Selbst ist der Mörder - Horst (-ky) Bosetzky - E-Book

Selbst ist der Mörder E-Book

Horst (-ky) Bosetzky

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der 42-jährige Simon Kesseling will als Politiker in der Partei Deutschlands Glück (DG) Karriere machen. Der studierte Politologe verdient sein Geld als Geschäftsführer einer Cateringfirma in der Nähe der Schönhauser Allee. Um bundesweit bekannt zu werden (»Alle kennen Kesseling!«), beschließt er, Thorben Lucka, einen Schulfreund mit krimineller Vergangenheit, anzuheuern, der zum Schein ein Attentat auf ihn verüben soll. Doch dabei stirbt Kesseling wirklich …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 277

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Horst Bosetzky

Selbst ist der Mörder

Kriminalroman

Zum Buch

Neuer Krimi vom Urgestein -ky. Der 42-jährige Simon Kesseling ist der neue Shooting Star der Politik. Er will in der Partei Deutschlands Glück (DG) Karriere machen. Um bundesweit bekannt zu werden (»Alle kennen Kesseling!«), beschließt er, Thorben Lucka, einen Schulfreund mit krimineller Vergangenheit, anzuheuern, der zum Schein ein Attentat auf ihn verüben soll – doch dabei stirbt Kesseling wirklich. Gunnar Schneeganß, Manhardts Nachfolger in der Mordkommission, und seine Assistentin Jessica Schamp kommen mit der Aufklärung des Falles Kesseling nicht voran, denn es gibt fünf Tatverdächtige. Es gilt herauszufinden, ob der wirkliche Täter vom Plan des Scheinattentats gewusst und dies ausgenutzt hat. Wird es Hansjürgen Mannhardt und seinem Enkel, dem Jurastudenten Orlando, gelingen, den Mörder zu stellen? Eine wahrlich schwierige Ermittlung – denn wer wäre schon auf … gekommen!?

Dr. Horst Bosetzky (ky) wurde 1938 in Berlin geboren. Der emeritierte Professor für Soziologie veröffentlichte neben etlichen belletristischen und wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche, zum Teil verfilmte und preisgekrönte Kriminalromane. 1992 erhielt der Altmeister des neuen deutschen Krimis den Ehren-Glauser des SYNDIKATS für das Gesamtwerk und die Verdienste um den deutschsprachigen Kriminalroman. 2005 wurde ihm der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Zehn Jahre lang war Horst Bosetzky Sprecher des SYNDIKATS und Gründungsmitglied von QUO VADIS. Neueste Veröffentlichungen: »Teufelssee« (2017), »Die Gebrüder Sass – geliebte Genoven« (2017), »Abgerechnet wird zum Schluss« (2018). Besuchen Sie: www.horstbosetzky.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Abgerechnet wird zum Schluss (2018)

Die Brüder Sass – Geliebte Ganoven (2017)

Teufelssee (2017)

Eingebunkert (2016)

Witwenverbrennung (2015)

Fahnenflucht (2013)

Der Fall des Dichters (2012)

Nichts ist so fein gesponnen (2011)

Promijagd (2010)

Unterm Kirschbaum (2009)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Interview S. 103/104: mit freundlicher Genehmigung von DuMont Content Center (die Angabe bezieht sich auf die Seitenzahl der gedruckten Ausgabe)

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Evelyne/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5836-1

Zitat

Wenn man davon ausgeht, dass Ordnung immer fragil undder Mensch von Natur aus aggressiv ist, dann ist jeder Tag, an dem nichts passiert, ein Wunder!

Alain de Botton

EINS

Die Kugel sollte zwei Zentimeter über der Nasenwurzel in die Stirn gehen. Thorben Luckas ausgestreckte rechte Hand bewegte sich beim Zielen keinen Millimeter nach oben oder unten, nach links oder rechts. Er stellte sich vor, sie sei aus Bronze, ebenso wie sein ganzer Körper. Das funktionierte immer. Entschlossen drückte er ab.

*

Seit der 42-jährige Simon Kesseling, studierter Politologe und Volkswirtschaftler, die Partei »Glückliches Deutschland« (GD) gegründet hatte, trat er irgendwie auf der Stelle.

»Keiner kennt Kesseling«, klagte er seinem Freund Doktor Rainer Rietzel gegenüber, der Topmanager bei einer großen Aktiengesellschaft war und seiner Partei als Public Relations-Berater diente. »Keiner hat von meiner Partei etwas gehört.«

Rietzel lachte. »Gott, Simon, kein Wunder. Du musst unbedingt mehr tun, um in die Schlagzeilen zu kommen.«

Kesseling nahm sich das sehr zu Herzen, und bei der nächsten Mitgliederversammlung der GD in der Max-Schmeling-Halle legte er ungebremst los.

»Wir wollen, dass die Deutschen glücklich sind, und das können sie nur, wenn unser Land nicht länger mit Krimis überschwemmt wird. Mord und Totschlag überall, egal ob im Kino, im Fernsehen, im Radio oder in den Buchhandlungen. Schluss damit! Lasst uns lachen und glücklich sein! Und noch etwas: Wir wollen, dass die Deutschen glücklich sind, und das können sie nur in einem geeinten Europa sein. Darum sollten wir gemeinsam Front machen gegen alle Nationalisten, ob sie nun Boris Johnson, Marie Le Pen oder Viktor Orbán heißen. Ach ja, Verzeihung, dieses Manneken PiS in Polen habe ich ganz vergessen.«

Das gab die ersten Lacher, ja Brüller, und Kesseling konnte hoffen, dass die anwesenden Journalisten anbeißen würden und erst recht seinen nächsten Kracher beachteten.

»Wir alle wollen, dass die größtmögliche Zahl an Deutschen glücklich ist, und darum fordern wir die Einrichtung von Bordellen für Asylanten. Wo sollen denn die armen arabischen und afrikanischen Männer mit ihrem riesigen Testosteron-Überschuss hin? Sollen sie weiterhin unsere Frauen und Mädchen betatschen, vergewaltigen oder gar ermorden?! Nein! Und darum sollen wir ihnen ebenso Bordelle hinstellen wie früher unseren Soldaten. Wenn ihr das so seht wie ich, dann spendet jetzt zweimal: einmal mir Beifall und zum anderen Geld zur Eröffnung des ersten Asylantenbordells in der Nähe des Flughafens Tempelhof.«

Das funktionierte ganz gut, aber er war längst noch nicht da, wo er hinwollte. Seit seinem zehnten Lebensjahr identifizierte sich Simon Kesseling mit jenem Herostratos, der im Jahre 356 vor Christus den 200 Jahre alten Tempel der Artemis in Ephesos in Brand gesteckt hatte, um mit dieser Tat unsterblich zu werden. Was ihm ja auch gelungen war. In seiner Fantasie hatte sich Kesseling in der Zeit seiner Pubertät immer wieder vorgestellt, in Berlin ein Gebäude in Brand zu stecken, das für die Stadt von hohem Wert war. Aber welches? Der Reichstag ging nicht, weil mit dem schon der Name Marinus van der Lubbe verbunden war. Und Funkturm und Brandenburger Tor ließen sich nicht niederbrennen. War ihm nur die Gedächtniskirche geblieben, was ja auch irgendwie logisch war, weil Tempel und Kirche in etwa dasselbe waren. Befeuert hatte ihn damals auch ein Gedicht Georg Heyms »Der Wahnsinn des Herostrat«, von dem er viele Zeilen auswendig hersagen konnte, etwa:

Wer ist der Größte! Ich …

(…)

Ich, Herostrat von Ephesus genannt,

Ein armer Goldschmied, doch vom Ruhm gekrönt.

Und die Geschlechter, die der Schoß der Zeit

Zum Lichte »häuft«, sie werden meinen Namen

Mit Ehrfurcht nennen …

Er strahlt dem Sirius gleich.

Nun, Simon Kesseling hatte die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nicht in Brand gesteckt, denn er kam aus gutbürgerlichem Hause, und seine Eltern hatten ihm ein starkes Über-Ich mitgegeben, das seine asozialen Triebkräfte doch noch zu zügeln verstand, doch der Herostratos steckte auch 20 Jahre später noch immer in ihm, auch wenn er sein Studium der Volkswirtschaftslehre und der Politologie mit Supernoten abgeschlossen hatte und Eigentümer einer Cateringfirma in der Greifenhagener Straße geworden war. Aber was war das schon, wenn er an all die prominenten Politiker, Sportler, Schauspieler und Fernsehgrößen dachte. An denen gemessen war er ein Nichts. Und das schmerzte ihn fürchterlich, das fraß ihn innerlich auf. Also hatte er eine Partei mit dem Namen »Deutschlands Glück« (DG) gegründet und träumte von einem Aufstieg, wie ihn Donald Trump der Welt vorgemacht hatte. Er sah sich als den Bundeskanzler, der in Deutschland nach Ende der Merkel-Ära die Macht übernahm. Bernhard Haslinger, der Leiter für beginnende Psychosen an der Berliner Charité, hätte im Fall Simon Kesseling seine Hypothese bestätigt gefunden: Der pathologische Narzisst versucht unbewusst durch übersteigerte Größenfantasien sein eigentlich tief empfundenes Minderwertigkeitserleben, seine innere Verlorenheit abzumildern.

*

Die Greifenhagener Straße lag ganz in der Nähe des S- und U-Bahnhofs Schönhauser Allee und reichte von der Gneiststraße im Süden bis zur Wisbyer Straße im Norden. Zweigeteilt wurde sie vom Graben der Ringbahn, über den keine richtige Brücke hinweg führte, sondern nur ein Steg für Fußgänger und Radfahrer. Überquerte man den, sah man zur Linken die Türme der Gethsemanekirche in den Himmel ragen, und nicht wenige Berlintouristen erinnerten sich bei deren Anblick daran, dass die Gethsemanegemeinde vor der Wende 1989 ein Sammelpunkt der Opposition in der DDR und der Friedensbewegung gewesen war.

Überquerte man hinter dem Platz mit der Kirche die Stargarder Straße, kam man zum Ladenlokal der Cateringfirma PHS, dem Partyservice »High Society« (Catering & Events). Finger- und Gabelfood hatte man im Angebot, auch Minibrötchen, rustikale und fürstliche Buffets, dazu exzellente Weine und Live Cooking. Man befand sich hier inmitten der angesagten Wohngegend Prenzlauer Berg, auf berlinisch Prenzlberg, und folglich liefen die Geschäfte mehr als gut.

Über den Werbeslogan »Glückliche Stunden mit uns« war Simon Kesseling auf den Namen seiner Partei gekommen: »Glückliches Deutschland«. Und je mehr Zeit er für die Partei aufbringen musste, desto weniger hatte er für seine Firma, sodass er nur noch als eine Art Einmann-Aufsichtsrat fungierte und die Geschäfte seine Freundin führen ließ, Simona Nawrocki, die nicht nur einige Semester Betriebswirtschaftslehre studiert hatte, sondern auch als Model hervorgetreten war und den großen Hingucker abgab, wenn sie das Live Cooking besorgte. Das Kochen, die Patisserie, das Liefern der Speisen und das Herrichten der Tische und alles Kaufmännische besorgten bewährte Stammkräfte wie auch stundenweise angeheuerte Leute.

Der erste Kunde heute war gar keiner, sondern ein Journalist, dem Kesseling kostenlos ein Geburtstagsmenü für zehn Gäste geliefert hatte, und der dafür etwas über ihn und die GD schreiben wollte, Überschrift »Partei statt Party«.

Als das Interview abgehakt war, kam Simona Nawrocki ins Geschäft und begrüßte ihn mit einer filmreifen Umarmung. Wer ihnen öfter begegnete, fragte sich automatisch, ob sie ein Paar waren. Ja und nein. Sie arbeiteten zwar gemeinsam in der Firma in idealer Weise und schliefen hin und wieder zusammen, aber die große Liebe war es nicht, und vom Traum einer gemeinsamen Zukunft waren sie weit entfernt. Er brauchte sie, um Partei und Publikum zu zeigen, wie Glück in der Partnerschaft aussah, und sie brauchte ihn, um beim Live Cooking, das von einem privaten TV-Sender übertragen wurde, ihre große Bühne zu haben.

»Gehen wir heute Abend ins Kino?«, fragte sie ihn, als alles Geschäftliche besprochen war,

Er lächelte. »Tut mir leid, Süße, ich muss zum Klassentreffen. Die alte 6a trifft sich in einem Restaurant in der Grunewaldstraße. Vor 30 Jahren sind wir alle weg von unserer Grundschule am Barbarossaplatz, und jetzt hat Martina, unsere damalige Klassensprecherin, alle zusammengetrommelt, die sie irgendwie mithilfe des Internets aufspüren konnte.«

»Oh my God, ist das aufregend!«, spottete sie.

»Egal, ich bin gespannt, was aus denen so alles geworden ist.«

»Na, was soll schon sein: Glücklich sind sie geworden, schließlich leben sie in Deutschland. Alles deine Wähler.«

»Okay, das reicht.«

Er ließ sich seine gute Laune nicht verderben und stieg pünktlich in die S-Bahn, um nach Schöneberg zu kommen, in seine alte Heimat. Zur Hauptverkehrszeit mit der Taxe durch die Innenstadt zu fahren, wäre idiotisch gewesen, sie hätten doch nur im Stau gesteckt, und beim eigenen Wagen wäre noch am Ziel die ewige Suche nach einem Parkplatz dazu gekommen. Und noch etwas sprach für Bahn und Bus: Hier konnte er dem Volk aufs Maul schauen und seine potenziellen Wähler kennenlernen. »Einen Tag mit den Öffentlichen durch Berlin erspart mir ein mehrjähriges Soziologiestudium«, hatte er einmal ausgerufen.

Am S- und U-Bahnhof Schönhauser Allee angekommen, bereute er seine Entscheidung schon, denn so dicht das Berliner Netz des öffentlichen Personennahverkehrs auch war, die Fahrt zum U-Bahnhof Eisenacher Straße war nur mit ziemlich umständlich zu bezeichnen.

Für einen Augenblick stand er da und wusste nicht weiter. Er hatte schon die Schlagzeile vor Augen: »Parteiführer hilflos wie Buridans Esel«. Gott, der hatte sich nur zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden gehabt, bei ihm waren es aber drei. Da half es auch nicht, dass er eine Münze warf. Was also tun? Er lief nun doch zu seinem Mercedes und quälte sich auf verstopften Straßen Richtung Süden. Dafür hatte er dann das Glück des Untüchtigen, denn direkt vor dem Mietshaus in der Eisenacher Straße, in dem er aufgewachsen war, fand er einen Parkplatz. Dennoch stand er eine gute Viertelstunde später als ausgemacht vor ihrer Grundschule am Barbarossaplatz.

»Kesseling!«, rief Martina. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, du wirst heute eine Stunde nachsitzen und schreibst hundertmal: Pünktlichkeit ist eine hohe Tugend.«

Auch alle anderen Klassenkameraden und -kameradinnen begrüßten ihn mit großem Hallo, und er genoss es, der einzige Prominente zu sein. Nur einer sah ihn düster an: Thorben Lucka. Kesseling begriff auch schnell, warum das so war: Zu oft hatte er Thorben wegen dessen intellektuellen Fehlleistungen gehänselt (»Seinetwegen überlegen sie jetzt beim Schulsenator, ob sie nicht die Note Sieben einführen sollten.«), zu oft hatten sie sich geprügelt und blutige Nasen eingehandelt.

Beim Rundgang durch ihre alte Schule waren sie dann auch darauf bedacht, immer genügend Abstand zueinander zu haben, im Lokal wurden sie aber von Martina nebeneinander platziert.

»Damit ihr endlich nach 30 Jahren euren Frieden miteinander schließen könnt.«

»Mit dem nich«, brummte Lucka. »Wegen dem hab ick ma jestan extra ’ne Pistole jekooft, damit ick ihn nachher umlejen kann.«

Nach dem Essen mussten sie dann auf Martinas Geheiß alle erzählen, was sie denn so machten, und da stellte sich heraus, dass alle nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden waren, wie es ihre Klassenlehrerin immer formuliert hatte, also Handwerker, Händler, Angestellte und Beamte. Mit einer Ausnahme: Thorben Lucka.

»Ick habe nüscht weita jelernt, als wie man am besten einbrechen kann, und in Tejel im Knast ooch mal inna Werkstatt da Tischla. Und weil ick weeß, wie det is mits Einbrechen, da tue ick jetz als Wachschutzmann meene Kohle vadien’n.«

»Du könntest auch bei mir in der Firma arbeiten, als Fahrer und im Lager, und da das Doppelte verdienen«, sagte Kesseling und legte seinen Arm um Luckas Schulter. »Damit wir uns endlich miteinander versöhnen. Und später wirst du dann mein Leibwächter, wenn ich mit meiner Partei bei 20 Prozent Wählerstimmen angekommen und Minister bei Frau Merkel geworden bin.«

»Na jut, allet vajehm und vajessen. Uff unsre Zukunft!«

Sie stießen an, und am Ende ihrer kleinen Feier schlug Kesseling dem neu gewonnenen Freund vor, ihn nach Hause zu fahren, zu viel getrunken hatte er nicht. »Thorben, wo wohnst du denn?«

»Nicht weit weg vom Kotti, Lachmannstraße. Det is direkt am Zickenplatz.«

Das war von der Grunewaldstraße keine Riesenentfernung, und in einer Viertelstunde hatten sie ihr Ziel erreicht.

»Komm mal mit ruff«, sagte Lucka. »Dann zeich ick dir mal det Einzije, wat ick jut kann: Schießen.«

»Schön, ist ja noch früh am Abend.« Kesseling stieg ebenfalls aus.

In Luckas Zweizimmerwohnung gab es einen langen Flur, und an dessen Ende hatte er eine Mannscheibe mit verschiedenen Trefferzonen und -punkten aufgestellt. Und schon hielt er eine Luftdruckpistole in der Hand.

»Eene von die Firma Weihrauch, eene HW 75. Hat ma über 300 Mäuse jekostet. Dafür sieht se ooch aus wie echt. Wat soll ick’n nu treffen?«

Kesseling überlegte einen Augenblick. »Sagen wir: ins rechte Auge.«

»Wird jemacht.«

Lucka zielte nur kurz, um dann auszurufen: »Treffer!«

Kesseling klatschte Beifall und ließ sich von Lucka erklären, wie man die Waffe mit »aufsitzendem Spiegel« halten musste, dass es hieß »Schütze hält Fleck«, wenn er genau auf den Punkt zielte, wo der Schuss hingehen sollte, und man von einer »gestrichenen Visierung« sprach, wenn Kimme und Korn korrekt zueinander ausgerichtet waren.

Während dieses kleinen Vortrags hatte Simon Kesseling die geniale Idee eines Scheinattentats. Wenn Lucka so gut schießen konnte, dann war es doch eine Kleinigkeit, wenn er irgendwo in der Stadt auf ihn schoss und die Kugel dabei seine rechte Schulter streifte. Das gab überall Riesenschlagzeilen und kam in die »Tagesschau« und die »Heute«-Sendung.

»Komm, setz’ dich mal, Thorben, ich hab’ da eine schöne Aufgabe für dich, und wenn alles gelingt, hast du 10.000 Euro bar auf die Hand.«

*

Nachdemsich Simon Kesseling und Thorben Lucka über die Ausführung des Scheinattentats einig geworden waren, brauchten sie einige Tage, um Ort, Wochentag und Zeit so festzulegen, dass mit dem optimalen Erfolg zu rechnen war.

»Der Ort muss nicht nur in Berlin einen hohen historischen Stellenwert haben«, begann Kesseling ihre Beratung, »sondern auch in ganz Deutschland bekannt sein. Der U-Bahnhof Eberswalder Straße hier bei mir vor der Tür scheidet also aus.«

»Und nicht zu vergessen, was für mich det Wichtigste is: der Fluchtweg«, fügte Lucka hinzu, am Ende seiner Ausführungen ins Berlinern verfallend. »Wenn se mich gleich schnappen, ham wa beede mit Zitronen jehandelt.«

Kesseling sah ihn an. »Dann mach mal ’n paar Vorschläge.«

Lucka musste nicht lang überlegen. »Gleisdreieckpark. Da bin ich schnell auf der Yorckstraße und kann in die U-Bahn runta und zur S-Bahn nach ohm renn’n.«

Kesseling schüttelte den Kopf. »Wer kennt in München schon den Gleisdreieckpark?«

»Dann mach du doch ’n Vorschlag!«, rief Lucka, leicht gekränkt.

»Wie wär’s unten am Fuße des Funkturms?«, sagte Kesseling, ohne lange nachzudenken.

Lucka tippte sich an die Stirn. »Da müsste ick durch zu viele Gebäude durch, bevor ick wieda uff da Straße bin.« Außerdem, fügte er noch hinzu, käme ma da zu bestimmten Tageszeiten nicht aufs Gelände.

Kesseling fasste sich an den Kopf. »Du hast recht, wir müssten uns erst über die optimale Tageszeit und den optimalen Wochentag klar sein. Optimal im Hinblick auf das Echo in den Medien. Wann bekomme ich die größten Schlagzeilen? Wann lesen die meisten Leute Zeitung, wann sehen sie am meisten fern, wann hören sie am meisten Nachrichten?«

Lucka grinste. »Jib doch bei den Meinungsforschern ’ne kleene Umfrage in Auftrag.«

»Haha! Ich vermute mal, dass Freitagabend so gegen 19.00 Uhr das Beste für uns ist. Da sind wir dann um 20.00 Uhr in der ›Tagesschau‹ und kommen noch dicke in die Wochenendausgaben der Zeitungen.«

»Okay, wenn det klar is, dann zurück zu die Frage, wo ick denn nu zuschlajen soll.«

Kesseling stand auf. »Vertagen wir uns bis morgen, dann schreibe ich mal alle möglichen Tatorte auf, die mir so einfallen, und die sehen wir uns dann alle vom Auto aus an.«

Kaum war er allein zu Hause, machte sich Kesseling ans Werk und bekam eine Reihe spektakulärer Orte zusammen:

• Auf dem Alexanderplatz

• Vor dem ARD-Hauptstadtstudio am Reichstagsufer

• Vor dem Reichstagsgebäude

• Vor dem Brandenburger Tor

• Vor der Neuen Wache Unter den Linden

• Vor dem Denkmal Friedrich des Großen Unter den Linden

• Im Hauptbahnhof

• Vor der Kongresshalle (Haus der Kulturen der Welt)

• Vor dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt

• An der Siegessäule

• Im Holocaust-Mahnmal

• Vor der Gedächtniskirche

• Auf dem Potsdamer Platz

• Am Eingang zum Olympiastadion (vor einem Hertha-Spiel)

• Auf einem S-Bahnhof (Gesundbrunnen, Südkreuz, Westkreuz)

• Auf einem U-Bahnhof (vielleicht Hermannstraße, siehe »U-Bahn-Treter«)

Als er Lucka diese Liste vorlegte, schloss der nur die Augen und mimte den Verzweifelten. »Da kann ick ma nich entscheiden. Wo hängt da ’ne Videokamera und wo nich? Wo habe ick det beste Büchsenlicht? Wo kann ick am besten abtauchen?«

»Komm, setzen wir uns in mein Auto und sehen uns alles ganz genau an«, schlug Kesseling vor.

Das taten sie dann auch, und während ihrer Stadtrundfahrt kam bei Lucka eine Frage auf, die sie vorher noch gar nicht beachtet hatten. »Du hast mir jesagt, wo du wann sein wirst, aber woher soll ein echta Attentäta det wissen?«

Kesseling musste ihm recht geben. »Vielleicht ist er ein Hacker und hat in meinem Computer den Terminkalender gefunden?«

Lucka kam von dem nicht los, was er eben gedacht hatte. »Wenn et würklich ein echte Attentäta gewesen wäre, denn hätte der det doch am einfachsten jehabt, wenn er dir von deim Jeschäft uffjelauert hätte.«

»Kann ja sein«, musste Kesseling ihm zugestehen. »Aber die Greifenhagener Straße ist kein besonderer Ort, die kennt selbst in Berlin kaum einer, und die gibt rein optisch nichts her, wenn du sie auf dem Bildschirm siehst.«

»Dann musste endlich mal sagen, watte willst!«, rief Lucka.

»Los, gucken wir uns alles mal an und jeder vergibt Punkte zwischen eins und zehn. Eins gleich 100-prozentig nicht geeignet, zehn gleich optimal. Dann addieren wir meine und deine Punkte. Auf 17 muss ein Ort schon kommen, damit er eine Chance hat.«

»Hört sich jut an, richtich wissenschaftlich. Dann mal los!«

Sie begannen mit der Innenstadt zwischen Alexanderplatz und Siegessäule.

Lucka fand den Alex wunderbar geeignet, weil es da x Eingänge zur U- und S-Bahn gab, in denen er nach den Schüssen blitzschnell verschwinden konnte. Auch gab es ringsum genügend Eingänge zu Kaufhäusern, Ladenpassagen und Läden, wo man in der Menge untertauchen konnte. »Der Kandidat bekommt von mir alle zehn Punkte!«

»Von mir nur zwei«, hielt Kesseling dagegen. »Weil es nun wirklich nichts Besonderes ist, auf dem Alexanderplatz attackiert zu werden. Da haben wir schon so viele Opfer in den letzten Jahren, dass ich da gar nicht mehr auffalle. Den Alex können wir mit zusammen zwölf Punkten abhaken.«

Vom Alexanderplatz kamen sie über die Karl-Liebknecht-Straße zur Neuen Wache und dem Denkmal Friedrich des Großen.

»Von mir aus jeweils zehn Punkte«, legte sich Kesseling schnell fest. »Unter den Linden ist immer gut.«

Lucka sah sich genauer um, dann entschied er sich: »Bei mir kriejt jeda Ort nur zwee Punkte.«

»Warum denn das?«

»Weil ick beede Mal schlecht entkommen kann. Der olle Fritz steht mitten uff de Straße, und bei dem Verkehr hier komm ick da nicht zum Bürjasteich rüba. Und vor die Neue Wache is ma zu ville freia Platz.«

»Okay, also weiter«, entschied Kesseling.

Sie bogen nun nach rund einem Kilometer Fahrt auf der Straße Unter den Linden rechts in die Neuenstädtische Kirchstraße ab, um über die Dorotheen- und die Wilhelmstraße in die ARD-Hauptstadtstudios am Reichstagsufer zu gelangen.

»Nicht schlecht, weil man schnell auf Sendung ist«, befand Kesseling. »Aber du wirst wieder keine ausreichenden Fluchtmöglichkeiten sehen?«

Lucka konnte da nur nicken. »Det haste klug akannt.«

Ohne dass sie ausgestiegen wären, ging es weiter zum Reichstagsgebäude und zum Brandenburger Tor. In der Scheidemannstraße fanden sie, was Wunder, einen Parkplatz, stiegen aus und nahmen die beiden möglichen Tatorte genau in Augenschein.

Kesseling hatte sein Urteil schnell gefällt. »Beide Locations würden was bringen, also jeweils zehn Punkte von mir.«

Aber auch hier legte Lucka sein Veto ein. »Von mir nich, denn a) is mir hier die freie Fläche zu jroß, über die ick rennen muss, ej ick an meim Auto oda Fahrrad beziehungsweise an U- und S-Bahn bin, und b) loofen hier viel zu ville Leute rum. Da kann ick nicht richtig zielen und treffe vielleicht ’n Falschen, oda eena schlägt ma die Waffe aussa Hand.«

Kesseling reagierte langsam leicht genervt. »Also bleibt uns nur bei dir zu Haus der lange Flur. Und damit dich die Kripo nicht fassen kann, schrauben wir vorher das Namensschild an der Wohnungstür ab.«

»Wie witzig! Haste mal dran jedacht, im Fernsehen als Komika uffzutreten?«

Kesseling blieb gelassen. »Wenn das Wählerstimmen bringen sollte, warum nicht? Wenn ein Clown wie Donald Trump in Amerika einen solchen Erfolg hat, dann wäre das auch bei uns mal einen Versuch wert. Was war denn Hitler anders als ein Clown?«

Weil sie sich die Mühe sparen wollten, an ihrem nächsten Ziel, dem Berliner Hauptbahnhof, längere Zeit nach einem Parkplatz zu suchen, nahmen sie die U55.

»Turmbahnhof mit 14 Gleisen und mehreren Ebenen, Anschluss U- und S-Bahn, und pausenlos halten hier Züge des Nah- und Fernverkehrs, täglich an die 300.000 Reisende und Besucher«, fasste Kesseling zusammen, was er vorher über den Berliner Hauptbahnhof gelesen hatte. »Und, was dich betrifft: Am nördlichen Ausgang haben wir das unübersichtliche Gelände um den Humboldthafen und zur Invaliden- und Heidestraße hin, und auf der anderen Seite bist du über Washingtonplatz schnell im Spreebogenpark und im Tiergarten.«

»Also von dir und mir je neun Punkte«, fasste Lucka zusammen. »Det dürfte ja nich mehr zu toppen sein.«

Rasch waren da auch die nächsten potenziellen Attentatsorte abgehakt:

• Vor der Kongresshalle (Haus der Kulturen der Welt) → zwar ausreichende Fluchtmöglichkeiten für Lucka durch den angrenzenden Tiergarten, aber keine ausreichende Begründung für Kesseling, ausgerechnet an einem Tag ohne eine stattfindende Veranstaltung dort zu sein.

• Vor dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt → zu großer Platz, keine ausreichenden Fluchtmöglichkeiten für Lucka.

• An der Siegessäule → wegen der Insellage und des enormen Kreisverkehrs ringsum keine ausreichenden Fluchtmöglichkeiten für Lucka.

• Im Holocaust-Mahnmal → Gefahr, wegen der Entweihung dieser Gedenkstätte zu viele Minuspunkte einzufahren.

• Vor der Gedächtniskirche → Platz wegen des IS-Attentats auf dem Weihnachtsmarkt zu negativ belastet.

• Am Eingang zum Olympiastadion (vor einem Hertha-Spiel) → zu großer Platz, keine ausreichende Fluchtmöglichkeiten für Lucka.

• Auf einem S-Bahnhof (Gesundbrunnen, Südkreuz, Westkreuz) → nicht spektakulär genug.

• Auf einem U-Bahnhof (vielleicht Hermannstraße, siehe »U-Bahn-Treter«) → wegen der Vorbelastung des Ortes zu große Gefahr, dass das Ganze von der Kripo als inszeniertes Scheinattentat entlarvt wird.

Als sie so weit gekommen waren, fiel ihnen ein, dass sie ja den Potsdamer Platz vergessen hatten. Also fuhren sie hin, stellten ihren Wagen in der Tiefgarage der Arkaden ab, stiegen nach oben und nahmen alles in Augenschein, so die drei Gebäude mit dem Tower hinter dem Namen (Atrium…, Kollhoff… und Bahn-…), das Sony- und das Beisheim-Center und das P5. Dann gingen sie die Alte Potsdamer Straße bis zum Marlene-Dietrich-Platz hinunter. Vor dem Stage Theater blieben sie stehen.

»Hier hab ick det Musical mit dem Udo Lindenberg gesehen«, erinnerte sich Lucka. »›Hintam Horizont‹. Und ick jloobe, det wäre ’n juta Platz für unsa Attentat. Den Potsdama Platz, den kennt jeda, und ick kann ma hier blitzschnell vakrümeln.«

Kesseling nickte. »Hört sich gut an.«

Als sie dann beide ihre Punktezahlen vergaben, kamen sie auf genau 18 Punkte, genau wie beim Hauptbahnhof.

»Was nun?«, fragte Kesseling.

Lucka lachte und legte ein hohes Maß an politischer Bildung an den Tag. »Starten wa ’n Volksbegehren: »Wo möchten Sie, dass auf Kesseling geschossen wird?«

»Haha«, war Kesselings erster Kommentar, dann meinte er, dass es wohl das Beste wäre, die Sache auszulosen. »Das wäre dann so eine Art Gottesurteil.«

»Na jut.« Er riss zwei etwa gleich große Fetzen von seinem Tempotaschentuch ab, schrieb auf den einen »Potsdamer Platz« und auf den anderen »Hauptbahnhof«, knüllte sie zusammen und ließ Kesseling ziehen.

»Potsdamer Platz.«

»Okay, müssen wa nur noch Tach und Stunde festlejen.«

»Nächsten Freitag, 19.00 Uhr, vor dem Stage Theater an dem Verkehrsschild da.«

*

Thorben Lucka ahnte, dass sie auf dem Areal des Potsdamer Platzes, also auch auf dem Marlene-Dietrich-Platz, Videokameras hängen hatten, und so dachte er lange über eine Maskierung nach, die eine spätere Identifizierung unmöglich machte, aber nicht so geartet war, dass er aufgefallen wäre, weil sie zu lächerlich war oder ihn zu einem Gefährder gemacht hätte. Eine Burka schied damit von vornherein aus. Ein Gag wäre es gewesen, sich als Araber und IS-Kämpfer zu tarnen, aber dabei war ihm die Gefahr zu groß, auf der Flucht erschossen zu werden. Aber reichten eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe aus? War es nicht besser, sich mit einem langen Rock und einer Perücke als Frau zu verkleiden? Ja schon, aber das würde ihn daran hindern, schnell davonzulaufen. Er überlegte hin und her, ohne sich entscheiden zu können. Kesseling anzurufen, ging auch nicht, wo heute alle Anrufe gespeichert wurden. Bloß gut, dass er vor langer Zeit eine Beretta 92 FS/M9 in seinem Kohlenkeller versteckt hatte.

Mochte sein Intelligenzquotient auch nicht sonderlich hoch sein, eines wusste Thorben Lucka ganz genau: dass er nirgendwo eine Spur hinterlassen durfte. Und das hätte er unweigerlich beim Kauf einer Perücke. Schön, er kannte viele Kumpel in einschlägigen Milieus, die ihm eine besorgt hätten, aber diese Männer hätte er nach der Tat als Erpresser zu befürchten gehabt. Dasselbe galt für einen künstlichen Bart. Um sich selber einen wachsen zu lassen, reichte die Zeit nicht mehr.

Er war ratlos und überlegte schon, ob er Kesseling eine verschlüsselte E-Mail schicken sollte: »Catering am Freitagabend muss leider ausfallen.« Nein, das ging nicht, auf die 10.000 Euro bar auf die Hand konnte und wollte er nicht verzichten.

Schließlich kam er zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab: so normal wie möglich. Also Jeans, Schuhe, langärmliges graues T-Shirt, alles von der Stange, dazu eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe. Die konnte er dann wegwerfen und in der Menschenmenge untertauchen, nachdem er auf Kesseling geschossen hatte. Er sah sich auf dem Stadtplan alles noch einmal ganz genau an. Am besten, er lief in Richtung Voxstraße davon und tat so, als würde er im Riesenkomplex des »Grand Hyatt Berlin« verschwinden, um aber in Wirklichkeit zur Potsdamer Straße weiterzulaufen und dort im Sony Center haltzumachen und abzuwarten, bis sich die Aufregung um das Attentat auf Kesseling gelegt hatte. Nach einer Stunde konnte er dann unbehelligt durch den nahen Tiergarten laufen und am Brandenburger Tor in die S-Bahn steigen.

Als der Freitag gekommen war, steckte er seine Beretta in die Hosentasche, fuhr mit der U-Bahn bis zur Yorckstraße, stieg dort in die S-Bahn um und war in einer Viertelstunde am Potsdamer Platz. Den Weg zum Marlene-Dietrich-Platz legte er, obwohl er Profi war, wie in Trance zurück. Auch die besten Schauspieler kannten das Lampenfieber, und nur mit ihm waren sie wirklich gut. Kein Mensch beachtete ihn, Thorben Lucka konnte also zufrieden sein.

Simon Kesseling, heute im weißen Anzug, stand schon an der verabredeten Stelle, dem eisernen Pfahl mit dem rot umrandeten Verkehrsschild »Absolutes Halteverbot in beiden Richtungen« am oberen Ende und einem grauen Abfallbehälter weiter unten, auf dem in weißer Schrift zu lesen stand: »Was du heute kannst entsorgen …« Das war so viel an schwarzem Humor, so Kesselings Kalkül, dass sich das kein Journalist entgehen ließ und so für neue Schlagzeilen sorgte.

Als Lucka auf etwa zehn Meter heran war, nickte Kesseling ihm unmerklich zu. Schon fuhr seine rechte Hand in die Hosentasche, umfasste den Griff der Beretta, entsicherte sie und …

… sah in diesem Augenblick einen Pulk von Menschen beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen auf Simon Kesseling zuschießen.

»Da ist ja unser … Leader!« Führer zu rufen, war ihnen verboten worden. »Glückliches Deutschland.«

Der PGD-Ortsverein Brandburg an der Havel hatte Kesseling erkannt und war glücklich, ihn umarmen zu dürfen.

»Jetze kommste noch mit uns mit, was trinken.«

Man zog zum nächsten Restaurant, während Thorben Lucka den Heimweg antrat, dabei murmelnd: »Wat für ’ne Scheiße, 10.000 Euro im Arsch!«

Am nächsten Tag bekam er einen Brief mit der Post. Von einem Manfred Meier. Nie gehört! Wer sollte das denn sein. Er riss den Umschlag auf und zog einen kleinen Zettel hervor:

Lieber Thorben, tut mir leid. Dann nächsten Freitagabend, 20.00 Uhr, vor meinem Haus. Dein Simon

PS: Diesen Brief sofort verbrennen! Darum auch der falsche Absender.

ZWEI

Der »Havelstern« tuckerte über den Tegeler See und kam gerade an der Insel Scharfenberg vorbei, und Hansjürgen Mannhardt, Erster Kriminalhauptkommissar (EKHK) im Ruhestand, genoss die Dampferfahrt mit Heike Hunholz, der Gefährtin seines Lebens, und beider Sohn. Er hatte die Augen geschlossen und suchte sich an ein Fontane-Gedicht zu erinnern, das er vor Ewigkeiten in der Schule hatte lernen müssen. Endlich hatte er es beisammen, teilweise jedenfalls, und murmelte es halblaut vor sich her: »Am Waldessaume träumt die Föhre, / am Himmel weiße Wölkchen nur; / es ist so still, dass ich sie höre, / die tiefe Stille der Natur.«

Heike lachte. »Ja, und ich träume von Föhr, von Wyk auf Föhr, wo wir am Anfang unserer Tage einmal Urlaub gemacht haben.«

Mannhardt hörte es schon gar nicht mehr, er war schon wieder weggedöst, wie das auf berlinisch hieß. Er fand diesen Zustand herrlich und sollte später sagen, es sei wie ein kleines Nahtoderlebnis gewesen. »Völlig losgelöst von der Erde, eingehüllt in eine warme, göttliche Helligkeit, keine Schmerzen mehr, nur noch Friede, Freude und Glückseligkeit.«

Wer ihn abrupt zurückholte in die Wirklichkeit, war sein Sohn.

»Papa, guck mal da! Da schwimmt eine Wasserleiche!«, rief Silvio.

Schlagartig war Mannhardt wieder im Dienst. »Wo?«

»Da am Anlegesteg.«

Richtig, das sah in der Tat so aus wie ein menschlicher Körper. Mannhardt riss sein Handy aus der Tasche und rief die Wasserschutzpolizei an. Die Nummer hatte er noch im Kopf. Die Kollegen waren auch in wenigen Minuten zur Stelle und …

… zogen ein totes Schwein aus dem Wasser.

»Daddy, that’s embarrassing!«, war Silvios Kommentar.

»Wir sollten ab heute der Wendung ›Noch mal Schwein gehabt‹ eine andere Wendung geben«, fand Heike.

Mannhardt suchte sich in Gelassenheit zu üben. »Es hätte ja sein können, dass es wirklich ein Mordopfer war, und dann hätte ich meinen Nachfolgern sagen können: ›Ja, Kinder, das Bauchgefühl ist alles in unserem Beruf!‹ Mein Vater hat immer gesagt: ›Haste Glück, machste dick.‹«

»Bitte, kein Gespräch über Fäkalien!«, rief seine Lebensgefährtin.

»Warum holst du nicht dein Aufnahmegerät aus der Tasche und machst eine Reportage über das alles mit dem Titel ›Das tote Schwein, das kein Mensch war‹?«, fragte Mannhardt, nun doch leicht gereizt. »Wozu bist du schließlich Journalistin.«

»Die bin ich nur, bis ich 65 bin, dann will ich keine Zeile mehr schreiben und kein Wort mehr ins Mikrofon sprechen«, konterte sie. »Man muss auch einmal loslassen können.«

Mannhardt lachte. »Dich kann ich niemals loslassen.«

»Mich und deinen Beruf.«

*

Hansjürgen hätte bis Mittag schlafen können, er hätte die Hände in den Schoß legen können, denn seine Pension war ja an jedem Monatsanfang auf dem Konto, er hätte den ganzen Tag über fernsehen und seinen Hobbys nachgehen können, doch was machte er, er stand jeden Morgen um 6.00 Uhr auf und fuhr zu seinen Vorlesungen an der HWR, der Hochschule für Wirtschaft und Recht, oder er las alles, was an Fachlektüre zu bekommen war. Aus dem »Wer schreibt, der bleibt« hatte er »Wer lehrt, der bleibt« gemacht, der bleibt am Leben.