Seidenkinder - Christina Brudereck - E-Book

Seidenkinder E-Book

Christina Brudereck

3,8

Beschreibung

Schon seine Mutter Priya nannte ihn so: Weltverbesserer. Jaya, dem selbst geholfen wurde, macht sich auf, um ungezählten Straßenkindern in den indischen Slums zu einem Leben mit Hoffnung und Perspektive zu verhelfen. Matt, der Amerikaner, reist mit seinem Sohn Tom nach Indien, um den Widerstand gegen ein Staudammprojekt zu unterstützen. Seine Mutter hat ihm noch einen geheimnisvollen Auftrag erteilt. Er soll einen gewissen Jaya und dessen Mutter finden ...

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Christina Brudereck

Seidenkinder

Roman

Impressum

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865064417

1.Auflage 2008

© 2006 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Miriam Gamper, www.dko-design.de

Titelfoto: Getty Images

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Die Namen und ihre Bedeutung

Danksagung

Für die,

von denen diese Geschichte handelt.

Für Katharina und Stefan,

die mich mit ihrer Liebe zu Indien beschenkten.

Für Jaya,

der handelt, liebt und schenkt.

grace

a thought, that changed the world

(Bono)

Kapitel 1

Trockenheit und Hitze. Ihr war, als würde sie Staub atmen. Sie rieb sich gedankenverloren ihre alten Hände. Die dunkle Haut war spröde. Der Palar war jetzt seit Wochen ein Fluss ohne Wasser. Heute fühlte sie sich sehr müde. Ein Fluss ohne Wasser ist etwas sehr Trauriges, dachte sie. Wie ein Lied ohne Melodie; ein Lied, das niemand singen kann. Sinnlos. Wie ein Mensch, der nicht liebt und nichts zu schenken hat. Ohne Wasser kein Fluss.

In Gedanken wanderte sie wieder am Palar entlang. Seit ihrer Kindheit hatte der Wasserstand über Glück und Unglück entschieden. In der Regenzeit hatte der Monsun den Fluss immer über die Ufer treten lassen, im trockenen Winter dagegen konnte aus dem großen Fluss ein kleiner Bach werden. Sie konnte sich aber nicht daran erinnern, dass er früher jemals so vollkommen ausgetrocknet gewesen war wie heute. Irgendwie schien dieses Land mit seinen Flüssen, Bergen und Wäldern noch mehr aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Sie wusste nicht, warum. Als kleines Mädchen hatte sie Hochwasser und Trockenheit, Regen und Sonne einfach so hingenommen, irgendwie sicher von den Göttern gelenkt. Heute ahnte sie zumindest, dass es für einige dieser Phänomene, Überflutung und totale Dürre, sehr menschliche Erklärungen gab - aber das war nur eine Ahnung, sie durchschaute die Zusammenhänge nicht. Aber sie könnte ihren Sohn danach fragen.

Sie hatte hier schon als ganz junges Mädchen Wäsche gewaschen, um sie dann gleich auf den großen Wiesen trocknen zu lassen. Unter Indiens Himmel brauchte ein Sari nicht einmal eine halbe Stunde und alles Wasser war in der heißen Sonne verdampft. Sie dachte an die bunten Farben und an die flinken Hände ihrer Tante, an die anderen Kinder, mit denen sie gespielt hatte. In ihrer Erinnerung verschwammen die Kleider, die Hitze, das Wasser und die Nähe ihrer Freundinnen zu einem vagen Gefühl von Geborgenheit. Das alles war lange her. Wieder einmal wunderte sie sich, dass auch aus schweren Zeiten leichte Bilder und Eindrücke für eine Seele zurückbleiben konnten.

Sie musste wohl eingenickt sein und als sie jetzt aufwachte, war sie kurz verwirrt. Ihre Erinnerungen waren weiter bis in ihre Träume mitgegangen und hatten dort Gefühle wachgerufen, die doch eigentlich für immer schlafen sollten. Sie blieb noch für einen Moment in ihrem Schaukelstuhl sitzen, schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verjagen wie eine lästige Fliege. Dann stand sie für einen Moment da, sah sich um und machte sich an die Arbeit, die Reste des gestrigen Abends zu beseitigen.

Gestern Abend. Sie hatten Gäste gehabt. Vier Amerikaner. Hier in ihrem kleinen Haus. Sie arbeitete heute langsam und erlaubte den Gedanken, sie zu unterbrechen.

„Priya, dies ist dein Zuhause“, sagte sie beruhigend zu sich selbst. Wenn man bedachte, wo sie herkam und dass sie lange überhaupt kein Zuhause gehabt hatte, konnte sie nur staunen. Ihr kleines Haus war ein sauberes Haus, in dem es kühl war. Der Steinboden hatte bunte Kacheln, die sie sehr mochte. Die Wände waren weiß. Im kleinen Vorhof zur Straße stand ein Mangobaum, der sogar Früchte trug, weil er von ihrem Sohn gut gepflegt wurde. Drei Stufen führten zur Haustür - eine Hütte hatte niemals eine Treppe - und sie mochte es, dort zu sitzen, am frühen Abend, wenn die Steine noch warm waren von der Sonne und ihr Sohn gleich nach Hause kommen würde. In ihren Augen war das alles hier wunderbar.

Gestern hatte sie den Gästen ein Festessen serviert, mit Gemüse, Fisch, Fleisch und Curry und verschiedenen Sorten Nan. Sie hatte den ganzen Tag in der Küche gearbeitet und die Speisen so zubereitet, wie sie es gelernt hatte. Nicht wie andere junge Mädchen von ihrer Mutter, sondern später, als Haushälterin, mühsam und mit vielen Nachfragen. Sofort hatte sie die Küche vor Augen, in der sie so lange Jahre Stunden um Stunden gearbeitet und allmählich ihr Glück gefunden hatte.

Sie reiste in letzter Zeit oft in die Vergangenheit, hatte sie festgestellt. Erinnerungen holten sie ein. Vielleicht war das so, wenn man alt wurde? Ließen dann alle ihr Leben noch einmal an sich vorbeiziehen? Gehörte das dazu - wie eine Vorbereitung auf den nächsten Schritt? Sie stand da, in ihrer eigenen Küche jetzt, eine der Schüsseln von gestern Abend in der Hand, und wie im Traum ging sie mit ihrem Zeigefinger den Schüsselrand entlang, führte ihn zum Mund und schmeckte genussvoll die Mischung aus Linsen, Knoblauch, Safran und Öl. Ein Rezept, das der Junge, der bei ihnen lebte, Ganesh, erst kürzlich mit in ihr Leben gebracht hatte.

Noch einmal ging sie mit dem Finger durch die Schüssel. Naschen, dachte sie kurz, das war auch so eine kleine Regung, die es nur dann gab, wenn genug zu essen da war. Arme hatten nichts zu naschen, sie wusste es noch. Bevor die Erinnerung sie wieder mitreißen konnte, zwang sie sich, mit ihren Gedanken zum gestrigen Abend zurückzukehren. Es erschien ihr wichtig, zu verstehen, was in ihrem Haus geschehen war, ausgesprochen und zwischen den Zeilen.

Zufrieden hatte sie zugesehen, wie die Gäste jede ihrer Spezialitäten genossen. Ungewohnt, das wusste sie, weil man ihnen kein Besteck, nicht einmal einen Löffel gegeben hatte, sondern sie nötigte, mit der Hand zu essen. Ja, sie waren zu Gast in Indien und wurden deshalb großzügig bewirtet. Es war immer eine Ehre, einen Gast zu haben. So hatte sie es gelernt und so vermittelte sie es Ganesh. So war es richtig. Aber von Gästen wurde gleichzeitig auch erwartet, dass sie einige ihrer indischen Bräuche mitmachten. Es war wie ein kleiner Scherz, eine Art freundlicher Seitenhieb gegen die sogenannte Zivilisation. Bei dem Gedanken musste sie lächeln und das Bild von den weißen Händen, die unerfahren ihr Essen zum Mund führten und sich danach zu sehnen schienen, einen Löffel zu halten, entlockte ihr sogar kurz ein richtiges Lachen, ein Glucksen von tief innen.

Früher war sie schüchtern gewesen, wenn Gäste kamen. Geschäftsleute, Missionare, Gelehrte waren Menschen, die weit gereist waren und viel von der Welt gesehen hatten. Wer war da sie? Priya, Mutter, Haushälterin, Köchin, Inderin, lebenslang? Eine alte Frau in einem Sari. Sie zupfte den Stoff zurecht, Seide, hellgelb, von feinen Goldfäden durchzogen und mit einer aufwendig verzierten Schmuckborte am Saum. Eine Bahn feinstes Tuch, geschickt gewickelt, einmal um die Hüften gedreht, über die eine Schulter gelegt, gewickelt, über der Choli, der engen Bluse. Noch einmal strich sie mit ihren trockenen Händen über die Seide. Eine fünf Meter lange Stoffbahn, die ganz ohne Nähte, Knöpfe und Reißverschluss auskam und einfach, aber gekonnt um einen Körper gehüllt wurde. Zusammengehalten höchstens von ein paar Sicherheitsnadeln, versteckten kleinen Helferinnen. Ein Sari verlieh Würde, jede Frau wusste das. Auf geheimnisvolle Weise sagte dieses Kleidungsstück jeder, die es trug, dass sie selber einzigartig sei. Das war der Zauber der Farben, der Seide, der Stickereien. Sie atmete tief durch. Seide, sie war fein und stark gleichzeitig, so wie ein Mensch sein sollte. Indien steckte voller Schätze und es war richtig, sie zu zeigen, andere damit zu beschenken, sie selber immer wieder für sich zu entdecken.

Über die Jahre hatte sie sich immer häufiger von ihrem Sohn überreden lassen, sich nicht in der Küche zu verstecken oder sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, sondern auf ihre Weise Teil der Gemeinschaft zu sein.

Früher hatte es diese Möglichkeit zum Rückzug gar nicht gegeben, keinen solchen Schutz der Privatsphäre. Aber hier hatte sie ein eigenes Zimmer. Sie konnte sich noch genau an die erste Nacht darin erinnern, als sie vor etwa zehn Jahren hier eingezogen waren. Am Tag hatte sie die Küche eingeräumt und war dann zwischendurch immer wieder den kleinen Flur entlang zu ihrem Zimmer gelaufen, hatte die Tür geöffnet, vorsichtig in den Raum geschaut und war dann zufrieden wieder zurück in die Küche gegangen. Über die Schwelle wollte sie erst am Abend gehen. Feierlich. Und bis dahin würde sie sicher noch ein paar Mal hinlaufen, wie um zu sehen, ob es noch da war und nicht nur ein Traum.

Damals, vor Jahren, an jenem ersten Abend hier in ihrem neuen Haus, hatte sie den Moment, schlafen zu gehen, noch eine Weile hinausgezögert, hatte dann schließlich ihrem Sohn eine gute Nacht gewünscht und war in ihren Saal getreten. Ja, so fühlte es sich immer noch an: groß und prächtig und sicher. An der einen Wand stand ein Bett mit einer Matratze, einem hellen Laken und einer gewebten grünen Decke. Darüber hingen ein Bild von Teresa und eine Ikone, die eine schwarze indische Maria mit ihrem Baby zeigte. In einer Ecke stand ein Stuhl. In einem Regal lagen ihre Kleider und ihre Habseligkeiten: einige sorgfältig gefaltete Saris, ein zweites Paar Sandalen, ein paar Bänder fürs Haar, ihre alte Brille, ein Stück Seife, eine Bibel. Unter dem Bett konnte sie ihren Koffer erkennen. Das war ihr Reich. Sie hatte es an jenem Abend nicht begreifen können und verstand es immer nicht so recht. Sie konnte jetzt eine Tür schließen und man würde anklopfen, wenn man etwas von ihr wollte. Sie würde so etwas sagen wie „Ja, bitte, gerne, herein, willkommen“ und sich freuen, dass jemand zu ihr kam.

Sie hatte sich damals in der ersten Nacht zuerst einmal vor ihr Bett gekniet und ihre Gebete gesprochen. Eine ganze Weile. Dann hatte sie sich in ihr Bett gelegt, aber ihre Augen konnten nicht schlafen und waren nicht zu überreden, sich zu schließen. Sie mussten schauen und durch ihren Saal wandern, streifen, ja schreiten. Das kleine Fenster, das ein bisschen Licht und Geräusche von der Straße hereinließ, die Tür mit dem Spalt, der ihr zeigte, dass noch Licht im Wohnzimmer war und ihr Sohn also noch wach, der Kleiderhaken mit dem Bügel und ihrem Sari, den sie heute getragen hatte. Das alles war ihres. Immer wieder schüttelte sie ungläubig den Kopf. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht und am nächsten Morgen wieder gedacht: Was für ein Luxus! Ein ganzes großes Zimmer für ein paar Stunden in der Nacht und wenige kleine Momente während des Tages. Ein Schlafzimmer für eine alte Frau und dann hatte sie noch nicht einmal darin geschlafen, sondern hatte wach gelegen. Ob sie das Zimmer wirklich brauchte, war eine andere Frage, aber sie wollte es würdigen und dankbar dafür sein; zurückziehen aber würde sie sich hierhin selten, das wusste sie schon. Je älter sie wurde, desto mehr liebte sie es, mit anderen zusammen zu sein.

Gestern Abend also hatte sie sich nicht zurückgezogen, sondern war dazugekommen. Sie hatte wie selbstverständlich in ihrem Sessel Platz genommen und von hier aus den restlichen Abend über die ganze Szene beobachtet. Ihrem Sohn zuliebe, sagte sie sich zwischendurch ein paar Mal, wie zur Vergewisserung, dass es richtig war. Wenn sie ehrlich war, wusste sie aber, dass sie inzwischen selber sehr gerne Teil dieser Gastrunden war.

Ein undeutliches Bild entstand vor ihren Augen. Es war der Moment, als sie die Mangos serviert hatte. Die Gäste hatten die sorgfältig in kleine Stücke zerlegten, zuckersüßen Früchte ganz andächtig gegessen. Ein fast heiliger Moment. Voller Staunen. Sie nickte innerlich und dachte: Ja, es gibt viele Arten zu beten. Das Sprechen mit dem ganz anderen ist manchmal ein Reden, dann wieder ein mehr schweigendes Hören, es kann auch ein Aufschrei sein oder ein abgrundtiefer Seufzer. Mancher kniet sich hin, so wie sie selbst, andere liegen abends in ihrem Bett, wieder andere gehen nach draußen vor die Tür, vielleicht weil der Himmel dort nicht so versperrt wirkt. Es gibt viele Arten, zu beten, oh ja. Gestern Abend hatten ein paar Gäste sorgfältig zerlegte zuckersüße Mangos gegessen. So konzentriert, aufmerksam, genießerisch, in sich versunken, abwesend, andächtig, einige schlossen sogar für einen Moment die Augen. Sie schmunzelte. Noch einmal dachte sie, berührt von dieser kleinen Entdeckung, die ihr sofort heilig wurde: Es gibt viele Arten zu beten, aber so, Mangos genießend, hatte sie es gestern Abend zum ersten Mal gesehen.

Dem Gespräch hatte sie nicht folgen können, die schnellen englischen Wörter flogen an ihr vorbei wie bunte kleine Vögel. Gezwitscher.Sie wusste, wenn sie wollte, konnte sie sich trotzdem jederzeit in das Gespräch einmischen, überraschend, aus dem Sessel in der Ecke. Sie war alt und genoss Respekt. Schließlich, auch das durfte man nicht vergessen, war sie ja seine Mutter. Priya, wie ihr Name sagte, geliebt. Und so erzählte sie manchmal eine ihrer Lieblingsgeschichten, wohl wissend, dass ihr Sohn die Geschichte schon kannte und die Gäste ihrer Muttersprache, Tamil, so wenig folgen konnten wie sie ihren englischen Worten. Aber keiner hatte es jemals gewagt, sie zu unterbrechen. Man sah sie in diesen Momenten dann interessiert an, nickte sogar zu ihren Worten und sie plauderte eine Weile. Bis sie die Lust verließ, ihr kleines Spiel zu spielen und sie ihre Hände über dem Bauch faltete, sich zurücklehnte und wieder schweigend in ihrem Sessel saß. Sie tat es mit einem Lächeln. Und ihr Sohn hatte ihr einmal gesagt, dass man dieses Lächeln „wissend“ nenne. Das hatte ihr gefallen. Denn es wirkte dann so, als würde sie ein Geheimnis kennen. Und vielleicht war das ja gar nicht so falsch.

An die Spüle gelehnt, stand sie da und sah aus dem Fenster. Sie füllte ein Glas mit Wasser und trank ein paar kleine Schlucke. Sie dachte an ihre Kinder. Sie alle waren erwachsen geworden und hatten etwas gelernt. Sie fühlte sich kurz wie eine Heldin. Ihr Ältester, Jaya, war sehr dunkel. Dunkler als sie, das war das, was wohl jeder als Erstes wahrnahm. Seine Haut war schwarzbraun und glatt. Sie sah ihn vor sich: Er war immer sorgfältig rasiert und trug sein Haar, das an den Schläfen ganz allmählich weiß wurde, kurz - ein interessanter Kontrast zu seinem Gesicht. Er wirkte schmal und klein, besonders heute im Verhältnis zu den ausländischen Gästen. Sein hellblaues Hemd ließ ihn frisch aussehen und fiel großzügig über den kleinen Bauchansatz. Aber das Auffälligste blieb sein Gesicht: Sein kräftiges Kinn zeigte seine Willensstärke, seine klugen Augen, wie wach er war. Er hatte immer viel gearbeitet, als Kind schon, und er liebte Menschen.

Als sie gestern Abend schließlich müde vor ihrem Bett kniete, ihren Knien sah man dieses Ritual nach den vielen Lebensjahren an, hatte sie den Gott, dem sie vertraute, wieder einmal darum gebeten, er möge ganz besonders gut auf das Herz ihres Sohnes aufpassen und ihm göttliches Licht und Leichtigkeit schenken.

Sie dachte an die Zeit zurück, als er zur Welt gekommen war. Wie schwierig alles war, weil ihr Mann in den ersten Jahren monatelang weit weg in Sri Lanka gearbeitet hatte und trotzdem nur sehr wenig Geld für sie zu Hause erübrigen konnte. Sie war Mutter von vier Kindern und dann Witwe und Mutter und eigentlich die ganze Zeit über immer schon vollkommen auf sich gestellt gewesen. Aber sie hatte großes Glück gehabt, hatte Arbeit gefunden und ihre Kinder hatten alle zur Schule gehen können, das Mädchen und die Jungen. Sie waren alle lebhaft und fleißig und man hatte sie unterstützt. Sie hatten ihre Chance erkannt und wahrgenommen, ja wahrhaft ausgeschöpft.

Als sie heute Morgen aufwachte, war Jaya schon weg gewesen. Sie merkte beim Aufräumen bald, dass es dabei nicht um die paar Teller und Schüsseln ging, sondern vor allem um die verschiedenen Eindrücke, die diese Gäste in ihrer Seele hinterlassen hatten.

Wieder schüttelte sie den Kopf, aber die Gedanken ließen sich nicht verjagen. Die Mischung aus Fremdheit und Dankbarkeit, die sie gegenüber dieser Art von Gästen jedes Mal empfand, brachte Unruhe in ihren Kopf. Ein irritierendes Durcheinander von Gefühlen, Erinnerungen und Verpflichtungen. Die Gewissheit, dass sie die größte Verbundenheit immer ihrem Sohn entgegenbringen würde, schenkte ihr vorläufig Frieden.

Um sich abzulenken, stellte sie den Fernseher an. Er brachte Bilder und Worte in ihr kleines Haus, er brachte die Welt zu ihr. Ein Freund kam manchmal abends vorbei, um mit Jaya die Nachrichten anzusehen, und meinte dann oft kopfschüttelnd, so ein Fernseher sei doch ein Wunder. Aber da hatte sie nur jedes Mal entschieden widersprechen können. Ein Fernseher zählte zu den Phänomenen, die dieser Freund und sie selber nicht erklären konnten, aber sie wusste, es gab Menschen, die diese Dinge sehr gut begreifen, verstehen und sogar weiterentwickeln konnten. Ein Wunder aber war etwas vollkommen anderes. Und das sollte er eigentlich auch wissen. Ein Wunder war ein Ereignis einer ganz anderen Dimension.

Die aktuelle Sendung zeigte, dass mehrere Tausend Reisbauern in Chattisgarh verhaftet worden waren. Das weckte ihr Interesse. Die Männer, Frauen und Kinder hatten das Demonstrationsverbot missachtet, waren in den Bus der Polizei gesetzt und zur Polizeistation gebracht worden, wo man wohl ihre Namen aufgeschrieben und sie dann wieder hatte gehen lassen. So etwas kam immer mal wieder vor. „Saatgut-Satyagraha“ nannten sie ihre Aktion.

Sie musste lachen, ein feines Kichern jetzt, das Einverständnis ausdrückte und Zufriedenheit, weil ihr klar wurde, dass diese mutigen Bäuerinnen und Bauern eigentlich nur taten, was sie im Geschichtsunterricht gelernt hatten, falls sie zur Schule gegangen waren. „Satyagraha“, das war ziviler Ungehorsam. Satyagraha war die gewaltlose Bewegung für die Wahrheit, für die Freiheit Indiens, gegen die Fremdherrschaft durch die Kolonialmacht, gelernt aus den Büchern oder, wie man auch sagen könnte, vererbt von Gandhi, einem ihrer wirklich Großen. Und diese Methode hatte nicht nur politische Freiheit durchgesetzt, sie überzeugte bis heute als Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Aber sie verstand nicht genug von den Zusammenhängen, um wirklich zu erkennen, wofür diese Bauern kämpften. Intuitiv aber war sie auf ihrer Seite und stimmte ihrem Anliegen innerlich zu.

Auch danach würde sie ihren Sohn heute Abend fragen. Worum ging es bei dieser Satyagraha der Reisbauern? Sie wollte es wissen. Sie mochte alt sein, aber noch lebte sie schließlich in dieser Welt.

Kapitel 2

Anne stand vor dem Spiegel und trug sorgfältig etwas Lippenstift auf, dezent, rosig. Sie lächelte sich selber zu und sagte: „Anne, sei mutig! Du schaffst das.“ Ein kurzer Schwindel überkam sie bei dem Gedanken, dass sie in diesem letzten Abschnitt ihres Lebens noch so scheinbar unendlich viel zu erledigen hatte. So viele Geheimnisse mussten bewahrt, andere dagegen dringend enthüllt werden. Sie warf sich einen letzten trotzigen Blick zu und ging die Treppe hinunter in die Küche.

Wie jeden Morgen nutzte sie die vierundzwanzig Stufen, um sich auf die ersten Begegnungen des Tages vorzubereiten. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter würden beide eine Tasse heißen Kaffee vor sich stehen haben, daneben ihren jeweiligen Lieblingsteil der Tageszeitung. Sie fragte sich, ob Matt jemals etwas anderes las als innen- und außenpolitische Neuigkeiten und ob Amys Welt nicht ohnehin nur ein einziges Feuilleton war. Die beiden würden nicht viel reden, sie mit einem kurzen Nicken begrüßen und wieder zwischen den Zeilen versinken. Anders Tom, ihr Enkel, der sich tatsächlich immer noch jeden Morgen zu freuen schien, sie zu sehen. Und das war jetzt seit seiner Geburt vor siebzehn Jahren so.

Als sie die Küche betrat, spürte sie sofort, dass etwas Wichtiges geschehen sein musste. Wenn es wohl auch noch nicht zur Sprache gekommen zu sein schien, denn alle schwiegen. Sie sah zu ihrem Sohn hinüber und ihre Blicke trafen sich. Wärme überkam sie und die Gewissheit von Verbundenheit und Verstehen. Es war wieder so weit. Er würde sie erneut für eine Weile verlassen. Sie wusste es sofort. Sie riss sich zusammen, um nicht ihren ersten Impuls laut zu äußern: Bitte, entscheide dich diesmal aber endlich für das richtige Land!

Matt wusste später nicht mehr, warum ausgerechnet dieser Zeitungsartikel ihn so berührt hatte. Vielleicht lag es an seiner eigenen Angst vor Wasser. Schwimmen hatte er eigentlich nie richtig gelernt, was für einen Jungen in Kalifornien, der wie alle seine Freunde einen großen Pool im Garten hatte, äußerst ungewöhnlich war. Die Vorstellung, nachts im Schlaf von einer nassen Flut überrascht zu werden, war einfach unerträglich. Die Bilder, die der kurze Artikel in ihm auslöste, waren schrecklich. Er sah ganze Dörfer, die weggeschwemmt wurden, weil niemand der Bevölkerung rechtzeitig Bescheid gesagt hatte. Er sah Kinder. Er sah die gigantischen Mauern eines Staudamms. Und spürte plötzlich den spontanen Wunsch, nach Indien zu reisen.

Er hatte solche Gedanken schon früher gehabt, war in Nicaragua gewesen, in Brasilien, in Israel und Palästina, in Südafrika. Er hatte sich als Wahlbeobachter engagiert und in der Entschuldungskampagne, hatte immer wieder kleine Projekte unterstützt, die ihn überzeugten, sich als Anwalt eingemischt, für amnesty gearbeitet. Aber Indien war bisher nicht in seinen Plänen vorgesehen gewesen. Er reiste gerne. Aber nicht, um Urlaub zu machen, sondern um die Welt kennenzulernen, um zu verstehen und, wenn es möglich war, um irgendwie zu helfen. Um zu tun, was er konnte. Er hatte genug Geld verdient, jetzt fragte er sich, wozu.

Er sah seine Frau an und nahm ihre Hand, drückte sie kurz, beugte sich zu ihr und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Sie dankte es ihm mit einem Lächeln, allerdings ohne sich auch nur einen Moment wirklich ablenken zu lassen. So war sie, Amy. Er sah seinen Sohn an, Tom. Die perfekte Mischung aus Amy und ihm selbst. Er hatte ihren Stolz, aber nicht ihr Misstrauen, seine Zugänglichkeit, aber nicht seine Leichtgläubigkeit. Er hatte außerdem ihren Sinn für Kunst und Logik und sein Faible für Sprachen. Lange Beine wie sie beide und seine hohe Stirn. Und er hatte die Liebe, die beide diese siebzehn Jahre lang an ihn weitergegeben hatten. Ob er eher ihren Ehrgeiz oder seinen Idealismus geerbt hatte, würde sich wohl erst in den kommenden Jahren herausstellen. Er sah ihn an und ein zweiter Gedanke überkam ihn, ebenso heiß wie der plötzliche Wunsch, nach Indien zu reisen: Er würde Tom mitnehmen. Diesmal würde ein Sohn ihn begleiten und sie beide, ein Vater und sein Kind, würden gemeinsam eine neue Welt entdecken.

Manchmal dachte er, dass seine Mutter tatsächlich Gedanken lesen konnte. Auf ihrem Gesicht lag in diesem Moment so etwas Friedliches, wie ein Schimmer von tiefer Freude, unterstützt vielleicht von dem zarten Rosa ihres Lippenstiftes. Sie sah auf die Zeitung, die vor ihm lag, und dann hoch zu ihm. Ihre Blicke trafen sich. Er wusste, sie hatte wahrgenommen, dass er den Artikel über das Narmada-Tal gelesen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen und nickte ihm zu. „Endlich“, sagte sie. „Endlich wirst du nach Indien reisen.“

Amy guckte fragend Matt an, der unsicher und wie ertappt sagte: „Der Gedanke kam mir tatsächlich gerade erst, heute Morgen, als ich diesen Artikel hier las.“

Amy las schnell die Überschrift und fragte leise: „Und wann? Wann wirst du dorthin reisen?“

Matt zögerte, als würde er auf eine innere Uhr hören, und meinte dann: „Im Frühjahr, wenn Tom mit der Schule fertig ist. Ich will, dass Tom diesmal mitkommt.“ Amy stand auf, ging zum Kaffeeautomat. Das Zermahlen der Bohnen dröhnte in der Stille wie ein feindlicher Hubschrauber im Anflug.

Mit einer Tasse frischem Espresso kam sie zurück an den Küchentisch und sah jetzt herausfordernd ihre Schwiegermutter an. „Und du? Was sagst du dazu? Wirst du deinen Sohn wieder mit deinem Segen ziehen lassen? Und wirst du auch erlauben, dass er diesmal sogar deinen Enkel mitnimmt? Dass er ihn mit hineinzieht in diesen Spleen, die Welt zu verbessern, der offensichtlich niemals enden will?“

Amy sah herausfordernd in die Runde am Tisch, sah die tiefen dunklen Augen ihrer Schwiegermutter, die unruhig suchenden Augen ihres Mannes. Dem irritierten Blick ihres Sohnes wich sie schnell aus, schüttelte den Kopf und setzte sich auf ihren Platz. In der rechten Hand hielt sie die kleine Kaffeetasse, mit der linken strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, steckte eine Strähne hinter das linke Ohr, zuckte die Schultern, griff wieder nach der Zeitung, begann zu lesen und atmete dann, wie um das Ganze abzuschließen, hörbar aus. Wieder einmal fragte sich Anne, wie ein Mensch so viel Verachtung in so ein kleines Geräusch wie ein Schnauben legen konnte. Eine Weile sagte niemand etwas. Angespannt warteten alle darauf, wie dieses Gespräch wohl weitergehen würde. Von Amy würde sicherlich nicht der nächste Impuls ausgehen, sie las betont interessiert den Artikel.

Anne blickte ruhig vom einen zum anderen, räusperte sich, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und sagte dann: „Ich bitte dich, Amy, lass ihn gehen.“ Und dann, an ihren Sohn gewandt: „Und dich bitte ich, in Indien einen Auftrag für mich zu erfüllen. Ich wünschte, ich könnte selbst reisen, aber ich bin zu alt. Deshalb musst du jemanden für mich finden und etwas für mich erledigen.“

Damit stand sie auf, nickte in die Runde, scheinbar ohne jemanden besonders zu meinen, und sagte in einem Ton, der kein Nachfragen und erst recht keine Diskussion erlaubte: „Ich habe noch eine Menge zu erledigen, bevor du abreist.“ Und damit verließ sie die Küche.

Sie ging und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Am Fuß der Treppe blieb sie kurz stehen, als müsse sie innerlich für sich klären, ob dieses Gespräch ihr Kraft gegeben oder ob es sie Kraft gekostet hatte. Sollte sie mit dieser überraschenden neuen Aussicht, dass ihr Sohn nach Indien reisen würde, die Treppe hinauflaufen wie ein junges Mädchen und zwei Stufen auf einmal nehmen wie früher, weil diese Wende, die sich mit diesem Morgen andeutete, sie beschwingte? Sie entschied sich, der anderen Stimmung zu folgen, und ging bedächtig Stufe für Stufe nach oben, das Tempo nicht nur angemessen für eine ältere Dame, sondern sie würdigte damit auch die Aufgabe, die vor ihr lag, und den teuren Gedanken, dies könne die letzte große Tat in ihrem Leben sein.

Oben angekommen merkte sie, wie ihr Herz klopfte, und der Takt schien sich mit Hämmern in ihrem Kopf, hinter ihren Schläfen, fortzusetzen. Eine Flut von Bildern und Worten, Erinnerungen, geflüsterten Versprechen, Geräuschen, Farben und Gerüchen wollten all ihre Aufmerksamkeit, wie die Kinder einer ihrer Schulklassen früher, die sie umringten, ihr etwas zuriefen, an ihrem Rock zupften, ihre Hand nahmen. Sie war zu alt für dieses Durcheinander im Kopf. Im Herz, dachte sie. Es ist das Herz, das noch einmal gefordert ist, wenn alte Geschichten, die begraben waren, neu zum Leben erweckt werden. Mit diesem Gedanken setzte sie sich in ihren großen alten Sessel am Fenster, legte die orangefarbene Wolldecke auf ihre Knie, nahm ihr Tagebuch zur Hand und begann zu schreiben.

In der Küche war Tom der Erste, der die Stille unterbrach, allerdings nur mit einem fragenden Wort, das dann allein im Raum stand: „Indien?“ In seiner Stimme lag dabei etwas Ungläubiges, ein Staunen. Und jetzt schien es, als würden sie alle drei vorsichtig um dieses eine Wort schleichen, würden sich anpirschen, um sich sehr behutsam zu nähern.

„Indien“, wiederholte Tom nach einer Weile schließlich, aber bevor er noch sagen konnte, was dieses Wort in ihm auslöste, unterbrach seine Mutter ihn schon und meinte: „Seid ihr jetzt alle verrückt? Indien liegt am anderen Ende der Welt. Was haben wir mit diesem Land zu tun? Aber das hat dich ja noch nie gehindert, hier alles im Stich zu lassen. Gibt es in unserem eigenen Land nicht genug zu tun? Was ist so schlimm an Amerika, dass du ihm ständig den Rücken kehren musst? Brasilien, Israel, Südafrika - du bist fast fünfzig und immer noch auf der Reise? Findest du das nicht lächerlich? Was suchst du eigentlich? Was ist so toll daran, weit weg zu reisen? Langweile ich dich? Ist es das?“

Amys Stimme war immer schriller geworden und als Matt beruhigend sagte: „Amy, Schatz, jetzt mach doch nicht gleich wieder etwas Persönliches daraus“, fing sie an zu weinen und meinte unter Tränen und mit kalter leiser Stimme: „Wie soll ich das nicht persönlich nehmen, wenn immer alles reizvoller ist als das Leben an meiner Seite?“

Anne saß oben in ihrem Sessel. Obwohl sie keines der Worte hörte, die unten in der Küche ihrer Kinder gewechselt wurden, ahnte sie, wie sich das Gespräch entwickelte. Amy würde Matt anfahren, mit lauten und scharfen Worten, ihm Vorwürfe machen, ihn zum zigsten Mal einen Weltverbesserer nennen und sich dann zurückziehen, verletzt und unerreichbar für ihn. Matt würde immer stiller werden, würde erst noch eine Weile versuchen, um sie zu werben, und es dann müde aufgeben und sich ebenfalls in seine Welt zurückziehen. Tom würde dabeisitzen und nicht verstehen, wie zwei erwachsene Menschen so aneinander vorbeireden können. Aneinander vorbeileben, dachte sie.

Es kam ihr vor, als würden ihr Sohn und seine Frau tatsächlich in zwei völlig verschiedenen Welten leben. Matt in einer Welt, die aus Nationen und Mächten, Geschichte, Wirtschaftsinteressen und Systemen, Ideologien und großen Zusammenhängen bestand. Er hatte sich nie damit abfinden können, wie diese Welt tickte. Er hatte immer versucht, zu verstehen. Zu hinterfragen. Den Konflikten auf den Grund zu gehen. Hinter die Kulissen von Wahlergebnissen und Reden zu blicken. Er hatte immer betont, dass jede Stimme zählt. Dass jeder Mensch einen Beitrag leisten konnte. Leisten musste. Dass man sich nicht gewöhnen durfte an die Gewalt. Dass Gleichgültigkeit die unmenschlichste Regung von allen war und Desinteresse eigentlich nicht zu verzeihen. Er hatte die unmöglichsten Fälle vor Gericht durchgefochten, angeklagt, verteidigt, um Gerechtigkeit gekämpft.

Amy lebte in einer Welt, die aus Tanz, Musik, Ballett und Theater bestand. Sie trainierte hart und der Erfolg gab ihr recht, zumindest innerhalb ihres Wirkungsbereichs.

Als die zwei sich kennengelernt hatten, damals an der Universität, waren sie beide rebellisch gewesen und hatten sich gegenseitig inspiriert mit Ideen, das Establishment aufzurütteln. Amy hatte die Bühne nutzen wollen, um die allzu Sesshaften mit ihren Tanz-Inszenierungen aus den Sitzen zu holen und wachzurütteln. Mit der Zeit aber, so dachte Anne, hatte sie diese Ziele und Ideale aus den Augen verloren und war selbst immer mehr Teil einer künstlichen Theaterwelt geworden. Ihre jetzige Protesthaltung wirkte zu gewollt. Und wenn sie das Publikum auch animierte, aufzustehen, konnte sie ihm doch nicht genau sagen, wofür oder wogegen eigentlich. Matt hatte ihr ihren Erfolg immer gegönnt, sie unterstützt. Aber er hatte sie gleichzeitig auch beständig dazu herausgefordert, sich treu zu bleiben. Bis er ihr irgendwann vorwarf, ihre gemeinsamen Ideale verraten zu haben. Nur um im Gegenzug von ihr zu hören, dass er nie wirklich erwachsen geworden sei und auf dem Niveau eines Träumers lebte.

Anne wurde traurig bei dem Gedanken, wie wenig sich die beiden inzwischen noch zu sagen hatten. Sie dachte an eine kleine Szene, die ihr offenbart hatte, wie es um ihren Sohn und seine Frau stand: Amy war schweißgebadet vom Training oder vom Joggen, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, nach Hause gekommen und war in die Küche gegangen, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Matt hatte sie vom Treppenabsatz aus gesehen und einen kleinen Kommentar abgegeben: „Was für ein Luxus, in einer Welt zu leben, in der einen sonst nichts mehr zum Schwitzen bringt.“

Ob er gewollt hatte, dass Amy diesen spitzen Satz hörte, war Anne nicht klar. Aber sie hatte ihn gehört. Und seit diesem Tag war sie immer seltener zu Hause, blieb immer häufiger im Theater, auch über Nacht, wie, um seinem Zynismus auszuweichen. Anne wusste, dass hinter den bissigen Worten eine tiefe Unruhe lag, eine Sehnsucht, wirklich etwas zu verändern. Und sie wusste, dass sie selber ihrem Sohn diese Haltung vererbt hatte, anerzogen, weitergegeben. Wenn diese Sehnsucht ihn jetzt nach Indien bringen würde, könnte er vielleicht sein Glück finden, dachte sie. Aber er musste seinen eigenen Weg dorthin finden, sie würde sich nicht zu sehr einmischen dürfen. Wie sie sich wünschte, er würde Priya sehen! Und Priya würde ihn sehen - und sie würden das alte Versprechen einlösen können, das sie sich gegeben hatten. Sie merkte, wie unruhig sie bei dem Gedanken wurde. So war es immer schon gewesen: Wenn ihr etwas wirklich am Herzen lag, wollte sie unbedingt, dass Matt es mit ihr teilte. Aber er sollte es freiwillig tun, selbstständig.

Sie kreuzte die Arme vor dem Oberkörper, schloss die Augen und begann sich selbst hin und her zu wiegen. Dazu summte sie ein Kinderlied, aus einer anderen Welt.

Kapitel 3

Priya stand vor der Tür ihres Hauses. Gleich würde Jaya kommen und sie wollte ihn heute direkt hier empfangen. Der Himmel war den ganzen Tag über schon strahlend blau gewesen, die Sonne heiß. Die Mangos am Baum waren reif, auch heute Abend würden sie wieder eine Frucht essen können.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen und zum Nachbargrundstück hinüberschauen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie die Tochter ihrer Nachbarin, die auf dem Boden vor dem Eingang zu ihrem Haus kniete und traditionelle Ornamente auf den Boden malte. Sie grüßten einander freundlich, die jüngere Frau verbeugte sich, aber Priya gab ihr mit einem Lachen und einem Wink zu verstehen, dass sie es nicht übertreiben solle mit diesen Gesten des Respekts, weil sie sich lieber unterhalten wollte.

Shanti war gerade einmal sechzehn Jahre alt. Sie würde wahrscheinlich demnächst verheiratet werden. Dass ihre Mutter es ihr überließ, die althergebrachten Verzierungen zu malen, sprach dafür, dass sie wie eine erwachsene Frau angesehen wurde. „Was malst du?“, wollte Priya wissen. Shanti trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf das Muster. Es zeigte eine Lotusblüte, ganz nach herkömmlichem Vorbild. Priya nickte anerkennend, die junge Frau hatte sehr sorgfältig und ebenmäßig gearbeitet. Die Blüte wirkte sehr symmetrisch; ihre Mutter würde zufrieden sein. Priya schaute noch genauer hin und musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen, um über die Hecke sehen zu können.

„Aber womit malst du denn da?“, fragte sie und Shanti zeigte ihr ein Stück Kreide. Priya schüttelte ärgerlich den Kopf. „Warum nimmst du nicht gemahlenen Reis?“

Aber Shanti konnte nur mit den Schultern zucken. Priya wollte gerade anheben, die junge Frau zu belehren, entschied sich dann aber dagegen. Sie behielt ihre Gedanken für sich. Aufmunternd und zum Abschied nickte Priya ihr zu, lobte sie noch einmal für die Genauigkeit, mit der sie gearbeitet hatte, und ließ einen Gruß an ihre Mutter bestellen. Sie wandte sich wieder ihrem Haus zu, drehte sich dann aber im Gehen doch noch einmal um und forderte Shanti auf, ihre Mutter danach zu fragen, seit wann die Ornamente mit Kreide gemalt wurden statt mit zermahlenem Reis.

Priya setzte sich auf die Stufen vor ihrer Haustür. Der Reis gäbe den Ameisen Futter und würde so verhindern, dass sie ins Haus kämen. Über diesen praktischen Nutzen hinaus war es aber auch eine religiöse Handlung, auf diese Weise Reis zu opfern. Priya selbst hatte sich von den hinduistischen Traditionen ihres Landes gelöst, aber sie dachte doch, dass Bräuche, wenn man sie denn ausübte, auch ihren Sinn behalten müssten und dass Eltern ihren Kindern diesen Sinn begreiflich machen sollten. Sonst sähen die Kinder eines Tages nicht mehr ein, warum sie eine Tradition bewahren sollten. Warum Rituale pflegen, deren Bedeutung man nicht mehr verstand? Von solchen Bräuchen würde man sich über kurz oder lang lösen.

Sie setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, die Treppen vor ihrem Haus. Ornamente und gemahlenen Reis gab es hier nicht. Aber sie hatte einige Niemblätter auf den Stufen ausgebreitet, grüne und einige junge kleine Blätter, die bei diesem Baum rötlich, pink waren. Mit dem Niembaum verbanden sich viele alte Geschichten, dem Baum, seinen Blättern, seinen weißen Blüten und dem Öl seiner Früchte wurden magische Kräfte zugeschrieben, ja manche meinten auch, dass im Niembaum ein Gott wohne. Früher hatte sie gesehen, wie ihre Tante und die anderen Frauen Niemblätter in ihre Kleider nähten und sich davon eine Art übermenschlichen Schutz versprachen. Für Priya war ein Baum ein Baum, kein Gott. Aber sie wusste auch, dass hinter den alten Riten oft nicht einfach ein naiver Aberglaube steckte, sondern etwas Wahres oder eine alte Weisheit. Sie wusste, dass sie nicht wie ihre Tante mit einer unbestimmten Angst vor den Göttern leben wollte, ständig darum bemüht, Geister und Kräfte zu beruhigen oder durch bestimmte Riten für sich zu gewinnen. Dennoch, sie wollte immer gerne herausfinden, ob mit einem Ritual eine hilfreiche Erkenntnis verbunden war, und war immer bereit, zu glauben, dass hinter einer Tradition etwas zum Vorschein kam, das dem Leben diente. Und wenn diese Entdeckung ihren eigenen spirituellen Auffassungen nicht widersprach, würde sie die Erkenntnisse, ihre tiefe Weisheit, vielleicht sogar die Rituale dann auch gerne bewahren.

So hatte sie als Erstes entdeckt, dass der Niem gegen Bakterien und Viren wirkte, und sie hatte schon damals, als ihre Kinder noch klein waren, ihren Husten damit gelindert. Oder einmal hatten ihre Kinder und die des weißen Missionars auch alle miteinander Kopfläuse gehabt und sie hatte ein bestimmtes Gemisch aus den Blättern und dem Öl des Niems genommen und die kleinen Insekten damit besiegt.

Ihr Sohn Jaya war ein echter Gärtner. Hier, rund um ihr kleines Haus und auch in dem Garten hinter dem Kinderheim, erst recht aber auf dem großen Gelände in den Bergen, wo das Kinderhilfswerk ein Camp führte, hatte er schon oft bewiesen, dass er geschickt war im Umgang mit Grün, im Aufziehen von Bäumen und im Züchten von verschiedenen nützlichen Pflanzen. In den Bergen gab es Obstbäume, Orangen, Mangos, Feigen und Granatäpfel, es gab Bohnen, Erbsen, Okra, Kartoffeln, Kräuter wie Petersilie, Thymian, Salbei, Koriander, kleine Beeren, rote und schwarze Johannisbeeren, sogar Kaffee und ein Meer aus Blumen, die jeweils zu ihrer Zeit dem Camp seine Farbe verliehen. Jaya hatte ihr erklärt, dass er das Öl aus dem Niemsamen zur Schädlingsbekämpfung nutzte und als Dünger. Er hatte sie aufgefordert, die alte Tradition, Niemblätter um das Haus zu verteilen, weiter fortzusetzen.

Auf ihre ängstliche Frage, ob er glaube, dass der Niembaum göttliche Macht habe, hatte er sie kurz umarmt und dann geantwortet: „Gott hat göttliche Macht - und ist ein weiser Schöpfer aller Bäume und ein großzügiger Erfinder vieler wunderbarer Geheimnisse, die das Leben unterstützen. Und es ist sehr aufregend, wenigstens einige von ihnen zu entdecken.“ Sie stimmte ihm zu.

Jetzt wartete sie auf ihn. Sie nahm eins der kleinen rosafarbenen Blätter in die Hand und zupfte daran, roch den Geruch an ihren Fingern, legte es wieder aus der Hand. Sie freute sich darauf, die Gedanken dieses Tages mit Jaya zu teilen. Wie, um sich besser auf ihn vorzubereiten, überlegte sie schon einmal, was er wohl an diesem Tag erlebt hatte, welchen Menschen er begegnet und an welchen Orten er gewesen war.

Kapitel 4

Wie verabredet hatte Jaya seine Gäste an diesem Morgen direkt vor dem Eingang des großen Krankenhauses in Vellore getroffen. Die Einrichtung war keine normale Touristenattraktion, diese Klinik war ein Zeugnis wahrer Liebe und Jaya kam gerne hierhin, um Besucherinnen und Besuchern aus Europa oder Amerika die Geschichte ihrer Entstehung zu erzählen. Jaya grüßte in die Runde. Die eigentlichen Freunde und Unterstützer der Pattu-Stiftung, die das Kinderheim trug und darüber hinaus mehrere hundert andere Kinder im Süden Indiens unterstützte und soziale Projekte initiierte, kamen aus Singapur, wo er studiert hatte, und aus Deutschland, eine Verbindung, die auf ganz eigenen Wegen zustande gekommen war. Diese vier Männer waren Amerikaner, ein Arzt, ein Lehrer, ein Journalist und ein Pfarrer, eigentlich Freunde seiner Freunde aus Singapur. Er hatte sie vor drei Tagen am Flughafen in Chennai in Empfang genommen, hatte sie gestern Abend in seinem Zuhause empfangen, bot ihnen für eine Woche seine Gastfreundschaft an. Einer von ihnen, der Lehrer, war bereits vor zwei Jahren einmal hier bei ihnen zu Besuch gewesen. Für drei von ihnen war es der erste Besuch in Indien. Sie wohnten im Kinderheim, in den Gästezimmern, die genau für solche Gelegenheiten gebaut worden waren, in der zweiten Etage des Hauses, jeweils mit eigenem Bad und westlicher Toilette.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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