicht. Es geht hier einzig und allein um einen verstorbenen Hexer. Du hast mich gebeten, ein Seelenbuch für ihn zu erstellen und dass es ohne Verwandte und großes Tamtam geschehen soll. Das war schon eigenartig.« Sie fuhr sich durch die Haare und erinnerte sich an die Nachricht ihrer Cousine zurück. »Aber dass du nun sogar mit den Utensilien hier aufkreuzt, das ist wirklich … Ich weiß nicht mal, was ich dazu sagen soll.«

Mit versteinerter Miene sah ihre Cousine sie an. Sie rührte sich nicht einmal und machte keinerlei Anstalten, weitere Informationen preiszugeben.

»So kenne ich dich gar nicht«, bemerkte Feli mit hochrotem Kopf und wandte sich dem Material zu. Kaspar Eisenmann hatte genug durchgemacht, und Felicity hatte das dringende Bedürfnis, es wiedergutzumachen. Ihm einen guten Platz zu bieten. Doch dafür musste sie wissen, was er wollte und wer er war. Sie hielt ihre geöffnete Hand über die Schatulle. »Beriku Kena.«

Zeitgleich mit ihrem Zauberspruch hörte sie ihre Cousine etwas nuscheln. Vermutlich regte sie sich darüber auf, dass Feli tatsächlich sichergehen wollte, dass die Seeleninformation bereits aktiv war und wie diese Utensilien den Weg in ihre Hände gefunden hatten. Dabei war es völlig klar, dass sie zumindest die Information über seine Person benötigte, um das Seelenbuch zu erstellen. Jede Hexe und jeder Hexer wurde mit einem Seelenkern geboren, in dem unter anderem die Persönlichkeit, die Vorlieben, die Träume und die Ängste gespeichert wurden. Diese Inhalte waren das, worauf sich Felicitys Arbeit berief.

Mit diesen Kenntnissen war sie dazu in der Lage, die Bücher herzustellen und die Seele mit den Informationen und mithilfe der Überreste an das Seelenbuch zu binden. Das war auch Lexi bewusst, deshalb war ihre Reaktion absolut unpassend. So wie ihr gesamtes Verhalten. Aber Felicity musste sich jetzt auf ihre Aufgabe konzentrieren, denn die Zauber, die sie wirkte, so leicht sie auch wirken mochten, brauchten eine immense Kraft und jahrelanges Training. Es gab nicht viele Seelentransporteure, da es ein gewisses Talent brauchte. Viele schafften es nicht, die Menge der Magie hervorzubringen, sodass sie sich von ihrem Traum verabschieden mussten.

Feli schluckte ihren Ärger hinunter und legte ihre gesamte Aufmerksamkeit in ihre Zauber. Es ging hier nicht um ihre Cousine, sondern darum, den Frieden von Kaspar Eisenmann zu retten.

Kapitel3

Die folgenden Stunden verschwammen vor Felicitys Augen. Als würde sie von außen zusehen, saß sie an dem Schreibtisch und band das goldene Seelenbuch, gravierte Kaspars Namen ein, bearbeitete das Material, das sich deutlich zäher verhielt als üblich. Lexi versorgte sie währenddessen mit Tee, doch sie sprachen kaum ein Wort miteinander.

Die Zeit flog an Feli vorbei, und als sie am nächsten Tag aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie erinnerte sich schwammig daran, die Flurzahl für Kaspar Eisenmann herausgefunden zu haben und wie sie ihn gemeinsam mit Lexi in das Archiv gebracht hatte. Feli hatte sich einige Minuten Zeit genommen, und ihre Cousine hatte sie mit ihm allein gelassen. Wusste, dass sie diesen einsamen Abschied von diesem Fremden brauchte. Die Hexe erinnerte sich daran, dass es sich nicht richtig angefühlt hatte, dabei konnte sie nicht einmal sagen, ob es die Vorgehensweise war oder der schwierige Prozess mit seinen Überresten. Sie waren eigensinnig gewesen, doch Feli wusste, dass Kaspar Eisenmann auch ein sturer Mann gewesen war. Als sie zur Überprüfung mit ihm sprechen wollte, war sie komischerweise nicht zu ihm durchgedrungen. Das hatte sie noch nie erlebt, und es bereitete ihr Sorgen. War vielleicht etwas schiefgelaufen? Je mehr sie versuchte, sich an alle Einzelheiten zu erinnern, desto stärker sackte der gestrige Abend in eine schlammige Tiefe.

Feli stand auf und merkte, dass ihr schwummrig wurde. Ihr Magen rumorte und sie atmete durch. Sie setzte sich wieder auf ihr Bett und wartete, bis sich ihr Sichtfeld aufklarte. Langsam ging sie ins Bad und putzte sich die Zähne. Die Übelkeit verstärkte sich rasant. Felicity warf die Zahnbürste in das Waschbecken und eilte zur Toilette, um sich zu übergeben. Schließlich strich sie sich den kalten Schweiß von der Stirn. War es der Stress? Oder hatte sie sich eine Magen-Darm-Grippe eingefangen? Sie spülte ihren Mund aus und legte sich zurück ins Bett. Ihr Kater sprang nach wenigen Minuten auf die Matratze und kuschelte sich an sie.

»Mich hat es wohl erwischt, Asher.«

Ihr Kater miaute. Sein aufmerksamer Blick lag auf ihr.

»Ja. Ich leiste dir heute Gesellschaft.« Sie streichelte über sein langes schwarzes Fell, bevor sie nach ihrem Handy griff und Tommy anrief, um alle Lieferungen zu verschieben. Etwas, das sie ungern tat, doch als sie sich ein weiteres Mal übergeben musste und sie mehrere Minuten auf dem Badezimmerboden lag, da sich der ganze Raum drehte, wusste sie, dass es definitiv eine gute Entscheidung gewesen war.

Sie meldete sich bei ihrem besten Freund Yannik krank, der sich gemeinsam mit Lexi um das Café kümmerte. Letztere bat sie darum, noch mal nach Herr Eisenmanns Seelenbuch zu sehen. Feli musste wissen, ob der Transport gelungen war. Nervös knabberte sie an ihren Fingernägeln, bis es ihr auffiel und sie aufhörte. Eine schlechte Angewohnheit, die nur bei massivem Stress auftrat, den sie lange nicht mehr gehabt hatte.

Als sie mittags aufwachte und die Nachricht von ihrer Cousine las, dass mit dem Buch alles in Ordnung sei, durchflutete sie eine Welle der Erleichterung. Zitternd stand sie auf, um zur Wohnungstür zu gelangen. Lexi hatte ihr geschrieben, dass sie ihr einen Kräutertrank vor die Tür gestellt habe. Doch es stellte sich heraus, dass sie ihr ein ganzes Carepaket zusammengestellt hatte.

Dankbar griff sie nach dem Trank und mischte ihn in ihren Grüntee. Damit sollte sie bald wieder auf dem Damm sein.

Drei Tage später stand Felicity morgens in der Küche des Spellman’s. Die Uhr hatte noch lang keine sechs Uhr geschlagen, doch in den Kochtöpfen blubberte es bereits und Dampf stieg auf.

Die Schürze, die einst weiß gewesen war, wies längst dunkle Flecken und graue Schlieren auf. Der Geruch von Süßholz drang durch die Küche, und eine braune schlammige Masse spritzte einen Klumpen gegen die Fliesen.

»Oh!« Feli eilte zur Herdplatte, um sie auszuschalten. »Nichts verschwenden!«

Sie nahm den Topf und hievte ihn auf die Kücheninsel in der Mitte der Küche.

»Datane bocaza«, rief sie, und die leeren Glasflaschen rauschten zu ihr, stellten sich fein säuberlich nebeneinander in eine Reihe.

Nacheinander setzte sie den Trichter auf die Flaschenhälse und füllte die braune Masse ein. Der Inhalt sah ekelerregend aus, fast fürchterlicher, als sich Sehnsucht anfühlte. Mit einem weiteren Zauber sorgte Feli dafür, dass sich das Elixier rückstandslos in den Getränken auflöste, ohne dass es zu einem Farbunterschied kam. Die Gäste würden nur eine leicht herbe, dennoch angenehme Kräuternote herausschmecken. Sie stellte die Flaschen zur Seite und ließ sie auskühlen, bevor sie schließlich in den Kühlschrank kommen würden. Felicity genoss den Alltag im Café. Liebte es, die Elixiere vorzubereiten und den Gästen so eine Freude bereiten zu können.

»Hey, hey! Ist das dein Ernst?«, begrüßte Lexi sie, als sie drei Stunden später in der Küche stand, die Feli gerade aufräumte. Die beiden hatten bisher kaum ein Wort miteinander gesprochen, und sie war noch immer wütend über das Verhalten ihrer Cousine. Felicity bekam diesen verdammten Abend einfach nicht mehr zusammen. Egal wie sehr sie sich auch bemühte. Sie konnte sich nur damit trösten, dass sie Kaspar Eisenmann noch rechtzeitig ins Jenseits transportiert hatte, nachdem Lexi stundenlang seine Utensilien bei sich getragen hatte. Wenn sie daran dachte, stellten sich ihr die Nackenhaare auf.

»Sicher. Ich habe Sehnsucht, Trauer, Liebe, Hoffnung und Frieden gebraut. Unser Vorrat sollte für die nächsten vier Wochen ausreichen. Falls etwas zur Neige geht, gebt mir bitte rechtzeitig Bescheid, dann kümmere ich mich darum.« Sie warf die Schürze in die Waschmaschine und stemmte die Hände in die Hüften. Vermutlich brauchte sie eine ganze Flasche vom Frieden.

Lexi seufzte. »Du weißt aber, dass ich das auch machen kann, oder? Du musst nicht für alles sorgen.« Ihre Cousine sah ihr kaum in die Augen, und Felicity blickte mehr an ihr vorbei, als sie wirklich anzuschauen.

Die Hexe lockerte ihren Zopf und steckte das Haargummi in ihre Hosentasche. »Ich mache das gern.«

Ihre Cousine nickte.

»Du übernimmst hier? Ich würde runtergehen. Die Utensilien der Verstorbenen werden in einer halben Stunde überbracht, und ich möchte bereitstehen.«

Ihre Cousine wickelte sich ihre blaue Schürze um und richtete ihr rechteckiges Namensschild. »Natürlich. Yannik sollte auch in einer halben Stunde da sein.«

»Perfekt. Danke.« Ihre tonlose Stimme jagte ihr fast selbst Gänsehaut ein.

Während sie die Treppe hinunter in ihren Raum ging, musste sie über Lexis Verhalten an jenem Tag nachdenken. Risikobereitschaft passte nicht zu ihrer Cousine. Dafür hatte sie zu große Ängste, die nach den kriminellen Machenschaften ihres Vaters nur verständlich waren.

Wenn sie sich weiterhin anschwiegen, würde sich dieser Vorfall niemals aufklären. Doch niemand wagte den ersten Schritt.

Feli kreiste mit den Schultern. Jetzt musste sie erst einmal die Seelen transportieren. Dafür gab es noch einiges vorzubereiten.

Nachdem sie das goldene Buch gebunden hatte, nahm sie einen Schluck Kaffee, den sie heute mit drei Tropfen Wachsamkeit versetzt hatte, und beobachtete Tommy durch das Fenster zum Hintereingang. Der Lieferant stieg aus dem Kleintransporter und ging zur Ladefläche. Dort hatte er das Seelenmaterial aus der Pathologie in der Kühlung und überbrachte es jeden Morgen den zuständigen Seelentransporteuren.

Feli öffnete die Tür und erwiderte sein Lächeln.

»Guten Morgen, Felicity«, flötete Tommy und übergab ihr eine schwarze Truhe, die einer Schatzkiste glich. Eine feine goldene Linie zog sich waagerecht um die Öffnung entlang. Der Vliesstoff, mit dem der untere Teil der Kiste verkleidet war, kühlte ihre Handflächen binnen weniger Sekunden aus. »An diesem wunderbaren Tag wollen anscheinend nur eine Hexe und ein Hexer zurück zu Mutter Alwina.«

»So viel sie ihnen zusprechen mag«, wisperte Feli. Sie drehte sich um, wissend, dass Tommy ihr wie immer folgen würde.

»Wie sieht es aus? Hast du diese Woche irgendwann Zeit für einen Kaffee?« Er lehnte im Türrahmen, während Felicity die Truhe in den Kühlschrank stellte.

»Ich arbeite in einem Café, Tommy. Du bist wie immer auf einen Kaffee eingeladen. Wenn du magst, auch mit Schuss«, fügte sie hinzu und lächelte. Es war bereits sein fünfter Versuch, mit ihr auszugehen, und er ließ nicht locker. Glücklicherweise war er dabei nicht aufdringlich.

Er seufzte. »Du weißt, dass ich das nicht meine. Wenn ich noch mal fragen muss, dann werde ich das.«

Die Hexe drehte sich zu ihm um. »Du weißt, dass ich dich gernhabe. Jedoch nicht auf diese Weise.«

Es gab Nächte, da träumte sie von Yelena. Ihre Verbindung war noch immer da, nach all den Jahren. Manchmal mehr ein Fluch als ein Segen. Feli wusste nicht, ob es die Einsamkeit war, die ihr Yelena wieder ins Gedächtnis rief, aber wenn sie Tommy sah, dann sprang kein Funke über. Er war süß. Niedlich wie ein großer Teddybär, doch da war keine tiefe Zuneigung.

Er strich sich durch seine roten Haare und schüttelte leicht den Kopf. »Ich kann wohl kein Glück haben.«

»Doch, das kannst du. Irgendwann wird die Richtige kommen. In der Zwischenzeit darfst du dir gern oben ein Kaffee oder Tee mit einem Schuss Glück abholen«, sagte sie schmunzelnd. Er spiegelte es und stieß sich vom Türrahmen ab.

»Dann statte ich Lexi mal einen kurzen Besuch ab.«

Feli nickte. »Sie weiß Bescheid.« Wie fast jeden Morgen.

Kapitel4

Nach der ersten Beisetzung lehnte sich die Hexe seufzend auf den einzigen Stuhl in ihrem Arbeitszimmer zurück. Sie hatte noch zwei Stunden, bevor die nächste Trauergesellschaft eintreffen würde, und das Seelenbuch von Leanne Dörmler lag bereits vorbereitet auf ihrem Tisch.

»Mehba pakai«, wisperte sie und sah an sich hinab. Ein Wirbelsturm umhüllte ihren Körper. Innerhalb von Sekunden verblasste er, und Feli trug eine weiße Bluse und Bluejeans, die von ihrer blauen Schürze bedeckt wurden. Sie griff ein letztes Mal nach ihrem bereits kalten Kaffee und trank ihn zügig aus. Sie war bereit für das Leben dort oben.

»Felicity, du alte Hexe!«, rief Yannik, als sie die Tür zum Bestattungsinstitut schloss. Er hantierte gerade mit Tassen herum. Einige Gäste schmunzelten über seine Begrüßungsworte, andere waren hingegen völlig vertieft in ihre Gespräche oder in ihre Bücher. Das Café wurde von der Hexengemeinschaft und von Nomster besucht. So wurden die Menschen ohne Magie genannt. Während die Lebenserwartung der Nomster ungefähr dreiundsiebzig Jahre betrug, hatten die Hexen und Hexer eine Lebenserwartung von hundertsiebzig Jahren. Viel Zeit für eine gute Rente, die vielen Nomstern leider vorenthalten wurde. Die meisten Menschen ahnten nichts von der Existenz der Hexen und Hexer in ihrer Mitte.

Feli ließ den Blick durch das Spellman’s schweifen. Manchmal war es amüsant, wenn die Nomster die möglichen Zusätze für die Getränke nicht ernst nahmen. Allerdings hatten Yannik und Lexi die Anweisung, bestimmte Tropfen nicht an sie herauszugeben, da sie nicht wussten, auf was sie sich einließen. Dazu gehörte unter anderem Trauer und Sehnsucht. In dem Fall waren diese schlicht ausverkauft oder Yannik mischte ihnen eine wohlschmeckende Gewürzmischung.

Der herbe Kaffeegeruch drang in Felicitys Nase, Yannik wippte zur Musik und schäumte Milch auf.

Feli trat hinter die Theke und wusch sich gründlich die Hände, bevor sie diese desinfizierte. Nach einem kurzen Blick auf die Bestellungen nahm sie sich einen Teller und platzierte ein saftiges Stück Käsekuchen darauf.

»Sahne?«, rief Yannik und fischte sie bereits aus dem Kühlschrank. Er kam auf sie zu und stieß sie mit der Hüfte an. »Alles fein?«, fragte er und überprüfte die Bestellungen, bevor er ein gewaltiges Sahneherz neben das Kuchenstück kreierte.

Felicity grinste ihn an, und er erwiderte es verschmitzt. Yannik griff nach dem Kakaopulver und streute etwas davon über die Sahne.

»Nicht nur du kannst zaubern!« Er wippte weiter zur Musik.

»Dir scheint es ausgezeichnet zu gehen«, bemerkte sie und schnappte sich den Teller und den Kaffee, den er bereits zubereitet hatte. Lexi kam ihr entgegen und nahm ihr beides ab. »Das ist mein Job, Cousinchen.« Sie lächelte, doch in ihren Augen zeichnete sich Schuld ab, die Felis Herz schwer machte.

Die Hexe ignorierte das Gefühl und löste sich von ihr, indem sie sich zu wieder zu Yannik drehte. »Also? Habe ich da etwas verpasst?«

Er lächelte, und nun war er es, der mit den Schultern zuckte. Er zapfte Schorle und gab drei Tropfen Hoffnung hinzu. »Möglicherweise, Feli. Möglicherweise.«

Sie schlug ihm freundschaftlich auf den Oberarm. »Sag schon! Warst du wieder in der Bar? Ohne mich?«

»Frauen sind da eben nicht gern gesehen«, sagte er und zwinkerte dem Kerl am Tresen zu. Dieser schmunzelte und nippte an seinem Getränk.

»Also, wie heißt er?«, fragte sie und zog das Fach der Spülmaschine raus, um sie auszuräumen.

»Nennen wir ihn einfach traumhaft.«

Feli stemmte die Hände in die Hüften. »Wirklich, Yannik? Nicht mal einen Namen gibst du deiner allerbesten Freundin auf dieser Welt? Darf ich dich daran erinnern, dass ich diejenige war, die dich zu dieser Bar begleitet hat, als du nicht allein gehen wolltest? Dass ich –«

Er lachte und hob die Hand. »Schon gut, schon gut! Aber weißt du noch, wer dich dazu ermutigt hat, mit Yelena auszugehen?« Er verzog das Gesicht, sobald er es laut ausgesprochen hatte. Manchmal war sein Mund schneller als sein Verstand. Er sah sie traurig an. »Sorry.«

Felicity lächelte sanft. »Du musst dich nicht dafür entschuldigen. Ich würde die Zeit mit ihr niemals missen wollen.« Sie hielt inne, bevor sie weitersprach. »Sie war schön und lehrreich zugleich. Aber das ist keine Ausrede. Ich habe dich stets in allem unterstützt, und jetzt kriege ich nicht einmal einen Namen.«

Die Hexe klimperte übertrieben mit den Wimpern. Sie wusste, dass sie neugierig war, doch sie musste einfach wissen, mit wem sich ihr bester Freund herumtrieb! Yannik war ein lieber Kerl, eine treue Seele. Schon als sie Kinder gewesen waren, hatte er sie beschützt, als kein anderes Hexenkind in ihrem Stadtteil mit ihr spielen wollte, weil sie Felicity mit dem Tod verbanden, mit der Angst vor dem Ende. Da war es Yannik gewesen, der ihr Gesellschaft geleistet hatte.

Schließlich hatte Lexi ihm im Spiel aus Versehen ihre wahre Natur verraten, und auch davon hatte er sich nicht abschrecken lassen. Vielmehr war er begeistert gewesen, eine richtige Hexe zur Freundin zu haben. Sie hatten sich nicht mehr losgelassen. Und irgendwie hatte Felicity das Gefühl, dass sie auf ihn achtgeben musste, dass sie es ihm schuldete. Sie hoffte, Yannik hatte einen wunderbaren Mann kennengelernt.

Feli betrachtete ihren besten Freund, der ein Lächeln auf den Lippen trug, und sofort wurde ihr Herz wärmer. Es war schön, ihn so zu sehen.

Yannik grinste und wandte sich wieder dem Milchaufschäumer zu. »Also, er heißt …«

Das laute Rauschen der Schaumdüse übertönte den Namen.

Sie lachte. »Du willst mich verarschen, oder?«

Bevor er den Schaum in die riesige Tasse kippte, gab er vier Tropfen hinein. »Ein Kaffee für die werte Dame. Heute mit einer Extraportion Liebe.« Yannik stellte sie vor einer älteren Frau ab, die ihn vom Tresen aus anschmachtete.

»Danke, mein Guter.«

Feli schüttelte den Kopf. »Du wirst es mir schon sagen, wenn du so weit bist.«

Yannik kam zu ihr und drückte sie kurz an sich. »Auf jeden Fall, beste Freundin der Welt.«

»Ich höre das Schmunzeln in deiner Stimme«, sagte Feli warnend, grinste jedoch breit. Mit ihm fühlte sich alles leichter an, selbst so eine verzwickte Situation.

Er nahm zwei Teller und verschwand lachend.

Zufrieden überblickte die Hexe das Café und entdeckte an einem Tisch in der Ecke eine Frau, die in dem Moment aufblickte und ihr kurz zuwinkte.

»Odelia!«, begrüßte sie die Dame freudig. »Ich hoffe, Yannik kümmert sich gut um dich.«

»Wie immer. Ich fühle mich stets wie zu Hause«, antwortete sie lächelnd.

Als Odelia vor sechs Monaten das erste Mal in das Spellman’s gekommen war, hatte sie Felicity unwillkürlich an Cruella de Vil erinnert. Sie hatte einen langen Mantel aus Kunstfell getragen, doch noch eher war es der Schmuck, der sie dazu verleitet hatte, an 101Dalmatiner zu denken. Die Frau trug Ohrringe mit schwarz-weißen Würfeln. Ein Ring mit selbigem Muster prangte an ihrem Finger, und generell schien sie eine Schwäche für schwarz-weiß kariert zu haben.

Es dauerte nicht lang, bis Felicity feststellte, dass Odelia nicht so arrogant oder gefährlich war wie der fiktive Charakter.

Sie arbeitete seit einiger Zeit von zu Hause aus und hatte es nicht mehr allein dort ausgehalten. Eine ganze Weile lang war sie deshalb täglich im Café aufgetaucht, und sie hatten sich angefreundet. Seit drei Monaten kam sie zweimal wöchentlich.

»Wie geht es dir?«, fragte Odelia mit wachsamen Augen. »Viel zu tun?«

»Wie immer, aber du weißt ja, dass es mich nicht stört. Ganz im Gegenteil«, erklärte Feli. »Doch wir vermissen deine täglichen Besuche! Kommst du mit dem neuen Rhythmus zurecht?«

Odelia stöhnte und strich sich eine graue Strähne hinter das Ohr. »Schätze schon. Allerdings sehne ich mich nach deinem Bananenkuchen.« Sie lächelte. »Ich bin euch immer noch so dankbar, dass ich hier meine sozialen Batterien laden durfte.«

»Natürlich«, sagte Felicity und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Du bist immer willkommen.« Sie zwinkerte. »Ich glaube, wir haben sogar noch ein Stück Bananenkuchen in der Küche. Wenn du magst, hole ich ihn dir.«

Odelias Augen wurden groß. »Das wäre traumhaft! Nur wenn es keine Umstände macht.«

Feli lachte. »Ich kümmere mich drum. Darf es noch etwas sein?«

»Ein paar Tropfen Geduld als Topping wären wundervoll.«

»Geduld kommt sofort!«, versprach die Hexe und drehte sich um. Dafür liebte sie das Spellman’s. Für all die Menschen, mit denen sie Kontakt knüpfen konnte.

Am späten Nachmittag verabschiedete Felicity die letzte Trauergesellschaft und räumte ihren Arbeitsplatz auf. Die Augäpfel, Fingernägel, das Blut, die Knochensplitter und die Haare verschwanden gemeinsam in einem kleinen Feuer, das sie sich jeden Abend herbeizauberte. Ein Rückweg in die Pathologie, wo auch andere Hexen und Hexer arbeiteten, war nicht vorgesehen, und für die Kleinigkeiten war der Aufwand zu immens. Felicity versuchte deshalb, die letzten Überreste respektvoll zu vernichten. Im knisternden Feuer des Kamins sah sie dabei zu, wie sie dahinschwanden, mit der Sicherheit im Hinterkopf, dass sie bereits für ihr bestes Wohlergehen gesorgt hatte.

Kapitel5

Es waren zwei Wochen seit der Beisetzung von Kaspar Eisenmann vergangen. Ein Name, den Felicity so schnell nicht vergessen würde. Noch immer hatte sie an dem Vorgang zu knabbern. Wieder und wieder versuchte sie es, doch der Abend war von einem dichten Nebel umgeben. Sie wusste, dass sie den Zauber angewandt hatte, um zu erfahren, wie die Utensilien zu ihr gelangt, welche Wege sie gegangen waren, aber Felicity konnte sich einfach nicht erinnern.

Allerdings wusste sie auch, dass sie nicht so gehandelt hätte, wenn irgendetwas unklar gewesen wäre. Und diese Überzeugung musste reichen, denn Lexi schwieg zu dem ganzen Geschehen. Sie hatte es ein paarmal versucht, doch sobald es nur ein bisschen in die Richtung ging, lenkte Lexi ab und beschäftigte sich mit etwas anderem. Es war offensichtlich, dass es ihr unangenehm war, und das brachte bei Feli das Fass immer wieder zum Überlaufen. Lexi schien nicht zu verstehen, dass es nicht um sie ging, sondern um eine unschuldige Seele.

Um nicht weiter zu streiten, war Feli dazu übergegangen, sich selbst zu vertrauen. Und sie verhielt sich in der Regel so, wie Mutter Alwina es von ihr gewünscht hätte. Sie befolgte die Regeln, hielt sich an das Protokoll und behandelte die Seelen mit Respekt und Ehrfurcht.

Heute war Yannik nicht da und die Beisetzungen weit nach hinten verschoben, damit Felicity ihrer Cousine in Ruhe im Café helfen konnte. Auch das war ihr Familienunternehmen, und die Hexe genoss es, dem Tagesgeschäft nachzugehen. Sie liebte die Arbeit mit den Toten und den Lebenden zugleich. Ihr Herz blühte in der Küche und den Gesprächen auf. Sie freute sich bereits auf den nächsten Besuch von Odelia und hoffte, dass sie ihn nicht verpassen würde, um einen kurzen Plausch mit ihr zu halten.

Als die Kuchen und die Torten fertig waren und sie mit ihnen in das Café spazierte, um sie in die Kühlvitrine zu stellen, bemerkte sie einen nervösen Mann, der am Tresen stand. Er fuhr sich fahrig durch seine dichten braunen Locken und musterte das Café.

»Sie sehen aus, als bräuchten Sie dringend einen Tee mit einem Schuss Entspannung«, sagte Felicity und lächelte ihn an. Sein Blick fand ihren. Sein ganzer Körper wirkte angespannt. Er steckte die Hände in die Manteltaschen. Sein langer Mantel war offen und zeigte seinen dunkelblauen Pullover, der sich eng an seinen Oberkörper schmiegte.

»Sind Sie Felicity Goldfang?«, fragte er.

Seine kalte Stimme ließ sie einen Schritt zurückweichen. Sie zögerte. »Ja. Die bin ich. Warum wollen Sie das wissen?«

Das gesamte Café war noch leer. Die Hexe hatte die Tür vorhin offen gelassen, als sie nach draußen zum Briefkasten gegangen war.

»Weil Sie meinen Onkel ermordet haben«, sagte er, und seine braunen Augen verdunkelten sich.

Felicity erstarrte. »Was … wovon sprechen Sie?« Die Anschuldigung traf sie mitten ins Herz. Sie tötete niemanden, sie schenkte Seelen ein Zuhause.

Er bewegte sich einen Schritt auf sie zu. Zwischen ihnen nur der Tresen. »Niclas Eisenmann ist mein Name. Klingelt da etwas? Kaspar Eisenmann war mein Onkel, und Sie haben ihn auf dem Gewissen.«

Felicity wankte gegen die Theke hinter ihr und umklammerte den Rand, um Halt zu finden. Herr Eisenmann. Sie drückte eine Hand auf ihren Bauch und versuchte sich zu kontrollieren, während ihr Kopf unaufhörlich ratterte. Seine Beisetzung war wie ein Traum zurückgeblieben. Sie konnte sich kaum erinnern, wusste jedoch, dass seine Überreste merkwürdig starrsinnig gewesen waren. Sie waren schwieriger zu bearbeiten gewesen. Die Flüssigkeiten hatten sich fast schon geweigert mitzuspielen, seine Überreste hatten sich immer wieder abgesondert, bis sie letztlich doch eine einheitliche Masse ergeben hatten. Felicity sah zu dem Neffen, der Verwandte aus London.

»Das muss ein Missverständnis sein«, flüsterte sie.

»Ach ja?«, herrschte er sie an. Sein Kiefer zuckte. »Beantworten Sie mir eine einfache Frage, Frau Goldfang: Haben Sie in Ihrem Seelenarchiv ein Buch mit dem Namen meines Onkels oder nicht?«

Tränen schossen ihr in die Augen. War das wirklich möglich, dass sie jemanden umgebracht hatte? Das hätte sie bemerken müssen. Das konnte nicht sein! »Das habe ich. Aber Sie haben meine Cousine doch darum gebeten, dass er allein beigesetzt wird.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und brach am Ende.

Er legte die Hände auf den Tresen und beugte sich zu ihr. »Ich kenne Ihre Cousine nicht einmal, und bis vor wenigen Stunden hat mir niemand gesagt, dass Kaspar gestorben ist. Mein Bruder hielt es nicht für nötig, mir Bescheid zu geben, und trauert so sehr, dass er keine Kraft dafür hatte, nach den verlorenen Überresten unseres Onkels zu suchen. Ich musste einen Zauber anwenden, um herauszufinden, wo Kaspars Seele hin ist. Und siehe da, ich finde die letzte Spur in einem Bestattungsinstitut. Sie haben ihn aus dem Weg geräumt!«

Die Schilderungen zogen der Hexe den Boden unter den Füßen weg. Verlorene Überreste. Er kannte Lexi nicht. Er war nicht der einzige Hinterbliebene. Hatte ihre Cousine sie angelogen?

War sie an einem Mord beteiligt gewesen?

»Das habe ich nicht«, sagte Felicity. »Es tut mir ausgesprochen leid, dass Sie so von dem Tod Ihres Onkels erfahren haben. Sie haben jedes Recht, wütend zu sein. Bitte. Glauben Sie mir, dass ich nicht vorhatte, Ihrem Onkel zu schaden. Lassen Sie uns ins Seelenarchiv gehen und nach dem Buch sehen. Dort können Sie noch mal mit ihm sprechen.«

Niclas Eisenmann löste seine Starre und richtete sich auf. Schließlich nickte er. »Dann werde ich die Wahrheit erfahren.«

»Das werden Sie.« Noch immer fühlte sich Feli wackelig auf den Beinen, doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Herz raste, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Diese Sache war ein Desaster. Wie konnte sie es jemals wiedergutmachen? Dabei hatte sie Kaspar nur einen respektvollen Abschied bescheren wollen. Mit einem Fingerschnippen verriegelte sie die Tür. »Sie können das Café von innen verlassen, aber von außen kommt so niemand mehr hinein«, erklärte Felicity heiser.

Niclas presste die Lippen zusammen, schwieg jedoch.

In ihrem Arbeitszimmer sah sie in ihrem Ordner noch einmal nach der eingetragenen Flurnummer. Schließlich folgte ihr der Hexer ins dunkle Seelenarchiv. Sie schnappte sich die Laterne und lief zügig zu Nummer fünfzehn. Sie spürte die Wut im Rücken. Doch Feli wusste auch, dass es eine natürliche Reaktion war. Bald würde die Trauer über ihn hereinbrechen.

Sie bogen ab, nach ein paar Schritten blieb Felicity stehen und sah auf den Buchständer. Den leeren Buchständer.

»Was ist?«, fragte Niclas Eisenmann.

Die Hexe unterdrücke ein Zähneklappern. »Es … es müsste hier sein.«

»Wie bitte?« Niclas wich zurück. »Es ist weg?«

»Nein. Nein, das kann nicht sein.« Feli schloss die Augen. Ruhe bewahren. »Teme buke ji Kaspar Eisenmann.«

Doch nichts geschah.

Das Seelenbuch war weg.

Kapitel6

Möglicherweise habe ich mich geirrt«, sagte Feli.

»Das hoffe ich sehr«, entgegnete Kaspars Neffe knurrend und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, er richtete sich auf, als müsste er sich für etwas wappnen. Und das musste er zweifellos, denn die Trauer wartete bereits mit offenen Armen auf ihn.

Felicity versuchte vergeblich, ruhig zu bleiben, aber die Nervosität kroch wie Gift durch ihre Adern und riss dabei sämtliche Hoffnung mit sich. Keine Entschuldigung würde dieses Fehlen wiedergutmachen. So etwas durfte nicht geschehen.

»Ich sehe sofort im Computer nach, ob ich mich im Gang geirrt habe. Das muss es sein.« Ihr Puls raste, kämpfte gegen dieses Unheil an, auf das er keinen Einfluss hatte. Sie hatte sich nie zuvor derart hilflos gefühlt, doch das durfte dieser Mann nicht bemerken. Er hatte seinen Onkel verloren und war wütend und traurig. Feli atmete durch. Sie musste jetzt funktionieren.

»Los. Gehen wir«, forderte Niclas sie auf. »Ich werde Ihr Institut melden. Das Hexagon wird sich um Sie kümmern. Ich werde Sie bei den Abarumi anzeigen.«

Felicity widersprach ihm nicht. Er hatte jedes Recht, wütend auf sie zu sein, immerhin glaubte er, dass sie seinen Onkel auf dem Gewissen hatte. Die Beweise waren erdrückend. Das Hexagon richtete über die Hexengemeinschaft und würde sie bei dieser Beweislage definitiv in Untersuchungshaft stecken. Die Abarumi waren für die Hexen und Hexer das, was die Polizei für die Nomster war. Es würde nicht lang dauern, bis sie hier auftauchten. Schon bald wäre der Drachenfels ihr Zuhause. Gefangen im Hexenkerker. Feli konnte bereits die kalten Gitterstäbe an ihren Händen spüren. Das wäre ihr Ende. Eine Gefangenschaft würde sie nicht überleben.

Sie erreichten ihr Büro, und sie riss die Schublade so schnell auf, dass die Rollen laut gegen die Verriegelung knallten. Zittrig griff sie nach ihrem Laptop und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Augenblicke vergingen, in denen das Gerät hochfuhr. Die schlimmsten Minuten ihres Lebens. Neben ihr raufte sich Niclas wiederholt die braunen Haare. Noch immer stand sein Körper unter Strom, was Feli verstand. Wäre sie an seiner Stelle …

In Windeseile gab sie das Passwort ein und klickte auf die Übersicht der Flure. Niclas stand nun mit verschränkten Armen neben ihr und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Was dachte er, was sie für eine Hexe war? Er hielt sie für eine eiskalte Mörderin, und das schmerzte. Dass jemand ihr solch ein Verbrechen zutraute. Als sie daran dachte, dass er recht haben könnte, stiegen wieder Tränen auf und sie schluckte. Zusammenreißen, Feli. Nicht zusammenbrechen. Es geht hier nicht um dich. Kaspar … Kaspar, wo sind Sie?

Sie starrte die Flurnummer an, die ihr Schicksal zu besiegeln schien. Fünfzehn. Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben. Flur fünfzehn, Platz sechs. Dort war sie mit Niclas gewesen. Dort, vor dem leeren Buchständer.

»Und?«, fragte der junge Mann und sah sie an. Spürte er, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch war?

»Ich muss noch etwas nachsehen«, sagte sie atemlos.

»Halten Sie mich hin?«